Alles was wir sehen - Michelle Woitag - E-Book

Alles was wir sehen E-Book

Michelle Woitag

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Beschreibung

Ein Mädchen, ohne Zukunftspläne. Ein Junge, auf der Suche nach Inspiration. Ein Roadtrip, der ihr Leben verändert. Als sich ihre Eltern scheiden lassen wollen, flüchtet Savannah zu ihrer besten Freundin nach Inverness. Mit großen Träumen und ohne Plan, beschließt sie einen Roadtrip quer durch Schottland zu machen. Doch sie hat nicht mit ihrem Reisegefährten gerechnet. Ein Reisegefährte, der Gefühle in ihr weckt, die Savannah noch nie empfunden hat…

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Copyright 2022 by

Dunkelstern Verlag GbR

Lindenhof 1

76698 Ubstadt-Weiher

http://www.dunkelstern-verlag.de

E-Mail: [email protected]

ISBN: 978-3-910615-80-9

Alle Rechte vorbehalten

Für Annalena und Natalie. Ohne euch gäbe es diese

Geschichte und den Seth-Fanclub nicht!

Inhalt

Playlist

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Epilog

Danksagung

Triggerthemen:

Playlist

Simple Things – Ziggy Alberts

You‘re Somebody Else – flora cash

Monsters (Acoustic Version) – Ruelle

Milestone – Matt Walden, Joey Kidney

Avalanche – James Arthur

Better Days – Dermot Kennedy

Ok, All Right – David Archuleta

Betterman – Virginia To Vegas

Lay By Me – Ruben

Bitter – FLETCHER, Kito

I Shot Cupid – Stela Cole

Fuck Up The Friendship – Leah Kate

Good day – MacKenzie Bourg

Always Been You – Jessie Murph

September – James Arthur

High Hopes – Kodaline

Numb Little Bug – Em Beihold

I GUESS I`M IN LOVE – Clinton Kane

Prolog

Hast du schon einmal in den Spiegel geblickt und jemanden völlig Fremden vor dir gesehen? Eine Person, die du eigentlich kennen solltest?

Irgendjemand hat mal gesagt, dass das größte Glück im Leben darin besteht, seine Träume zu verwirklichen. Doch was ist, wenn du nicht genug bist? Wenn du alles versuchst, wirklich alles, um ans Ziel zu kommen, aber du erreichst es nie?

Das Leben besteht aus Herausforderungen. Aus Hürden und Schicksalsschlägen. Aus Höhen und Tiefen. Jeden Morgen stehst du auf, um dein Bestes zu geben. Und jeden Morgen aufs Neue wirst du enttäuscht. Weil du ungenügend bist. Weil niemand an dich glaubt. Nach und nach schleichen sich Selbstzweifel ein. Ehe du dich versiehst, glaubst du selbst nicht mehr an dich. Wenn das passiert, nun, dann sitzt du irgendwann in einem schäbigen Taxi und bist auf dem Weg zu deiner besten Freundin. Um vor deinem Leben zu flüchten. Du sitzt da, beobachtest den Verkehr, hörst dem Taxifahrer beim Reden zu und fragst dich, wie es so weit kommen konnte. Mein Name ist Savannah Lynn Reynolds und in meinem Fall war es ein schleichender Prozess.

Mit sechs Jahren fing ich an zu zeichnen. Hauptsächlich Kleidung, weil meine Mutter immer welche zeichnete. Als ich ihr meinen ersten Entwurf von einem Rock zeigte, schnaubte sie spöttisch und sagte, dass ich das lieber lassen sollte. Ich könnte es nicht und sollte meine Zeit nicht verschwenden. Mit zehn Jahren nahm ich an einer Misswahl teil. Nicht, weil ich das wollte, sondern weil meine Mutter fand, ich hätte ein ganz hübsches Gesicht. Ich machte den zweiten Platz und sie redete eine Woche lang nicht mehr mit mir. Mit dreizehn beichtete ich meinen Eltern, dass ich, genau wie sie, Mode designen wollte, schneidern und nähen, eine eigene Kollektion entwerfen.

Meine Mutter lachte nur und sagte, ich solle erwachsen werden. Mein Dad meinte, ich könnte es als Hobby machen. Doch in der Branche würde ich nie groß werden. Weil ich nicht genug war. Mit fünfzehn entwarf ich meine erste Kollektion und schneiderte meine eigene Kleidung. Keiner von beiden bemerkte es. Keiner von beiden sagte etwas dazu. Mit sechzehn eröffnete ich einen Modeblog. Ich fotografierte meine Kreationen, stellte sie online und bekam viel Resonanz. Firmen sind auf mich aufmerksam geworden, wollten Kooperationen mit mir eingehen. Aber auch das war ihnen nicht genug.

Ein Jahr später beschlossen meine Eltern, sich scheiden zu lassen. Weil sie sich hassten. Weil sie mir keine Liebe schenken konnten. Weil ich ungenügend war.

Kommt dir das bekannt vor? Ist es das, was du siehst, wenn du in den Spiegel blickst? Mein Name ist Savannah Lynn Reynolds, ich bin siebzehn Jahre alt und auf dem Weg zu meiner besten Freundin. Weil ich dieses Leben nicht mehr führen kann. Weil ich mich nicht mehr im Spiegel betrachten kann.

Kapitel 1

Fetakäse würde mein Untergang sein. Ganz ernsthaft. Ich aß dieses weiche, würzige Teufelszeug mittlerweile zu jedem Gericht. Aber ich konnte nichts dafür. Tante B. kochte die leckersten Feta-Nudeln auf diesem gottverdammten Planeten.

Ich schob mir eine Gabel voll in den Mund und verdrehte genüsslich die Augen. Die Mischung aus süßlicher Tomate und würzigem Käse löste Glücksgefühle in mir aus. Anders konnte man es nicht beschreiben. Konnte man süchtig nach Fetakäse werden? War ich vielleicht so etwas wie ein Fetaholiker? Falls ja, wäre das für mich absolut in Ordnung. Ganz ernsthaft.

Ich warf einen Blick auf Tante B., die gerade stirnrunzelnd auf ihre Unterlagen sah. Die Haare steckten in einem lockeren Dutt und sie kaute auf einem Kugelschreiber herum.

Tante B. war nicht wirklich meine Tante. Eigentlich war sie die Tante meiner besten Freundin Lydia und ihr vollständiger Name war Bethany Graham. Ich liebte diese Frau abgöttisch.

Als sie vor einigen Monaten hatte durchklingen lassen, dass ich doch mal zu Besuch kommen sollte, hatte sie wohl nicht damit gerechnet, dass ich all meine Sachen packen und bei ihr einziehen würde. Dennoch nahm sie mich ohne Zögern bei sich auf. Lydia hatte großes Glück mit ihr. Die beiden verstanden sich blendend und es war mehr eine Freundschaft als eine Tante-Nichte-Beziehung.

Doch das war nicht immer so gewesen. Vor über einem Jahr hatte meine beste Freundin zusammen mit ihrer Familie einen Autounfall. Wie durch ein Wunder hatte Lydia als Einzige überlebt. Bethany holte sie zu sich nach Inverness.

Es war eine harte Zeit, doch langsam, aber sicher kehrte Lydia ins Leben zurück. Sie wurde mit jedem Tag stärker, lebendiger, fröhlicher. Das hatte sie nicht nur ihrer fabelhaften besten Freundin (also mir), und ihrer tollen Tante B. zu verdanken. Es gab auch einen ziemlich süßen Typen. Und obwohl ich liebend gern mehr Zeit mit ihr verbringen würde, freute ich mich für sie. Vincent machte sie glücklich, und das wiederum machte mich glücklich.

Ich schaufelte mir noch eine Portion Nudeln in den Mund, als ich auf die Uhr blickte und die Stirn krauszog.

»Wo if Fydia?«, wollte ich zu fragen und sah wie einige Feta Krümel auf dem Tisch landeten. Ups. Unauffällig wischte ich sie weg und schluckte meinen Bissen hinunter.

Bethany murmelte etwas und blickte mir dann blinzelnd entgegen.

»Hm?« fragte sie, als hätte sie keine Ahnung, was ich gerade gesagt hatte.

Ich zeigte auf den leeren Stuhl vor mir. »Wo ist Lydia?«

Bethany lächelte geheimnisvoll und tippte mit ihrem Stift gegen ihren Mund. »Sie und Vincent sind heute ganz früh aufgebrochen. Sie wollten wohl zu einer Infoveranstaltung auf dem Campus und nachher noch an den See fahren.«

Ich schnaubte. Typisch. In den letzten Tagen brachen die beiden immer ziemlich früh auf, damit sie möglichst viel vom Tag hatten. Diese Verliebtheit war schon fast ekelhaft süß.

Ich nickte Bethany zu und räumte meinen Teller in die Spülmaschine.

»Danke Sav«, sagte Tante B.

Ich lächelte sie an. »Mach ich doch gern.«

Wir beide horchten auf, als jemand die Treppe runterkam. Jonathan betrat die Küche. Er nickte mir zu und gab Tante B. einen Kuss auf die Wange. Dann schenkte er sich eine Tasse Kaffee ein.

»Hallo Jon«, begrüßte ich ihn.

Bethanys Freund könnte direkt aus meiner Lieblingsserie Outlander entsprungen sein. Er war durch und durch Schotte. Ein Schrank von einem Mann, leicht rötliches Haar, Vollbart. Diese Sorte Mann war zum Anbeißen. Obwohl ich gestehen musste, dass ich mehr auf jemanden wie James Fraser stand. So jungenhaft und süß. Wo ich so darüber nachdachte, bekam ich Lust, die Serie zu schauen. Zum achten Mal.

Seit ich hier angekommen war, probierte ich Jon zu überreden, das Gesicht meiner Herrenkollektion zu werden. Er würde super auf meinem Blog ankommen. Allerdings war ich bisher erfolglos geblieben.

Ich lehnte mich gegen die Küchentheke und sah ihn durchdringend an. »Also Jon. Hast du es dir nochmal überlegt? Ich hätte da wirklich ein paar tolle Kleidungsstücke, die fabelhaft an dir aussehen würden!«

Hilfesuchend sah er zu Beth, doch die nickte nur grinsend.

Wieder sah er mich an. »Ich habe keinen Zweifel an deinen Fähigkeiten, aber ich bin nicht so der Typ fürs … Modeln. Aber danke für das Angebot.«

Ich nickte seufzend. Dann lächelte ich ihn an. »Kein Problem. Ich frage dich morgen nochmal.«

Bethany kicherte und Jon versuchte das Schmunzeln zu verbergen, das sich auf seine Lippen stehlen wollte. »Ja, da bin ich mir sicher.«

Bethany zwinkerte mir grinsend zu. »Gib bloß nicht auf, Sav. Ich kann es kaum erwarten, ihn in deiner Kollektion zu sehen.«

Ich lächelte Beth an. »Das Wort aufgeben gibt es in meinem Wortschatz nicht.«

Ich setzte mich wieder und goss mir frischen Eistee ein. Es war ein Familienrezept und jedes Mal, wenn ich bei Lydia zu Besuch gewesen war, hatte ihre Mum uns diesen Eistee gemacht. Der von Tante B. schmeckte genauso gut. Ich war im Himmel. Absolut. Im. Himmel.

»Und, was hast du heute noch vor?« fragte Tante B. und holte mich damit in die Wirklichkeit zurück.

Ich nahm einen Schluck von meinem süßen Getränk und zuckte mit den Schultern. Diese Frage machte mich jedes Mal aufs Neue nervös. Ich wusste, dass ich hier willkommen war. Dass ich tun und lassen konnte, was ich wollte. Doch das Problem war, dass sich jeder fragte, warum ich eigentlich hier war. Das war allerdings etwas, das ich selbst kaum beantworten konnte.

Ich war hier, weil ich hier sein wollte. Ich wollte in den Tag hineinleben, essen, Serien schauen und den Sommer genießen. Einfach nichts tun. Doch jeden Tag aufs Neue wurde ich gefragt, was ich heute tun wollte. Und mit jeder Frage kamen die Selbstzweifel und die Ängste. Deshalb schenkte ich Tante B. mein schönstes Lächeln und gab ihr meine Standardantwort: »Mal sehen, was der Tag so für Abenteuer bereithält.«

Bethany lächelte.

Am Abend saß ich auf dem Bett und bastelte an einem neuen Header für meinen Blog. Ich wollte die Seite eigentlich komplett neugestalten, aber mir fehlten die Ideen.

Ich könnte jemanden beauftragen, doch das war verdammt teuer. Durch kleinere Kooperationen mit Firmen hatte ich zwar Geld zusammensparen können, aber dafür wollte ich es ungern ausgeben und meine Eltern würde ich sicher nicht um Hilfe bitten. Sie fanden, dass mein Blog Zeitverschwendung war, und genau deshalb wollte ich es allein schaffen.

Als es an der Tür klopfte, murmelte ich ein »Herein« und starrte weiter konzentriert auf den Laptop. Welche Farbe sollte ich nehmen ?Die Tür wurde geöffnet und eine strahlende Lydia tänzelte in den Raum. Mit einem Seufzen ließ sie sich rücklings auf das Bett fallen, breitete die Arme aus und lächelte selig.

»Ich hoffe, er hat dich ordentlich durchgenudelt«, murmelte ich und klickte gleichzeitig auf Speichern. Doch nichts passierte. Dieser verdammte Laptop hatte sich schon wieder aufgehängt!

»O Gott, Sav! Ich habe dir gesagt, dass wir … noch nicht so weit sind.« Lydia hatte sich inzwischen aufgesetzt und sah mich mit verkniffener Miene an. Außerdem war ihr Gesicht knallrot geworden. Ziel erreicht.

Ich schenkte ihr ein Grinsen und konzentrierte mich wieder auf den Bildschirm. Als das Bild schwarz wurde, stöhnte ich frustriert auf.

»Was ist los?«, fragte sie und warf einen Blick auf meinen Laptop.

»Das blöde Ding hängt sich ständig auf!« Genervt klappte ich ihn zu.

»Willst du meinen benutzen?«, bot meine Freundin an und wollte schon aufstehen.

Ich winkte ab. »Nein, ist schon gut, trotzdem danke.« Ich seufzte. »Ich werde mir wohl einen Neuen besorgen müssen.«

»Was hast du denn gerade gemacht?«, fragte sie.

»Ich habe an einem neuen Header für den Blog gebastelt. Allerdings waren alle Entwürfe Mist« zerknirscht lehnte ich mich an meine Kissenwand und streckte die Beine aus. Ich hatte das schlichte Zimmer seit meinem Einzug mit Lichterketten und Fotos in einen Wohlfühlort verwandelt. Einfach, aber gemütlich.

Lydia setzte sich neben mich und streckte ebenfalls die Beine aus. Ich sah sie an und fragte: »Was habt ihr heute Schönes gemacht?«

Sie lächelte strahlend und begann von ihrem Ausflug mit Vincent zu erzählen.

Ich hätte ihr stundenlang zuhören können. Sie klang so glücklich und verliebt. Das machte mich stolz. Denn wenn ich daran dachte, was für ein schlimmes Jahr meine beste Freundin hinter sich hatte, war es ein Wunder, das sie hier neben mir saß und lachte.

»Und dann haben wir zusammen Eis gegessen.«

»Und er hat dir seine Zunge in den Hals gesteckt.«

Lydia schnappte hörbar nach Luft und schlug nach mir. »Savannah!«

Ich wich kichernd aus. »Was denn? Du kannst mir nicht erzählen, dass ihr nicht den ganzen Tag am Knutschen seid.« Ich wackelte mit den Augenbrauen und Lydia kicherte.

Dann schüttelte sie den Kopf. »Nein, tun wir nicht. Wir reden. Und haben Spaß.«

»Wie langweilig. Ich würde knutschen«, erwiderte ich.

Meine Freundin rollte grinsend mit den Augen und stupste mich an. »Genug von mir und meinem Liebesleben. Was hast du heute so gemacht?«

Ich zuckte mit den Schultern. »Nichts. Ich habe ein paar Entwürfe fertig gemacht, Bilder bearbeitet und dann saß ich an meinem Header.«

Lydia nickte. Dann sah sie mich an, als hätte sie eine Eingebung. »Hey! Du könntest doch Seth fragen. Soweit ich weiß, kennt er sich mit so was aus. Vielleicht kann er dir bei deinem Header helfen.»

Da war er wieder. Dieser Name. Seth. Mein Erzfeind. Gut, vielleicht war Erzfeind etwas übertrieben. Aber dieser Typ wollte mir meine beste Freundin ausspannen! Gut, vielleicht war auch das übertrieben. Immerhin war er hier für sie da und hat sich um sie gekümmert, aber es ging ums Prinzip!

»Ich wusste gar nicht, dass Stanley so was kann.«

Lydia warf mir einen Blick zu. »Er heißt Seth.«

»Habe ich doch gesagt«, erwiderte ich.

Sie kniff die Augen zusammen, doch ich lächelte unschuldig.

»Vielleicht frage ich ihn, wenn ich ihn sehe«, sagte ich und betrachtete meine Nägel.

»Mach das. Er hat wirklich ein Händchen dafür. Was hast du denn die kommenden Tage noch so vor?«, fragte Lydia und betrachtete mich aufmerksam.

Ich kannte diesen Blick. Es war dieser Ich-bin-besorgt-aber-tue-so-als-wäre-nichts Blick. Den hatte sie in letzter Zeit öfter. Genauer gesagt, seit ich hier angekommen war, um für die nächsten Wochen hierzubleiben. Lydia kannte mich seit Kindestagen und wusste, dass etwas nicht stimmte. Doch sie fragte nicht nach. Weil sie darauf wartete, dass ich es ihr erzählen würde. So wie immer. Das Problem war nur, ich konnte nicht.

Also zuckte ich nur mit den Schultern und erwiderte: »Keine Ahnung. Ehrlich gesagt hatte ich mir vorgenommen, die nächsten sechs Wochen nichts zu tun. Einfach nur entspannen, Serien schauen, essen und Zeit mit meiner besten Freundin verbringen.«

Lydia kuschelte sich an mich. »Das klingt schön. Ich freue mich wirklich, dass du hier bist, Sav.«

»Aber?«, fragte ich, denn es klang verdächtig nach einem aber.

Sie seufzte leise. »Aber ich frage mich, ob alles okay bei dir ist. Du bist in letzter Zeit so … verschlossen. Ich mache mir Gedanken.«

Mein Körper verkrampfte sich leicht. Sie machte sich Sorgen um mich. Das war ein schönes Gefühl. Doch gleichzeitig hasste ich es, denn ich wollte ihr nicht zur Last fallen. Sie hatte genug Probleme.

Ich schenkte ihr ein Lächeln und schüttelte den Kopf. »Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Es geht mir gut, wirklich. Es ist nur, naja, zuhause war ich so einsam. Mum und Dad stecken immer noch in der Scheidung und fliegen die meiste Zeit durch die Gegend. Da dachte ich mir, ich kann die Sommerferien auch hier verbringen.«

Lydia nickte verständnisvoll. Dann fragte sie betont beiläufig: »Und danach? Was willst du nach den Sommerferien machen?«

Das war eine Frage, die ich mir selbst tagein, tagaus stellte. Die Wahrheit war - ich hatte keine verdammte Ahnung.

»Ich weiß es nicht, aber ich habe ja genug Zeit, um das herauszufinden.« Ich versuchte, gut gelaunt zu klingen. In Wahrheit kroch mir die Angst den Rücken hinauf, bohrte sich in meine Haut, verschlug mir den Atem. Diese allumfassende Angst. Diese Zweifel. Diese Erinnerungen, ich verdrängte sie und sah meine beste Freundin an. Lydia hatte einen zweifelnden Ausdruck im Gesicht. Dann schien sie zu überlegen. »Wie wäre es denn, wenn du so etwas wie einen Roadtrip machst? Das stand doch auf deiner Löffelliste, oder? Bethany hat damals einen gemacht und so zu ihrem Job gefunden. Vielleicht wäre das auch etwas für dich.«

Blinzelnd sah ich sie an und dachte über diese Idee nach. Urplötzlich formten sich Ideen in meinem Kopf. Sie hatte recht, ich wollte schon immer mal einen Roadtrip machen. Die Zeit wäre perfekt.

»Weißt du was? Das ist eine grandiose Idee. Ich werde darüber nachdenken«, versprach ich ihr und drückte sie an mich.

Lydia lächelte erfreut und in meinem Kopf formte sich ein Plan.

Kapitel 2

Harmonisch. Wenn mich jemand fragen würde, wie ich die Bibliothek Little Moments beschreiben würde, wäre harmonisch der passende Begriff. Wenn man den Laden betrat, klingelte ein Glöckchen. Der Geruch von Büchern, Zimt und etwas Blumigem lag in der Luft. Alles war heimelig und gemütlich aufgebaut. Ich könnte hier stundenlang stehen und mir alles anschauen. Dabei mochte ich Bücher nicht mal besonders. Ich bevorzugte Serien und Filme. Doch diese Bibliothek hatte so viel mehr zu bieten als Bücher.

Gerade stand ich vor einem Regal mit Landkarten und Reiseführern, und es gab davon verdammt viele. Leider stand der Reiseführer, den ich brauchte, ganz oben. Ich war zwar recht groß, doch ich kam trotzdem nicht ran. Ich suchte meine Umgebung ab und versicherte mich, dass mich niemand beobachtete. Dann kletterte ich kurzerhand an dem Regal hoch und streckte mich. Nur noch ein bisschen, ein kleines Stück …

»Hey, Savannah«, sagte jemand dicht neben mir.

Ich keuchte erschrocken und krallte mich am Regal fest. Nachdem ich meine Balance einigermaßen zurückhatte, suchte ich nach dem Störenfried.

Mein Blick fiel auf braune Boots und wanderte höher. Schwarze Jeans, kombiniert mit einem weißen T-Shirt. Abgerundet wurde der Look von einem offenen, karierten Hemd. Lässig, aber schick. Der Typ kannte sich aus mit Mode. Ich musste es wissen, schließlich lebte ich dafür. Ich sah dem Störenfried ins Gesicht. Markante Züge, braune, fast schwarze Augen, die von einer Brille umrahmt wurden, blickten direkt in meine. Eine dunkelbraune Locke hatte sich in sein Gesicht verirrt und er versuchte sie zur Seite zu streichen. Als mein Blick auf seinen Mund fiel, verzogen sich seine Lippen zu einem kleinen Lächeln. Vor mir stand Seth Brady. Erzfeind Nummer Eins. Also, quasi. Ihr wisst schon.

Als sich sein Lächeln vertiefte und sein Blick einen fragenden Ausdruck annahm, stellte ich fest, dass ich immer noch auf dem Regalbrett stand und mich festhielt. Und ich hatte ihn begafft, von unten bis oben. Sehr subtil, Sav. Wirklich.

So würdevoll wie möglich, kletterte ich nach unten, strich meinen langen grünen Seidenrock glatt und sah ihn an. »Kann ich dir helfen?«

»Das wollte ich dich eigentlich fragen«, entgegnete er und ich konnte heraushören, wie sehr ihn die ganze Situation amüsierte.

Ich schnaubte. In Gedanken gab ich mir ein High-Five, denn meiner Mum hätte dieses Schnauben gar nicht gefallen.

»Warum sollte ich Hilfe brauchen?«, fragte ich und versuchte so desinteressiert wie möglich zu klingen. Lydia hätte jetzt sicherlich die Augen verdreht, aber ich konnte nicht anders. Der Typ nervte mich einfach. Und er sollte verschwinden.

»Naja, du hingst an diesem Regal fest.«

»Vielleicht hänge ich ja gern an Regalen fest«, konterte ich.

Seths Lippen verzogen sich zu einem Grinsen. »Ach ja?«

Ich verdrehte abermals die Augen. »Ich habe nur was gesucht.«

Er zog die Augenbrauen hoch. »Aha. Und kann ich dir bei deiner Suche helfen?«

»Nein danke, Steve. Das schaffe ich schon.«

»Seth«, verbesserte er mich und runzelte die Stirn.

Ich winkte nur ab. »Habe ich doch gesagt.«

Dann sah ich hoch zu meinem Reiseführer. Wenn Erzfeind Nummer Eins weg war, würde ich es noch einmal versuchen. Plötzlich tauchte eine Leiter in meinem Blickfeld auf.

Seth stellte sie an das Regal, kletterte hinauf und sah sich die Reihe an. »Welchen wolltest du?«

Widerwillig murmelte ich: »Schottland«

Er suchte ihn raus, stieg die Leiter hinunter und hielt ihn mir hin.

Ich nahm ihn und drückte ihn an meine Brust. »Danke«

»Gern geschehen« Seth lächelte und seine Augen strahlten. Dieses verdammte Strahlen. Das nervte mich. Räuspernd sah ich mich um.

»Arbeitest du hier oder so?«, fragte ich.

Seth grinste. »Oder so. Meine Mum arbeitet hier. Also, ihr gehört die Bibliothek. Ich helfe ihr manchmal aus.«

Mein Kopf ruckte zu ihm herum. »Die süße Mary ist deine Mum?!«

Verdammt nochmal! Als ich die Bibliothek betreten hatte und dieses elfenhafte Wesen auf mich zu geflattert war, mir Kekse und Tee angeboten hatte, wollte ich sie glatt fragen, ob sie mich adoptieren würde. Aber wenn sie seine Mum war … verdammter Mist! Das Leben war unfair.

Seth sah mich seltsam an, dann nickte er. »Ja, sie ist meine Mum.«

»Schön für dich«, erwiderte ich eine Spur zu bissig und zuckte selbst bei meinem Tonfall zusammen. Lydia hatte recht. Manchmal klang ich wie meine Mutter. Gruselig. Ich räusperte mich abermals und wandte mich zum Gehen. »Also, danke nochmal. Ich muss dann …«

»Willst du verreisen?« fragte er unvermittelt und deutete auf den Reiseführer.

»Mmh«, murmelte ich und strich mir eine verirrte Strähne aus dem Gesicht. »Ich plane eine Rundreise durch Schottland.«

Seth sah mich begeistert an. »Cool! Das wollte ich schon immer mal machen. Wann soll es losgehen?«

»Ehm, wenn ich weiß, wohin und wie«

Meine Worte ließen ihn verwirrt blinzeln. »Du weißt nicht, wie du reisen sollst? Hast du kein Auto?«

Ich schüttelte den Kopf. »Nein. Bus oder Zug kommt für mich auch nicht infrage. Vielleicht könnte ich trampen …«

Als ich ihn wieder ansah, hatte sich sein Gesichtsausdruck verdüstert.

»Du kannst nicht trampen.«

»Wieso?« fragte ich verwirrt.

»Das ist nicht sicher.«

Das ließ mich mit den Augen rollen. Ich zog meine Tasche zurecht, die mir langsam von der Schulter rutschte und schenkte ihm ein kühles Lächeln. »Danke für deine Sorge. Aber ich weiß schon, was ich tue. Also, mach’s gut.« Damit drehte ich mich um und lief Richtung Theke, um den Reiseführer auszuleihen.

»Ich habe einen Van.«

Das ließ mich abrupt stehenbleiben. Langsam drehte ich mich zu Seth um. »Du hast einen Van?« Es klang mehr wie eine Feststellung als eine Frage.

Er nickte. »Mein Grandpa hat ihn mir überlassen.«

»Oh, tut mir leid …«, fing ich an, doch Seth zog die Augenbrauen zusammen.

Dann lachte er kurz auf. »Oh, sorry. Jetzt merke ich erst, wie das klang. Mein Grandpa ist nicht tot. Er darf nur kein Auto mehr fahren. Nach seinem letzten Auffahrunfall hat er das Fahren aufgegeben.«

Das ließ mich schmunzeln. Als Seth das kleine Lächeln bemerkte, erschien ein siegessicheres Funkeln in seinen Augen. Ich wollte es ignorieren, konnte aber meine Aufregung schlecht verbergen. »Und was hat dein Van mit meiner Reise zu tun?«

Er steckte seine Hände in die Hosentasche und grinste mich an. »Der Van steht seit Monaten auf einem Parkplatz. Er ist komplett ausgestattet, vollgetankt und mehr als bereit für eine Reise, und … ich würde ihn dir überlassen.«

Ein kleines Keuchen drang aus meinem Mund und ich starrte ihn an. Wenn er das ernst meinte, würde ich ihn weniger doof finden. Vielleicht. Irgendwie.

»Ich habe nur eine Bedingung.«

Ich schluckte ein Seufzen hinunter. Natürlich hatte er die. Aber was es auch war, ich würde es erfüllen. Ich bekam einen verdammten Van! Das war immer mein Traum. Mit einem Van durch die Gegend zu reisen, zu schlafen, wo ich wollte, mich ganz meiner Mode zu widmen, egal wo ich gerade war.

Ich straffte die Schultern und sah ihn herausfordernd an. »Wie lautet die Bedingung?«

***

»DU TUST WAS?«

Ich ignorierte Lydias schockierte Frage und faltete einen Rock zusammen, der anschließend im Koffer verschwand. Ich hatte mir eine Liste mit allen Kleidungsstücken erstellt, die ich für die Reise benötigte. Zwischendurch müsste ich meine Sachen irgendwo waschen, doch das hatte ich sowieso mit einberechnet. Ich nahm das nächste Teil aus meinem Schrank und warf meiner besten Freundin einen Blick zu. Bei ihrer Miene musste ich grinsen.

»Du siehst mich an, als würde ich mit einem berühmten Schauspieler durchbrennen.«

Lydia schnaubte. »So schaue ich dich garantiert nicht an, und selbst wenn, mein Blick ist völlig berechtigt. Ich dachte, du bleibst die ganzen Sommerferien hier und wir könnten Zeit miteinander verbringen.«

Ich hörte auf, in meinem Schrank zu wühlen und drehte mich zu ihr um. Sie sah traurig aus und ich bekam ein schlechtes Gewissen. Also deutete ich aufs Bett. Lydia setzte sich mit mir. Ich nahm ihre Hände in meine und drückte sie. Fest.

»Ich bin unglaublich froh, dass ich hier bin. Bei dir. Das letzte Jahr hat mir gezeigt, wie schlimm es ist, ohne dich zu sein. Das Wissen, dass du hier bist, allein, und es dir so schlecht geht, es hat mein Herz gebrochen. Ganz ernsthaft.«

Lydia erwiderte den Druck meiner Hände und sah mich traurig an.

Ich schenkte ihr ein kleines Lächeln. »Dass ich hierhergekommen bin, hatte mehrere Gründe. Deine Situation hier, die Scheidung meiner Eltern und, naja …«

»Was? Was war es noch, Sav?« Sie klang so liebevoll. Sie wusste immer, wenn es mir nicht gut ging.

Ich atmete tief durch. »Als ich meinen Abschluss in den Händen hielt, war ich nicht glücklich. Nicht so, wie ich erwartet hätte. Ich stand da, sah die anderen, die mit ihren Freunden feierten, von ihren Familien umarmt wurden und fühlte mich völlig fehl am Platz. Niemand war da, der mit mir feierte, der mir gratulierte. Mit einem Mal kam mir dieser Abschluss so unwichtig vor. Vor allem, weil alle anderen wussten, was sie nach den Sommerferien machen würden. Uni, Weltreisen, Ausbildungen, und ich? Ich hatte nichts. Das hat mir Angst gemacht, Liddy. Richtig große Angst.«

»Warum hast du denn nichts gesagt? Wenn ich gewusst hätte …«

»Genau deshalb habe ich nichts gesagt. Weil es um dich gehen sollte. Du hast so viel durchgemacht und ich wollte für dich da sein. Ich habe einfach alles andere hintenangestellt. Das war okay. Aber ich wusste trotzdem nicht, was ich machen will. Hierherzuziehen war eine spontane Entscheidung. Eine Entscheidung, die um drei Uhr morgens getroffen wurde, nachdem ich mir unsere Fotos von früher angesehen und dich so unendlich vermisst hatte.«

Lydia lächelte leicht. »Ich habe dich auch vermisst, und ich bin froh, dass du diese Entscheidung getroffen hast. Aber warum willst du dann wegfahren? Ich habe dich zwar auf die Idee gebracht, aber ich dachte, du machst ein paar Tagesausflüge und nicht, dass du die nächsten sechs Wochen durch Schottland fährst.«

Ich zuckte mit den Schultern. »Warum nicht? Ich wollte schon immer reisen. So kannst du deine Zeit mit Vincent verbringen. Ich weiß doch, wie sehr er dir fehlt, obwohl ihr euch erst gestern gesehen habt.«

Ich zwinkerte ihr grinsend zu und sah zufrieden, wie sich Lydias Gesichtsfarbe ins Rosafarbene änderte.

»Das stimmt überhaupt nicht«, murmelte sie und ich schnaubte nur.

Lydia schüttelte den Kopf. »Ich hätte doch aber auch viel Zeit mit dir verbracht.«

Ich nickte. »Ich weiß. Aber ich möchte es so. Und außerdem kann ich diese Reise nutzen, um mich ein bisschen um mich zu kümmern. Um herauszufinden, was ich will. Du weißt so gut wie ich, dass ich mein Leben lang nach ihren Regeln und Vorstellungen gelebt habe. Und ich glaube, naja, ich glaube, jetzt kommt meine Zeit.«

Lydia lächelte mich so stolz an, dass mir Tränen in die Augen traten. Sie legte einen Arm um mich und ich lehnte mich an sie.

»Ich werde dich vermissen, aber ich freue mich für dich. Du musst mir Fotos schicken. Und Updates, wo du gerade bist, was du erlebst, was du isst - ich will alles wissen!«

Ich kicherte und murmelte: »Versprochen.«

Eine Weile saßen wir aneinander gekuschelt, während Lydia beruhigend meinen Arm streichelte, bis sie sich plötzlich räusperte. »Eine Frage hätte ich da aber noch.«

Ich stöhnte leise und wusste genau was jetzt kommen würde. »Warum zum Teufel fährst du sechs Wochen lang mit Seth durch die Gegend?«

Bei diesem Gedanken biss ich leicht die Zähne zusammen. Ich hatte keine Wahl. Seine Bedingung war ein notwendiges Übel, das ich akzeptieren musste. Er hatte mir nicht verraten, warum er unbedingt mitwollte, doch mir sollte es egal sein.

»Er wollte mit«, antwortete ich beiläufig.

»Ich dachte du magst ihn nicht?« Lydia klang skeptisch und ich zuckte mit den Schultern.

»Ich habe schon früher mit Menschen gearbeitet, die ich nicht leiden konnte. Und ich darf seinen Van fahren.«

Lydia nickte, als würde sie verstehen. Dann sah sie mich fragend an. »Und wie finanziert ihr die Reise? Du hast sicherlich genug Taschengeld, aber Seth? «

Das war der schwierigere Teil an der ganzen Geschichte. Ich räusperte mich und sah auf meinen Schoß. »Meine Eltern haben mir das Taschengeld gestrichen. Schon vor Monaten.«

Lydia sah mich mit großen Augen an. »Sie haben was getan?«

Ich seufzte. »Sie waren nicht damit einverstanden, dass ich das Geld für meinen Blog und Kooperationen ausgegeben habe. Also haben sie es gestrichen. Aber das ist egal, ich schaffe es auch ohne sie. Die ersten Wochen reicht das Geld von den Kooperationen aus. Wir kriegen das schon hin.«

Keine Ahnung, wen ich mehr überzeugen wollte, Lydia oder mich. Aber ich wollte diese Reise unbedingt! Das würde ich mir nicht von meinen Eltern kaputtmachen lassen.

Lydia nickte schließlich. »Ich kenne dich lang genug Sav, und ich weiß, dass man dich nicht davon abbringen kann, wenn du dir etwas in den Kopf gesetzt hast. Also weiß ich, dass du das schaffen wirst.« Sie schenkte mir ein Lächeln und drückte mich aufmunternd.

»Und Seth?«

»Ich habe ihn gefragt, aber so richtig wollte er nicht mit der Sprache rausrücken. Er meinte, er hätte ein bisschen was angespart und würde das Geld lieber für die Reise nutzen als für das Projekt, das er eigentlich geplant hatte. Was auch immer er damit meinte.«

Lydias Gesicht nahm einen fragenden Ausdruck an, als würde sie über etwas nachdenken. Um sie aus ihren Gedanken zu reißen, stupste ich sie mit der Schulter an. »Hey, mach dir keine Gedanken. Die Reise wird ruhig laufen, wir werden uns schon nicht zerfleischen, das verspreche ich dir. Und wenn er mich doch nervt, dann kann ich ihn immer noch im Schlaf aus dem Van werfen und weiterfahren.«

Meine Freundin brach in Gelächter aus und ich stimmte mit ein. Dies würde unsere letzte Nacht zusammen sein. Der Schmerz des Abschieds war da, doch die Vorfreude auf ein neues Abenteuer überwog. Ich würde etwas nur für mich tun. Vielleicht würde ich dann endlich wissen, wer ich eigentlich war. Wer ich sein wollte.

Kapitel 3

Savannah Lynn, sitz gerade!« Die Stimme meiner Mutter ließ mich zusammenzucken.

Ich schielte vorsichtig zu ihr. Sie saß mir gegenüber in der Limousine und ihr strenger Blick strafte mich.

»Aber Mum, ich bin so müde«, jammerte ich. Wir saßen seit Stunden im Auto, mein Hintern tat furchtbar weh und ich war so hungrig und erschöpft.

Sie zog missbilligend die Augenbrauen zusammen. »Du kannst schlafen, wenn wir zuhause sind. Wenn du so herumlümmelst, machst du dir deinen Rücken kaputt. Zeig mir ein Model, das einen Buckel hat.« Ihr Blick hatte etwas Herausforderndes, doch ich schwieg. Ich wollte nicht streiten.

Mein Dad blickte von seinen Unterlagen auf. Ein strafender Ausdruck trat in seine Augen, der nicht mir galt. »Amanda, sie ist acht. Findest du es nicht zu früh, um über das Modelbusiness zu reden?«

Mum drehte sich zu ihm um. »Ich dachte, du willst dich nicht mehr in ihre Erziehung einmischen?«

Nein. Nein, bitte nicht. Nicht schon wieder.

Mein Dad schnaubte, packte seine Unterlagen fester, das Papier raschelte unter seinem Griff. »Das hatten wir doch schon. Ich habe nie gesagt, dass ich mich raushalten will.« Seine Stimme hatte einen gefährlichen Unterton angenommen.

»Ach, jetzt verstehe ich. Ihre Zukunft bestimmst du, aber alles andere bleibt an mir hängen? Willst du das damit sagen?« Mum stichelte und reizte ihn.

Dad warf ihr einen wütenden Blick zu. »Verdammt, Amanda! Wie oft willst du diese Diskussion noch führen? Ich bin nun mal ein vielbeschäftigter Mann. Ich habe eine Firma zu leiten!«

»Und ich nicht?! Du leitest diese Firma nicht allein!«, schrie sie.

Dad knurrte und schüttelte den Kopf. »Was willst du noch von mir? Ich gebe dir doch alles!« Dad schrie nun ebenfalls.

Ich legte mir die Hände auf die Ohren, wollte ihr Geschrei auszublenden.

»Sie ist auch deine Tochter! Du könntest dich ab und zu um sie kümmern!«

»Ich habe dir von Anfang an gesagt, dass ich keine Kinder will!«

Ungewollt.

Ungenügend.

Es war nichts Neues und trotzdem tat es in meiner Brust weh. Ich drückte meine Hände fester auf meine Ohren und hörte ihre dumpfen Schreie. Schon wieder ein Streit. Schon wieder wegen mir. Ich war an allem schuld. Daran, dass sie sich hassten. Aber ich versuchte immer alles zu tun, was sie mir sagten. Ich war doch artig. Wieso liebten sie mich nicht? Wieso stritten sie immer nur? Ich kniff meine Augen zusammen und wünschte mich weg, weit weg.

»Savannah!« jemand rief meinen Namen. Hatte mich jemand gehört? Wollte mir jemand hier heraushelfen? Vielleicht ein Engel? Jemand rüttelte an meiner Schulter …

»Hey Savannah, schläfst du?«

Ich fuhr hoch, versuchte mich zu orientieren. Ich saß in einem Auto, um mich herum waren Berge und Felder. Eine Hand berührte mich an der Schulter und ich zuckte zusammen. Mein Blick glitt nach links, zu ihm. Seth Brady. Meinem Reisegefährten für die nächsten Wochen.

Seine braunen Augen sahen mich fragend an. »Alles in Ordnung? Ich glaube du hast schlecht geträumt.«

Geträumt … es war ein Traum? Es hatte sich so real angefühlt.

Ich rieb mir übers Gesicht, um den Rest Müdigkeit zu vertreiben und setzte mich gerade in meinen Sitz. Mein Kopf pochte leicht und ich musste mich mehrmals räuspern. »Ich habe nicht geträumt. Wo sind wir?«, versuchte ich das Thema auf etwas anderes zu lenken.

Seth warf mir noch einen kurzen, zweifelnden Blick zu, schien den Wink aber zu verstehen. Er sah aufs Navi und runzelte die Stirn. »Wir müssten in wenigen Minuten in Portmahomack ankommen.«

Ich nickte und sah aus dem Fenster.

Seth fing an auf dem Lenkrad zu trommeln und räusperte sich. »Also. Warum wolltest du diesen Roadtrip machen?«

Ich warf ihm einen Blick zu. »Stell keine Fragen, deren Antworten dich nichts angehen, Scotty.« Das kam schärfer, als beabsichtigt aus meinem Mund und ich biss die Zähne zusammen als ich sah, wie Seth sich verkrampfte.

Klasse Sav, ihr seid erst wenige Stunden unterwegs, und schon zerstörst du die Stimmung.

Ich seufzte und deutete auf die nächste Ausfahrt. »Nimm die. Dann bieg rechts ab.«

Seth blinzelte mehrmals hintereinander, dann runzelte er die Stirn. »Aber laut Navi …«

»Vergiss das Navi. Fahr einfach«, murmelte ich. »Bitte.«

Er bog ab und wartete auf meine nächste Anweisung. Wir fuhren eine kurze Straße entlang und bogen wieder ab. Kurze Zeit später erreichten wir Portmahomack. Das kleine Dorf lag auf einem Hügel und verdeckte die Sicht aufs Meer. Je weiter wir hineinfuhren, desto schmaler wurden die Straßen und Gassen und desto holpriger wurde es. Ich ließ meinen Blick über die Häuserreihen schweifen und stellte fest, dass es eigentlich wie ein ganz normales Dorf wirkte. Aber irgendwas hatten diese Häuser an sich, dass ich meine Augen nicht abwenden konnte. Sie wirkten alt und marode, aber genau das machte es so gemütlich. Es war schwer zu erklären, aber wenn ich an mein Zuhause in Glasgow dachte, dann war das hier ein riesiger Unterschied. Unser Haus war modern, mit vielen hohen Fenstern, die Fassade glänzte beinahe und der Vorgarten war ordentlich. Kein Wunder, wenn jede Woche jemand kam, um das Haus zu reinigen und den Garten zu pflegen. Hier wirkte es, als ob die Menschen mit Liebe und Hingabe ihre Häuser und Gärten pflegten, nicht mit einem Lineal.

Vereinzelt arbeiteten ein paar Bewohner im Freien, bauten an ihren Häusern, zupften Unkraut oder gossen Blumen.

»Sieh mal«, sagte Seth und riss mich aus meinen Gedanken. Ich folgte seinem Finger und stieß ein Keuchen aus, als ich das Meer vor uns sah. Das Wasser glitzerte in der Sonne. Es war ein atemberaubender Anblick.

Wir hielten auf einen Parkplatz direkt an der Küste und Seth stellte den Motor ab. Die folgende Stille schien mich zu erdrücken und ich verließ fluchtartig den Van, schloss meine Augen und atmete für einen Moment die frische Luft ein. Sie roch nach Salz, Blumen und Freiheit. Der Juli war in diesem Jahr außergewöhnlich mild.

Das Zuschlagen einer Autotür ließ mich die Augen wieder öffnen.

Ich holte meinen Rucksack, setzte ihn auf und deutete auf den schmalen Weg, der die Straße hinaufführte. »Gehen wir.«

Ich lief los, ohne auf ihn zu warten, hörte aber, dass er mir folgte. So viele Eindrücke prasselten auf mich ein, dass ich nicht wusste, wohin ich zuerst sehen sollte.

Links neben mir erstreckte sich der Ozean, einzelne Stege ragten ins Wasser, an denen kleine Boote ankerten. Wenn ich nach rechts sah, konnte ich erneut Häuser sehen, die genauso schön waren wie die anderen. Es hatte etwas Magisches, wie sich das Meer in ihren Fenstern spiegelte. Ein paar Spaziergänger kamen uns entgegen, sie grüßten freundlich und wünschten uns einen schönen Tag. Ich fühlte mich gerade unglaublich wohl. Hier zu sein, weit weg von zuhause, allein. Ich schloss für einen Moment die Augen und genoss diesen Augenblick, als es hinter mir klickte. Perplex drehte ich mich um und sah Seth mit einer Kamera.

Er fotografierte die Umgebung und strahlte dabei eine solche Zufriedenheit aus, dass ich nicht anders konnte, als ihn zu beobachten. Er musste meinen Blick bemerkt haben, denn er sah mich fragend an.

Ich deutete auf die Kamera. »Du fotografierst?«

Er kratzte sich verlegen am Kopf. »Ja, aber ich bin nicht so gut darin.«

»Darf ich?« Ich trat zu ihm und nahm ihm vorsichtig die Kamera aus der Hand. Sie war groß und schwer. Sie musste ein Vermögen gekostet haben.

Ich klickte mich durch die Galerie und runzelte die Stirn. »Nicht so gut? Die sehen ziemlich professionell aus.«

Seth zuckte nur mit den Schultern und sah ein wenig verlegen aus.

Mir kam eine Idee. Ich sah mich um und deutete auf ein nahegelgenes Haus. Es war kleiner als die anderen und dahinter konnte man eine kleine Wiese sehen. Die Fassade war aus grau-weißem Stein, der an manchen Stellen bereits Risse hatte und abbröckelte. Es passte farblich perfekt zu meinem Oberteil. Genau so etwas wollte ich für meinen Blog. Außergewöhnliches, Gegensätze, Einzigartiges. »Könntest du ein paar Bilder von mir machen? Für meinen Blog?«

Seth starrte mich an, als hätte ich ihn gerade gefragt, ob er mit mir Nacktbaden gehen wollte.

Ich zog belustigt eine Augenbraue hoch und er nickte zögerlich. Vielleicht hatte seine Anwesenheit auf dieser Reise doch etwas Gutes.

Vor der Mauer stellte ich mich in Position, so, wie ich es gelernt hatte. Ein vertrautes Gefühl stieg in mir auf und ich versuchte es zu ignorieren.

Du bist kein Model, Sav. Du machst nur Fotos für deinen Blog. Nichts weiter. Ich atmete tief durch und blickte in die Kamera.

Seth überraschte mich, indem er sich halb auf den Boden kniete und mit der Hand fuchtelte. »Noch einen Schritt nach links, und leg den Kopf etwas schräger. Ja, so.«

Ich kam seinen Aufforderungen nach und wartete, bis das vertraute Klicken ertönte. Das Blitzlicht blendete mich für einige Sekunden und eine Erinnerung, die ich nicht abschütteln konnte, drängte sich an die Oberfläche.

»Ja so ist es gut! Dreh dich nochmal, zeig mir deinen Hintern, Baby.« Luis, unser Fotograf, zwinkerte mir zu und ich schluckte die Galle hinunter, die sich ihren Weg nach oben bahnte. Hilfesuchend blickte ich mich um, doch niemand war da.

Meine Mum telefonierte mal wieder im Hintergrund und die anderen Mädchen tratschten in einer Ecke.

Luis war ganz auf mich konzentriert. Wie immer. Es war mir zuwider. Seine Blicke jagten mir jedes Mal widerliche Schauer über den Rücken. Seit ich ihn kennengelernt hatte, konnte ich ihn nicht ausstehen. Der Mann war über Vierzig und gaffte uns an, als wären wir irgendeine Ware.

Ich hasste das alles. Die Fotoshootings, den Laufsteg, die Trainings. Ich wollte nicht hier sein, wollte zurück in die Schule, um den Geschichtstest zu schreiben und mit Lydia über Jungs zu reden. Wie eine ganz normale Vierzehnjährige.

Als Mum heute Morgen verkündet hatte, dass ich nicht in die Schule, sondern zum Training gehen würde, hatte ich alles versucht, um sie vom Gegenteil zu überzeugen. Ich hatte sogar Dad angefleht, doch er betonte, dass dies eine Sache zwischen Mum und mir wäre. Wie immer. Auf der Fahrt hierher hatte ich mir eine Predigt anhören müssen, wie glücklich ich mich schätzen könnte. Dass Millionen Mädchen für diese Chance sterben würden. Dass ich dankbarer sein sollte.

Ich wollte das alles aber nicht. Wollte nicht aufgrund meines Aussehens bewertet werden, wollte nicht mit Blicken ausgezogen werden und erst recht nicht mit mörderisch hohen Schuhen über einen Laufsteg gehen, nur um danach Blasen an den Füßen zu hn. Ich wollte Kleider entwerfen, schneidern, nähen, kreativ sein. Aber da stieß ich auf taube Ohren. Wie immer.

Luis schnalzte mit der Zunge und kam auf mich zu. »So wird das nichts, Savannah, Süße. Du musst schon mitmachen.« Er packte mich an der Hüfte und alle meine Sinne schrien danach wegzulaufen. Seine Finger gruben sich in meine Haut und ich konnte das vertraute Glitzern in seinen Augen sehen. Mir wurde übel.

Das Kleid, welches ich trug, ein kurzes Baby Doll von Chanel, verhüllte kaum etwas von meiner Figur.

Luis drehte mich etwas und nahm meine Hand.

Ich zog sie rasch weg und murmelte: »Das kann ich schon selbst.«

Er zog eine Augenbraue hoch, sichtlich verärgert über mein Verhalten. Er betrachtete mich, als wäre ich ein ungezogenes Gör. Und ich wusste, welche Folgen das haben würde. Sobald das Training vorbei war, würde er mit meiner Mum sprechen. Und dann würde ich die Konsequenzen tragen müssen. Wie immer.

Er schüttelte den Kopf und kehrte zur Kamera zurück. Der Ventilator wurde angestellt, die Musik erklang und Luis brüllte mir Befehle zu, die ich versuchte umzusetzen. Das Blitzlicht blendete mich. Tränen schossen mir in die Augen.

Mein Blick huschte zu Mum, die plötzlich hinter Luis auftauchte. Sie betrachtete missbilligend die Bilder und ich konnte hören, was sie dachte.

Schlecht. Nicht gut genug. Ungenügend.

»Savannah. Hey!« Seths Stimme holte mich zurück in die Realität und ich blinzelte mehrmals. Er stand direkt vor mir und starrte mich an.

Ich wich einen Schritt zurück, konnte die plötzliche Nähe nicht ertragen. Die Wand hinter mir stoppte mich. Ich holte tief Luft. Es fühlte sich an, als hätte ich das seit Minuten nicht getan.

»Alles in Ordnung? Du hast plötzlich nicht mehr reagiert«, sagte er und hielt meinen Blick prüfend fest.

Langsam nickte ich, strich mir eine Strähne hinters Ohr. »Hm. Sind die Bilder gut geworden?«, fragte ich beiläufig und räusperte mich.

Seth reichte mir die Kamera, doch ich nahm sie nicht an. Wollte sie mir nicht ansehen. Konnte es nicht. Nicht jetzt.

Nicht gut genug. Schlecht. Ungenügend.

Ein Tropfen landete auf meiner Wange. Es fing an zu regnen.

Die Menschen um uns herum verschwanden in ihren Häusern oder beschleunigten ihre Schritte.

Seth sah sich um und deutete auf ein kleines Café. »Wollen wir uns da erst mal reinsetzen und etwas essen?«

Ich nickte und folgte ihm. Wollte nur weg von diesem Platz. Um das Klicken in meinen Ohren und die Lichtblitze, die mich blendeten, zu vergessen.

Kapitel 4

Es regnete seit einer Stunde und die Wolken am Himmel wurden immer dunkler. Ich beobachtete schon eine Weile lang die Fischer, die ihre Boote zurück zum Ufer brachten, ihre Ausrüstung verstauten und in ihre Häuser liefen. Ein paar blieben jedoch und sahen sich die See an. Eine leise Melodie drang an mein Ohr, die aus dem Radio im Café stammte. Hier im Inneren war es wohlig warm und es roch nach frischgebackenen Kuchen. Mein Kaffee war inzwischen fast kalt, weil ich ihn kaum angerührt hatte, seitdem wir uns gesetzt hatten. Ich drehte die Tasse seit mehreren Minuten hin und her und ließ meinen Blick weiter über die Landschaft wandern.

Mein Begleiter saß mir die ganze Zeit gegenüber und kritzelte etwas in ein Notizbuch. Am Anfang versuchte er Smalltalk zu betreiben, als er jedoch merkte, dass ich nicht in der Stimmung war zu reden, gab er es auf und ließ mich in Ruhe. Schließlich sah ich zu ihm und beobachtete ihn eine Weile.

Seths Blick ruhte konzentriert auf den Seiten, die sich immer mehr mit seinem Geschriebenen füllten. Eine kleine Falte hatte sich zwischen seine Brauen geschlichen und gerade biss er in seinen Bleistift, als würde er über etwas grübeln.

»Was machst du da?« fragte ich schließlich, da ich meine Neugier nicht mehr zurückhalten konnte.

Er sah kurz auf und blinzelte überrascht, als hätte er vollkommen vergessen, dass ich da war.

»Ich schreib was auf«, antwortete er knapp. Ich kniff die Augen zusammen. »Und was?«

»Ehm, ein paar Ideen. Für eine Geschichte an der ich schreibe. Egal, ist nicht so wichtig.« Seths Wangen röteten sich leicht.

Ich lehnte mich überrascht zurück. »Bist du Schriftsteller oder sowas?«

Er kratzte sich verlegen am Kopf und räusperte sich. »Oder so«, murmelte er und widmete sich wieder seiner Arbeit.

Ich seufzte und kramte in meiner Tasche nach meinem Notizbuch. Ich zog es hervor und schlug meine Löffelliste auf. Also, meine Liste mit Dingen, die ich noch erleben wollte, bevor ich den Löffel abgab.

Lydia und ich hatten uns damals zusammen eine erstellt und uns geschworen, all diese Dinge abzuhaken. Einige hatten wir über die Jahre wieder gestrichen.

Zum Beispiel Schauspielerin werden. Allerdings hatten wir das Ziel nie erreicht. Lydia war eine grauenvolle Schauspielerin und ich hasste es im Mittelpunkt zu stehen. Außerdem konnte ich mir nicht mal ein paar Vokabeln merken, wie sollte ich es mit einem ganzen Drehbuch schaffen? Nein, Danke.

Der nächste abgehakte Punkt ließ mich grinsen. Vor Jahren hatten Liddy und ich die Idee gehabt, eine Nacht lang so viele Süßigkeiten und Chips zu essen, wie wir konnten. Das endete damit, dass ich kotzend über dem Klo hing und Liddy mit Bauchschmerzen in der Ecke saß. Seitdem konnte ich keine Sour Patch Kids mehr essen. Ernsthaft, wenn ich nur an die Konsistenz dachte, drehte sich mir der Magen um. Aber trotz allem war es auch eine schöne Erinnerung. Ich weiß noch genau, wie Liddys Dad uns ausgeschimpft hat. Und danach bekamen wir heißen Tee und eine Gute-NachtGeschichte.

Dies waren die einzigen Momente, in denen ich Familienliebe erlebt hatte. Lydias Eltern waren wie Ersatzeltern für mich gewesen und ganz oft hatte ich mir vorgestellt, wie es wäre, wenn sie es wirklich wären. Wenn Liddy meine Schwester wäre und ich genauso bei der Verwirklichung meiner Träume unterstützt werden würde wie sie.

Mir verging das Grinsen und ein vertrauter Schmerz bohrte sich in meine Brust. Schluss damit! Du bist hier, um Spaß zu haben, also hör auf zu jammern, Sav. Entschlossen klappte ich mein Buch zu und bemerkte, wie Seth zusammenzuckte.

»Bist du fertig? Können wir weiter?« fragte ich und er nickte langsam.

Ich stand auf, packte alles in meinen Rucksack und ging Richtung Tür. Seth kommentierte meine plötzliche Aufbruchsstimmung nicht, sondern folgte mir einfach.

Kapitel 5

Unser nächstes Ziel war der Leuchtturm. Ich hatte ihn entdeckt, als ich mir einige Touristeninfos zu Portmahomack durchgelesen hatte. Am schönsten war er bei Nacht, deshalb hatte ich Seth vorgeschlagen, die Nacht im Van zu verbringen. Der Parkplatz, auf dem wir standen, bot genug Platz und wir waren nicht die einzigen Touristen, die diesen Ort zum Schlafen nutzten. Es wäre unsere erste Nacht im Van und ich war unglaublich aufgeregt.

Der Weg zum Leuchtturm war steil und führte an Klippen entlang. An einem hohen Punkt blieb ich stehen, setzte mich auf die Kante des Felsens und blickte in die Ferne. Das Meer schlug tosend gegen den Stein tief unter mir. Der Himmel verdunkelte sich und man konnte bereits den Mond sehen. Neben mir klickte es ein paar Mal und ich beobachtete Seth beim Fotografieren. Und mit einem Mal wurde meine Brust etwas leichter.

Das war es. Das war es, was ich liebte. Was ich wollte. Freiheit. In den Tag hineinleben, Neues entdecken und nicht dafür verurteilt werden.

Gemeinsam sahen wir zu, wie die Sonne scheinbar im Ozean versank und der Leuchtturm zum Leben erwachte. Das Licht ließ das Meer erstrahlen und es sah beinahe aus, als würden die sanften Wellen tanzen. Langsam kamen die ersten Sterne zum Vorschein und das Licht des Turms ließ sie noch mehr strahlen. Ein unglaublicher Anblick.

Seth lächelte. »Das klingt jetzt sicher total dämlich für dich, aber es kommt mir vor, als wären wir schon seit Wochen unterwegs. Ich weiß, wir sind erst heute Morgen losgefahren, aber, naja, ich schätze, ich will einfach Danke sagen. Danke Savannah, dass du mich mitgenommen hast. Ich habe das gebraucht.«

Ich habe das gebraucht.

War ich auf dieser Reise also nicht die Einzige, die auf der Suche nach etwas war? Die eine Auszeit brauchte? Ging es ihm womöglich auch so?

Ich nickte nur und ließ meine Gedanken vom Wind davontragen.

***

Der Van hatte ein eingebautes Bett, das allerdings ziemlich schmal war. Doch fürs Erste würde es gehen. Auch wenn es die erste Nacht mit einem Jungen neben mir war. Das machte mir natürlich überhaupt nichts aus, nein. Hätte mir Lydia davon erzählt, wäre ich aus dem Quietschen und Kreischen nicht mehr herausgekommen. Außerdem war es nur Seth. Der nervige Freund von Lydia und mein Reisegefährte. Nicht mehr und nicht weniger. Trotzdem würde ich ihm klar machen, wie das hier laufen würde. Ich stapelte ein paar Kissen zwischen unseren Betthälften, damit er gar nicht erst auf die Idee kam, näher zu rücken.

Kaum hatte ich es mir im Bett gemütlich gemacht, verschwand Seth nach draußen. Sollte mir recht sein. Dann hatte ich Zeit für mich allein. Wobei mich trotzdem interessieren würde, was er da draußen tat. Verärgert über meine eigene Neugier setzte ich mich auf und spähte aus dem Fenster. Er saß auf einem Liegestuhl und schrieb, nein, hämmerte auf seinen Laptop ein.

Da ich selbst noch nicht müde war, schnappte ich mir meinen eigenen und versuchte an meinem Header zu basteln. Wie immer war es eine Katastrophe. Es war nicht so, als wäre ich unkreativ, was diese Dinge anging. Ich kannte mich auch gut mit Technik aus. Doch in diesem Fall hatte ich eine genaue Vorstellung und bekam es einfach nicht hin. Ich betätigte ein paar Tasten und mal wieder fror der Bildschirm ein.

»Ach, komm schon!« Frustriert ließ ich meinen Kopf gegen die Fensterscheibe fallen. Ich tippte mehrmals auf die Tasten doch nichts passierte. Ein Fluch kam über meine Lippen und ich klappte das Mistding zu.

Die Tür zum Van wurde aufgezogen und die kalte Luft ließ mich augenblicklich frösteln. Sofort kuschelte ich mich enger in die Decke und beobachtete, wie Seth hineinkletterte.

Als er meinen Blick bemerkte, schreckte er zurück. »Tut mir leid, habe ich dich geweckt?«