Atomkraft. Ja bitte, nein danke! - Band 2 - Gerhard Hottenrott - E-Book

Atomkraft. Ja bitte, nein danke! - Band 2 E-Book

Gerhard Hottenrott

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Beschreibung

Der Krieg in der Ukraine hat eine bis dahin nicht vorstellbare Energiekrise in Deutschland ausgelöst. Kausal verantwortlich hierfür sind über viele Jahre hinweg getroffene energiepolitische Weichenstellungen. Das politische Märchen vom Vorreiter Deutschlands in der Energiewende und der CO2-Emission ist entzaubert. Probleme struktureller Art treten zu Tage mit negativer Auswirkung auf den Strompreis, den Kohlendioxidausstoß und die Energiesicherheit. Wie es dazu kommen konnte, zeigt die 70-jährige Geschichte der Kernenergie und des Stroms in Deutschland. Was müsste getan werden, um das Ruder wieder rumzureißen? Atomkraft - Ja bitte, Nein danke! ist ein Buch in zwei Bänden für Wissbegierige, die die weltweit einmalige und ungewöhnliche 70-jährige Geschichte der friedlichen Nutzung der Kernenergie in Deutschland mit all ihren Facetten (wieder-)erleben und nachvollziehen möchten. Das Drehbuch dazu liefern die Akteure dieser Zeit aus Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Medien - vielschichtig, aufbrausend und häufig widersprüchlich. Der Buchautor moderiert als Zeitzeuge und Kenner der Szene das Geschehen. Die Geschichte selbst gibt Antworten auf viele bis heute im Raum stehende Fragen. Buch Band I: Der lange Weg zum "friedlichen Atom". Der Wettlauf um die Vorherrschaft der ultimativen Waffe. Der politische Einstieg 1953 "Atomkraft Geschenk des Himmels". Geschichte der Elektro- und Stromindustrie mit GE, Westinghouse, Siemens und AEG, sowie E.ON und RWE. Energieprogramme von Willy Brandt bis Olaf Scholz. Stromkonzerne, Kernenergie, ja bitte! Energiedichte Fundament der Kernenergie. Bürgerinitiativen, Atomkraft, nein danke! Kampf um Wyhl, Brokdorf, Grohnde, Kalkar, Gorleben und Wackersdorf. Grüne Partei und Ökologiebewegung. Gesellschaftlicher Wandel von pro zu kontra Atomkraft. Buch Band II: Niedergang der Brütertechnologie; Ende des Traums von der Energieautarkie. Endlagerung, Versagen der Politik. Asse, Morsleben, Konrad, Gorleben Spielbälle divergierender politischer Interessen. Kernkraft als Brückentechnologie. Kampf der BI gegen Castortransporte und Endlager. Die Macht der Medien, Atomangst und Strahlenphobie. Das Finale mit Fukushima und dem deutschen Atomausstieg. Energiewende ohne Kernenergie: Erfolgsmodell oder Fehlentscheidung? Der Ausstieg Deutschlands aus der CO2-freien Stromproduktion in Kernkraftwerken ist ein Paradebeispiel dafür, wie durch politische Realitätsferne, dogmatische Positionierungen, rigorose Macht- und Profilierungskämpfe auf dem Rücken der Kernenergie maßlos Kapital vernichtet, Deutschlands Energieversorgung gefährdet sowie wirtschaftliche Prosperität und damit Wohlstand geschmälert worden sind. Sinngemäß das gleiche gilt für die von der Politik an die Wand gefahrene Endlagerung und die dabei versenkten Milliarden. Ohne Kernenergie Klimaneutralität zu erreichen und gleichzeitig die Wirtschaftskraft zu erhalten, wird nicht möglich sein. Import nennenswerter Mengen an Atomstrom von unseren Nachbarländern ist notwendig. Beide Bände stehen für sich und können unabhängig voneinander gelesen werden. Lassen Sie sich hineinversetzen in das Spannungsfeld des Auf- und Abstiegs der Atomenergie in Deutschland. Atmen Sie die Atmosphäre politisch initiierter Skandale, Eigenprofilierung und Machtkampf.

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Inhalt

Vorwort

Kapitel I NIEDERGANG DES KERNBRENNSTOFFKREISLAUFS

Schneller Brüter SNR-300

MOX-Brennelemente

HEU-Verwertung

ERU-Brennelemente

Kapitel II ENDLAGERUNG, VERSAGEN DER POLITIK

Endlagerung: Spielball divergierender politischer Interessen

Historie Endlagerung

Versuchsbergwerk Asse

Endlager Morsleben

Endlager Konrad

Endlagerung hochradioaktiver Abfälle

Erkundungsbergwerk Gorleben

Kapitel III ATOMKRAFT, NEIN DANKE! Teil II

Revival der Bürgerinitiativen: Kampf gegen Atomtransporte

Der Atomausstieg: Kernenergie als Brückentechnologie

Macht der Medien: Meinungsbildung gegen Atomenergie

Atomangst und Strahlenphobie

Ignorieren der weltweiten Renaissance der Kernenergie

Ablehnung der Kernkraft als grüne nachhaltige Energie

Skandaljournalismus

Kapitel IV FUKUSHIMA: DAS ENDE DER KERNENERGIE IN DEUTSCHLAND

Naturkatastrophe Erdbeben

Naturkatastrophe Tsunami

Reaktorkatastrophe

Einstufung des Reaktorunfalls und politische Konsequenzen

Kernschmelzen

Gefährdungseinstufung der Reaktorkatastrophe

Radiologische Relevanz

Vergleich mit Tschernobyl

Politische Konsequenzen in Japan

Politik- und Medienhysterie in Deutschland

Politische Konsequenzen in Deutschland

Kapitel V LAUFZEITVERLÄNGERUNG BIS 15. APRIL 2023

Kapitel VI ENERGIEWENDE OHNE KERNENERGIE: ERFOLGSMODELL ODER FEHLENTSCHEIDUNG?

Epilog

Anhang

Literaturverzeichnis

Inhalt (Band 1)

Vorwort

Kapitel I DER LANGE WEG ZUM »FRIEDLICHEN ATOM«

Dwight D. Eisenhowers Rede

Das deutsche Uranprogramm

Das Manhattan-Projekt

Die Potsdamer Dreimächtekonferenz

Die sowjetische Bombe

Was bleibt von Präsident Eisenhowers Rede?

KAPITEL II POLITIK UNISONO PRO ATOMKRAFT

Ausgangslage 1955

Interessenlage der Wissenschaft: Kernenergie friedlich nutzen

Interessenlage der Politik: Atomkraft »Geschenk des Himmels«

Regierungsprogramm und Interessenlage der Industrie

Wissenschaftliche Grundlagenforschung

KAPITEL III Elektroindustrie und Energiewirtschaft

Licht und Elektrizität

Strom

Der Stromkrieg in den USA

Das Oligopol von General Electric und Westinghouse

Das Oligopol von AEG und Siemens

Stromkonzerne im Wandel der Zeit

Anfangsjahre des RWE

Braunkohle

Hochspannungsstrom und Verbundnetz

Elektrokrieg und Aufteilung des Reichs in Strommonopolgebiete

Energiewirtschaftsgesetz und Verbundgesellschaft

VEBA, der neue Gigant

RWE restrukturiert sich

Übernahme der DDR-Stromwirtschaft

Strommarktliberalisierung

Geburt der Marke E.ON

RWEs Antwort auf den liberalisierten Energiemarkt: Multi Utility

ONs Antwort auf den liberalisierten Energiemarkt: Strom und Gas

Energiewende

KAPITEL IV STROMKONZERNE ÖFFNEN SICH DER KERNKRAFT

Gesellschaft und Kernenergie in den 1960er-Jahren

KAPITEL V ENERGIEPROGRAMME IM WECHSEL DER ZEIT

Energiepolitik der sozialliberalen Koalition unter Willy Brandt und Helmut Schmidt von 1973 bis 1982

Energiepolitik der christlich-liberalen Koalition von Herbst 1982 bis Oktober 1998 unter Helmut Kohl

SPD bricht mit der Kernenergie

Politischer Umbruch unter Gerhard Schröder

Energiepolitik der sozialdemokratisch-grünen Koalition von Herbst 1998 bis Herbst 2005 unter Gerhard Schröder

Regierungswechsel: Angela Merkel wird Kanzlerin

Energiepolitik der großen Koalitionen von 2005 bis 2009, der Koalition aus Union und FDP von 2009 bis 2013 und den beiden GroKo’s von 2013 bis 2021 unter Angela Merkel

Energiepolitik der Ampelkoalition von SPD, Grünen und FDP unter Kanzler Olaf Scholz ab Herbst 2021

Zusammenfassung Energieprogramme

KAPITEL VI KERNENERGIE, JA BITTE!

Energiedichte und CO

2

-Freiheit Fundament der Kernenergie

Aufbau und Betrieb von Kernkraftwerken

Funktionsprinzip und Alleinstellungsmerkmale von Kernkraftwerken

Genehmigung und Aufsicht von KKW

Betrieb von Kernkraftwerken

Sicherheit an erster Stelle

Sicherer Einschluss radioaktiver Stoffe

Auslegungsprinzipien

Schutzkonzept

Minimierung des Restrisikos

Meldepflichtige Ereignisse

Strahlenbelastung

Wirtschaftlichkeit und Kraftwerksverfügbarkeit

Staatliche Förderung

Lebensdauer von KKW

Lastwechselfähigkeit

Rückstellungen für Entsorgung und Beseitigung der KKW

KAPITEL VII ATOMKRAFT, NEIN DANKE! Teil I

Auftakt in Wyhl, Widerstand am Oberrhein

Gesellschaft und Kernenergie in den 70er Jahren

Kampf um Brokdorf, Grohnde und Kalkar

KKW Brokdorf

KKW Grohnde

Schneller Brüter Kalkar

Grüne Partei und Ökologiebewegung

Gesellschaftlicher Wandel von pro zu kontra Atomkraft in den 1980er-Jahren

Der Fall Traube

Tschernobyl

Hanauer-Abfall-und Proliferationsskandal

Castor-Kontamination

Bürgerinitiativen gegen NEZ und Wackersdorf

Wackersdorf

Anhang

Literaturverzeichnis

Vorwort

Die staatlich verordnete Abschaltung der letzten Kernkraftwerke Deutschlands bis zum 31. Dezember 2022, nunmehr verlängert bis zum 15. April 2023, hat mich Ende 2020, zeitgleich mit dem Beginn der für die gesamte Gesellschaft schwierigen Corona-Zeit, bewogen, die unglaublich spannende und facettenreiche, nahezu siebzigjährige Geschichte der friedlichen Nutzung der Kernenergie in Deutschland als Zeuge eines großen Zeitabschnitts zu erzählen.

Die Geschichte der Kernenergie in Deutschland beginnt 1955 zeitgleich mit der Wiedererlangung der deutschen Souveränität nach einem furchtbaren Krieg und endet Anfang 2023 mit der Stilllegung der letzten drei Kernkraftwerke nach knapp 70 Jahren. Das ungewöhnliche Drehbuch dazu liefern die Akteure aus Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Medien selbst, und zwar atemberaubend und vielschichtig mit anfänglichen Lobgesängen auf die Atomenergie, einem ungestümen Vorwärtsdrängen, dann mit Irrungen und Wirrungen und zunehmend divergierenden ökonomischen, ökologischen und machtpolitischen Interessen und schließlich mit dem Niedergang dieser Energieform in Deutschland.

Ich versuche, dieses Geschehen möglichst realistisch wiederzugeben, um die in der Welt einmalige deutsche Industriegeschichte aus Aufbruchstimmung und Begeisterung, aus Skepsis, Ablehnung und Angst im Buch noch einmal aufleben zu lassen. Ein siebzig Jahre dauernder Lebenszyklus mit all seinen Lebensphasen erscheint erneut, von der Geburt in den 50er Jahren mit der Schaffung der notwendigen Gesetze, den Festlegungen zur Rollenverteilung zwischen Staat und Industrie, der Gründung von Forschungszentren und Instituten, dem Aufbau der industriellen Infrastruktur sowie den ersten Gehversuchen mit Demonstrationskraftwerken in den 60er Jahren, der Blütezeit ab Mitte der 70er Jahre mit dem Bau und Betrieb der international bewunderten, sichersten und wirtschaftlichsten Kernraftwerke der Welt, seinem dann folgendem erst allmählichen, dann beschleunigten Niedergang mit kompletter Vernichtung alles Geschaffenen, den Forschungsstätten, der Lehre, der Kraftwerksindustrie und zum Schluss der Kernkraftwerke. Es ist eine mannigfaltige, schwer fassbare Geschichte über den politisch-gesellschaftlichen Konflikt über den richtigen Weg deutscher Energiepolitik zwischen Politik, Industrie, Stromkonzernen, Bürgerinitiativen, Lobbyisten und Medien, in deren Ringen die Schlüsselfigur, die Kernenergie, schließlich zerrieben wird und eine große Industrienation auf eine Energieoption, einen kohlendioxidfreien Energieträger verzichtet und ihn aus seinen nationalen Grenzen verbannt. Mächtiger Dirigent dabei ist die Politik mit ihrem Primat zur Festlegung der energiepolitischen Rahmenbedingungen.

Die Energieprogramme der verschiedenen Bundesregierungen angefangen von Willy Brandt und Helmut Schmidt über Helmut Kohl, Gerhard Schröder, Angela Merkel bis hin zu Olaf Scholz werden skizziert und die Akzentverschiebungen innerhalb des magischen Zieldreiecks aus Versorgungssicherheit, Wirtschaftlichkeit und Umweltverträglichkeit aufgezeigt.

Der Einstieg in die faszinierende, aber auch komplexe Welt der Energie erfolgt mit einem Exkurs über das unschätzbar teure, aber auch sensible Gut Licht und elektrische Energie. Seine Bedeutung kann nicht hoch genug geschätzt werden. Ohne Elektrizität, die den Blutkreislauf der Wirtshaft am Zirkulieren hält, würden wir zu Grunde gehen und in die vorindustrielle Zeit zurückfallen. Mit Aufkommen des Stroms Ende des 19. Jahrhunderts, also vor gar nicht so langer Zeit, konnten sich die Menschen erstmals vom natürlichen Rhythmus der Natur mit seinen Tag- und Nachtstunden lösen. Gezeigt wird, wie die heutigen Champions der Elektroindustrie mit General Electric, Westinghouse, Siemens und bis vor kurzem AEG sowie die deutschen Stromkonzerne mit dem neuem Produkt Strom entstanden sind und sich am Markt etabliert haben. Einem Abenteuer gleich erfolgt der Aufstieg von E.ON und RWE in den Olymp der weltweit größten Energieversorger. Ab 2000 folgt durch politische Vorgaben der brutale, unaufhaltsame Niedergang fast bis zur Bedeutungslosigkeit, dem sich die beiden Konzerne nur durch eine gewaltige gemeinsame Kraftanstrengung mit radikalem Umbau beider Unternehmen gerade noch entziehen können. Ein staatlich organisierter planwirtschaftlicher Umbau der Energiewirtschaft mit rasantem Aufstieg der sanften Energien, mit Millionen neuer Strom-Kleinsterzeuger und mit deutschlandweiter Euphorie über die Perspektiven der neuen Solar-und Windenergien-Nutzung folgte. Hier wird der Verlauf von der ersten Begeisterung bis zur inzwischen eingetretenen Ernüchterung, ja zunehmenden Verunsicherung durch unerwartete Schwierigkeiten mit dem tages- und wetterbedingt volatilen Strom, nicht gelöster Speicherproblematik für Strom und stark ansteigende Energiekosten nachgezeichnet.

Zu Beginn der Geschichte der Kernenergie wird der lange Weg des Atoms von der kriegerischen Anwendung hin zur friedlichen Nutzung der Kernenergie erzählt. Hintergründe und Ursachen für die Entwicklung der ersten Atombombe im Manhattan-Projekt sowie deren schreckliche Abwürfe am 06. August 1945 auf Hiroshima und drei Tage später auf Nagasaki werden aufgezeigt, als auch die von den USA für unglaublich gehaltene rasante atomare Aufholjagd der Russen mit ihrer ersten Atombombenexplosion im August 1949. Als die Welt vorm atomaren Aufrüstungs-Abgrund steht, kehren erste Ansätze politischer Vernunft ein. Ein großer Schritt dahin ist die berühmte Rede »Atoms for Peace« des amerikanischen Präsidenten Dwight D. Eisenhower vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen im Dezember 1953 zur Hinwendung der atomaren Energie für friedliche Zwecke und der Begrenzung atomarer Waffen. Der Weg der nun folgenden Nutzbarmachung der Kernenergie wird skizziert mit der ersten internationalen Atomkonferenz im August 1955 in der schönen Stadt Genf am Genfersee, mit der großen Show der Amerikaner mit einem mitgebrachten Schwimmbadreaktor, der erstmals einen für viele unfassbaren Blick in einen Reaktorkern erlaubte. Es wird gezeigt, mit welch unbeschreiblicher Euphorie die deutsche Politik die neue Energie der Atomkraft als »Geschenk des Himmels« begrüßt, wie die Wissenschaft nach dem verlorenen Krieg und dem Verbot wissenschaftlicher Tätigkeit auf diesem Gebiet die Chance wahrnimmt, wieder Anschluss an die Weltelite zu finden, die Industrie auf neue Geschäftsmöglichkeiten beim Bau von Kraftwerken und der Aufarbeitung von Brennstoffen hofft und die Stromkonzerne sich zunächst über Jahre schwer tun die neue Energieform zu akzeptieren. Erst auf Verlangen der Politik hin ändern sie schließlich ihre Meinung. Als der Markt ihre bevorzugten Wasser-moderierten und Wasser-gekühlten Kernkraftwerke anbietet werden sie zu begeisterten Protagonisten. Die Motive für diese Wende hin zu »Kernenergie ja bitte« werden erläutert.

Breiten Raum nimmt die soziale Bürgerbewegung gegen Atomenergie ein, mit ihren Anfängen über die Friedens- und Ostermarschbewegung gegen atomare Aufrüstung der Bundeswehr und den Nato-Doppelbeschluss bis hin zur Ökologiebewegung, zu mehr Achtsamkeit gegenüber der Natur, gegen Kohlekraftwerke und Großtechnologien, für eine sanfte Energieerzeugung à la »small is beautiful« sowie für regenerative Energien. Es wird gezeigt, dass die Anti-Atomkraft-Bewegung nicht linear, sondern bis zum Ausstiegsbeschluss im Jahr 2011 in vier großen aktiven und passiven Phasen und regional unterschiedlich mal mehr, mal weniger erfolgreich abläuft. Es beginnt mit dem sehr erfolgreichen Widerstand ab 1972 im Oberrheintal gegen das geplante Atomkraftwerk in Wyhl und dem Scheitern in der zweiten Hälfte dieser ersten Phase bis 1977 gegen geplante Anlagen in Brokdorf, Grohnde und Kalkar. Die Bewegung hatte sich politisiert und brutalisiert durch Vereinnahmung durch kommunistische Gruppen, die das Bürger-Momentum im Kampf gegen den verhassten kapitalistischen Staat nutzen wollten. Der Widerstand organisiert sich in Großdemonstrationen mit bürgerkriegsähnlichen Schlachten mit der Polizei und scheitert schließlich. Im Wendland erfolgt die Wiedergeburt. Der Bürgerbewegung gelingt es weitgehend, radikale Elemente außen vor zu halten und letztendlich die geplante gigantische Wiederaufarbeitungsanlage in Gorleben zu verhindern. Im Juli 1979 gibt der niedersächsische Ministerpräsident Ernst Albrecht die Anlage mit der Begründung »technisch machbar, aber politisch nicht durchsetzbar« auf. Das Geschehen verlagert sich in der dritten Phase der Bürgerbewegung um 1985 in die Oberpfalz im Osten des Freistaates Bayerns nach Wackersdorf, nachdem sich Franz Josef Strauß für die Errichtung einer Wiederaufbereitungsanlage dort stark gemacht hat. Erneut scheitert der Bürgerwiderstand, da die örtlichen Bürgerinitiativen wie zuvor in Brokdorf von linken radikalen Kampfgruppen durchsetzt werden und es wieder zu gewalttätigen, militanten Auseinandersetzungen mit der Polizei und dem Staat am Zaun von Wackersdorf kommt, ohne dass es gelingt, die Baustelle zu besetzen. Die gut geschützte Anlage wird weitergebaut, jedoch 1989 von den Stromkonzernen wegen sich abzeichnender Unwirtschaft-lichkeit aufgegeben. Die Anti-Atom-Bewegung verliert sich erneut in einer jahrelangen Tristesse, deren Dornröschenschlaf schlagartig mit dem ersten CASTOR-Transport im Jahr 1995 ins zentrale Brennelemente-Zwischenlager Gorleben vorbei ist. Wieder sind es die Wendländer, die den Widerstand neu entfachen. Sie wenden sich gegen die Verbringung bestrahlter Brennelemente in ihre Heimat und gegen das geplante Endlager Gorleben. In dieser vierten Phase schafft es die bürgerliche Protestbewegung, eine breite deutschlandweite Unterstützung zu erhalten. Alle 13 der bis 2011 durchgeführten Transporte werden zu einem bundeweiten medialen und politischen Ereignis, bei dem die Republik in Aufruhr versetzt wird. Bürgerinitiativen, Grüne, SPD und der überwiegende Teil der Medien inclusive des öffentlich-rechtlichen Rundfunks heizen die Stimmung an und verbreiten Angst vor radioaktiver Strahlung. Sie sehen in den Castortransporten eine willkommene Chance, eine politische Energiewende ohne Atomenergie durchsetzen.

In allen thematischen Kapiteln wird das aktuelle politische Geschehen in Bonn und später Berlin als entscheidender Takt- und Richtungsgeber der Geschichte der Kernenergie wiedergegeben. In Zitaten von Politikern aller Couleur werden Einstellungen und Motive zur Atomenergie, zu Castortransporten, Zwischenlagerung und Endlagerung festgehalten, und es wird gezeigt, wie sich diese über die Zeit von Befürwortung der Atomenergie zu einer abweisenden, ja bekämpfenden Einstellung geändert haben. Mit der Gründung der Grünen Partei 1980 entsteht erstmals eine politische Kraft, die den Atomausstieg in ihrem Gründungsprogramm fest verankert und zielgerichtet betreibt. Als Reaktion auf die neue grüne Partei und die neue Umweltbewegung sowie auf die neue Regierung von Helmut Kohl ab 1982 vollzieht die SPD eine radikale Kehrtwende gegenüber der Energiepolitik von Willy Brandt und Helmut Schmidt und beschließt nach Tschernobyl 1986 auf dem Parteitag in Nürnberg den Ausstieg aus der Atomenergie. Mit diesem neuen Identitätsprofil grenzt sie sich energiepolitisch von der Union ab und hofft, für Ökowähler attraktiv zu werden. Es wird gezeigt, dass der energiepolitische Schwenk der SPD zusammen mit den gleichlaufenden Interessen der Grünen für die weitere Energiepolitik Deutschlands von großer Bedeutung ist, weil Grüne und SPD ihre neue energiepolitische Glaubenslehre »Raus aus der Atomkraft!« dogmatisch betreiben und sich so in der Energiepolitik in eine selbstgewählte totale Handlungsblockade mit unverrückbarer Anti-Atomkraft-Position begeben. Mit dieser zentralen Positionierung wird jahrzehntelang Oppositionspolitik betrieben, in deren Folge energiepolitische Kompromisse mit der Union praktisch unmöglich werden. Fortschritte z. B. bei der Endlagerung werden blockiert; auch verschließen sich Möglichkeiten, die Atompolitik der Republik an veränderte Gegebenheiten wie den Klimawandel anzupassen, wie es andere Länder in Europa tun.

Es wird aufgezeigt, wie die praktische Umsetzung dieser Politik vollzogen wird. Im ersten Schritt bekämpfen SPD und Grüne Anlagen, die der Brennstoffgewinnung über Brüter und Wiederaufarbeitung dienen, die so-genannte Plutoniumtechnologie wird verteufelt. In Nordrhein-Westfalen verhindert die Landespolitik der SPD unter Johannes Rau die Inbetriebnahme des betriebsfertigen Brutreaktors Kalkar durch Verweigerung der noch ausstehenden letzten Genehmigung, obwohl sie bis dahin 17 Teilerrichtungsge-nehmigungen erteilt hat. Das gleiche Schicksal erleidet die von Siemens fertiggestellte Anlage zur Fertigung von Mischoxidbrennelementen in Hanau durch zwei rot-grüne Landesregierungen in Hessen mit dem grünen Umweltminister Joschka Fischer. Die Vorgaben der Bundesregierung und des Atomgesetzes zur Wiedergewinnung von Brennstoffen werden im offenen Machtkampf mit der Bundesregierung Kohl torpediert; Milliardeninvestitionen versenkt sowie tausende hochqualifizierte Arbeitsplätze vernichtet. Die kerntechnische Industrie ist Mitte der 1990er-Jahre zermürbt und verlässt Deutschland. Für Siemens ist der politische Ärger zu groß, um an diesem Industriezweig festzuhalten.

Ab der Jahrtausendwende und nach dem ersten Ausstieg aus der Atomenergie unter Gerhard Schröder, wenden sich die politischen Auseinandersetzungen der Zwischen- und Endlagerung zu. Asse, Konrad, Morsleben und Gorleben stehen plötzlich im Rampenlicht. Der Charakter der Auseinandersetzung zeigt, dass es eher um einen Stellvertreterkrieg über Grundsätze der Energiepolitik und um persönliche Profilierungen geht als um eine Sachauseinandersetzung über sichere Endlager. Durch herbeigeredete Ängste soll im öffentlichen Diskurs rund um Atomenergie und Endlagerung bis zum endgültigen Ausstiegsbeschluss, der schließlich 2011 kommt, eine antiatomare Stimmung aufrechterhalten werden. In diesem mit vielen Zitaten belegten spannendem und politisch trickreichen Schlagabtausch kommen schließlich alle Endlager unter die Räder. Das Versuchsendlager Asse wird in innerpolitischen Auseinandersetzungen zerrieben, beim simplen Endlager für schwachradioaktive Abfälle Konrad gelingt es der Politik nicht, in mehr als vierzig Jahren unter rasanten Kostensteigerungen auf mehrere Milliarden Euro eine Inbetriebnahme zu erreichen. Das nach der Wiedervereinigung von der DDR übernommene Endlager Morsleben wird politisch beendet und im Schneckentempo bei hohen Kosten stillgelegt, und das Erkundungsbergwerk Gorleben wird aufgrund politischer Streitigkeiten und erneuter Milliarden-Ausgaben trickreich so eingestuft, dass es im neu eingeleiteten Endlager-Auswahlverfahren schon im ersten Verfahrensschritt aus dem Kreis möglicher Endlager fällt und nun stillgelegt wird, nachdem es weitgehend erkundet und wieder und wieder von der Wissenschaft und der Politik als eignungshöffig eingestuft wurde. Die Endlagerung ist eine Geschichte geschürter und geschaffener Ängste, eines lokalen Widerstands im Wendland und eines völligen Scheiterns der Politik. Der Politik gelingt es nicht, ihre in den 1960er-Jahren begonnene – seit 1976 gesetzlich festgeschriebene – Aufgabe zu erfüllen, atomare Endlager zu errichten und zu betreiben. Außer enormer Kosten kann sie nach 50 Jahren nichts vorweisen.

Es wird gezeigt, dass es beim finalen Ringen um den Erhalt der Atomenergie in Deutschland 2011 nicht mehr um die Sache selbst, sondern ausschließlich um Machtoptionen geht. Mit zunehmender politischer Stärke der Grünen und der sich damit ergebenen Option, Bundesregierungen mit der SPD und FDP bilden zu können, verwässern die Christdemokraten unter Angela Merkel auf der permanenten Suche nach neuen Mehrheiten zum Machterhalt ihren Markenkern durch stete Anbiederung und das Heranrücken an grünlinke Zeitströmungen. Gleich zu Beginn der Nuklearkatastrophe in Fukushima 2011 folgt die Union der gesellschaftlichen anti-nuklearen Stimmung und schließt die Kernenergie in einer Nacht- und Nebel-Aktion aus der für sie seit Jahrzehnten für richtig gehaltenen Energiepolitik aus. Kostenrechnungen und Risikobetrachtungen werden nicht durchgeführt. Eine Entscheidung aus dem Bauchgefühl heraus in völliger Nebellage begründet die neue Energiepolitik Deutschlands. Diese opportunistische Entscheidung scheint für die Union die Ideallösung für neue Regierungsoptionen mit Sozialdemokraten oder Grünen zu sein. Sie drängen in den Kreis der Atomkraft-Gegner.

Doch es kommt anders. Energiepolitisch bleibt bei diesem Machtpoker die Kernenergie auf der Strecke, und Deutschland gibt eine CO2-freie Energieoption auf. Die Umsetzung der Energiewende nach 2011 gestaltet sich unendlich schwer. Seit einigen Jahren herrscht Katerstimmung und Unsicherheit darüber, wie die Energieversorgung Deutschlands gesichert werden kann. Ohne Import von Grundlast- Kernenergiestrom kann das deutsche Stromnetz nicht mehr stabil betrieben werden.

Bei der Verfolgung des Für und Wider der Kernenergie und dem Ringen der Protagonisten und Atomgegner rückt hin und wieder auch das allgemeine Zeitgeschehen in den Vordergrund der Betrachtung. Welche Zeitströmungen, Gefühle, Denkweisen, Erwartungen und Ängste dominieren die 1960er, 1970er und 1980er Jahre, und wie werden sie durch Politik und Medien im Hinblick auf Atomenergie beeinflusst? Es wird deutlich, dass sich die Einstellung der Gesellschaft zur Kernenergie trotz großem Alarmismus und Beschwörung von Angstszenarien durch Politik, Bürgerinitiativen und Medien nur relativ langsam ändert, mit Ausnahme der zwei Horror- und Angstamplituden um Tschernobyl und Fukushima. Erst in der Regierungszeit von Gerhard Schröder ab Ende der 1990er-Jahre sinkt die Zustimmung zur Kernenergie unter 50 Prozent und verharrt im Bereich 40 bis 50 Prozent bis zum Ausstieg 2011.

Zur Geschichte der Kernenergie in Deutschland gehört als letzter Aspekt ihre enge Verbindung mit der medialen Berichterstattung. Neben der sozialen Bürgerbewegung gegen Atomkraft ab 1972, der Positionierung der Grünen gegen Atomkraft im Gründungsakt 1980 sowie dem Atomausstieg der SPD 1986, sind die Medien ab den 1980er-Jahren die vierte zentrale Kraft, die eine Beendigung der friedlichen Nutzung der Kernenergie in Deutschland betreiben. Anhand von Beispielen wird gezeigt, wie mit der Sprache und den wirkmächtigen Bildern im Fernsehen richtungsgebender Einfluss auf die Gesellschaft genommen wird. In der ersten Phase der friedlichen Nutzung der Kernenergie ab Mitte der 1950er-Jahre wird überschwänglich positiv, ab Mitte der 1970er-Jahre indifferent und ab den 1980ern mehr und mehr bewusst meinungslenkend, die Atomkraft ablehnend, berichtet. Mit zunehmendem links-grünen Gedankengut in den Redaktionen ab den 1970er-Jahren und einer Änderung des Selbstverständnisses der Journalisten weg von neutraler Information hin zu einer gestaltenden Berichterstattung beginnt eine gezielte Steuerung der Meinungsbildung der breiten Bevölkerung. Nach Tschernobyl verfestigt sich in den Medien mehrheitlich die Meinung, dass die Atomkraft per se für Deutschland schlecht sei, zu gefährlich, nicht beherrschbar und mit ungesicherter Endlagerung. Dieser dogmatische Glaubenscharakter wird – verdeckt durch viele Konjunktive – über Jahrzehnte unter gleichzeitiger Verbreitung von Angst verkündet. So kommt es logischerweise nach Tschernobyl und Fukushima in Deutschland zu einer ungleich stärkeren Hysterie als in anderen Ländern und zu dem Ruf, die Atomkraft zu beenden.

Im Buch wird hin und wieder das Wort Bullshit verwendet, und zwar dann, wenn unhaltbare Argumente und Ausführungen zur Kernenergie von Zeitgenossen als Wahrheit verkauft wurden, aber an der Realität vorbeigingen. Mit dem Terminus soll verdeutlicht werden, dass es sich bei diesen Aussagen um Halbwahrheiten handelt, deren Zweck das Erreichen eigener Ziele ist. In dem über Jahrzehnte aufgeladenen Diskurs über die richtige Energiepolitik, mit oder ohne Kernenergie, haben viele Bullshitter diese Kommunikationsart perfektioniert. Ihr Bullshit ist, Wahrheiten so geschickt zu verbiegen, dass eine andere dem Bullshitter gefällige Botschaft vermittelt wird – durch Verschweigen, Weglassen, Hinzufügungen, Pointieren und vieles mehr. Empfänger der Botschaft werden Opfer des bewusst handelnden Bullshitters, gehen ihm auf den Leim und verinnerlichen seine Meinung. Harry Gordon Frankfurt, US-amerikanischer Philosoph und Professor an der Princeton University, sagt, dass dies am Wesen des Bullshits liege, welches er wie folgt beschreibt: »Das Wesen des Bullshits liegt nicht darin, dass er falsch ist, sondern dass er gefälscht ist«1) und »Der Bullshitter fälscht Dinge. Aber das heißt nicht, dass sie zwangsläufig falsch sind.«2) Sein unverwechselbares Merkmal ist, »dass er in einer bestimmten Weise falsch darstellt, worauf er aus ist.«3) Das ist ein gravierender Unterschied, der von vielen Menschen nicht oder nur schwer zu durchschauen ist. Weiter schreibt G. Frankfurt: »Es ist ihm gleichgültig, ob seine Behauptungen die Realität korrekt beschreiben. Er wählt sie einfach so aus oder legt sie sich so zurecht, dass sie seiner Zielsetzung entsprechen«4) und weiter: Der Bullshitter »weist die Autorität der Wahrheit nicht ab und widersetzt sich ihr nicht, wie es der Lügner tut. Er beachtet sie einfach gar nicht. Aus diesem Grunde ist Bullshit ein größerer Feind der Wahrheit als die Lüge.«5) Im Diskurs um Kernenergie ist es wegen ihrer relativen Komplexität und ihrer herbeigeredeten bzw. herbeigeschriebenen überzogen dargestellten Verbindung mit Gefahren und Ängsten besonders schwierig, Bullshit von Wahrheit und Lüge zu unterscheiden. Wird die süßbittere Dosis des Bullshits über viele Kanäle jahrzehntelang verabreicht, entfaltet sie die von Bullshittern aus Politik, Medien und Gesellschaft gewünschte Wirkung, infiltriert die gesellschaftliche Meinung und führt am Ende zu der beabsichtigten Lenkung. Bei der Reaktorkatastrophe in Fukushima hatten Bullshitter und Heuchler Hochkonjunktur. So wurden, um nur ein Beispiel zu geben, die Auswirkungen des Seebebens, des Tsunami und der Reaktorkatastrophe bullshitartig in einen Topf geworfen und die fast 20.000 Tote, die das Beben und der Tsunami gefordert haben, assoziierend der Reaktorkatastrophe untergeschoben, obwohl es dort keinen einzigen Strahlentoten gab.

Die Erzeugung von Energie aus der Kernspaltung wird im Buch sowohl als Kernenergie als auch Atomenergie bezeichnet. Technisch korrekt ist die Bezeichnung ›Kernenergie‹, da die Energie über die Spaltung von Atomkernen gewonnen wird. Verwendet werden die Begriffe hier, wie es sich in Deutschland eingebürgert hat, also ›Kernenergie‹ im Sinne von deren Befürwortern und ›Atomenergie‹ als Terminus der Atomkraft-Gegner. Sinngemäß werden auch die Begriffe ›Kernkraftwerk‹ bzw. ›Atomkraftwerk‹ und ›Atommeiler‹ verwendet.

»Atomkraft. Ja bitte, nein danke!« versteht sich als Sachbuch, das nicht-fiktional die Polit- und Industriegeschichte einfängt, Geschehnisse einordnet, teils bewertet und sich an eine breite Leserschaft richtet. Es handelt sich bewusst um kein Fachbuch und verneint damit den Anspruch einer möglichst neutralen, wissenschaftlichen Aufbereitung des Themas für ein Fachpublikum. Als nicht-wissenschaftliches, doch nach bestem Wissen und Gewissen faktenbasiertes Erzählbuch ist Wert auf eine leichte Lesbarkeit der zum Teil komplexen Materie gelegt worden. Beschreibungen von für den historischen Verlauf wichtigen Personen, Objekten, Anlangen und Naturbesonderheiten ermöglichen eine bildhafte Vorstellung von Geschehnissen – ein Hineinversetzen in das jeweils aktuelle Spannungsfeld beim Auf- und Abstieg der Kernenergie in Deutschland.

Deutschland beschreitet mit der Entscheidung zur Beendigung der Atomenergie unter den Industrienationen der Welt einen Sonderweg. Ob dieser in der Retrospektive wirklich verstanden wird, wird wohl erst das finale Ergebnis der Umsetzung der Energiewende zeigen – oder wie es der dänische Theologe und Philosoph Sören Kierkegaard in der Morgenröte der Industriegesellschaft ausgedrückt hat: »Das Leben wird vorwärts gelebt und rückwärts verstanden.«

Gerhard Hottenrott

Oktober 2023

Kapitel I

NIEDERGANG DES KERNBRENNSTOFFKREISLAUFS

Die energiegeschichtlichen Aufzeichnungen der Kapitel »Politik unisono pro Atomkraft« und »Energieprogramme« zeigen, dass der geschlossene nukleare Brennstoffkreislauf bei allen Regierungen, angefangen bei den Christdemokraten mit Konrad Adenauer und Ludwig Erhard ab 1973, dann durch die Sozialdemokraten mit Willy Brandt und Helmut Schmidt und schließlich ab 1982 durch Helmut Kohl durchgängig als wichtiges energiepolitisches Ziel zur Verringerung der Energieabhängigkeit der Bundesrepublik vom Ausland verfolgt worden ist. Bis 1970 wurden die wissenschaftlichen und technischen Grundlagen für großtechnische Anwendungen geschaffen, mit den dann folgenden Energieprogrammen wurde die Industrie auf dieses Ziel hin ausgerichtet. Treibende Kräfte waren zunächst Politiker, Regierungen, Wissenschaftler und die chemische Industrie, ab den 1970er-Jahren zusätzlich die Stromkonzerne. Sie alle trieb die Sorge vor drohender Energieknappheit, ausufernden Energiepreisen und Gefährdung unseres Wohlstandes um. Die Erd-öl-Peak-Förderung schien überschritten zu sein, und zu allem Übel wurde damals angenommen, dass die bekannten Uranvorkommen nicht ausreichen würden, um die weltweiten Kernenergieprogramme langfristig mit Brennstoff versorgen zu können. Die späteren Funde sowohl neuer Uranvorkommen, Erdölfelder und gewaltiger Gasvorkommen als auch die revolutionäre neue Fracking-Technologie zur Gewinnung von Öl und Gas waren noch nicht bekannt.

Dieses Manko sollte durch eine optimale Nutzung des Urans in einem Brennstoffkreislaufsystem mit einem Verbund von Leichtwasserreaktoren, Brutreaktoren und Wiederaufarbeitungsanlagen (WAA) behoben werden. Abgebrannte Brennelemente aus LWR und Brütern sollten in WAA aufgearbeitet, das darin enthaltene Uran und Plutonium zurückgewonnen und zu neuen Brennelementen für Brüter verarbeitet werden. Im Brüter, der im Gegensatz zu den LWR mit schnellen Neutronen arbeitet, wird das mit thermischen Neutronen nicht spaltbare Uran-238, welches mit 93,3 % im Natururan den weitaus größten Anteil hat, durch Neutroneneinfang in das spaltbare Isotop Plutonium-239 umgewandelt. Auf diese Weise kann mehr Brennstoff »erbrütet« werden als zur Energieerzeugung selbst verbraucht wird. Das in der Natur vorkommende Uran kann in diesem Kreislaufsystem um das 60-Fache für die Nutzung in Kernkraftwerken vervielfacht werden. Uran stünde für mehrere Hundert Jahre zur Verfügung, eine nicht versiegende Energiequelle wäre geschaffen. Als »Vater« dieses schönen Energietraumes und Projektleiter des Schnellen Brüters im Kernforschungszentrum Karlsruhe gilt der Physiker Prof. Wolf Häfele. Einer seiner späteren Gegenspieler ist der Ingenieur und Zukunftsforscher Klaus Traube.

Die Geschichte des Niedergangs des nuklearen Kernbrennstoffkreislaufs ist die Geschichte energiepolitischer Auseinandersetzungen zwischen dem Bund und der SPD sowie den Grünen. Dieser Kampf wird in den Bundesländern NRW und Hessen besonders stark geführt, an deren Ende die Kreislaufindustrie unter die Räder kommt.

Schneller Brüter SNR-300

1971 geht im Forschungszentrum Karlsruhe eine Pilot-WAA mit einer Anlagenkapazität von 35 t/a in Betrieb, 1974 folgt ein kleiner Brutreaktor KNK-I, der 1977 zum Schnellen Brüter KNK-II mit 21 MW Stromleistung umgerüstet wird. Damit sind staatlicherseits die wichtigsten Voraussetzungen für die angestrebte großtechnische Anwendung geschaffen. Industrie und Stromkonzerne sind nun gefordert. Bei den deutschen Stromkonzernen ist es vor allem RWE, welches in der Brüterentwicklung große Vorteile sieht. Wichtigster Befürworter ist Prof. Heinrich Mandel. Für ihn steht der Brüter für eine langfristige Energiesicherung, preiswerte Energieerzeugung und Festigung von Marktdominanz auf der Basis eines neuen Strom-Erzeugungssystems. Diese Einschätzung entspricht der der französischen Électricité de France, was schließlich zu gemeinsamen Interessen-vereinbarungen mit abgestimmten Aktionsplänen führt. In Frankreich ist der Brüter Phénix im fortgeschrittenen Baustadium und der Superphénix bereits in Planung. Die deutschen Gegenstücke sollen das Prototypkraftwerk des SNR-300 in Kalkar und später der SNR II werden. Die Regierungen der Bundesrepublik, Frankreichs und Großbritanniens treiben parallel die Entwicklung eines großen europäischen Brüters voran. Mit all diesen Maßnahmen sieht sich Deutschland gut in die gemeinsame europäische Brüterentwicklung integriert. Bundesregierung und NRW stehen uneingeschränkt hinter diesen Plänen und fördern die Entwicklung.

1971 wird zum Bau und Betrieb des SNR-300 die Schnell-Brüter-Kernkraftwerksgesellschaft (SBK) mit den Energieversorgern RWE, Synatom in Belgien und SEP in Holland im Beteiligungsverhältnis 70:15:15 Prozent gegründet. Damit ist der Schnelle Brüter Kalkar, der nicht »schnell« heißt, weil er schnell Plutonium erbrütet, sondern weil er mit schnellen Neutronen arbeitet, von Anfang an ein europäisches Projekt, das von drei Regierungen gefördert wird. Die Federführung zur Errichtung und zum Betrieb liegt beim Konzern RWE, den Generalbevollmächtigten des Energiekonzerns Prof. August-Wilhelm Eitz und G. H. Scheuten als Geschäftsführer der SBK. Im Herbst 72 wird der Baubeschluss gefasst und der Vertrag zur Entwicklung und zum Bau des Brüters an die Internationale Natrium-Brutreaktor-Baugesellschaft (INB) vergeben. Deren Industrie-Gesellschafter sind im zuvor genannten Verhältnis Interatom, eine Tochter von Siemens, Belgonucléaire, Brüssel und Neratoom, Amsterdam. Im gleichen Verhältnis profitieren die drei Länder von Lieferaufträgen und Arbeitsplätzen. Wesentliche Anlagenkenndaten dieser kleinen Prototypanlage sind eine elektrische Leistung von 300 MW, zwei komplett unabhängige Abschaltsysteme, Natrium anstatt Wasser wie beim LWR als Kühlmittel, damit die bei der Spaltung entstehenden, schnellen Neutronen nicht abgebremst werden, Abführung der bei der Kernspaltung entstehenden Wärme über drei parallele Stränge mit jeweils vier hintereinandergeschalteten Kreisläufen: der Natrium-Primär- und Sekundärkreislauf, der Wasserdampfkreislauf, der die Wärme auf die Turbine bringt, wo sie in Rotationsenergie umgewandelt wird, und der nachgeschaltete Kühlwasserkreislauf, der dem Dampf im Kondensator die Restwärme entzieht und ihn wieder zu Wasser kondensiert. Der Reaktorkern besteht aus 205 Brennelementen mit rund einer Tonne Plutonium und 96 Brutelementen aus Uran, die den inneren Kern umgeben. Der Reaktor wird mit nur zwölf Bar praktisch druckfrei betrieben, was große Sicherheitsreserven bedeutet. Die Brennelemente werden von Alkem in Hanau und Belgonucléaire in Dessel gefertigt.

Im März 1973 erteilt das Düsseldorfer Wirtschaftsministerium die erste atomrechtliche Genehmigung einschließlich des Gesamtkonzeptes. Der Rat der Stadt Kalkar spricht sich mit 21 Ja-Stimmen und einer Enthaltung für den Bau des Reaktors auf seiner Gemarkung aus. Das angedachte Grundstück gehört der Pfarrgemeinde Hönnepel und dem Bauern Josef Maas. Beide lehnen sowohl den Bau des Kraftwerks als auch den Verkauf ihrer Grundstücke an RWE vehement ab, und dies auch nach überhöhten Angebotspreisen. Selbst bei einem Gebot von 1,1 Mio. DM bleibt der Pfarrvorstand bei seiner Haltung. Zur Absicherung dieser Positionierung und in der Hoffnung auf Unterstützung wendet sich der Pfarrvorstand mit einem Schreiben an den Papst in Rom. Dieser delegiert die Antwort an den obersten päpstlichen Gerichtshof und die Sacra Congreazione della Consulta. Die brütet sehr lange darüber, sodass die Antwort erst nach vielen Jahren eintrifft und keine Relevanz mehr hat. Nach wiederholter Ablehnung des Grundstücksverkaufs kommt es zu einer vom Wirtschaftsminister von NRW genehmigten, formalen Enteignung des Bodens der Kirchengemeinde. Eigentümer ist jetzt RWE. Das erzürnt den zuständigen Bischof, der daraufhin den Kirchenvorstand wegen grober Pflichtverletzung auflöst. Ein neuer Vorstand wird gewählt, der kurz danach mit der SKB zum Preis von 1,3 Mio. DM handelseinig wird. Im April erfolgt am linken Rheinufer bei Flusskilometer 842 bei Kalkar die Grundsteinlegung des Brüters Kalkar. In einem großen Festzelt feiern 400 Teilnehmer aus Deutschland, Holland und Belgien das freudige Ereignis. Geschäftsführer Scheuten hält eine euphorische Rede zum Aufbruch in ein neues Energiezeitalter. In den ersten Errichtungsjahren sieht es tatsächlich ganz danach aus, der Bau der Anlage geht plangemäß voran.

Ab Mitte der 1970er-Jahre rückt mit der Anti-Atomkraft-Bewegung der Brüter ins öffentliche und politische Interesse. Die neue Technologie, die bislang im geschützten Bereich von Forschungs- und Entwicklungszentren gelebt hat, trifft nun auf Wertvorstellungen, Wünsche und Ängste der Bevölkerung, die künftig mit dieser Technik, mit diesem großen Industrieprojekt an einem konkreten Ort leben muss. Gelingt es, das Vorhaben der Bevölkerung schmackhaft zu machen, sodass es akzeptiert wird, läuft die Errichtung problemlos, stößt es auf Ablehnung, werden gewöhnlich drei Haupt-Aktionsformen beschritten, das Vorhaben zu verhindern. Widerstand der Bevölkerung bis hin zu Bauplatzbesetzungen, was in Wyhl und beim NEZ in Gorleben erfolgreich war, gerichtliche Anfechtungen von Genehmigungen, die beim Kernkraftwerk Mülheim-Kärlich zum Erfolg geführt haben, und drittens Dauerblockaden von kritischen Teilsystemen einer Wirkungskette des Gesamtsystems. Die zuletzt genannte Widerstandsform wird bei den Castor-Transporten von 1995 bis 2011 erfolgreich angewendet. Dabei sollen der Staat und die betroffenen Unternehmen an die Grenzen ihrer Wirkungsmöglichkeiten und Kostentragung getrieben werden. Bei den Kernkraftwerken, der Wiederaufarbeitungsanlage Wackersdorf und auch beim Brüter Kalkar hat keines dieser drei Anti-Atomkraft-Aktionsformen zum Erfolg geführt. Die Fertigstellung des Brüters hätte nicht verhindert werden können, wäre da nicht ab den 1980er-Jahren eine neue Kraft des Anti-AKW-Widerstandes entstanden, der politisch motivierte Widerstand in Parlamenten, Landesregierungen und bei hohen Beamten im Rahmen ihrer Bundesauftragsverwaltung bei atomrechtlichen Genehmigungsverfahren. In der Landesregierung von NRW wird über diesen Weg der Brüter und in der Regierung in Hessen die Brennelementefabrik zur Fertigung von Misch-oxidbrennelementen in Hanau attackiert. Landesregierungen und für Atomangelegenheiten zuständige Minister stellen sich gegen die Energiepolitik der Bundesregierung und nutzen hart an der gesetzlichen Legitimität ihre Hoheit im Genehmigungsverfahren dazu, Projekte zum Scheitern zu bringen. Dabei ist es ihnen gleichgültig, ob Vorgängerregierungen jahrelang Teilerrichtungs-genehmigungen erteilt und so die Projekte mitgetragen haben. Auch interessieren weder Kosten noch Verluste von Arbeitsplätzen, und dies unabhängig davon, ob es dabei um Millionen oder Milliarden geht, die letztlich Unternehmen, Staat und die Gesellschaft zu tragen haben. Hier unterscheiden sich Politiker, die dem Allgemeinwohl verpflichtet sein sollten, in keinerlei Hinsicht von Bürgerinitiativen.

Im Herbst 1977 kommt es zu der schon beschriebenen Großdemonstration am Kraftwerkszaun Kalkar, doch sie bleibt ohne reale Wirkung auf den Projektverlauf. Klagen von Bürgerinitiativen und vor allem vom hartnäckig kämpfenden, knorrigen, aufbrausenden Bauern Josef Maas werden eine nach der anderen von der Gerichtshierarchie als unbegründet abgewiesen. Bauer Maas, dessen Hof in Sichtweite vom Brüter liegt, hat einen langen Atem. Er klagt vor dem Verwaltungsgericht in Düsseldorf, nach Abweisung dann vor dem OVG in Münster, das nach Jahren den Fall wie eine heiße Kartoffel 1977 an das Bundesverfassungsgericht mit der Frage weiterleitet, ob das Atomgesetz, soweit es die Genehmigung des Brüters ermöglicht, überhaupt mit dem Grundgesetz vereinbar sei. Der 2. Senat des BVG antwortet prompt und eindeutig. Das ATG ist die anzuwendende Rechtsgrundlage, stellt es im August 1978 klar. Ferner stellt es gegenüber der Auffassung des OVG Münster richtig, dass die Exekutive, also die Regierung in Bonn, und nicht, wie das OVG meinte, das Parlament, voll legitimiert sei, Leitentscheidungen beim Bau von KKW zu treffen. Nach dieser Niederlage zieht sich Bauer Maas aus dem Widerstand zurück und verkauft seinen Hof an einen seiner langjährigen Widersacher, die Kraftwerk Union AG, die den Brüter errichtet. Wie hoch der Verkaufspreis ist, bleibt ein öffentliches Geheimnis. Von da an hört man vom Bauern Maas, der zuvor die Anti-Atom-Gegner so sehr begeistern konnte, nichts mehr.

Eine weitere Hürde während der Errichtung der Anlage ist die jahrelange parlamentarische Auseinandersetzung im Bonner Parlament. Parlamentarier von SPD und FDP stellen den Brüter infrage, nachdem der amerikanische Präsident Jimmy Carter die amerikanische Brüter- und Plutoniumtechnologie für beendet erklärt hat und sich in Deutschland eine starke Bürgeropposition gebildet hatte. Sechs Abgeordnete der FDP, darunter der Wirtschaftsminister Hausmann, drohen, sich gegen das Energieprogramm der eigenen Regierung zu stellen. Als Kompromiss setzen sie mit Unterstützung von SPD-Abgeordneten im Bundestag einen Parlamentsvorbehalt für den Brüter durch und die Einsetzung einer Enquete-Kommission. Ihr erster Vorsitzender wird der SPD-Abgeordnete und Brüter-Gegner Reinhard Ueberhorst, ihr zweiter Vorsitzender der SPD-Abgeordnete Harald B. Schäfer, ebenfalls ein strammer Atomenergiegegner. Sieben Abgeordnete und acht Energiewissenschaftler, darunter viele unabhängige, kritische Wissenschaftler, sollen die zukünftige Kernenergiepolitik unter ökologischen, ökonomischen, gesellschaftlichen und sicherheitskritischen Gesichtspunkten darstellen und Empfehlungen für entsprechende Entscheidungen vorbereiten. Die Auftragsbearbeitung zieht sich über Jahre hin, in Diskussions- und Arbeitsgruppen, in der Anhörung von Gutachtern und Wissenschaftlern und der Bewertung von beauftragten Gutachten. Während dieser Jahre ruhen praktisch die Arbeiten auf der Baustelle in Kalkar. Zum einen hängt das Damoklesschwert eines ungewissen Ausgangs der Enquete-Kommission über dem Projekt, zum anderen ist die SPD in NRW 1978 auf einen Anti-Atom-Kurs umgeschwenkt, und ihr zuständiger Wirtschaftsminister Horst Ludwig Riemer (FDP) hat die Gunst der Stunde genutzt, das Genehmigungsverfahren zum Erliegen zu bringen.

Nach vier Jahren intensiver Auseinandersetzung mit dem Brüter kommt die Enquete-Kommission zu einer Beschlussfassung und empfiehlt im Oktober 1982 dem Bundestag mit 11:5 Stimmen eine Inbetriebnahme des SNR-300. Im Dezember folgt der Bundestag der Empfehlung und stimmt mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit der Abgeordneten für die Inbetriebnahme des Brüters. Der Pfälzer Helmut Kohl ist seit einigen Monaten Kanzler, Heinz Riesenhuber Bundesforschungs- und Technologie-Minister. Die ermutigenden Beschlüsse und eine Bundesregierung, die hinter dem Projekt steht, motivieren die Industrie, Siemens, RWE und die europäischen Partner zum Weitermachen. Sie gewinnen nach Jahren der energiepolitischen Unsicherheit erneut Vertrauen in politische Zusagen und Rahmenbedingungen. Im Rahmen einer neuen Finanzierung des zwischenzeitlich weit teureren Brüters sind sie bereit, einen weitaus höheren Eigenanteil zu übernehmen. Nach der neuen Kostenverteilung entfallen auf den Bund rund 3 Mrd. DM, auf die deutschen EVU und Siemens 2 Mrd. DM und auf die europäischen Partner 1 Mrd. DM. Unter diesen neuen Prämissen erhält die Baustelle des Brüters rasanten Aufschwung. Politiker in Bonn und die Industrie sind optimistisch gestimmt. Von zunächst wenigen Hundert verbliebenen Arbeitern auf der Baustelle 1982 steigt deren Zahl rapide an und erreicht Ende 1983 3000 Beschäftigte. Zwei Jahre später 1985 beginnen bereits die Inbetriebnahme-Tests von Komponenten und Systemen. Das gesamte Primärsystem wird einem Drucktest unterzogen, das Containment einem Lecktest, 1100 Tonnen flüssigen Natriums werden in die Hauptkreisläufe gefüllt und bei 400 Grad Celsius umgepumpt. Im April 1986 ist die Anlage betriebsbereit, alle Komponenten und Systeme sind ausgetestet. Im Bundesanzeiger wird die offizielle Empfehlung der Reaktorsicherheits-Kommission zur Inbetriebnahme des Reaktors veröffentlicht. Jetzt fehlt nur noch die Beladung des Reaktors mit den in Hanau und in Dessel gefertigten Brennelementen und die heiße Inbetriebnahme. Der Koloss ist fertig, schreiben die Medien, aber das energietechnische Wunderwerk hat noch kein Herz, es ist ohne Kraft und Leben, dafür frisst es aber monatlich rund zehn Mio. DM an Kapital- und Betriebskosten.

Wie das Schicksal so spielt, betritt praktisch zeitgleich mit der Fertigstellung des Reaktors im Jahr 1985 Johannes Rau als Ministerpräsident von NRW die Bühne der Macht. Er will die SPD nun endgültig aus der Atomenergie führen und will 1987 als Kanzlerkandidat der SPD gegen Helmut Kohl antreten.

Der Brüter Kalkar bietet ihm die geeignete öffentliche Bühne, um sich gegenüber Bonn zu profilieren und öffentliche Aufmerksamkeit zu gewinnen. Noch im selben Jahr werden von den politischen Organen NRWs die Beschlüsse zum Stopp des Kalkar-Projekts getroffen. Die Medien, die mehrheitlich ebenfalls ihre Einstellung zur Atomkraft geändert haben bzw. dabei sind, dies zu tun, bieten die geeignete Projektionsfläche. Eiskalt berechnend wird die Regierungsarbeit auf dieses Ziel hin ausgerichtet. Nach dem Motto, was schert mich mein Geschwätz und das meiner Partei von gestern, ist es der neuen Regierung in NRW gleichgültig, dass sie bereits 17 Einzelgenehmigungen erteilt hat und die letzte Genehmigung zur Beladung und zum Betrieb des Reaktors rechtlich eigentlich nicht mehr verweigern kann, dass ihr großer und verehrter Vorsitzender Willy Brandt 1972 den Brüter aus der Taufe gehoben hat, Helmut Schmidt in seinen Energieprogrammen dem Brüter immer wieder eine exponierte Stelle eingeräumt hat, fünf Bundesforschungsminister der SPD, von Klaus von Dohnanyi, Horst Ehmke, Hans Matthöfer, Volker Hauff bis zu und Andreas von Bülow den SNR-300 nachhaltig mit Finanzmitteln gefördert haben, dass der Brüter ein europäisches Projekt gemeinsam mit den Niederlanden und Belgien ist, dass über vier Jahre lang eine Enquetekommission des Bundestages gebrütet und dann eine Empfehlung zur Inbetriebnahme des Brüters ausgesprochen hat, und letztendlich, dass rund 6 Mrd. DM investiert worden sind, die bei einer Stilllegung sinnlos verbrannt würden.

1986 kommt es im Lichte von Tschernobyl zu einem Zeitgespräch1) zwischen Wirtschaftsminister Prof. Reimut Jochimsen und dem Geschäftsführer von Kalkar, Prof. August-Wilhelm Eitz, über die Frage zur Inbetriebnahme des Schnellen Brüters. Mit der These von Jochimsen: »Ein Einstieg in die großtechnische Plutoniumwirtschaft ist unvertretbar«2) und der Antwort von Eitz: »Es gibt keine Alternative«3) werden die unvereinbaren Positionen deutlich. Keines der für den Sinneswandel der SPD angeführten Argumente, wie zwischenzeitlich verbesserte, weltweite Uranversorgung, geringerer Weltenergiebedarf, kein Einstieg in die Plutoniumwirtschaft und Sicherheitsbedenken beim Brüter, ist nach Eitz ein wirkliches Ausstiegsargument, da entweder irrelevant für einen Prototypreaktor oder bereits im atomrechtlichen Genehmigungsverfahren hundertfach widerlegt. Es sind Ablenkungsmanöver, die für Prototypreaktoren nur bedingt gelten. Beim Betrieb eines Prototypreaktors geht es um die Gewinnung von Wissen und Erfahrung für spätere Entscheidungen und es geht um die Abklärung und Sicherung einer langfristigen Energieoption. Es geht um Erfahrungsgewinn, um die Erprobung einer neuen Technik, der Natrium-Kühlung unter Reaktorbedingungen. Ganz anders sieht es aus bei einem Leistungsreaktor, wo die wirtschaftlich sichere Stromerzeugung im Vordergrund steht.

Plutonium aus abgebrannten Brennelementen der Leichtwasserreaktoren wird bereits im großen Stil verarbeitet. Das resultiert aus verpflichtenden Vorgaben des Atomgesetzes zur Rückgewinnung von Brennstoffen. Rund vier Tonnen Plutonium werden jährlich durch den Betrieb der LWR erzeugt, der SNR-300 würde diese Menge um gerade mal ein Prozent erhöhen. Das Sicherheitskonzept des SNR-300 erfüllt prinzipiell dieselben Sicherheitsanforderungen, die an deutsche Kernkraftwerke mit Leichtwasserreaktoren gestellt werden. Dies war Bestandteil der Prüfungen im atomrechtlichen Genehmigungsverfahren. Auf Veranlassung der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages wurde die Sicherheit des SNR-300 zusätzlich einer detaillierten Risikobewertung unterzogen. Dabei wurde nachgewiesen, dass der SNR-300 das gleiche Sicherheitsniveau besitzt wie deutsche Leichtwasserreaktoren. Als Sicherheitsvorteil verfügt der SNR-300 über einen praktisch drucklosen Primärkreislauf, sodass Kühlmittelverluste als äußerst unwahrscheinlich anzusehen sind, und nicht zuletzt ist er auch gegen hypothetische Störfälle mit Kernschmelzen ausgelegt.

Die von NRW angewandte Ausstiegstaktik ist zynisch. Mit einem giftigen Cocktail von Verzögerung und gezielter Erhöhung der Projektkosten durch stetig neue Forderungen als Voraussetzung für die letzte noch ausstehende Genehmigung sollen die Geldgeber in Bonn, die der deutschen Industrie sowie die der europäischen Partner mürbe gemacht werden, wohl wissend, dass der Betrieb der Anlage mit voller Betriebsmannschaft und laufenden Systemen einschließlich 1100 Tonnen zirkulierenden Natriums gut 100 Mio. DM pro Jahr verschlingt. Eine solche politische Erpressung können Kostenverantwort-liche nicht lange durchhalten, darauf wettet die Politik von NRW. So ist es erstaunlich, dass das ungleiche Tauziehen zwischen NRW und den Partnern des Brüters dennoch unerwartet lange — ganze fünf Jahre — andauert. Die entscheidenden Akteure dieser Obstruktionspolitik sind neben dem Regierungschef Johannes Rau die zuständigen Minister für Genehmigungsverfahren und Wirtschaft, Friedhelm Farthmann und Reimut Jochimsen. Farthmann, zehn Jahre für alle erteilten Genehmigungen zuständig, verweigert 1985 die entscheidende Genehmigung zur Einlagerung von Brennelementen und zur Aufnahme des Kraftwerksbetriebs. Er sieht keinen vernünftigen Grund mehr, »dieses Höllenfeuer zu entfachen«4), sagt er vor der Presse nach der Kabinettssitzung in Bielefeld im Februar 85, und sein Nachfolger Jochimsen, der den SNR-300 als »Irrtum«5) ansieht, prüft mit seinem Ministerium, natürlich nach Recht und Ordnung, wie er immer wieder betont, ob er die entscheidende letzte Genehmigung erteilen kann. Mit seinem Nein gegen die Inbetriebnahme verstirbt sein Patient. NRW ist mit dem Erreichten zufrieden und klappt die Behördenakte des SNR-300 zu. Ein Vorzeigeprojekt des Bundes, das lange gepriesen und vom Bund gefördert worden ist, wird kurz vor seinem Lebensbeginn politisch verteufelt und im Rahmen einer unberechenbaren Industriepolitik beerdigt. Das Kapitel Brüter hat sich für Deutschland erledigt, Wissensmehrung in einem Prototypreaktor ist politisch nicht gewollt.

Manch einen wird es verwundern, dass eine landesstaatliche Behörde durch destruktives Tun bzw. Nichtstun ein Projekt wie Kalkar, bei dem der Bund die größte Beteiligung innehatte, zum Erliegen bringen kann und dabei alle Akteure auf Bundes- und Industrieseite in Atem hält. Es funktioniert über den billigen Trick, bereits geklärte und entschiedene Sachverhalte wieder aufzuschnüren, alte Fragestellungen im neuen Kleid erneut zu stellen, neue Gutachten anfertigen zu lassen, neue kritische, noch nicht mit dem Projekt vertraute Gutachter einzuschalten, einfach unendlich viel neuen Klärungsbedarf zur Sicherheit etc. zu schaffen. In Kalkar waren es Fragestellungen zur Beladung, zum Betrieb, zur Plutoniumwirtschaft, zu internationalen Vorkommnissen, zu Zusammenhängen mit Tschernobyl und vieles mehr. Das Repertoire an Fragestellungen zu komplexen Sachverhalten ist unerschöpflich, und es wäre schon verwunderlich, wenn cleveren Beamten aus zuständigen Ministerien nichts mehr dazu einfallen würde. So reißt Bundesumweltminister Klaus Töpfer nach Jahren des Verzögerns der Geduldsfaden. Er weist NRW an, das Genehmigungsverfahren zu beschleunigen. NRW nimmt die Weisung gelassen entgegen, es bietet eine gute Möglichkeit öffentlicher medienwirksamer Auseinandersetzung und ist zusätzlich noch eine Trumpfkarte im Verzögerungsspiel des Brüters. Zunächst lässt sich NRW ein halbes Jahr Zeit, über die Weisung nachzudenken, dann zieht es vor das Bundesverfassungsgericht. Dort verliert man den Prozess in allen Punkten, wahrscheinlich wie erwartet, Bonn darf NRW weisen, aber NRW hat im Fingerhakeln ein weiteres Jahr Verzug für den Brüter rausgeschlagen, weitere 100 Mio. DM an Kosten für die Bauherren verursacht. Sowohl Johannes Rau als auch Jochimsen werden bei diesem Spiel nicht müde, zu betonen, »nach Recht und Gesetz« zu handeln. Ganz Deutschland feixt darüber, da offen erkennbar ist, dass NRW die Strategie vom Fraktionschef der SPD und früheren Minister Friedhelm Farthmann fährt. Farthmann, der fast alle Errichtungs-genehmigungen erteilt hat und zum Ende der Errichtungsphase 1985 in der Zeitung »Die Welt« verkündet, »dass man notfalls prozessieren werde, bis der sanfte Tod des Brüters eintrete«6). Die Zeit, die nun nicht gerade atomkraftfreundlich ist, definiert die durchschaubare Verschleppungstaktik treffsicher als »kalkarisieren«7). In der Industrie und im juristischen Sprachgebrauch wird nur noch vom »ausstiegsorientierten Gesetzesvollzug« gesprochen und ganz allgemein von der Nadelstichpolitik. Professor Horst Sendler, der ehemalige Präsident des Bundesverwaltungsgerichtes, definiert das Vorgehen als »die Anwendung des Gesetzes in einer Weise, welche die Nichtanwendbarkeit eines Gesetzes zur Folge hat«. … Oder, noch zugespitzter: »Nichtvollzug durch Vollzug.«8) Er vergleicht ihn mit dem »Dienst nach Vorschrift«9), welcher gelegentlich bei Tarifstreitigkeiten im öffentlichen Dienst ausgeübt wird, und fährt fort: »Im Gegensatz dazu bedienen sich bei der ausstiegsorientierten Gesetzesanwendung die Dienstherren selbst und ihr Behördenapparat der Möglichkeit, den Vollzug des Gesetzes durch dessen betriebsamen Nichtvollzug zu unterlaufen … Es braucht daher kein Widerspruch zu sein, dass man zugleich den Ausstieg aus der Kernenergie propagiert und offen erklärt, kein Genehmigungsverfahren mehr zum Abschluss bringen zu wollen, gleichzeitig aber versichert, man bleibe rechtlich an die Vorgaben des Atomgesetzes gebunden mit der wohl als Drohung zu verstehenden Ankündigung, »… man werde das Gesetz strikt anwenden«10). Fritz Ossenbühl, ein Kollege Sendlers, nennt das Kind beim Namen, wenn er formuliert: »… mit dem Schein der Legalität Obstruktion betreiben«11). Der Vertrauensverlust in staatliches Handeln ist enorm. Er prägt nachhaltig Unternehmensführungen in ganz Deutschland und mahnt zur Vorsicht bei politischen Rahmenbedingungen, die langjährige kapitalintensive Projektmaßnahmen zur Folge haben.

Fünf lange Jahre halten die Investoren diese Verweigerung durch, dann sind sie sturmreif geschossen und kapitulieren vor einer Staatsstrategie der schöpferischen Verhinderung. Der Bund mit einem Kostenanteil von rund 60 % ist unter enormem Zugzwang, aber auch die Industrie ist zermürbt und frustriert und hat das Interesse am Brüter Kalkar verloren. Die europäischen Partner aus den Niederlanden und Belgien haben, in richtiger politischer Einschätzung, wie das politische Kräftemessen in Deutschland ausgehen wird, bereits einige Jahre vorher ihre Zahlungen eingestellt. Im März 1991 wird durch den Bundesminister für Forschung und Technologie Heinz Riesenhuber das Aus für den Brüter Kalkar verkündet. In der Presseerklärung des BMFT vom 21. März wird knapp vermerkt: »Die Verantwortung für das Ende von Kalkar, so die beteiligten EVU, der Hersteller und das BMBF, liege eindeutig beim Land Nordrhein-Westfalen.«12) Man sieht keine Chance mehr, dass NRW, dass Johannes Rau und Reimut Jochimsen die abschließende Betriebsgenehmigung noch erteilen werden, obwohl NRW zuvor von 1973 an 17 Einzelgenehmigungen erteilt hat. Sowohl die Bundesregierung als auch die CDU und FDP im Düsseldorfer Landtag kritisieren die Landesregierung dafür, »politische Entscheidungen über Recht und Gesetz gestellt«13) und den Brüter »tot geprüft«14) zu haben. Nicht Anti-Atom-Gegner, nicht steigende Kosten und auch nicht während des Baus aufgetretene technische Schwierigkeiten haben den Brüter scheitern lassen, sondern eine fundamental geänderte politische Einstellung in NRW, in der auch für eine kleine zur Kenntnis- und Wissensmehrung errichtete Prototypanlage kein Platz mehr ist. Im November 1995 kauft der Holländer Hennie van der Most das Gelände. Nach der Außerbetriebsetzung des SNR-300 durch die SBK, nach Entlassung der Anlage aus der atomrechtlichen Aufsicht und dem Atomgesetz geht das Eigentum am Gelände und dem Kraftwerk im September 1996 auf die Firma Kernwasser-Wunderland über. Der clevere Holländer van der Most monetarisiert Komponenten und Systeme als Stahlschrott und baut das Gelände mit all seinen Bauwerken zu einem erfolgreichen Vergnügungs- und Freizeitpark um. Symbol-haft zeigt diese spezielle Konversion eines nicht entfachten »Höllenfeuers« in einen Vergnügungspark an Rheinkilometer 842, wie NRWs High-Tech-Kom-petenzen schwinden.

MOX-Brennelemente

Mit der Stilllegung des Brüters Kalkar ist die Konzeption des geschlossenen nuklearen Brennstoffkreislaufs und die langfristige Vision einer autarken Brennstoffversorgung im Verbund von Leichtwasserreaktoren und Brütern hinfällig. Nach wie vor gilt jedoch für die Stromkonzerne die atomgesetzliche Verpflichtung zur schadlosen Verwertung der verbrauchten Brennelemente durch Wiederaufarbeitung. Erst mit der 7. Atomgesetznovelle vom Juli 1994 wird diese strikte staatliche Vorgabe aufgegeben und als zusätzlicher Weg die direkte Endlagerung von Brennelementen erlaubt. Danach vergeht noch ein weiteres Jahrzehnt, bis der Entsorgungsweg über die Wiederaufarbeitung politisch eingestellt wird. Ab Juli 2005 dürfen keine Brennelemente mehr zu Wiederaufarbeitungsanlagen transportiert werden und es darf nur noch das vor Ort lagernde Material aufgearbeitet werden.

Damit sichergestellt ist, dass alles anfallende Plutonium (Pu) und Uran aus der kleinen inländischen Wiederaufarbeitungsanlage Karlsruhe und den beiden großen ausländischen Anlagen in Reaktoren wieder eingesetzt und damit beseitigt werden wird, müssen die Betreiber von KKW jedes Jahr als Voraussetzung für den weiteren Betrieb ihrer Reaktoren einen sogenannten Verwertungsnachweis erbringen. Darin ist zu belegen, dass es ausreichende Möglichkeiten zur Fertigung von Mischoxid-Brennelementen (MOX-BE) gibt und entsprechende Verträge geschlossen wurden, um das gesamte Pu zu MOX-Brennelementen zu verarbeiten, und dass es auch genügend viele Reaktoren gibt, die über eine Genehmigung zum Einsatz von MOX-BE verfügen. Nach dem Ausstiegsbeschluss unter Gerhard Schröder 2000 ist ferner zu belegen, dass all dies vor der Abschaltung des letzten Reaktors 2022 abgewickelt werden kann. Damit ist ein neues Brennstoffkreislauf-System ohne Brüter-Reaktoren über die Nutzung der durch Wiederaufarbeitung gewonnenen Brennstoffe in Leichtwasserreaktoren etabliert. Die Uraneinsparung in diesem Systemverbund beträgt noch magere 30 Prozent, ein winziger Bruchteil gegenüber den früheren Erwartungen im Brüter/LWR-Systemverbund. Der nukleare Brennstoffkreislauf schrumpft so auf einen MOX-BE-Kreislauf zusammen, der mehr der geordneten Beseitigung von Pu als der Brennstoffmaximierung dient. Die Kosten eines MOX-BE sind aufgrund der aufwendigeren Fertigung und unter Berücksichtigung der seinerzeit niedrigen Uran- und Anreicherungskosten circa ein Viertel höher als die normaler Uran-BE.

Mit dieser Konzeptänderung der Regierung rückt die Fertigung von MOX-BE und deren Einsatz in LWR-Kernkraftwerken in den Vordergrund. Gibt es keine ausreichende MOX-Fertigungskapazität, ist der Reaktorbetrieb, das eigentliche Wirtschaftsinteresse der Stromkonzerne, gefährdet, da dann der Vorsorgenachweis nicht geführt werden kann. MOX-Brennelemente enthalten in den Pellets ein Oxidgemisch aus Uranoxid und Plutoniumoxid und anstatt angereicherten Uran-235 spaltbares Pu. Ansonsten sind sie in ihrer Struktur genauso wie Uranbrennelemente. Sie werden so ausgelegt, dass sie in ihren reaktorphysikalischen Eigenschaften im Reaktorbetrieb etwas konservativer sind als zeitgleich eingesetzte Uranbrennelemente. Betriebserfahrung mit solchen Brennelementen gibt es seit den 70er-Jahren. Erste Elemente wurden bereits in den Demonstrationsreaktoren Kahl und Obrigheim eingesetzt. Hersteller ist, wie bei den Brüter-Brennelementen, die Siemens Tochter Alkem in Hanau. Auf dem nuklearen Industriegelände in Hanau Wolfgang betreibt sie seit 1968 eine kleine Anlage mit einem Durchsatz von bis zu 35 t MOX-BE pro Jahr. Mit dem Anfall von Pu aus den beiden großen ausländischen Wiederaufarbeitungsanlagen geht es ab Mitte der 80er-Jahre jedoch um eine ganz andere Größenordnung. Um diese Mengen verarbeiten zu können, beschließen Siemens und die kernkraftwerkebetreibenden EVU, eine neue MOX-Fertigungsanlage mit 120 t MOX-BE-Fertigungskapazität pro Jahr zu errichten. Nach deren Inbetriebnahme soll die kleine, alte Anlage stillgelegt werden. Mit diesem Konzept lässt sich alles anfallende Pu verarbeiten. Die Anlieferung des Pu aus der Anlage in La-Hague erfolgt, wie gehabt, mit einem Sicherheitsfahrzeug der NCS, einer Tochter der Deutschen Bahn. Dazu wird in der Wiederaufarbeitungsanlage das gewonnene Pu in kleine Metalldosen mit jeweils wenigen Kilogramm Pu verbracht, diese werden verschweißt, mit einer Prüfnummer versehen und zu mehreren Dosen in ein Metallrohr verpackt, das von der IAEA/Euratom mit Prüfnummer und Prüfsiegel verplombt wird. Zum Transport werden mehrere dieser Verpackungen in einen unfallsicheren Sicherheitsbehälter verladen und dieser dann mit einem Straßen-Sicherheitsfahrzeug der DB transportiert. Vor Ort in Hanau erfolgt die Einlagerung der Pu-Dosen in das Lager der staatlichen Verwahrung des Bundesamts für Strahlenschutz in Anwesenheit von IAEO/Euratom. Es befindet sich in einem gegen Flugzeugabsturz ausgelegten und gegen Zutritt gesicherten Gebäude. Jede einzelne Pu-Dose wird dort in einem kleinen, verschlossenen und mit einer Plombe versehenen Schließfach aufbewahrt. Von außen hat es den Anschein von Aufbewahrungsfächern, wie man sie in Bahnhöfen oder Museen kennt. Wird Pu für die MOX-Fertigung benötigt, wird dies ausschließlich durch das BfS und immer im Beisein von IAEA/Euratom-Inspektoren herausgegeben. Alle Maßnahmen erfolgen im Rahmen der weltweit vereinbarten Überwachung zur Spaltstoffflusskontrolle, um missbräuchliche Abzweigungen von Spaltstoffen zu verhindern. Bei jedem Prozessschritt werden die Spaltstoff-Mengen genauestens erfasst und bilanziert.

Zur Fertigung von MOX-BE werden Pu-Oxid und U-Oxid gemischt und in einer Mühle gemahlen. Das Mahlgut wird in einer Presse zu MOX-Pellets gepresst, die dann bei 1700 Grad Celsius zu keramischem Material gesintert, auf ein genaues Maß geschliffen und schließlich in Zirkaloy-Brennstabhüllen eingefüllt und verschweißt werden. Entsprechend dem Einsatz in einem Siede-wasser- oder Druckwasserreaktor wird eine bestimmte Anzahl von Brennstäben zu Brennelementen (BE) konfiguriert, z. B. zu 10x10-Brennstab-BE oder 16x16-Brennstab-BE. Der ganze Prozess läuft in gasdichten Edelstahlboxen mit Plexiglasfenstern und Durchführungen mit Gummihandschuhen zur Bedienung ab, in denen ein Unterdruck herrscht, sodass immer eine gerichtete Luftströmung von außen nach innen sichergestellt ist. In den modernen Fertigungsstätten der COGEMA und BNFL sowie in der geplanten neuen Anlage von Siemens läuft der Prozess weitgehend fernbedient, voll automatisiert ab. Die Schutzvorkehrungen beim Umgang mit Plutonium sind notwendig, um Inkorporation zu vermeiden, um zu vermeiden, dass von dem chemisch extrem giftigen, radioaktiven und zur Aerosolbildung neigenden Schwermetall Plutonium Aerosole in die Umgebungsluft gelangen und so inhaliert oder ingestiert werden können. Die energiereiche radioaktive Alphastrahlung hat zwar nur eine sehr geringe Reichweite, wirkt aber bei Aufnahme in den Körper stark radioaktiv und damit zellzersetzend. Das Schwermetall wurde 1940 entdeckt und nach dem zehn Jahre zuvor entdeckten Planeten Pluto, dem Gott der Unterwelt, benannt. Die Namensgebung folgte einer Tradition der zuvor entdeckten zwei anderen Schwermetalle Uran und Neptunium, die nach den Planeten Uranus und Neptun benannt wurden.

Die neue MOX-Anlage wird von der KWU als Tochter von Siemens in enger Abstimmung mit der auf diesem Gebiet sehr erfahrenen Tochter Alkem geplant, ausgelegt und errichtet. Der ideale Ort dafür ist das nukleare Industriegelände in Hanau-Wolfgang, der Ort, auf den die hessischen Sozialdemokraten viele Jahrzehnte mit Stolz geblickt haben. Es war ihr legendärer SPD-Ministerpräsident Georg-August Zinn, der gegen große bundesdeutsche Konkurrenz die Nuklearindustrie in den Sechzigerjahren nach Hessen geholt und so die Voraussetzungen für hoch qualifizierte, gut dotierte Arbeitsplätze geschaffen hat. Mitte der 1980er-Jahre arbeiten mehr als 3000 Spezialisten auf dem Industriekomplex.

Auf den Tag genau am 12. Dezember 1985 mit der ersten rot-grünen Regierung unter dem hessischen Ministerpräsidenten Holger Börner ist diese Ära vorbei. Atomgegner Joschka Fischer stellt sich als hessischer Umweltminister gegen die Energiepolitik der Bundesregierung mit Pu-Verarbeitung und MOX-An-lage und gegen die Pläne der Industrie. Er spielt mit der MOX-Anlage das gleiche Pokerspiel wie Johannes Rau, Farthmann und Jochimsen in NRW beim Brüter. Mit Gefolgsleuten in seinem Ministerium werden fortan die alte und die geplante, neue MOX-Anlage mit dem Ziel attackiert, die alte Anlage sofort stillzulegen und die Errichtung der neuen zu verhindern. So kommt es unweigerlich zu heftigen Auseinandersetzungen mit Siemens als Bauherrn und späterem Betreiber der Anlage und mit Bundesumweltminister Walter Wallmann, der versucht, mit Weisungen an Hessen das Genehmigungsverfahren in Gang zu halten. All das führt zu wachsenden Spannungen innerhalb des rotgrünen hessischen Kabinetts. Nach zwei Jahren ist der Siedepunkt der Auseinandersetzungen erreicht. Am 09. Februar 1987 nutzt Ministerpräsident Börner trickreich eine vage öffentliche Drohung Fischers und der Grünen auf dem Parteitag, den Fortbestand der Koalition von der Rücknahme einer Genehmigung zur Produktion von MOX-Brennelementen in der alten MOX-An-lage abhängig zu machen, um ihn loszuwerden. Listig schreibt Börner Fischer einen Brief, in dem er sein Rücktrittsangebot, welches Fischer nie gemacht hatte, annimmt. Der radikale Kurs Fischers gegen die Atomkraft geht Börner zu weit, zumal er noch im Frühjahr 1982, ein halbes Jahr vor dem ersten Einzug der Grünen in den hessischen Landtag, sich öffentlich zur Kernkraft mit den Worten bekannt hatte: »Ich bin Kernkraftbefürworter aus ökologischen Gründen. Ich halte die Kernkraft für beherrschbar und ihre friedliche Nutzung nicht für einen Fluch, sondern für einen Segen.«15) Für Börner war Kernkraft vor 1982 ein Garant für Demokratie, sichere Energieversorgung und Wohlstand. Nach 1982, als er mit den Grünen als Tolerierungspartner im Landtag zusammenarbeiten musste und er im Auftrag Willy Brands sie als Bündnispartner für den Bund testet, verabschiedet er sich im Interesse der Machtausführung sukzessiv von seiner einst so positiven Bewertung der Kernenergie. Eine Wandlung hin zu einer Atomkraft-Gegnerschaft kommt für ihn letztlich nicht infrage. Zur Überraschung von Willy Brandt und der Partei lässt er lieber Fischer fallen und die Koalition platzen, als die Kernkraft auf dem Schafott zu opfern. Nach dem geschickten Rauswurf Fischers kommt es im April 1987 zu Neuwahlen, bei denen Kohls Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, Walter Wallmann, gegen Hans Krollmann der SPD antritt und die Wahl gewinnt. Mit Wallmann als Regierungschef endet die bis dato ununterbrochene Herrschaft der SPD in Hessen. Sein Stellvertreter wird Wolfgang Gerhardt von der FDP. Fischer übernimmt im Landtag den Vorsitz der Landtagsfraktion der Grünen. Das Wahlergebnis verblüfft, zumal Wallmann einen knallharten Pro-Kernkraft-Wahlkampf geführt hat und Fischer kurz zuvor noch von Bonn aus angewiesen hatte, an Alkem eine befristete Genehmigung zur Fertigung von MOX-BE zu erteilen. In seinen Wahlkampfauftritten spricht sich Wallmann für den Erhalt der Arbeitsplätze in Hanau aus und für die Fortführung der friedlichen Nutzung der Kernenergie. Die Wähler honorieren es, sie sind die ständigen Koalitionskrisen mit den Grünen wegen der Atompolitik leid und stehen mehrheitlich noch zur Kernenergie. Die die Kernenergie diffamierende Politik der Grünen und vieler bereits umgeschwenkter Medien mit den sattsam bekannten Argumenten eines Atom-Polizeistaates, einer unverantwortlichen Pu-Wirtschaft und eines nicht tolerierbaren Betriebes von Atomkraftwerken hat, wie das Wahlergebnis zeigt, noch nicht die Mehrheit der Bürger vereinnahmt.

Für Siemens und die EVU sind die neuen politischen Verhältnisse in Hessen ein Befreiungsschlag. Nach einer kurzen heftigen Diskussion über den besten Standort für die neue MOX-Fertigungsanlage im hessischen Hanau oder doch besser im nur wenige Kilometer entfernten Karlstein auf bayrischem und damit langfristig politisch stabilerem Boden bleibt es bei der Entscheidung für den Standort Hanau. Ausschlaggebend ist die, bereits vorhandene, bessere Infrastruktur und der Glaube daran, bis zur nächsten Wahl die MOX-Anlage bereits im Betrieb zu haben. Die Entscheidung entpuppt sich später als gravierender Fehler. Langfristige politische Stabilität als Standortauswahlkriterium zählt weit mehr als ein errechneter kurzfristiger wirtschaftlicher Standortvorteil. Wie eminent wichtig dies ist, zeigt ein Vergleich der langfristigen Wirtschaftsentwicklung Bayerns mit anderen Ländern Deutschlands, besonders mit NRW. Jahrzehntelange politische Stabilität und Innovation hat Bayerns Wirtschaft stetig wachsen und zu einer der stärksten Regionen Europas werden lassen, mit acht von 30 DAX-Unternehmen und Weltkonzernen wie Microsoft, Intel, Google etc.

Im Herbst 1987 beginnt Siemens mit der Errichtung der neuen 120 t-MOX-Fertigungsanlage, ein Jahr später schließen die EVU mit Siemens einen Vertrag zur vollständigen Auslastung der Anlage über einen langen Zeitraum, in dem das gesamte Pu aus der Wiederaufarbeitung verarbeitet werden soll. Schon wenige Jahre später, pünktlich vor der nächsten Wahl in Hessen, 1991 ist die Anlage so gut wie fertiggestellt. Alles befindet sich geschützt in einem neu errichteten, flugzeugabsturzsicheren Fertigungsgebäude. Die komplette Infrastruktur ist installiert und alle technischen Systeme und Komponenten zur Fertigung von MOX-BE sind geliefert und befinden sich im Bunker. Zur Aufnahme der Fertigung fehlen noch die letzten Genehmigungen, um die Einzelsysteme in den Edelstahlboxen zu einer Fertigungsstraße zu montieren und die kalte und dann heiße Inbetriebnahme der Systeme und Komponenten durchzuführen. Es ist eine Sache weniger Monate, um die zu 95 Prozent fertige Anlage heiß in Betrieb zu nehmen. Rund eine Milliarde DM sind investiert worden. Siemens und die EVU sind sich sicher, ganz gleich, wie die Wahl ausgehen mag, die Fertigung von MOX-BE kann bald in Hanau aufgenommen werden. Sie steht im Einklang mit dem Atomgesetz, der gesetzlich vorgeschriebenen Verwertung von Pu. Am Wahlabend des 20. Januar 1991 ist klar, die SPD liegt mit ihrem Herausforderer Hans Eichel mit 40,8 % der Stimmen knapp vor dem Amtsinhaber Walter Wallmann mit 40,2 %. Mit dünner Mehrheit von 56 der 110 Abgeordneten wird Hans Eichel am 5. April zum Ministerpräsidenten gewählt. Es kommt zu einer Wiederauflage der rot-grünen Koalition mit Joschka Fischer als erneutem Umweltminister.

Was folgt, ist eine trickreiche, landesspezifische Machtausübung gegenüber dem Bundesumweltminister und eine brutale Machtausübung gegenüber den Hanauer Nuklearfirmen mit Instrumenten, die weitgehend dem »Prinzip Kalkar« folgen. Mit Wut im Bauch über seinen Rausschmiss vor vier Jahren, seinem grenzenlosen Ehrgeiz, seinem Hang zu Dominanz gegenüber der verhassten Atomkraft-Industrie, seiner Profilierungssucht und Sehnsucht nach öffentlicher Aufmerksamkeit, die bei seiner Turnschuh-Vereidigung einen ersten Höhepunkt erlebte, und mit dem Auftrag der Grünen versehen, die MOX-Technologie zu verhindern, geht Fischer mit Macht ans Werk, die fertiggestellte Anlage zu zerstören. Investiertes Kapital und verloren gehende Spitzenarbeitsplätze scheren ihn nicht. Seine wichtigsten Gegner, die sein Ziel durchkreuzen könnten, wie der neue Bundesumweltminister Klaus Töpfer und der Vorstandsvorsitzende von Siemens, Heinrich von Pierer, der seine Mannschaft antreibt, die MOX-Anlage endlich in Betrieb zu nehmen, versucht er geschickt auszutricksen, in dem er wie in Kalkar auf dem schmalen Weg zwischen Legalität und Illegalität die Oberhand zu gewinnen sucht. Hans Eichel spielt in diesem Poker nur eine Randfigur, ohne Fischer, ohne die Grünen ist er nicht lange im Amt und seine Ambitionen hängen nicht an der Kerntechnik, wie noch bei seinem Vorgänger Holger Börner. Im ersten Schritt besetzt Fischer sein Ministerium mit gleichgesinnten Mitkämpfern. Einer seiner wichtigsten Generäle ist der bekannte AKW-Gegner Wolfgang Renneberg. Ihm überträgt er die Atomaufsicht in seinem Ministerium, und dieser wiederum schart gleichgesinnte Mannen um sich.