Almost True Crime 2: Solange du atmest, kann ich nicht leben - Ruth Stiller - E-Book

Almost True Crime 2: Solange du atmest, kann ich nicht leben E-Book

Ruth Stiller

0,0
11,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Warum morden Jugendliche? True Crime, endlich auch für Jugendliche! 

Ein Jugendroman, inspiriert von einem wahren Verbrechen: 

Jonas kann einfach mit allen und was er anpackt, gelingt. Adrian dagegen steht im Schatten seines kleinen Bruders. Doch dann entdeckt er das Boxen für sich, er hat Talent, und endlich was Eigenes gefunden, hier gibt's keinen Jonas, der ihn überflügelt. Zu seinem ersten großen Kampf wollen sogar die Eltern kommen und ihn, Adrian, anfeuern. Da kann er fast vergessen, dass er gerade erst herausgefunden hat, dass er adoptiert wurde. Jonas ist das leibliche Wunderwunschkind, war ja klar. Als der Kampf beginnt, sind die Eltern nicht da. Und Adrian ist verzweifelt. Schon wieder hat ihm Jonas alles versaut. Wenn er nur weg wäre ...

  • Ein mörderischer Stoff, kriminell gut geschrieben und mit psychologischem Tiefgang
  • Inspiriert von einem echten Fall: Zum Schutz der Persönlichkeitsreche der echten jugendlichen Täter*innen sind die Geschehnisse fiktionalisiert
  • Für Jugendliche und alle, die sich für jugendliche Straftäter*innen interessieren

Ein weiterer spannender Fall: "Almost True Crime - Wer nicht liebt, muss sterben"

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Das Buch

Jonas kann einfach mit allen und was er anpackt, gelingt. Adrian dagegen steht im Schatten seines kleinen Bruders. Doch dann entdeckt er das Boxen für sich, er hat Talent, und endlich was Eigenes gefunden, hier gibt's keinen Jonas, der ihn überflügelt. Oder versaut der Kleine ihm auch jetzt wieder alles?

Ein mörderischer Stoff, kriminell gut geschrieben, inspiriert von einem echten Fall!

Die Autorin

Ruth Stiller schreibt seit vielen Jahren Krimis. Besonders beschäftigen sie Ursache und Wirkung der Verbrechen von und an jungen Menschen. Wie kann man schwere Gewalttaten von Jugendlichen erklären? Welche Rolle spielt die Familie? Und welche Chancen auf Rettung hätte es gegeben? Die Autorin denkt sich die Geschichten aus, die sie hinter den menschlichen Abgründen und Tragödien vermutet. So könnte es gewesen sein. Ruth Stiller lebt hinter einer der vielen Fassaden in München und schaut hinaus.

Der Verlag

Du liebst Geschichten? Wir bei Thienemann auch!Wir wählen unsere Geschichten sorgfältig aus, überarbeiten sie gründlich mit Autor:innen und Übersetzer:innen, gestalten sie gemeinsam mit Illustrator:innen und produzieren sie als Bücher in bester Qualität für euch.

Deshalb sind alle Inhalte dieses E-Books urheberrechtlich geschützt. Du als Käufer erwirbst eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf deinen Lesegeräten. Unsere E-Books haben eine nicht direkt sichtbare technische Markierung, die die Bestellnummer enthält (digitales Wasserzeichen). Im Falle einer illegalen Verwendung kann diese zurückverfolgt werden.

Mehr über unsere Bücher und Autor:innen auf:www.thienemann-esslinger.de

Thienemann auf Instagram:https://www.instagram.com/thienemannesslinger_booklove

Viel Spaß beim Lesen!

Adam erkannte Eva, seine Frau; sie wurde schwanger und gebar Kain. Da sagte sie: Ich habe einen Mann vom Herrn erworben.

Sie gebar ein zweites Mal, nämlich Abel, seinen Bruder. Abel wurde Schafhirt und Kain Ackerbauer.

Nach einiger Zeit brachte Kain dem Herrn ein Opfer von den Früchten des Feldes dar; auch Abel brachte eines dar von den Erstlingen seiner Herde und von ihrem Fett. Der Herr schaute auf Abel und sein Opfer, aber auf Kain und sein Opfer schaute er nicht. Da überlief es Kain ganz heiß und sein Blick senkte sich … Kain sagte zu seinem Bruder Abel: gehen wir aufs Feld. Als sie auf dem Feld waren, griff Kain seinen Bruder Abel an und erschlug ihn.

Genesis 4

PROTOKOLL

»In der Nacht war die Hölle los, ich weiß nicht, Vollmond oder so. Keiner hat wirklich geschlafen, kaum war ich aus dem einen Zimmer raus, hat’s aus dem anderen schon wieder geklingelt. Sie haben ja sicher gelesen, wie es bei uns in den Krankenhäusern zugeht. Früher waren wir in den Nachtschichten immer zu zweit, da war es möglich, sich zwischendurch mal hinzusetzen. Wenn du allein bist – keine Chance. Als es endlich auf sechs zuging und die Tagler im Anmarsch waren, konnte ich eigentlich schon nicht mehr Piep sagen vor lauter Müdigkeit. Da bist du echt in so einem Film drin, du denkst nur schlafen, schlafen, schlafen, aber wenn du dann durch die Luft nach Hause gelaufen bist – topfit. Nein, ich mache keine Nachtschichten mehr, vor allem jetzt, nach dem, was passiert ist. Hab ich dem Chef schon gesagt, nicht mit mir, da bin ich dann die Nächste. Aber genug ... also, ich war auf dem Weg nach Hause, schon Jacke an und Straßenschuhe, musste nur noch einmal den Gang runter an den Zimmern vorbei. Da war es still, jetzt schlafen sie alle, hab ich noch gedacht. Es war so still, dass mir das Knarren von meinem rechten Schuh laut vorgekommen ist. Der knarrt schon von Anfang an, kann der Schuster auch nichts machen, nur der Rechte, ist doch komisch, oder? Also, der Kleine war am Abend gekommen. Bein gebrochen, ziemlich heftige Gelenkfraktur. Die Eltern total aufgelöst, wie immer, aber da ging es nur um irgend so ein Fußballinternat, und wie das jetzt alles gehen sollte, Katastrophe, Katastrophe. Und der Junge? Gestrahlt wie die helle Sonne, alles nicht so schlimm, dann geht’s eben nicht, und auf dem Kopf eine rote Mütze, auch zum Schlafen, nee, nur zum Schlafen, hat er noch gesagt und mir zugezwinkert wie so ein Alter. Aufgefallen ist mir, dass er sehr klein war für seine vierzehn, wie ein Kind noch, aber tapferer als der stärkste Bär. Ich meine, der muss doch Schmerzen gehabt haben in seinem gebrochenen Bein. Der hat nicht geklingelt, als Einziger, das sage ich Ihnen, nicht ein Mal. Vielleicht liegt’s am Asthma, dass die so tapfer sind, die wissen es ja schon, wie es ist zu leiden, na ja, wo war ich? Als ich den Gang lang bin, stand seine Zimmertür einen Spalt offen, die 202. Ich mache die Tür immer zu, ganz sicher, ist ja in meinem eigenen Interesse, und der Kleine konnte nicht aufstehen, das ganze Bein in Gips. Deswegen war es verdächtig. Ich wollte erst vorbeigehen, gebe ich zu, ich war einfach viel zu kaputt. Aber es war so komisch, die Stille, anders als sonst, kann ich nicht erklären, ich hatte Gänsehaut auf den Armen, Alarm irgendwie. Und da bin ich dann doch rein.«

Simone Theill, Krankenschwester

1. KAPITEL

Jonas war immer der Sonnenschein, schon bei der Geburt lachte ihm der Himmelskörper aus dem Arsch. So jedenfalls die Erzählung. »Kam auf die Welt und lachte, mein Kleiner!« Wenn Mama davon sprach, musste sie auch immer lächeln. Adrian hatte keine Erinnerung daran, vielleicht ein Gefühl, den merkwürdigen Geschmack von Veränderung im Mund. Als Jonas dazukam, war er nicht mehr der Einzige.

Jetzt, 14 Jahre später, saß der immer noch Kleine mit aufgeregten, roten Wangen am Frühstückstisch, fuchtelte mit der Gabel, auf die er sein Brötchen gespießt hatte, in der Luft herum und plapperte mit vollem Mund ohne Unterlass. »Du schaffst das, Adi, ich bin ganz sicher, du bist doch voll die Wand in der Verteidigung, Endstation für jeden Stürmer, ha!« Das Brötchen flog in hohem Bogen durchs Zimmer, prallte an die Schrankwand und verendete auf dem Boden. »Beweis!«, brüllte er, lachte sich halb tot und Mama mit ihm, fand immer lustig, was für ihn lustig war.

»So, und jetzt komm du mal runter«, sagte Papa grinsend und legte ihm die große Hand auf den Arm. »Dein Bruder muss sich konzentrieren.« Er trug schon sein Traineroutfit, Coach Bellmer stand in Neonbuchstaben hinten drauf. Papa wusste wahrscheinlich, dass er bei seinen Schützlingen nur der Beller hieß. Er konnte sich wahnsinnig aufregen, wenn etwas nicht klappte, wenn er Sachen zweimal sagen musste, wenn die Jungs nicht in den Tritt kamen oder herumalberten. »Fußball ist eine ernste Angelegenheit«, pflegte er zu predigen, »wir sind ein Team, keiner lässt den anderen im Stich und keiner macht was anderes als die anderen!« Fußball war Papas Leben.

Adrian rührte sein Frühstück nicht an. Er wollte ja, Mama hatte sich mächtig ins Zeug gelegt, Haferflocken und Banane und lauter so Proteinsachen, aber allein die Vorstellung, irgendetwas runterzuschlucken – unmöglich. Heute war es so weit. Heute würde der Scout kommen. Er hatte noch keinen Namen, einfach der Scout vom FC Bayern. Vor vier Wochen hatte Papa Adrian zur Seite genommen, es verkündet und ihm erklärt, was das bedeutete. Als ob er das nicht selbst wusste. Der Scout, Adrian stellte ihn sich im schwarzen Trenchcoat vor, den Schlapphut so tief ins Gesicht gezogen, dass man nie seine Augen sah, die wiederum aber alles scharf im Blick hatten, den ganzen Platz, jeden Spieler. Der Scout suchte neue Talente, die dann in die Schmiede geholt und geformt wurden. Um wenig später Stars beim erfolgreichsten Fußballverein in Deutschland zu werden und noch später in der Welt.

Es kam nicht oft vor, dass sich so ein Scout zu ihnen verirrte, Adrian hatte es noch nie erlebt, Papa einmal. Ohne Erfolg damals. Was wäre es doch für eine Krönung seiner langjährigen Arbeit, einen seiner Jungs weiter befördern zu können. Und noch mehr Krönung sicherlich, wenn es dann auch noch Adrian wäre. Also hatten sie trainiert. Ganz normal montags, mittwochs und freitags mit der Mannschaft, aber an den anderen Tagen nur sie beide. Ausdauer war Adrians Thema auf der einen Seite. Dranbleiben, immer weiter, über Grenzen gehen, sich nicht kleinkriegen lassen vom eigenen Körper. Auf der anderen Beherrschung. Wie sein Vater konnte auch er von jetzt auf gleich aus der Haut fahren. Dann sah er nur noch weiß, ein grelles Licht, keine Chance mehr, klar zu denken, sich zu kontrollieren. Gut für einen Verteidiger an sich, aber schlecht, wenn man jedes Mal nach 15 Minuten vom Platz musste, weil man dem Gegner ein Ohr abgebissen hatte. Nein, das natürlich nicht. Aber Adrian war gefürchtet und fehlte dann oft in der entscheidenden zweiten Halbzeit. Sie übten Ausdauer und Kontrolle. Papa kannte da alle möglichen Tricks, hatte er doch selbst sein ganzes Leben lang mit dem Thema zu tun, und bei ihm ging es schon viel besser. Fand er. Den Gedankenkreis unterbrechen, den Fokus erweitern, an was anderes denken, von hundert runter zählen, nicht gleich antworten, einfach umdrehen und gehen. Sachen in dieser Art. Anstrengende, aber auch schöne vier Wochen. Adrian konnte sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal so viel Zeit mit seinem Vater allein verbracht hatte. Immerhin hatte Jonas das Talent, nicht er. So wie der alles hatte und konnte und wusste. Einfach so.

Als Jonas das erste Mal mit zum Fußball durfte, alt genug war, um bei den Minis mitzutrainieren, war es wie eine Offenbarung für den Beller. Als hätte sein Kleiner sein Leben lang nichts anderes gemacht, als einen Ball vor sich herzuschieben. Natürlich war Jonas oft dabei gewesen, oder Adrian hatte mit ihm in den Auen gekickt. Er hatte ihn immer mitgenommen, seinen kleinen Bruder. Nicht, weil er musste, Mama behielt ihn auch liebend gerne bei sich, ihren Sonnenschein, sondern weil Jonas wollte. »Joni will mit, Joni will mit Adi mit!« Also war er dabei, als Adrian mit seinem besten Freund Moritz die Playstation entdeckte, als sie den Dschungel hinter gepflegter Landschaft durchkämmten, um ein geheimes unterirdisches Lager zu entdecken, und auch im Freibad. Jonas konnte wie von selbst schwimmen. Er war nicht lästig, Adrian musste nicht aufpassen, Jonas war dabei, gliederte sich ein und konnte immer etwas beitragen. Bis er seinen ersten Asthmaanfall bekam.

Plötzlich, wie aus heiterem Himmel, hatten sie Mama erzählt, aber das stimmte natürlich nicht ganz. Moritz hatte eine Schachtel Zigaretten ins Lager mitgebracht. Sie waren zehn oder so, aber Moritz war schon immer neugierig und abenteuerlustig. Er hatte vor nichts Angst, probierte alles aus und brauchte schnell wieder neuen Input. Adrian mochte ihn dafür, folgte ihm, obwohl wenigstens er gelegentlich Bedenken vortrug, nur, um etwas gesagt zu haben, half eh nichts. Also rauchten sie und Jonas saß dabei. Natürlich hatte Moritz ihm auch eine angeboten, aber Jonas wollte nicht. Das war nichts für Sonnenscheine, er begab sich nicht in unnötige Gefahr, warum auch. Als er dann einen Hustenanfall bekam, lachten sie ihn aus, aber es wurde immer schlimmer, Jonas lief blau an und gab nur noch Pfeifen und Röcheln von sich. Sie schleppten ihn an die frische Luft, kühlten seinen Kopf mit Wasser aus einer schlammigen Pfütze, klopften ihm auf den Rücken. »Atmen, du musst atmen, Joni!« Damals wusste Adrian noch nicht, dass man nicht aufgeregt sein durfte, sondern Ruhe in die Situation bringen musste. Obwohl ihm das auch später nicht wirklich gelang, wie auch, wenn da einer vor deinen Augen um Luft ringt. Kurz bevor er tatsächlich erstickte, war es vorbei. Jonas konnte wieder atmen.

»Wir sagen das nicht Mama, okay?«, schlug er leise und erschöpft vor, aber das kam für Adrian nicht infrage. Jonas musste zum Arzt, das war doch kein gewöhnlicher Husten gewesen, das musste auf jeden Fall untersucht werden. »Wir könnten die Zigaretten in der Erzählung weglassen.« Er grinste und strich seinem Bruder über die schweißnasse Stirn. Jonas nickte, okay, aber er wusste eben auch, wie Mama war. Jetzt würde sie noch mehr auf ihn aufpassen, mit ihm zu allen Lungenspezialisten der Stadt laufen und statt mit Moritz und Adrian Abenteuer erleben zu können, musste er zu Hause bleiben. Da konnte sie ein Auge auf ihn haben und ihm bei Wiederholung einen der hundert Asthma-Inhalatoren bringen, die sie im ganzen Haus bereitgelegt hatte. Papa bestand trotzdem darauf, ihn mit zum Fußball zu nehmen. Er war eher der Vertreter der Herausforderung, nicht der Schonung. »Was plötzlich kommt, das geht auch wieder. Das muss man gepflegt ignorieren!« Jonas war so glücklich. In seinem Trikot und den Fußballschuhen neben Adi, mit Adi, zum Training. Er strahlte sein Sonnenscheinlächeln, strahlte Mamas Besorgnis weg. Und legte los. Einen Inhalator in der Hosentasche, einen in der Jacke, einen im Strumpf und im Rucksack zwei.

»Das kennt man doch aus den Krimis«, hatte Mama erklärt. »Da wird zum Beispiel einer entführt und dann hat er so einen Anfall und sein Spray nicht dabei … zack, das war’s!« Adrian versprach ihr aufzupassen, dass Jonas nicht entführt wurde, und dann, als er sah, wie sein kleiner Bruder Fußball spielte, wie er rennen konnte, ohne zu husten, sich in die Mannschaft einfügte, genau wusste, wo er hinlaufen sollte, voll den Überblick und schon im ersten Fußballspiel seines Lebens zwei Tore machte, wollte er einen winzigen Moment lang lieber doch nicht aufpassen.

Moritz musterte ihn aufmerksam von der Seite. Sie saßen auf den Holztribünen am Spielfeld und waren gekommen, um die Kleinen anzufeuern, so wie es die Großen damals bei ihnen auch gemacht hatten. Und das taten sie. Sprangen bei jeder Aktion auf, brüllten und streckten die Siegerfäuste in die Luft, tanzten, sangen, übten Sprechchöre. Moritz stieß Adrian in die Seite. »Der ist gut.« Adrian nickte nur, und Moritz kaute auf seiner Lippe, wie immer, wenn er kurz überlegen musste, was als Nächstes zu tun war. »Bist du eifersüchtig?«

»Quatsch. Das ist mein Bruder.«

»Hat das was damit zu tun? Ich glaube, gerade weil es dein Bruder ist.«

Moritz hatte keine Ahnung. Weil keinen Bruder. Aber reden konnte er immer viel. Vielleicht war Adrian eifersüchtig, natürlich, aber das war so ein grundsätzliches Gefühl, das er schon immer hatte, seit der Sonnenschein auf die Welt gekommen war. Möglich, dass er kurz die Hoffnung gehabt hatte, dass Jonas eben nicht Fußball spielen konnte, dass es das Einzige sein könnte, in dem Adrian ihm voraus war, das er wenigstens üben oder lernen musste. Aber nein. Dann eben nicht.

Moritz rückte näher zu ihm. »Soll ich dir was sagen?«

»Sag was.«

»Es gibt die Talentierten und die Fleißigen. Beide haben eine Chance!« Moritz gehörte übrigens zu keiner der beiden Kategorien, weswegen er diese sehr anstrengende Körperertüchtigung dann irgendwann an den Nagel hing. Er hatte Besseres zu tun, als einem Ball hinterherzulaufen. Oder seinem Vater zu gefallen. Der war nämlich schon lange weg.

»Adrian, iss doch bitte wenigstens die Banane!« Mama beugte sich über den Frühstückstisch zu ihrem Ältesten und wollte schon anfangen, ihm die Banane zu schälen, als wäre er drei, da schnappte Adrian sie sich, stopfte sie in seine Sporttasche und stand auf. »Ich esse sie dort. Kann gerade nicht … wollen wir los?«

Es war noch viel zu früh, aber dann waren sie schon mal da, konnten auf keinen Fall zu spät kommen und sich noch aufwärmen, trainieren, letzte Schwachpunkte bearbeiten.

Papa nickte und Joni sprang so entschlossen auf, dass sein Stuhl nach hinten kippte. »Joni will mit!«, klar. Und es tat irgendwie auch gut, der kleine Bruder, rein aus Solidarität auch im Fußballdress neben ihm im Auto, plapperte, was ihm einfiel, und war so sicher, dass Adrian in die Schmiede aufgenommen würde, dass er schon die Wochenenden plante, an denen er ihn besuchen kommen konnte. »Dann zeigst du mir alles, was du gelernt hast, und ich gebe hier mächtig an!« Adrian und Papa blieben wortkarg. Sie hingen beide Träumen und Gedanken nach. Adrian wusste, dass sein Vater und Trainer noch viel mehr aus ihm hatte rausholen wollen, aber an die Grenzen gestoßen war. Die Zeit viel zu knapp, und sosehr Adrian sich auch anstrengte, jede freie Minute aufwandte, mehr war nicht drin. Er ballte die Fäuste, wild entschlossen, es allen zu beweisen. Sich, dem Scout und vor allem seinem Vater. Der Sieg gehört den Fleißigen!

Der Fußballplatz lag leer in der Morgensonne, noch glitzerte Tau auf dem Rasen und Jonas machte sich einen Spaß daraus, Bilder hineinzurennen, während Adrian sich dehnte und aufwärmte, locker um den Platz lief. Sein Bruder kam ihm vor wie ein kleines Kind, nicht wie ein fast Vierzehnjähriger. Dabei war er viel klüger als die meisten seines Alters und konnte, wenn er wollte, wahre Sachen über komplexe Sachverhalte äußern, aber dann wieder: Fußspuren in Tauwiesen rennen, Brötchen schleudern, »Joni will mit« sagen. Vielleicht das Asthma. Nicht genug Luft, um groß zu werden.

Adrian pfiff ihn auf zwei Fingern zu sich. »He, du Arschkeks, lauf ein bisschen mit.«

Einträchtig trabten sie um den Platz, der kleine Bruder mit Doppelschritten, Adrian, die Kante, weit ausholend. Ihr Atem spielte in der frühen Sonne und fügte sich zu einer Wolke zusammen.

»Ich denke, du wirst mir fehlen«, schnaufte Jonas. Und das meinte er ernst und erwachsen, die Kinderstimme war ausgeschaltet.

»Abwarten.«

»Unnötig. Wenn du nicht mehr hier bist, wirst du mir fehlen. Das ist nicht zu diskutieren.«

»Ach komm, du hast so viele Freunde hier und die Schule, Fußball. Gibt genug zu tun.«

Jonas grinste ihn von der Seite an. »Männer vermissen nicht, was?«

»Arschkeks!«

»Selber!«

Beim Beller trudelte langsam die Mannschaft ein, klatschte sich ab, zog die Jacken aus, trat ihre Runde an, der Trainer machte mit.

Als Adrian und Jonas bei der Bank ankamen, stand da ein lässiger Typ im Trainingsanzug, Schnäuzer, und rieb sich die Hände warm.

»Hey Jungs, gibt’s hier irgendwo Kaffee?«

Adrian war außer Atem, stützte sich auf seine Knie und versuchte pulsmäßig runterzukommen.

»Unser Vereinsheim hat leider seit drei Monaten geschlossen«, redete Jonas drauflos, als wäre er nicht gerade mehrere Runden um den Platz gelaufen. »Babette ist krank, also Babette ist die Frau, die den Kaffee machen würde, wenn sie geöffnet hätte, und der ist richtig gut, sagen alle, ich kann’s nicht beurteilen, ich trinke keinen Kaffee …« Der Typ zog die Augenbrauen hoch, schien mittelmäßig interessiert. »Aber Sie können von uns einen haben. Mama hat ihn gekocht, damit wir fit sind.« Jonas lief zu Papas Tasche, holte die große Thermoskanne raus und schüttete dem Mann Kaffee in den Deckelbecher, wie er ihn nannte, nachdem er tagelang darüber nachgedacht hatte und Adrian damit auf die Nerven gegangen war: »Deckelbecher oder Becherdeckel?«

Jetzt überreichte er ihn sonnenscheinstrahlend und beugte sich vertrauensvoll zu dem Mann. »Heute kommt nämlich ein Scout, um meinen Bruder auszuwählen.« Er deutete mit dem Kopf Richtung Adrian, und auch der Typ schaute interessiert zu ihm rüber.

»Du bist Adrian Bellmer?«

Adrian nickte und warf seinem Bruder einen eindeutigen Blick zu, halt verdammt noch mal dein Plappermaul. »Und Sie?«

In diesem Moment kam der Vater schnaufend an, lief vor der Bank aus und streckte dem Mann seine Hand hin. »Bellmer, ich grüße Sie. Herr Nägele?« Okay, das war er, der Scout. Jonas hielt sich kichernd eine Hand vor den Mund, während Adrian nervös von einem Fuß auf den anderen trat und darüber nachdachte, ob das jetzt peinlich gewesen war oder nicht. »Ich sehe, meine Jungs haben Ihnen schon Kaffee angeboten. Unser Vereinsheim hat nämlich …«

»Ich wurde bereits aufgeklärt.« Nägele trank den Kaffee in einem Rutsch und schaute dann auf seine Uhr.

»Geht gleich los«, murmelte Papa, wandte sich dem Feld zu und trillerte die Mannschaft zusammen. »Und Joni, du gehst bitte nach nebenan zu deinen Leuten … ich hab ihnen genau gesagt, was zu tun ist.« Jonas schüttelte beide Fäuste mit gedrückten Daumen in Adrians Richtung und lief zu dem kleinen Trainingsfeld. »Setzen Sie sich doch gerne!«

Aber Nägele wollte lieber stehen, dann konnte er besser sehen und sich auch ein bisschen mit den Spielern bewegen. Adrian versuchte noch, seinen Blick zu fangen, ein Lächeln, etwas Mut Machendes, aber der Scout beachtete ihn nicht. Er merkte die Anspannung im ganzen Körper, und obwohl Papa alles so machte, als wäre Nägele eben nicht da, und als wäre es einfach nur irgendein Spiel, wie immer, konnte Adrian den Mann spüren, Stiche wie Nägel in die Haut, und Jonas hätte jetzt drüber nachgedacht, ob der Scout deswegen so hieß. Aber Adrian hatte keinen Sinn und keine Zeit für solche Dinge. Er musste gut sein, mehr als gut, konzentriert und auf den Punkt. Keine krausen Gedanken jetzt.

Anpfiff und los ging die Partie. Nicht elf gegen elf, so viele hatte Papa nicht zusammengekriegt, aber genug, um zeigen zu können, was man so draufhatte. Adrian, die Kante, spielte in der Verteidigung. Nicht gerade der beliebteste Job in einer Fußballmannschaft, eher der für die Fleißigen. Die Talentierten wurden Stürmerstars, schossen Tore und fuhren die dicken Autos. Das Spiel verlief schnell und rau. Alle hängten sich rein, jeder wollte gesehen werden von dem Mann vom Profiverein, jeder von ihnen träumte davon, Fußballer zu werden. Es gab keinen Moment, sich die Kraft einzuteilen, auszuatmen oder kurz Luft zu holen. Sie spielten alle am Limit. Und Adrian hielt durch, den Torraum sauber und die Fäuste geballt.

Bis Moritz auf den Holztribünen auftauchte, sein alter Freund, der so ganz andere Wege ging. Man sah ihn selten in der Schule, hörte dafür oft von nächtlichen Eskapaden. Illegal Auto gefahren und dann noch an die Wand, laut singende Horden durch die Nacht, Moritz vorne weg, solche Sachen. Was machte er hier? Grüßte in seine Richtung, Adrian hörte nur noch das Bellen seines Vaters, »Adrian, schlaf nicht!«, da war der Ball an ihm vorbei und im Tor. Fuck! So ein Scheiß! Er trat wütend in den Rasen und holte sich in der Halbzeit eine gehörige Standpauke ab. Der Scout hatte sich jetzt doch hingesetzt und Adrian versuchte sich zu kontrollieren, den Impuls, gleich nach Hause zu gehen, zu unterdrücken. Alles Scheiße, Looser er selbst.

»Nix da. Du hältst jetzt durch. Fehler machen selbst die Profis mal. Und die gehen dann nicht beleidigt vom Platz, sondern machen es wieder gut. Woran erkennt man einen Profi? Daran erkennt man einen Profi!«, brüllte der Trainer und Adrian lief wieder auf. Er vermied den Blick zur Tribüne, nicht über Moritz nachdenken, der ja wohl nur wegen ihm hier aufgekreuzt war. Überhaupt immer an Adrian drangeblieben, der ihm aber nicht folgen wollte. Er hatte keinen Bock auf Alkohol und Drogen und Mädchen und Prügeleien und verbotenes, sinnloses Zeug.

Sein Ehrgeiz war auf Leben gerichtet. Manchmal trafen sie sich zufällig, vielleicht auch extra herbeigeführt von Moritz, jedenfalls hatte er immer zwei Bier dabei, setzten sich auf irgendeine Mauer oder Treppen und erzählten sich, was so ­abging. Aber Adrian wusste genau, dass er den Scout nicht erwähnt hatte. Extra nicht, bloß nicht noch mehr Druck. Moritz konnte das eigentlich nicht wissen. Natürlich hatte er sofort Joni in Verdacht, Plappermaul elendes, Joni, der gerade auf dem Nebenfeld Stürmerqualitäten bewies und wie ein junger Fußballgott vollkommen unbehelligt durch die Abwehr bis ins Tor lief.

Anpfiff. Adrian fokussierte sich, versuchte ganz bei sich zu sein und noch mal alles zu geben. Aus den Augenwinkeln konnte er sehen, dass der Scout wieder aufgestanden war und die Hände in den Taschen alles beobachtete. Als der schnelle Friedel mit dem Ball am Fuß alle anderen hinter und neben sich stehen ließ, war Adrians ganzer Einsatz gefragt. Nein, an ihm durfte er nicht vorbeikommen. Er nahm die Verfolgung auf, stellte sich ihm in den Weg, aber Friedel wischte vorbei, wendig wie ein Karnickel. Wut stieg in Adrian hoch, nein, mein Lieber, du wirst hier meine Karriere und mein Leben nicht versauen, du nicht. Blitze erschienen vor seinen Augen, das alte Muster, er kannte es schon, die Wut, sein steter Begleiter. Er musste Friedel aufhalten, allerdings ohne in ihn reinzugrätschen oder zu treten, das kommt nicht gut, und das hatten Papa und er so intensiv trainiert. Adrian schloss kurz die Augen, um sich zu beruhigen und das Wutweiß zu verscheuchen, dann legte er den Spurt seines Lebens hin, konnte Friedel noch einholen und sich zwischen ihn und den Torwart werfen. Mit voller Wucht prallte der Ball an seine Beine und flog ins Aus. Nicht ins Tor. Seine Mannschaft versammelte sich um ihn, wollte ihn feiern und hochleben lassen, das war Rettung in letzter Sekunde. Adrians Beine brannten wie Feuer und er rappelte sich hoch, um sich ein anerkennendes Nicken des Scouts abzuholen, positive Nägel sozusagen. Aber der hatte die Aktion nicht einmal gesehen. Er stand ganz am Ende des Platzes, um einen besseren Blick auf das Nebenfeld zu haben, hatte jemand anderen mit blitzenden, aufmerksamen Augen im Visier.

Sie machten noch zwei Tore und gewannen das Spiel. Moritz jubelte auf der Tribüne und schüttelte die Faust in Adrians Richtung. Er hatte wirklich gut gespielt. Die Mannschaften gingen vom Platz Richtung Kabine und Duschen, nur Adrian blieb in der Mitte stehen und beobachtete seinen Vater, Jonas und den Scout des FC Bayern. Die beiden Männer diskutierten heftig, Papa hatte den Arm um Jonas gelegt und ihn zu sich gezogen.

Adrian spürte, dass er sich selbst belog, dass er sich Hoffnung machte, die gerade lautlos zerbröselte. Er wollte es aber nicht wahrhaben, bildete sich ein, sie redeten über ihn, wie es alles gehen sollte mit dem Internat, dem Abi und dem Training in der Bayern-Schmiede. Langsam setzte er sich in Bewegung, kam dem Trio immer näher, hörte erste Wortfetzen wie … ist noch zu jung … je früher, desto besser … außergewöhnliches Talent … und sah Jonas’ Blick in seine Richtung. Kleinlaut, ängstlich, voll des schlechten Gewissens.

»Adrian«, rief ihn der Vater dazu und konnte ihn nicht anschauen. »Herr Nägele möchte Jonas ins Internat holen, er glaubt, er kann es weit bringen.«

»Ich möchte aber nicht«, sagte Jonas leise, und Herr Nägele ging vor ihm in die Hocke, Kinnkniff.

»Natürlich möchtest du, Jonas. Alle Jungs möchten das und nur sehr, sehr wenige bekommen diese Chance. Ist doch klar, dass man da erst mal bisschen Muffe kriegt, aber glaub mir, wir passen sehr, sehr gut auf unsere Talente auf.«

Adrian hatte das Gefühl, unter Wasser zu liegen. Er musste sich unglaublich anstrengen, um die Worte, die wie Blasen aus den Mündern der anderen stiegen, zu verstehen, ihren Sinn zu begreifen.

»Adrian?« Der Vater schüttelte ihn an der Schulter.

Adrian starrte Jonas an, und der konnte nicht mehr an sich halten, lief zu ihm und umschlang ihn mit seinen langen Bruderarmen.

»Adi, das wollte ich nicht. Ich hab da nur so gespielt mit dem Ball und dir die ganze Zeit die Daumen gedrückt, ehrlich, den linken außen, den rechten in der Faust, so wie wir es immer machen.«

Der Vater schaute ihn ungeduldig an. Los, nimm deinem Bruder das schlechte Gewissen, und tu wenigstens so, als würdest du dich für ihn freuen.

Adrian konnte nicht. Da war es schon wieder. Er hatte etwas mit aller Kraft gewollt. Er hatte alles gegeben, was ihm zur Verfügung stand, und es war mal wieder nicht genug gewesen. Während Jonas noch nicht mal einen Funken seiner Ressourcen aktiviert hatte, nein, einfach nur so gespielt. Das war nicht gerecht, das konnte einfach nicht die Wahrheit sein.

»Haben Sie mich denn auch gesehen?« Adrian wandte sich direkt an den Nägele, der gerade irgendwas über sein Handy absetzte, wahrscheinlich: Supertalent gefunden! Macht alles bereit! Wir haben den nächsten Bayernstar!

»Hm?«

»Haben Sie gesehen, wie ich das eine Tor verhindert habe?«

»Ja … ja, ja klar.« Adrian sprühte Funken, und der Scout schien das zu spüren. Jedenfalls ließ er von seinen Angelegenheiten ab und schenkte dem Jungen kurz seine Aufmerksamkeit.

»Ich hab dich gesehen. Du bist wirklich gut, wirklich, man merkt, dass du sehr viel an dir arbeitest, sehr fleißig bist. Aber das reicht eben nicht. Da fehlt dieser eine Tick, diese Sicherheit durch Freiheit, die einen flexibel und kreativ hält, ohne große Anstrengung.« Er legte Adrian eine Hand auf die Schulter. »Dein Bruder hat das. Da kann weder er was dafür noch du, das kommt von oben …« Er lachte. »Oder woher auch immer. Und es ist gut, dass du diese Nachricht jetzt bekommst. So kannst du dich auf andere Sachen konzentrieren, deine wirklichen Talente.«

Adrian entzog sich wütend der Hand des Scouts, ging ein paar Schritte zurück, starrte den Typen an und wandte sich dann an seinen Vater. »Du weißt, wie wichtig mir das war. Du hast doch auch an mich geglaubt, sonst hättest du doch nicht so viel mit mir trainiert. Sag es ihm, Papa, sag ihm, wie gut ich bin.«

Sein Vater schien ratlos. Er fand keine Worte, zuckte mit den Schultern und strich sich zu oft durch die lockigen Haare auf seinem Kopf, die seit einiger Zeit immer weniger wurden.

»Ich hab das nicht gewollt, Adi«, jammerte Jonas, da fiel ihm etwas ein, das ihn sofort wieder zum Strahlen brachte. »Asthma. Ich kann kein Profi werden – leider, ich hab Asthma!«

Der Scout packte seine Sachen zusammen, für ihn war der Fall erledigt. »Davon habe ich aber die letzten anderthalb Stunden nichts gesehen, Junge. Glaube mir, viele haben Asthma. Das kriegen wir in den Griff. Wir sehen uns nach den Sommerferien, ich freue mich schon sehr auf dich.« Er wandte sich zum Gehen, aber Jonas stellte sich ihm in den Weg.

»Ich komme nicht, bitte, Sie müssen Adrian nehmen!«

»Jonas. Auch wenn du nicht kommst, werden wir deinen Bruder nicht aufnehmen. Du entscheidest über deine Karriere. Und Adrian wird es verstehen, er ist jetzt nur ein bisschen enttäuscht. Das ist doch ganz normal!« Jonas schaute verzweifelt zu Adrian, der wie versteinert mit finsterem Gesicht einfach nur dastand.

»Adrian!« Der Vater schien seine Stimme wiedergefunden zu haben. »Würdest du bitte deinen Bruder beruhigen?« Als von Adrian nichts kam, schnappte er sich Jonas und die beiden begleiteten den Scout zum Auto. »Natürlich wird Jonas kommen!«, hörte Adrian seinen Vater noch sagen und wusste absolut nichts anzufangen, spürte sich nicht, spürte die Wiese nicht, auf der er mit beiden Füßen stand, befand sich im luftleeren Raum.

»Hey, Bro!« Moritz hatte wieder zwei Flaschen Bier dabei, schob Adrian vor sich her und unter die Holztribüne, wo sie schon als Kinder immer gesessen hatten, wenn es keinen etwas anging, was sie besprachen. Er machte die eine Flasche mit der anderen auf und die andere mit der einen, setzte sich neben seinen alten Freund und sagte erst mal nichts. Das Bier floss Adrian kühl in den Körper, der Alkohol ging ihm sofort ins Blut und brachte ihn watteweich zurück in die Wirklichkeit.

Jonas würde ins Fußballinternat gehen und er nicht. Weil er nicht gut genug war. Er schüttelte fassungslos den Kopf.

»Ist echt bitter.« Moritz nahm die Bewegung zum Anlass zu sprechen. »Kann mir vorstellen, wie es dir geht.«

»Bin ich wirklich so schlecht? Und wenn, warum hat Papa mich dann ins Messer laufen lassen, anstatt mich zu beschützen? Ein Vater sollte einen beschützen.«

»Erstens bist du nicht schlecht, sondern supergut. So ’n Fuzzi kann sich ja auch mal irren. Weißt du, wie viele berühmte Leute nach Ansicht von anderen nicht das Zeug dazu hatten und dann trotzdem berühmt geworden sind? Und wenn dein Vater dich gewarnt hätte, jetzt mal ehrlich, Bro, dann hättest du doch trotzdem nicht auf ihn gehört. Hättest trainiert wie ein Besessener, um es allen zu zeigen.«

Adrian starrte mürrisch in den Staub unter der Tribüne. Hier saßen sie zwischen alten Popcorntüten und labberigen Wurstpappen, während sein Bruder der goldenen Zukunft entgegenschritt.

»Jonas wollte das gar nicht. Der könnte mit allem Karriere machen, wenn der will, wird er sogar Mau-Mau-Weltmeister, muss ja nur sein verschissenes Strahlen aufsetzen und alle lecken ihm die Füße ab.«

»Mau-Mau-mit-Füßen-Weltmeisterschaft. Wow!« Adrian kickte eine leere Colaflasche weg. »Ich kann nur Fußball. Warum muss er mir das nehmen?«

»Macht er ja nicht mit Absicht.«

»Noch nicht mal das, verdammte Scheiße. Er zerstört mich, er steht mir im Weg, seit er auf die Welt gekommen ist, und dann ist er noch nicht einmal schuld daran. Wandelt mit seinem Heiligenschein herum und hinterlässt verbrannte Erde.« Adrian ließ sich nach hinten fallen. Durch die Ritzen zwischen den Holzsitzen konnte er den Himmel sehen. Und der tat auch nur so, als wäre er blau. Alles Lüge.

Moritz’ Kopf landete neben seinem. »Als ich klein war, wollte ich Sänger werden.«

Adrian wandte sich ihm zu. »Du?«

»Ja, ich. Und ich kann echt keinen Ton richtig halten. Aber je lauter meine Mum gelacht hat und je öfter ich mich blamiert habe, und glaub mir, Bro, das war oft, umso mehr wollte ich es.«

»Mir hast du nie was vorgesungen.«

»Ha, und da kommen wir zum Punkt. Ich wollte nämlich nicht, dass du mich auslachst, ausgerechnet du. Deine Meinung war mir wichtig, und dein Lachen hätte mich sicher von meinem großen Traum abgebracht. Und in Wirklichkeit wusste ich, dass es Blödsinn ist. Ich hab für nix ein Talent.«

»Da hab ich anderes gehört.«

»Saufen zählt nicht zu den ersten zehn Toptalenten.«

»Ist aber das Einzige, was du wirklich durchhältst.«

»Jo, Bro!« Er setzte sich auf. »Dein Vater sucht dich.«

Tatsächlich lief er über den Platz und rief nach Adrian. Hatte wohl sein Geschäft mit dem Scout erfolgreich abgeschlossen, da fiel ihm der Ältere wieder ein.

Jonas stand genau in der Mitte und rührte sich nicht. Seine Arme hingen an ihm herunter, sein ganzer Körper drückte Niedergeschlagenheit aus. Er wusste genau, wo Adrian war, war ja immer dabei gewesen.

»Lass ihn suchen!« Auf einmal war die Wut verflogen. »Hey Mo!«

»Hm?«

»Wann hast du aufgehört zu singen?«

»Nie. Ich lass mich doch von euch nicht von der Schaufel kippen!«

2. KAPITEL

An diesem Abend kam Adrian spät, betrunken und mit der Erkenntnis, dass Moritz immer noch sein bester Freund war und er sich nicht unterkriegen lassen würde, nach Hause. Das kleine Reihenmittelhaus war schon dunkel, so wie auch die anderen End- und Anfangshäuser in dieser ordentlichen, kinderfreundlichen und friedliebenden Siedlung. Der richtige Ort für perfekte Familien, verkehrsberuhigt und immer unter Kontrolle. Die Kleinen konnten sich in einer aufgesetzten Freiheit bewegen und sich zumindest unbeobachtet fühlen. Jetzt waren die Kinder der Anfangsgeneration fast erwachsen, und aus Familien würden in naher Zukunft Rentnerpaare werden, eine Seniorensiedlung ohne den Charme des kindlichen Chaos. Adrian bewegte sich automatisch leise, so war er aufgewachsen, zog die Schuhe draußen aus und wollte sich nur noch schnell ein Wasser aus der Küche holen, um dann ins Bett zu fallen. Aber um in die Küche zu kommen, musste man durchs Wohnzimmer und an dem runden Holztisch saß seine Mutter im Dunklen.

»Mama?« Adrian blieb wie angewurzelt im Türrahmen stehen.

»Hab auf dich gewartet.«

»Warum?« Er ging an ihr vorbei in die Küche, holte das Wasser aus dem Kühlschrank, trank die halbe Flasche aus und setzte sich auf die Kante eines Stuhles seiner Mutter gegenüber.

»Dein Traum ist geplatzt, dafür hat ihn dein kleiner Bruder bekommen. Das ist hart.«

Adrian winkte ab und unterdrückte einen Rülpser. Seine Mutter hatte immer alles irgendwie durchgehen lassen, sie war eine coole Mutter, zu besorgt manchmal, sicher, aber insgesamt cool. Bloß rülpsen konnte sie nicht leiden. Das trieb sie jedem aus, der unter ihrem Dach weilte, selbst Moritz musste das damals, als er hier noch ein und aus ging, schmerzvoll erfahren. Einer seiner mächtigen Rülpser, ohne Bedacht in den Raum geschleudert, brachte ihm 14 Tage Hausverbot ein. Zeit zum Nachdenken, Zeit, um sich zu schwören, dass so etwas zumindest bei Bellmers nicht mehr passieren würde.

Mama nahm seine Hand, und er ließ es zu, obwohl er sich eigentlich schon seit Längerem alle mütterlichen Zärtlichkeiten verboten hatte.

»Ich weiß schon, was das für dich bedeutet.«

»Es bedeutet, dass ich mich weiter anstrengen muss. Vielleicht klappt es ja beim nächsten Mal.«

»Dein Ernst? So cool? Das passt gar nicht zu dir.«

»Du meinst, ich bin uncool?« Adrian zwinkerte ihr zu und sie drückte seine Hand.

»Natürlich nicht. Aber anscheinend bist du noch cooler, als ich dachte.« Sie machte die Augen zu Schlitzen und musterte ihn. »Tablette? Ich meine nur, wegen morgen.«

Adrian schüttelte den Kopf. »Geht schon.«

Die Mutter stand müde, aber auch ein bisschen erleichtert auf, warf ihm einen Luftkuss zu und ging Richtung Treppe nach oben.

»Könntest du das Joni auch sagen? Der hat so ein schlechtes Gewissen und es würde ihm helfen, zu wissen, dass du cool bist.«

»Weiß er doch«, brummelte Adrian.

»Na ja, sein Asthmaanfall hier zu Hause war nicht von Pappe. Gute Nacht, Großer.«

Adrian starrte auf seine verschwitzten Socken, wackelte mit den Zehen und beschloss, erstens zu duschen und zweitens danach noch bei Jonas vorbeizuschauen. Als würde das warme Wasser ihn wegspülen, verschwand der Suff aus seinem Körper, der Kopf fühlte sich klarer an. Leise schob er die Tür von Jonas’ Zimmer auf – er ließ sie immer einen Spalt offen, um nur ja nichts zu verpassen –, und sah seinen kleinen Bruder im Bett. Das Licht der Straßenlaternen fiel in Streifen durch die ­Jalousie und tauchte Jonas mit der roten Wollmütze auf dem Kopf in ein geradezu mystisches Licht. Die Mütze! Er trug sie nur zum Schlafen und nicht etwa, wenn es draußen kalt war, oder er mit nassen Haaren losmusste. Und es erstaunte ihn maßlos, dass so viele andere Menschen ganz ohne Wollmütze schlafen konnten. »Verrückt. Der Kopf ist doch in der Nacht vollkommen ungeschützt, was da alles passieren kann, wenn’s losgeht mit den Träumen.« Als könnte man sich mit einer Mütze zusammenhalten. Er schlief auf dem Rücken, ganz gerade ausgestreckt, die Arme unter der Decke verstaut, die Mütze auf den blonden Locken. So also sah ein zukünftiger Fußballstar aus. So klein, so zerbrechlich und blass. Adrian stellte ihn sich zwischen all den anderen vor, die schon in der Pubertät waren, sich Muskeln zugelegt hatten und jede Menge männliche Hormone. Es war gar nicht so selten, dass Jonas zwischen die Fronten geriet. Irgendwie provozierte seine Sonnenscheinhaftigkeit auch manche. Es konnte wütend machen, wenn einer nur gut gelaunt ist, der ein oder andere bekam Lust, ihn zum Heulen zu bringen. Bisher war dann immer die Kante gekommen. Der große Bruder dieses Zwerges, das genaue Gegenteil von ihm. Hatte ihn beschützt oder gerächt. Das ging dann nicht gut aus, und die, die es erlebt hatten, ließen Jonas in Zukunft in Ruhe.

»Da bist du ja!« Er hatte sich nicht bewegt. Nur die blauen Augen geöffnet und Adrian im Blick.

»Du hattest einen Anfall?«

»Nicht so schlimm.«

»Das wird ja was, du zwischen den ganzen Fußballern.«

»Es tut mir leid.«

Adrian ging zum Bett und setzte sich zu ihm. »Muss es nicht. Du bist besser, so ist es nun mal. Du solltest dich freuen.«

»Ich weiß, dass dich das verletzt und du mich gerade nicht besonders gut leiden kannst.«

Adrian grinste. »Ich konnte dich noch nie leiden.«

Jonas zog sich die rote Mütze über die Augen, und Adrian knuffte ihn an. »Zwinkersmiley, Arschkeks.«

»Du machst doch weiter? Mit Fußball, meine ich.«

Adrian starrte durch die Lamellen der Jalousie in die Nacht. Im Moment hatte er eigentlich das Gefühl, nie wieder da rausgehen zu wollen, als hätte er da nichts verloren, so ungefähr.

»Ja.«

»Versprich es mir.«

»Okay.«

»Sag, du versprichst es.«

Adrian schnaubte. »Ich verspreche es.«

Und er versuchte es wirklich. Moritz sang schließlich auch weiter, Träume sollte man nicht einfach aufgeben, nur weil einer mitten ins Herz geschossen hatte. Beim nächsten Training stand die Kante wieder da und alle taten so, als wäre nichts gewesen. Auch der Trainer. Sie taten so und Adrian konnte genau fühlen, dass sie eben nur so taten. In Wirklichkeit hing sein Versagen in der Luft, und sosehr er sich auch anstrengte, er wurde nicht mehr richtig ernst genommen. Zumindest empfand er es so. Er redete sich ein, dass es besser werden würde, die anderen vergessen, es musste Zeit vergehen. Besuchte die Trainingseinheiten, machte weiter und ging danach zu Moritz oder traf sich mit ihm in ihrem alten Lager. Moritz hatte es wiederentdeckt.

»Das musst du dir mal reinziehen, da hat sich überhaupt nichts verändert«, sagte er grinsend und wedelte mit Adrians alter Supermannfigur vor seiner Nase herum. »Wir waren immer schon die Helden im Geheimnissehaben.« Nur, dass sie jetzt Bier tranken, anstatt irgendwelchen Plastikfiguren Abenteuerparcours im Kies zu bauen.

Der Alkohol gab Adrian das Gefühl, dass alles nicht so schlimm war, wie er dachte.

»Was ist los mit dir, Junge?«, fragte ihn sein Vater und Trainer beim Abendessen. »Dir fehlt der Zug im Spiel.«

Adrian konnte sich nicht vorstellen, dass er es nicht wusste. Kein einziges Gespräch hatten sie über die Sache mit dem Scout geführt, der jetzt beinahe täglich anrief oder irgendwelche Listen für Jonas schickte, Ernährungsliste, Kleiderliste, Verbotsliste. Sie taten einfach so, als wäre nichts gewesen, die Mutter, weil sie glauben wollte, dass es ihm nichts ausmachte, der Vater aus reiner Feigheit. Sie schickten Adrian mit Jonas Klamotten kaufen. Fürs Internat. Er suchte mit ihm die richtigen Fußballschuhe aus, gab Trikots zum Bedrucken in Auftrag, trainierte lustlos mit ihm in den Auen, zeigte ihm Tricks und Bewegungsabläufe, die er sofort verstand und umsetzen konnte. Wahrscheinlich würde er der erste Fünfzehnjährige im A-Kader werden.

Adrian legte sein Messer hin und schaute den Vater an. »Was hältst du eigentlich von der Sache?«

»Dass du auf einmal spielst, wie vor zwei Jahren und es mir vorkommt, als wäre alles Training umsonst gewesen?«

»Du weißt genau, was ich meine.«

Es war ganz still am Tisch. Auch Mama und Jonas hatten aufgehört zu essen, Papa war dran. Er dachte nach, ließ sich ziemlich lange Zeit.

»Ich halte davon … also, ich kann mir vorstellen, dass du sehr enttäuscht warst. Und ich finde es wirklich toll, dass du weitermachst und dich nicht kleinkriegen lässt. Ich … ich will dich nur motivieren.«

»Wenn es mit meinem Talent so wäre, wie du es mir immer gesagt hast, dann hätte er uns doch auch beide nehmen können.«

»Stimmt. Niemand hat gesagt, dass nur einer mitdarf!«, sprang Jonas seinem Bruder zur Seite.

Der Vater schüttelte unwillig den Kopf. Was sollte er dazu sagen? Hätte, hätte, Fahrradkette? Was nicht ist, kann ja noch werden? Mühsam ernährt sich das Eichhörnchen?

Adrian schlug mit der flachen Hand auf den Tisch und stand auf. »Ja, Trainer, was soll man da sagen? Er hat mich nicht ausgewählt. Er hat mir empfohlen, mich nach einem anderen Hobby umzuschauen. Nicht ermuntert, keine Hoffnung gemacht, nichts schöngeredet. Und ich werde jetzt auf diesen Mann hören. Ich hab den Zug verloren, sagst du? Tatsächlich, und nicht nur das.«

»Adrian, beruhige dich«, versuchte die Mutter ihn zu bremsen, aber es war zu spät und er würde auch nicht bis hundert zählen, tief durchatmen, oder sich besänftigende Babypinguine vorstellen.

»Ich habe überhaupt keine Lust mehr, ich bin raus. Nie wieder werde ich einen Fußball auch nur mit dem Arsch angucken.«

»Adi, du hast’s versprochen!« Dunkle Wolken hatten sich vor die Sonne geschoben.

»Versprechen hiermit aufgehoben«, brüllte Adrian und fegte sein Gedeck vom Tisch. »Ich hab keinen Bock, hier für euch den Looser zu spielen!« Damit rauschte er ab, verkroch sich mit einem Sixpack im unterirdischen Lager, der Rest einer hoffnungsfrohen Kindheit, und dachte. Gar nichts.

Die nächste Zeit ging er zwar in die Schule, aber danach meistens direkt zu Moritz. Erstens hatte er ihn wieder entdeckt, zweitens wollte er nichts mehr mitkriegen von den Vorbereitungen auf die glorreiche Zukunft seines kleinen Bruders und mied das Reihenmittelhaus, so gut er konnte. Bei Moritz fühlte er sich besser, frei. Da kümmerte sich keiner, niemand sagte ihm, was er werden oder sein sollte. Während seine Mutter in ihrem medizinischen Labor arbeitete, hing Moritz zu Hause ab oder trieb sich herum, immer die Stöpsel im Ohr, immer ein Stück entfernt von der Realität. Manchmal ging er zur Schule, meistens nur zu den Tests, die er dann auch immer irgendwie bestand. Er kam durch, mehr schlecht als recht, und wenn seine Mutter abends nach Hause kam, fragte sie nicht. Das war eine Vereinbarung zwischen den beiden. Eine Zeit lang hatte sie noch versucht, Moritz auf den üblichen Weg zurückzubringen, geredet, Verbote ausgesprochen, die nicht eingehalten wurden, geweint und die Hände gerungen. Nichts hatte geholfen, und weil sie sich eben nicht allein um alles kümmern konnte, vollkommen überfordert war, hatte sie den Deal mit ihm gemacht. Sie fragt nicht mehr, er auch nicht. Und wenn er das Abi nicht schafft, fliegt er raus und muss selbst gucken, wie er klarkommt. Guter Deal. Moritz sehr zufrieden.

An den wenigen Tagen, an denen er in der Schule auftauchte, saß er neben Adrian, und der war froh, in diesem Fall heute. Vier Stunden Deutschklausur, Gedichtanalyse, das konnte Moritz aus dem Effeff. Und dann kam nicht wie erwartet die alte Frau Kästner herein, sondern eine junge, sportliche Referendarin in knappen Klamotten, jede Menge Selbstbewusstsein und die Klausuren im Gepäck.

»Meret Mehlsacks«, stellte sie sich vor, »und wer lacht, fängt sich eine.« Keiner lachte.

Ende der Leseprobe