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Tom Wendner

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Beschreibung

Der bekannte Religionswissenschaftler Paul Kampel trauert, seitdem sein Sohn Dominik sich dem Islamischen Staat in Syrien anschloss. Dominik gilt seither als verschwunden. Doch Lisa Albers, Kommissarin in einer Antiterroreinheit, präsentiert Kampel eine neue Spur: Ein rätselhaftes Gedicht mit zahlreichen Bezügen auf die islamische Religion. Das Gedicht ist Teil einer Aufnahmeprüfung in den Islamischen Staat, mit dem die Terrororganisation neue Rekruten anwirbt. Kampel und Lisa beginnen dem Rätsel zu folgen, doch sie müssen sich beeilen, denn sie werden auf Schritt und Tritt von einem grausamen Dschihadisten verfolgt. Ein Rennen auf Leben und Tod quer durch Berlin beginnt. Der Roman gibt tiefe Einblicke in den Islam und geht der Frage nach, wie Dschihadisten ihre Terroranschläge theologisch begründen. Im Text selbst werden zahlreiche Koranverse zitiert, auf die Kampel bei der Lösung der islamischen Rätsel eingeht. Der Roman ist intensiv recherchiert und enthält ein Literaturverzeichnis mit über 200 Quellen.

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Seitenzahl: 537

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Ähnliche


TOM WENDNER

AUF DEM WEG GOTTES

Thriller

© 2020 Tom Wendner

c/o AutorenServices.de

Birkenallee 24

36037 Fulda

www.auf-dem-weg-gottes.de

Das Buch

Der bekannte Religionswissenschaftler Paul Kampel trauert, seitdem sein Sohn Dominik sich dem Islamischen Staat in Syrien anschloss. Dominik gilt seither als verschwunden. Doch Lisa Albers, Kommissarin in einer Antiterroreinheit, präsentiert Kampel eine neue Spur: Ein rätselhaftes Gedicht mit zahlreichen Bezügen auf die islamische Religion. Das Gedicht ist Teil einer Aufnahmeprüfung in den Islamischen Staat, mit dem die Terrororganisation neue Rekruten anwirbt. Kampel und Lisa beginnen dem Rätsel zu folgen, doch sie müssen sich beeilen, denn sie werden auf Schritt und Tritt von einem grausamen Dschihadisten verfolgt. Ein Rennen auf Leben und Tod quer durch Berlin beginnt.

Der Roman gibt tiefe Einblicke in den Islam und geht der Frage nach, wie Dschihadisten ihre Terroranschläge theologisch begründen. Im Text selbst werden zahlreiche Koranverse zitiert, auf die Kampel bei der Lösung der islamischen Rätsel eingeht. Der Roman ist intensiv recherchiert und enthält ein Literaturverzeichnis mit über 200 Quellen.

Der Autor

Tom Wendner wurde in einem atheistischen Elternhaus geboren, interessierte sich jedoch schon früh für Religionen. Während seines Soziologiestudiums spezialisierte er sich auf empirische Forschung und unterrichtete Statistik. Sein Interesse für das Religiöse und für harte Fakten verknüpfte er in seinem Debütroman »Auf dem Weg Gottes«.

Er lebt und arbeitet in Dresden.

Hintergründe und Quellen

 

Dem islamischen Glauben zufolge enthält der Koran das perfekte und für alle Zeiten gültige Wort Gottes, das von dem Propheten Mohammed offenbart wurde.

Die in diesem Roman zitierten Koranverse stammen aus der Übersetzung von Rudi Paret.1 Parets Koranübersetzung ist die Standardübersetzung der deutschen Islamwissenschaft und gilt als die wörtlich genaueste Übersetzung ins Deutsche. Die Koranzitate in diesem Roman wurden an die neue deutsche Rechtschreibung angepasst. Einige ergänzende Anmerkungen von Paret wurden entfernt. Einfügungen und Auslassungen in den Koranversen sind mit eckigen Klammern gekennzeichnet.

Die Hadithe sind Überlieferungen über Mohammeds Leben und Wirken. Die in diesem Roman erwähnten Hadithe wurden von islamischen Gelehrten als authentisch (arabisch: sahīh) eingestuft. Wenn nicht-authentische Hadithe erwähnt werden, wird dies im Text deutlich genannt.

Der Roman nimmt an vielen Stellen Bezug auf real existierende Ereignisse und sozialwissenschaftliche Befunde. Die genutzten Quellen sind mit hochgestellten Ziffern im laufenden Text gekennzeichnet und im Anhang aufgelistet. Der Anhang enthält außerdem ergänzende Bemerkungen zu einigen Passagen.

Kapitel 1

Der Dschinn tastete nach der Pistole in seiner Jacke. Langsam fuhr er mit der Hand über den Schalldämpfer. Die Berührung mit dem kalten Stahl beruhigte ihn.

Als er die Waffe fühlte, musste er wie so oft an den Schwertvers denken, einen der letzten Verse, den der Prophet – Friede sei mit ihm – offenbart hatte:

[9:5] Und wenn nun die heiligen Monate abgelaufen sind, dann tötet die Heiden, wo immer ihr sie findet, greift sie, umzingelt sie und lauert ihnen überall auf! […]

Der Dschinn mochte diesen Vers und seine stürmische Sprache. Er selbst hielt es mit dem Töten jedoch weniger leidenschaftlich. Natürlich empfand auch er Befriedigung, wenn er Ungläubige niederstreckte. Es gefiel ihm, die Panik in ihren Gesichtern zu sehen, wenn sie ihr wertloses, unreines Leben unter ihm aushauchten. Das alles gefiel ihm sogar sehr. Aber der Dschinn tötete nicht zu seinem eigenen Vergnügen. Wenn der Dschinn tötete, dann nur, um Gott zu dienen.

Und heute würde er Gott einen ganz besonderen Dienst erweisen. Die Mission, auf die der Herr ihn geschickt hatte, war die wichtigste seines gesamten Lebens.

Der Dschinn warf einen Blick durch die Windschutzscheibe seines Wagens. Niemand war zu sehen. Die vornehmen Einfamilienhäuser, die die Straße links und rechts säumten, wirkten völlig still. Nur einige wenige Häuser waren weihnachtlich mit Lichterketten geschmückt, doch die meisten lagen unbeleuchtet in der winterlichen Dunkelheit. Der Dschinn befand sich im Osten Berlins, im Bezirk Marzahn-Hellersdorf. Diese Gegend war bieder und strahlte eine wohlbehütete Ruhe aus – ganz anders als die laute, graue Berliner Innenstadt, in der er sich sonst aufhielt. Der Dschinn wusste, dass er mit seinem arabischen Aussehen hier deutlich auffiel. Und auffallen wollte er auf keinen Fall. Umso dankbarer war er dem Herrn dafür, dass kein Ungläubiger zu sehen war. Niemand schien sich daran zu stören, dass er mit gelöschtem Licht am Straßenrand parkte und immer wieder zu einem bestimmten Punkt sah.

Der Dschinn hatte seinen Wagen so platziert, dass er sein Ziel gut im Blick hatte: ein schlichtes Einfamilienhaus, das von einer hohen Hecke umgeben war.

Der Dschinn kontrollierte sein Smartphone. Auf dem Display war eine Karte zu sehen, in deren Mitte ein roter Punkt leuchtete. Dieser rote Punkt gehörte zu einem kleinen GPS-Sender, den der Dschinn seiner Zielperson untergeschoben hatte. Er schaute noch einmal zu dem Haus rechts von ihm. Es gab keinen Zweifel: Der GPS-Sender musste sich hinter der hohen Hecke befinden, die um das Haus verlief.

Hier beginnt meine Mission, dachte der Dschinn. Er musste jetzt nur noch abwarten, bis er die Zielperson entdecken würde.

Seine Hand fuhr unwillkürlich zurück zu der Pistole in seiner Jacke. Wenn es so weit war, würde er zuschlagen. Er war zu allem bereit.

Der Dschinn lächelte. Gott hatte Großes mit ihm vor. Seine heutige Mission würde die Welt der Ungläubigen für immer verändern.

Kapitel 2

Wie jeden Abend kümmerte sich Paul Kampel um die Pflanzen in seinem Gewächshaus. Stolz betrachtete er seine geliebten Gewächse, die akkurat nebeneinander in ihren Töpfen ruhten. Kampels Blick glitt über den Lavendel. Ein Symbol der Reinheit und der Erinnerung, dachte er. Dann gab es noch die Vergissmeinnichts. Ein Mahnmal gegen das Vergessen. Am liebsten waren Paul Kampel jedoch seine weißen Rosen. Weiße Rosen standen für die Liebe über den Tod hinaus. Und für Geheimnisse …

Als Kampel die weißen Rosen betrachtete, wanderten seine Gedanken wie so oft zu seinem Sohn. Es war jetzt beinahe ein Jahr her, dass Dominik verschwunden war. Damals hatte Kampel sich das Gewächshaus angeschafft und mit dem Gärtnern angefangen. Seine Pflanzen sollten ihm Trost spenden und ihn gleichzeitig daran erinnern, welche schrecklichen Fehler er bei Dominik begangen hatte …

Wie so oft postierte Paul Kampel sich vor seinen weißen Rosen, faltete die Hände, schloss die Augen und dachte eine Minute lang schweigend an Dominik.

Ich vermisse dich jeden Tag, dachte er. Bitte vergib mir. Ich wollte immer nur das Beste für dich, aber ich war dir kein guter Vater.

Kampel seufzte schwer und öffnete die Augen. Es war Zeit, zurück an die Arbeit zu gehen. Er verließ das Gewächshaus und schloss die Glastür hinter sich ab.

Kampel durchquerte den Garten und ging zurück in das Haus, das er vor nicht allzu langer Zeit noch mit seiner Frau und seinem Sohn bewohnt hatte. Jetzt war er der einzige Bewohner. Das Haus ist viel zu groß für mich alleine, dachte er traurig, als er auf das Gebäude blickte. In den vergangenen Jahren hatte er sein Heim im Dezember immer weihnachtlich geschmückt, doch ohne seine Familie sah er keinen Sinn darin. Das Haus sah dieses Jahr genauso trist aus, wie er sich fühlte.

Als Kampel den Hausflur betrat, fiel sein Blick auf ein Foto, das auf einer Kommode stand. Das Bild zeigte ihn und Dominik, wie sie nach einem Angelausflug stolz ihre gefangenen Fische in die Höhe hielten. Wie immer, wenn Kampel seinen Sohn so neben sich sah, erstaunte ihn die Ähnlichkeit zwischen ihnen beiden. Dominik war seinem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten. Diese Ähnlichkeit hatte Kampel sehr stolz gemacht.

Unglaublich, dass dieser Ausflug schon sechs Jahre her ist, dachte Kampel. Auf dem Bild grinste Dominik breit über den Fisch in seiner Hand. Damals war sein Sohn noch anders gewesen: so unbefangen und glücklich. Innerhalb weniger Jahre hatte er sich völlig verändert.

Aber auch Paul Kampel hatte sich verändert. Es kam ihm vor, als wäre er in den letzten sechs Jahren um Jahrzehnte gealtert. Er warf einen kritischen Blick in den Flurspiegel und erschrak darüber, wie wenig er dem glücklich lächelnden Mann auf dem Foto ähnelte.

Kampel war zwar erst Anfang Vierzig, aber seine vollen, dunklen Haare waren schon stark ergraut und in seinem Gesicht zeigten sich bereits die ersten Falten. Er wusste nicht, ob es Alters- oder Sorgenfalten waren. Immerhin lenkt die Brille ein wenig von meinen Krähenfüßen ab, dachte er, als er das dicke, schwarze Gestell betrachtete, das seine grün-braunen Augen einrahmte – Kampel wusste, dass solche Brillen derzeit modern waren. Zufrieden registrierte er außerdem, dass er nicht zugenommen hatte: Er war noch immer so schmal wie eh und je. Mit seinen 1,85 Metern wirkte er nach wie vor lang und drahtig.

Wie üblich trug Kampel ein bunt kariertes Hemd über einem T-Shirt, eine dunkle Jeans und dazu schwarze Sneakers. Dieser lockere Kleidungsstil hatte schon viele seiner Leser überrascht, die ihn nur von dem kleinen Foto auf der Rückseite seiner Bücher kannten. Wenn sie Kampels öffentliche Auftritte besuchten, erwarteten sie zumeist einen ernsten, mürrischen Mann in einem dunklen Anzug. Die Zuschauer waren dann stets erstaunt, dass Kampel ein locker gekleideter Mann war, der häufig lachte und gerne Witze machte. Sogar einer seiner größten Kritiker hatte Kampel erst kürzlich in einem Zeitungsartikel als eine »gewinnende Persönlichkeit« beschrieben.

Kampel betrachtete seinen traurigen Gesichtsausdruck im Spiegel und dachte daran, dass der Zeitungsartikel wohl ganz anders ausgefallen wäre, wenn der Reporter ihn so gesehen hätte. Seit Dominiks Tod fühlte er sich ganz und gar nicht charismatisch, sondern unglaublich müde. Nur wenn es um seine Bücher ging, blühte er noch auf.

Kampel warf einen letzten Blick auf das Foto von Dominik und stellte es zurück auf die Kommode. Es war Zeit, an die Arbeit zu gehen. Das bin ich dir schuldig, Dominik.

Kampel betrat die Wohnküche. In der hinteren Ecke des großen Raumes hatte er sich seinen Arbeitsbereich eingerichtet. Dort stand ein schwerer, alter Schreibtisch, auf dem ein bestens ausgestatteter Computer thronte. Daneben hing eine große Pinnwand, an die Kampel zahllose Zeitungsartikel, Buchausschnitte und Computerausdrucke geheftet hatte, die mit Anmerkungen und Notizen versehen waren. Die beiden Wände um den Schreibtisch wurden von deckenhohen Regalen gesäumt, die randvoll mit Büchern gefüllt waren. Kampels Frau hatte seine Arbeitsecke immer als die »Hausbibliothek« bezeichnet.

Kampel setzte sich in den Drehstuhl an den Schreibtisch und atmete tief durch. Er liebte diesen Platz. Fast alle seine Bücher waren genau hier entstanden.

Stolz schaute Kampel auf den oberen Teil des Bücherregals, wo er die Erstausgaben seiner eigenen Werke aufbewahrte. Die Bücher in dem Regal trugen Titel wie:

WORAN GLAUBEN DSCHIHADISTEN?

Die theologischen Grundlagen des Heiligen Krieges

VOM KRUMMSÄBEL BIS ZUR AK-47

Der Heilige Krieg im Wandel der Zeit

SCHARIA IN EUROPA

Islamische Privatgerichte in westlichen Ländern

DIE KAIROER ERKLÄRUNG DER MENSCHENRECHTE

Was bedeutet sie für Europa?

Kampel konnte ohne Übertreibung behaupten, einer der bekanntesten Religionswissenschaftler Deutschlands zu sein. Am häufigsten beschäftigte er sich in seinen Werken mit dem Islam, wobei er vor allem den Dschihadismus und die Scharia erforschte. Bereits sein erstes Buch, in dem er aufzeigte, wie Dschihadisten ihre Taten theologisch begründen, war zu einem Standardwerk der Dschihadismusforschung geworden.

Kampel fuhr den Computer an seinem Schreibtisch hoch. Seit einigen Monaten arbeitete er an einem neuen Buch und er war fest entschlossen, auch dieses zum Erfolg zu führen.

Als Kampel das Schreibprogramm öffnete, klingelte es an der Haustür. Überrascht hielt er inne. Besuch? Um diese Uhrzeit? Er überlegte kurz, ob er womöglich einen Termin vergessen hatte. Schließlich schüttelte er den Kopf. Er war sich sicher, dass er für heute niemanden mehr erwartete.

Instinktiv wurde Kampel misstrauisch. War das vielleicht einer seiner Kritiker? Zuweilen kam es vor, dass sich jemand von seinen Veröffentlichungen auf den Schlips getreten fühlte. Das war als Religionswissenschaftler leider nicht zu vermeiden. Um sich unangenehme Besucher fernzuhalten, legte Kampel großen Wert darauf, dass seine Adresse vor seinen Lesern geheim blieb.

Wieder klingelte es an der Tür, diesmal gefolgt von einem hastigen Klopfen.

Wer auch immer das ist, er hat es eilig, dachte Kampel verärgert, als er sich aus seinem Drehstuhl erhob. Langsam ging er in den Flur zur Haustür. Er bewegte sich leise auf die Tür zu, sodass der Besucher möglichst keine Notiz von seiner Anwesenheit nehmen würde. Vorsichtig warf er einen Blick durch den Türspion.

Was Kampel durch das Glas sah, überraschte ihn: Vor seiner Tür stand eine kleine Frau, die ihre langen, hellblonden Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hatte. Er schätzte ihr Alter auf Ende dreißig ein. Die ungebetene Besucherin trug fellbesetzte Winterstiefel, eine dunkle Jeans und eine eng anliegende dunkelblaue Jacke, die ihre blauen Augen unterstrich. Obwohl Kampel sie nur durch die verzerrte Fischaugenperspektive des Türspions ausmachen konnte, fand er sie sehr attraktiv.

Kampel wandte seinen Blick von der Frau auf den Hintergrund der Szenerie. Hinter der unbekannten Blondine stand ein großer, auffällig roter Lieferwagen – mitten auf seinem Grundstück.

Was will diese Frau bloß? Kampel war nicht sicher, ob er sich ihr zeigen oder einfach warten sollte, bis sie verschwinden würde.

Doch die blonde Frau schien bereits gemerkt zu haben, dass er hinter der Tür stand. Ihre stechenden blauen Augen blickten ihn durch den Türspion hinweg durchdringend an.

»Bitte machen Sie auf!«, sagte sie ernst. Sie machte eine kurze Pause. Was sie dann sagte, versetzte Kampel in einen Schockzustand: »Ich weiß womöglich, wer Ihren Sohn für den Islamischen Staat rekrutiert hat.«

Kapitel 3

Kampel war völlig gelähmt. Die Worte der unbekannten Frau vor seiner Tür hallten immer wieder durch seinen Kopf: Ich weiß womöglich, wer Ihren Sohn für den Islamischen Staat rekrutiert hat.

Eine Flut von unangenehmen Erinnerungen stürzte auf Kampel ein. Für einen Augenblick hatte er wieder die Stimme seiner Ex-Frau im Ohr, die ihm erklärte, dass Dominik seit mehreren Tagen vermisst wurde. Dann sah er sich selbst dabei zu, wie er zusammen mit der Polizei Dominiks Wohnung betrat, nachdem dieser seit Tagen verschwunden war. Ein Polizist erklärte ihm nüchtern, dass sein Sohn vermutlich nach Syrien gereist sei, um sich dem Islamischen Staat anzuschließen – jener grausamen Terrororganisation, die seit Jahren die Schlagzeilen beherrschte …

Kampel schnappte nach Luft. Ihm war, als wäre er aus einem reißenden Strom aufgetaucht. Er musste sich auf die Gegenwart konzentrieren.

Woher wusste die Frau vor seiner Tür, was mit Dominik passiert war? Kampel hatte alles Menschenmögliche getan, um das Verschwinden seines Sohnes vor der Öffentlichkeit geheim zu halten. Die Reporter wären wie Piranhas über Dominik hergefallen, wenn sie erfahren hätten, dass ausgerechnet der Sohn eines bekannten Religionswissenschaftlers sich dem Islamischen Staat angeschlossen hatte. Dominik hatte ein besseres und respektvolleres Andenken verdient, als das Opfer der gierigen Sensationspresse zu werden. Kampel hatte dafür gesorgt, dass niemand von seinem Verschwinden erfuhr. Die einzigen, die davon wussten, waren Maria – seine Ex-Frau – und die Polizei. Also wie konnte die fremde Frau vor seiner Tür von Dominik wissen?

»Bitte machen Sie auf, Herr Kampel«, wiederholte die Unbekannte. »Ich weiß, dass Sie da sind.«

»Wer sind Sie überhaupt?«, rief Kampel durch die Tür hindurch. »Und woher wissen Sie, dass …« Er stockte. Er brachte die Wahrheit nicht über die Lippen. Dominik ist in den Heiligen Krieg gezogen. »Woher wissen Sie von meinem Sohn?«, vollendete Kampel den Satz.

»Mein Name ist Lisa Albers. Ich bin Kommissarin beim Bundeskriminalamt. Ich arbeite in einer Abteilung zur Abwehr von Dschihadisten. Wir führen eine lange Akte von allen Deutschen, die nach Syrien reisen, um sich dem Islamischen Staat anzuschließen.« Die Frau hielt kurz inne. »Ihr Sohn ist auch in dieser Akte.«

»Was wollen Sie von mir?«, fragte Kampel, noch immer durch die geschlossene Tür.

Die angebliche Kommissarin zögerte einen Moment. Sie schien zu überlegen, wie sie es formulieren sollte. »Unseren Ermittlungen zufolge muss Ihr Sohn von einem hochrangigen Mitglied des Islamischen Staats gezielt ausgewählt und geschult worden sein. Wir haben diesen Mann allerdings nie gefunden und wir wissen bis heute nicht, wer er ist. Er ist immer noch dort draußen und rekrutiert Jugendliche, genau wie Ihren Sohn.« Sie machte eine kurze Pause. »Ich habe einen neuen Hinweis, der uns zu diesem Mann führen könnte, aber mir bleibt nur wenig Zeit, um dieser Spur nachzugehen. Ich benötige dafür einen Experten für islamische Theologie. Einen Experten wie Sie.« Die Stimme der Frau wurde sanft. »Ich brauche Ihre Hilfe, Herr Kampel. Also bitte, lassen Sie mich rein. Dann erkläre ich Ihnen alles.«

Kampel fühlte sich plötzlich schwach. Er lehnte sich einen Moment lang gegen den Türrahmen und schloss die Augen. Seit Dominik verschwunden war, wurde er in fast jeder wachen Minute von Schmerz verfolgt. Was auch immer er tat, die Qual war allgegenwärtig und stets in seinem Hinterkopf präsent. Es hatte lange gedauert, doch irgendwie hatte er sich mit dem Schmerz arrangiert. Er hatte sich zum Andenken an seinen Sohn in seine Arbeit und in seine Pflanzen gestürzt und die schrecklichen Erinnerungen tief in sich vergraben. Und nun zerrte diese Kommissarin alles zurück an die Oberfläche.

Konnte diese Frau wirklich einen Hinweis auf den Mann haben, der Dominik für den Islamischen Staat angeworben hatte? Bisher waren alle Spuren ins Leere verlaufen. Die Polizei hatte in zahllosen Moscheen ermittelt, in denen islamische Gefährder angeworben wurden, aber nie einen konkreten Hinweis entdeckt. Auch Kampel hatte Nachforschungen über radikale Prediger angestellt, die sein Sohn besucht haben könnte. Aber das alles hatte zu nichts geführt. Was für einen Hinweis sollte die Frau vor seiner Tür also haben? Oder lügte sie womöglich? War sie vielleicht nur eine Reporterin auf der Suche nach einer guten Story?

Kampel atmete tief durch. Letztendlich waren all diese Überlegungen irrelevant. Wenn auch nur der Hauch einer Chance bestand, dass er den Mann finden könnte, der Dominik in den Dschihad geführt hatte, musste er sie nutzen.

Vorsichtig öffnete Kampel die Tür. »Kommen Sie rein«, sagte er.

Die Kommissarin trat ein. Kampel schloss schnell die Tür hinter ihr. »Zeigen Sie mir Ihren Dienstausweis!«, forderte er und versuchte dabei möglichst selbstbewusst zu wirken.

Die blonde Frau holte einen Ausweis aus ihrer Steppjacke und drückte ihn Kampel in die Hand.

Aufmerksam untersuchte er das Dokument:

BUNDESKRIMINALAMT

Kommissarin Lisa S. Albers

Fachabteilung »Polizeilicher Staatsschutz« (ST)

Kampel nickte. Die Angaben auf dem Ausweis stimmten mit dem überein, was die Frau gesagt hatte. Kampel wusste, dass Dschihadisten von der Polizei in den Bereich »politisch motivierte Kriminalität« eingeordnet und deshalb vom Polizeilichen Staatsschutz untersucht wurden. Außerdem wirkte das Dokument echt. Er entspannte sich ein wenig.

Kampel gab der Polizistin den Ausweis zurück und kam gleich zur Sache: »Was ist das für ein Hinweis, den Sie haben?«

Lisa Albers griff erneut in ihre Steppjacke und holte eine Kette aus grünem Samt hervor. An der Kette baumelte ein schwarzer, zylinderförmiger Anhänger von der Größe eines Lippenstiftes. Auf dem Anhänger war in goldener Farbe schwungvoll ein arabisches Wort geschrieben:

Als Kampel den Anhänger sah, fuhr er erschrocken zusammen. Sofort riss er der Kommissarin die Kette aus der Hand. Er wendete den zylinderförmigen Anhänger vor seinen Augen und betrachtete ihn aufmerksam von allen Seiten.

Kampel zitterte. Er hatte so einen Anhänger schon einmal gesehen …

»Wie hilft uns dieser Anhänger dabei, den Mann zu finden, der meinen Sohn für den Islamischen Staat rekrutiert hat?«, fragte er und versuchte, sich seinen Schock nicht anmerken zu lassen.

»In dem Anhänger ist ein Hinweis«, sagte Lisa Albers.

»In dem Anhänger?«

Die Kommissarin nickte. »Der Anhänger lässt sich öffnen. Schauen Sie.«

Sie nahm Kampel die Kette aus der Hand und schraubte mit einer Drehbewegung den oberen Teil des kleinen Zylinders ab. Offenbar handelte es sich bei dem Anhänger um einen Behälter. Aus dem Inneren zog sie einen kleinen Zettel hervor und überreichte ihn Kampel.

Gespannt faltete Kampel den Zettel auseinander. Darauf stand ein kurzer Text.

Als Kampel den Zettel las, konnte er seinen Schrecken nicht mehr verbergen. In sein Gesicht trat das blanke Entsetzen.

Kapitel 4

Der Dschinn hatte sich nicht von der Stelle gerührt. Er saß noch immer in seinem Wagen und beobachtete das Haus auf der gegenüberliegenden Straßenseite.

Langsam wurde er nervös. Seitdem er seinen Beobachtungsposten eingenommen hatte, war nichts passiert.

Er kontrollierte noch einmal das Display auf seinem Handy. Nichts. Der GPS-Sender hatte sich in den letzten Minuten um keinen Zentimeter bewegt. Das Signal befand sich immer noch hinter der hohen Hecke, die um das Haus verlief. Irgendwo dort, vor den Blicken des Dschinn geschützt, musste sich seine Zielperson befinden. Sie hatte sich in den letzten Minuten nicht von der Stelle gerührt.

Worauf wartet dieser Kerl bloß?, dachte der Dschinn verärgert.

Er ging noch einmal in Gedanken durch, wie er der Zielperson den GPS-Sender untergeschoben hatte. Hatte er dabei womöglich einen Fehler gemacht?

Es war in einer kleinen Hinterhof-Moschee gewesen, wie es sie mittlerweile zuhauf in Berlin gab. Die Moschee war eine ehemalige Fabrikhalle, die erst kürzlich zu einer Gebetsstätte umfunktioniert worden war. Dementsprechend kalt und unbehaglich war es dort. Derartige Hinterhof-Moscheen überzeugten jedoch nicht durch Komfort oder eine beeindruckende Architektur, sondern durch Prediger, die das Wort Gottes unverfälscht wiedergaben … Das Gotteshaus war randvoll gewesen. Überall hatten Männer auf dem Teppich gesessen und auf den Beginn des rituellen Gebets gewartet. Der Dschinn hatte sich in eine der hinteren Reihen zwischen die Betenden gesetzt, sodass er sein Ziel gut im Blick hatte.

Die Person, die der Dschinn schon den ganzen Tag über unauffällig verfolgt hatte, war ein junger Mann namens Tariq. Tariq stand kurz davor, zu einem Mudschahid zu werden – einem Krieger Gottes. Er würde in Kürze die Instruktionen erhalten, die ihn auf den Weg Gottes führen würden. Tariq kannte den Dschinn nicht – und das sollte auch so bleiben. Der Dschinn sollte den angehenden Mudschahid zunächst nur beobachten.

Kurz nach dem Gebet war der Moment gekommen, auf den der Dschinn so lange gewartet hatte: Ein Mann kam auf Tariq zu und überreichte ihm mit einer flüchtigen Handbewegung einen kleinen schwarzen Anhänger an einer grünen Samtkette. Als der Dschinn den Anhänger aus der Ferne sah, konnte er förmlich spüren, wie sich das Blut in seinen Adern erhitzte. Endlich begann die Mission, auf die Gott ihn geschickt hatte. Von nun an musste er unter allen Umständen Tariq und dem Anhänger folgen.

Der Dschinn hatte Tariq im Schutz der betenden Menge beobachtet und geduldig gewartet. Als der angehende Mudschahid die Moschee verlassen wollte, stolperte der Dschinn scheinbar zufällig gegen Tariq und brachte dabei in einer fließenden Bewegung einen kleinen GPS-Sender in seiner Jackentasche an. Das Gerät war so klein, dass Tariq es nicht bemerkt hatte. Der Sender teilte dem Dschinn jederzeit seine Position mit. Er konnte Tariq von nun an überall hin folgen.

Der Dschinn hatte sich in seinen Wagen gesetzt und auf seinem Smartphone beobachtet, wie das GPS-Signal über die Karte gewandert war. Das Signal hatte sich zunächst langsam bewegt, war in einer Seitenstraße kurz zum Stehen gekommen und dann plötzlich schneller geworden. Vermutlich war Tariq in ein Fahrzeug gestiegen.

Der Dschinn war dem Peilsender in seinem eigenen Wagen quer durch Berlin gefolgt. Er hatte dabei stets darauf geachtet, mindestens einen Kilometer Abstand zwischen sich und seinem Ziel zu behalten. Irgendwann war das Signal dann stehen geblieben und hatte sich seither nicht mehr bewegt.

Dieser Punkt war genau hier.

Der Dschinn warf einen Blick zu dem gepflegten Einfamilienhaus auf der anderen Straßenseite. Das GPS-Signal befand sich nach wie vor hinter der hohen Hecke, die um das Gebäude verlief. Dort musste sich Tariq befinden.

Wieder überkamen den Dschinn Zweifel. Was wollte Tariq ausgerechnet in dieser vornehmen Berliner Gegend? Und warum rührte er sich schon seit zehn Minuten nicht von der Stelle? Tariq sollte doch der Spur des Anhängers folgen, der ihm zugesteckt worden war! Oder hatte der Anhänger ihn tatsächlich hierhergeschickt? Möglich wäre es, dachte der Dschinn. Er wusste nicht, welche Instruktionen sich in dem kleinen Schmuckstück befanden. Nur zwei Personen kannten seinen Inhalt: der Absender und der Empfänger, der auf den Weg Gottes geführt werden sollte – Tariq.

Unwillkürlich schüttelte der Dschinn den Kopf. Irgendetwas war hier faul. Dem Dschinn gefiel diese Situation ganz und gar nicht. Die Mission verlangte es, Tariq und dem Anhänger unbemerkt zu folgen. Er durfte dabei auf keinen Fall von dem angehenden Mudschahid bemerkt werden. Wenn Tariq jedoch etwas zugestoßen sein sollte, würde das die gesamte Mission in Gefahr bringen. Der Anhänger durfte unter keinen Umständen in die falschen Hände geraten. Der Dschinn musste nach dem Rechten sehen, auch wenn er dabei Gefahr lief, von Tariq entdeckt zu werden. Die Sicherheit des Anhängers hatte oberste Priorität.

Der Dschinn war froh, dass die Dunkelheit in diesem gottlosen Land schon so zeitig einsetzte. Obwohl es noch früher Abend war, war es bereits stockdunkel. Er stieg aus dem Wagen und ging im Schutz der Dunkelheit zu dem Einfamilienhaus, das er beobachtet hatte. Er warf einen raschen Blick auf den Briefkasten und das darauf angebrachte Namensschild: »Kampel«.

Der Dschinn geriet ins Grübeln. Der Name klang nach einem Ungläubigen. Was will Tariq bei diesem Kampel?

In dem Haus brannte Licht. Der Dschinn schlich vorsichtig um die hohe Hecke, die das Grundstück umgab, und achtete darauf, nicht gesehen zu werden. In dem Hof hinter der Hecke parkte ein auffälliger, roter Kleintransporter. Der Dschinn kontrollierte das GPS-Signal auf seinem Handy. Das Signal war sieben Meter von ihm entfernt. Es musste aus dem Lieferwagen kommen. Tariq musste sich darin befinden. Aber was machte er in dem Wagen?

Mit leisen Schritten ging der Dschinn auf den Kleintransporter zu und behielt dabei sein Handy im Blick. Als er an der Rückseite des Fahrzeugs ankam, verkündete das Display: ein Meter Entfernung. Tariq müsste nun unmittelbar vor ihm sein.

Der Dschinn inspizierte die Rückseite des Kleintransporters. Zwei große Türen am Heck des Wagens führten auf die Ladefläche. Als der Blick des Dschinn an den Türen nach unten wanderte, zuckte er zusammen: An der Unterseite, zwischen Stoßstange und Ladefläche, klebte Blut.

Der Dschinn hatte derartige Blutspuren schon häufig gesehen. Sie entstanden, wenn eine Leiche in einen Wagen geladen wurde.

Noch einmal warf er einen Blick auf sein Handy: ein Meter Entfernung.

Es bestand kein Zweifel. In dem Transporter vor ihm musste Tariq liegen. Es war sein Blut. Jemand hatte ihn getötet, in den Wagen geladen und ihn dann hier abgestellt.

Der Dschinn war nicht Tariq gefolgt, sondern seinem Mörder.

Kapitel 5

 

Lisa musste schmunzeln, als sie Kampels entsetzten Blick sah. Er hatte den Zettel nun schon mehrere Male aufmerksam gelesen und noch immer kein Wort gesagt. Er war völlig schockiert. Ihr selbst war es ähnlich ergangen, als sie den Text zum ersten Mal gelesen hatte.

Kampel gewann seine Fassung zurück. Er deutete auf den Anhänger, aus dem Lisa den Zettel gezogen hatte. »Woher haben Sie das?«

»Das ist eine lange Geschichte«, antwortete Lisa. »Wollen wir uns nicht setzen?«

Kampel überlegte kurz, ob es klug war, eine ihm fremde Polizistin in sein Haus zu bitten. Doch schließlich nickte er knapp.

Er ging den Flur voran und führte die Kommissarin in einen großen, gemütlich eingerichteten Raum, der beinahe das gesamte Erdgeschoss des Hauses einnahm. Vorne befand sich eine moderne Küche, die mit allerlei Geräten und einer großen Kochinsel ausgestattet war. Weiter hinten verwandelte sich der Raum in ein Wohn- und Arbeitszimmer. In einer Ecke stand ein großer Schreibtisch, der von gewaltigen Bücherregalen eingerahmt war. Dieser Bereich war ganz offensichtlich Kampels Arbeitsplatz und vermutlich der Teil des Hauses, in dem er sich am häufigsten aufhielt.

Lisa musterte das Zimmer mit dem schnellen Blick fürs Detail, mit dem sie sonst Tatorte untersuchte. Sie versuchte aus dem Raum Rückschlüsse auf Kampels Persönlichkeit zu ziehen. Wie immer interessierte sie sich dabei besonders für die kleinen Nachlässigkeiten, die ihr ins Auge sprangen: Eine der Glühbirnen im Deckenleuchter funktionierte nicht mehr. In dem Parkett zu ihren Füßen befand sich ein schwarzer Brandfleck. Das Gewächshaus im Garten, das sie durch die breite Glasfront an der Rückseite des Raumes sehen konnte, stand völlig schief. Lisa fragte sich, ob Kampel all diese Nachlässigkeiten nicht aufgefallen waren oder ob sie ihn lediglich nicht kümmerten.

Lisa hatte bei ihrer Arbeit als Polizistin schon häufig erlebt, dass derartige Details tiefe Einblicke in die Persönlichkeit zuließen. Und sie wollte so viel über Kampel in Erfahrung bringen wie möglich. Für gewöhnlich war Lisa eine Einzelgängerin, doch in diesem Fall benötigte sie Hilfe. Wenn sie dem merkwürdigen Text in dem Anhänger nachgehen wollte, brauchte sie Unterstützung von einem Religionswissenschaftler. Und Paul Kampel war der Beste. So ungern sie es auch zugab: Sie war auf Kampel angewiesen. Sie würde alles dafür tun, um ihn von einer Zusammenarbeit zu überzeugen.

Kampel setzte sich in den großen Drehstuhl an den Schreibtisch und deutete auf die Couch neben ihm. »Bitte setzen Sie sich«, sagte er.

Lisa nickte und nahm ihm gegenüber auf der Couch Platz.

»Also«, begann Kampel und ließ den Anhänger an der grünen Kette vor seinen Augen hin- und herpendeln. »Woher haben Sie das?«

Lisa antwortete mit einer Gegenfrage: »Wissen Sie, was das goldene Wort auf dem Anhänger bedeutet?«

Kampel nickte. »Das ist Arabisch. Es heißt Fitna.«

»Fitna? Was bedeutet das?«

»Ich frage Sie nochmal«, sagte Kampel ungeduldig. »Woher haben Sie diesen Anhänger? Und wie kann er uns zu dem Mann führen, der meinen Sohn für den Islamischen Staat rekrutiert hat?«

Lisa machte eine beruhigende Geste. »Herr Kampel, ich verspreche, dass ich Ihnen alles erzählen werde, was ich weiß. Sie müssen mir aber bitte zunächst erklären, was Sie über das Wort auf dem Anhänger wissen. Ich muss mir erst selbst einen Reim auf diese ganze Geschichte machen.«

Kampel stieß einen leisen Seufzer aus. Es gefiel ihm überhaupt nicht, dass die Polizistin ihn im Unklaren ließ. Aber es ging hier um Dominik. Er musste tun, was sie verlangte.

Er setzte zu einer Erklärung an: »Wörtlich übersetzt bedeutet das Wort Fitna so viel wie Prüfung. Im Koran wird der Begriff etwas enger gefasst und bezeichnet eine Glaubensprüfung.«

»Worin besteht diese Glaubensprüfung?«

»Fitnas sind im Koran Situationen, in denen große Teile einer muslimischen Gemeinde an ihrem islamischen Glauben zweifeln. Eine Fitna-Situation stellt die Frömmigkeit der Gläubigen auf die Probe. Wer an dieser Prüfung scheitert, fällt vom Glauben ab und entsagt dem Islam. Er wird damit zum Apostat. Eine Fitna überstehen nur die Muslime, die den Zweifel an ihrem Glauben überwinden. Sie halten am Islam fest und unterwerfen sich weiterhin Gott.«

»Muslime unterwerfen sich Gott?«, fragte Lisa leicht irritiert zurück. »Das ist ziemlich überspitzt formuliert.«

»Keineswegs«, erwiderte Kampel. »Gerade weil sich die Gläubigen im Islam Gott unterwerfen, werden sie als Muslime bezeichnet. Das arabische Wort Muslim bedeutet wörtlich übersetzt sich Unterwerfender. Auch der Name der Religion, Islam, drückt diese Beziehung aus: Das arabische Wort Islām heißt so viel wie Unterwerfung oder völlige Hingabe. Ein gläubiger Muslim ist eine Person, die sich Gott unterwirft. Deshalb können nur wahre Muslime eine Glaubensprüfung überstehen: Wer sich Gott unterwirft, zweifelt nicht an ihm.«

Kampel machte eine kurze Pause und fuhr dann fort: »Nicht immer geht es in Fitna-Situationen darum, dass einzelne Muslime sich völlig von ihrem Glauben abwenden wollen. Häufig handelt es sich bei Fitnas bloß um Streitigkeiten darüber, wie der Islam im Einzelnen ausgelegt werden soll. Solche Auseinandersetzungen können jedoch zu gewalttätigen Konflikten führen. Die erste historische Fitna beispielsweise war der innerislamische Bürgerkrieg, der im Jahr 656 nach Christi begann und erst 661 endete. Für muslimische Gemeinschaften waren solche Glaubensstreitigkeiten, oder auch Fitnas, seit jeher sehr bedrohlich. Deshalb gilt der Abfall vom islamischen Glauben, die Apostasie, in der islamischen Welt als eine der schlimmsten Taten überhaupt. Im Jahr 2013 gab es dreizehn Länder auf der Welt, in denen Apostaten und Atheisten mit dem Tode bestraft wurden – alle diese Länder waren islamisch.«2

Lisa saß eine Weile schweigend da und ließ sich Kampels Ausführungen durch den Kopf gehen. »Wenn ich das richtig verstehe, sind Fitnas also Situationen, die den Glauben eines Muslims auf die Probe stellen. Aber diese Prüfungen sind eher abstrakter Natur, richtig?«

Kampel nickte. Die Kommissarin hatte seine Erklärungen korrekt zusammengefasst.

Lisa deutete auf den Anhänger in Kampels Händen. »Der Text in diesem Anhänger ist ebenfalls eine Glaubensprüfung – aber im ganz konkreten Sinn. Es handelt sich dabei um die Aufnahmeprüfung in eine Terrororganisation.«

Kampel zuckte überrascht zusammen. Entsetzt starrte er den unscheinbaren Anhänger in seiner Hand an. »Heißt das … Heißt das, dieser Anhänger ist vom Islamischen Staat?«

»Ja. Solche Anhänger werden von Führungspersonen des Islamischen Staats an angehende Rekruten weitergegeben. Viele Terrororganisationen benutzen derartige Aufnahmeprüfungen. Nur die ideologisch gefestigtsten Personen können diese Prüfungen bestehen. Auf diese Weise wollen Terroristen sicherstellen, dass sie niemanden in ihren Reihen aufnehmen, der an ihrer Ideologie zweifelt und womöglich die gesamte Organisation verrät.«

Kampel musste schwer schlucken. Bei seinen Recherchen hatte er schon häufig von derartigen Fitnas gehört, mit denen der Glaube von angehenden Terroristen geprüft wurde, doch er hatte diese Darstellungen immer für eine Legende gehalten. Als er nun den unscheinbaren schwarzen Anhänger in seiner Hand betrachtete, wurde ihm übel. Dieses Ding gehört zum Islamischen Staat? Er dachte mit Schrecken daran, dass er einen solchen Anhänger schon einmal in der Hand gehalten hatte. Damals hatte er es jedoch bloß für kitschigen Schmuck gehalten.

Lisa lehnte sich ein Stück vor. Ihre Stimme wurde sanft: »Ihr Sohn hatte auch so einen Anhänger, nicht wahr?«

Kampel schaute die Kommissarin überrascht an. Es war, als hätte sie seine Gedanken gelesen. Sie wusste es. Es war sinnlos, es ihr zu verheimlichen.

Er nickte resigniert. »Ja, mein Sohn – Dominik – hatte auch so einen Anhänger. Er sah ganz genau so aus wie dieser hier …« Während Kampel sprach, schien sich eine düstere Wolke um ihn zu schließen. »Ich werde nie vergessen, wie ich dieses Ding bei Dominik entdeckt habe. Es war meine letzte Begegnung mit ihm, bevor er in den Heiligen Krieg zog …«

Kapitel 6

 

Als Kampel den Anhänger in seiner Hand betrachtete, glitten seine Gedanken in die Vergangenheit. Er konnte sich noch gut daran erinnern, wie er ein ganz ähnliches Schmuckstück bei Dominik entdeckt hatte. Es war die letzte Begegnung mit seinem Sohn gewesen, bevor er in den Dschihad gezogen war.

Es war vor ziemlich genau einem Jahr … Ein kalter, dunkler Dezemberabend, genau wie heute …

 

Jedes Mal, wenn Kampel den Potsdamer Platz besuchte, hatte er das Gefühl, er wäre nicht mehr in seiner Heimatstadt Berlin, sondern mitten in New York. Er fühlte sich winzig zwischen den gigantischen, gläsernen Hochhäusern, die den Platz einrahmten. An beinahe jeder freien Fläche waren riesige Plakate mit Werbebotschaften angebracht, die ihn zu erschlagen schienen. Überall um ihn herum strömten Menschenmassen über den Bürgersteig: Touristen schossen Fotos, junge Leute liefen zur nächsten Party und Geschäftsmänner mit Aktenkoffern hasteten schnell über rote Ampeln, um noch rechtzeitig zu ihren Terminen zu kommen. Untermalt wurde die Szenerie von den vorbeirasenden Autos, die nur anzuhalten schienen, um sich gegenseitig anzuhupen.

Der Potsdamer Platz war seit jeher ein zentraler Verkehrsknotenpunkt Berlins. Im Jahr 1924 war der Potsdamer Platz einer der weltweit ersten Orte, an denen eine Ampel installiert wurde. Eine Nachbildung dieser historischen Ampel stand heute noch auf dem Platz: ein kleiner, fünfeckiger Metallturm mit schlichten Uhrenblättern an der Spitze.

Kampel schaute nach oben zu der großen Uhr an der historischen Ampel: 19:55 Uhr. In wenigen Minuten würde er sich genau hier mit Dominik treffen. Kampel hatte seinen Sohn seit Monaten nicht gesehen. Das heutige Treffen war das erste, seitdem Dominik und Maria ausgezogen waren.

Bei dem Gedanken an die kürzliche Trennung schnürte sich Kampels Herz zusammen. Ein paar Monate zuvor hatte er sich endgültig von Maria getrennt. Sie hatten vergeblich versucht, ihre Streitereien in den Griff zu bekommen und ihre Ehe zu retten, doch es hatte nichts genützt. Maria war ausgezogen und die Scheidung würde schon bald rechtskräftig werden. Mit ihr war auch Dominik gegangen. Er hatte die Trennung seiner Eltern als Chance genutzt, um in seine erste eigene Wohnung zu ziehen. Jetzt wohnte nur noch Kampel in dem Haus in Berlin-Marzahn. Bei dem Gedanken, am Abend wieder in das einsame Gebäude zurückzukehren, schauderte er. Das Haus schien ihm wie ein Denkmal für das Scheitern seiner Ehe.

Kampel sah noch einmal zu der Verkehrsampel hoch. Inzwischen war es 20:00 Uhr. Dominik müsste jetzt jeden Moment auftauchen, dachte er glücklich.

Kampel nahm sich fest vor, heute Abend seine Ex-Frau anzurufen und sich bei ihr zu bedanken. Es war Maria gewesen, die Dominik zu diesem Treffen zwischen Vater und Sohn überredet hatte. Kampel hatte Dominik schon seit Monaten wiedersehen wollen, aber sein Sohn hatte ihn immer auf Abstand gehalten und all seine Anrufe ignoriert. Erst Maria hatte ihn davon überzeugen können, sich endlich mit ihm zu treffen. Sie wusste, wie wichtig Kampel sein Sohn war.

Kampel seufzte. Am liebsten würde er Dominik viel öfter sehen, aber was sollte er tun? Sollte er den Jungen etwa zwingen, Zeit mit seinem Vater zu verbringen? Damit würde er nur das Gegenteil erreichen. Dominik war schon als kleiner Junge sturköpfig und leicht reizbar gewesen. Mit der Pubertät hatten sich diese Charakterzüge noch verstärkt. Kampel gab es nur ungern zu, aber je älter Dominik wurde, desto fremder war er ihm geworden. Dominik war übermutig und stolz, denn er wusste, dass er begabt war, doch gleichzeitig faul und ohne großen Ehrgeiz. Seine Schulnoten waren schon seit Jahren im Keller und er schien keinerlei Zukunftspläne zu haben.

Die größte Veränderung in Dominiks Leben war jedoch seine Konversion zum Islam gewesen. Kampel schämte sich für diesen Gedanken, doch Dominiks neu entdeckte Religiosität beunruhigte ihn mehr als alles andere. Dominik konnte glauben, woran immer er wollte – aber musste es denn ausgerechnet der Islam sein? Kampel wollte diese Vorstellung einfach nicht in den Kopf bekommen. Er hatte fast sein ganzes Leben damit verbracht, den Islam aus kritischer Distanz zu erforschen. Es schien ihm völlig surreal, dass ausgerechnet sein Sohn den Islam nicht wie er aus der Perspektive eines Forschers betrachtete, sondern aus der eines Gläubigen.

Kampel erinnerte sich noch gut an den Abend, als Dominik seine Konversion zum Islam verkündet hatte. Er hatte am Esstisch gesagt, dass er fortan kein Schweinefleisch mehr essen wolle, da es harām sei – unrein. Er hatte erklärt, dass er ein Muslim geworden war und von nun an dementsprechend leben wolle. Kampel war von dieser Ankündigung völlig schockiert gewesen, hatte sich aber nichts anmerken lassen. Er ließ die Geschichte größtenteils unkommentiert. Maria verhielt sich genauso. Sie beide dachten, dass es Dominik mit dem Islam nicht ernst sei und er seine Eltern wie so oft nur provozieren wollte, weil sie sich immer häufiger stritten. Denn Dominik hatte unter ihren ständigen Streitereien sicherlich am meisten zu leiden. Sie beide glaubten, Dominiks Konversion wäre nur eine Phase des Trotzes, die irgendwann wieder vorbeigehen würde.

Aber es war keine Phase.

In den nächsten Wochen hatten sie beobachten können, wie ernst es Dominik mit dem Islam war. Er hielt sich streng an die islamischen Gebote und richtete sein ganzes Leben nach seiner neuen Religion aus. Er betete fünfmal täglich auf einem Teppich in Richtung Mekka, aß kein Schweinefleisch mehr, trank keinen Alkohol und verbrachte jede freie Minute damit, in seinem Koran zu lesen. Freitags ging er zusammen mit einem muslimischen Schulfreund in die Moschee und besuchte dort das Freitagsgebet.

Gleichzeitig stritten sich Kampel und Maria immer häufiger – zu diesem Zeitpunkt wussten sie bereits beide, dass eine Trennung unvermeidlich sein würde. Je mehr sie sich voneinander entfernten, desto seltener bekamen sie ihren Sohn zu Gesicht. Statt mit seinen eigenen Eltern zu Abend zu essen, zog es Dominik immer häufiger zu der streng muslimischen Familie seines Schulfreundes. Dessen Familie legte größten Wert auf ihre Religion und hielt sich wortgetreu an die Worte des Propheten. Beispielsweise zeigten sich die Frauen in der Öffentlichkeit stets verhüllt und wurden von den Männern der Familie streng bewacht. Kampel vermutete, dass Dominik sich zu diesem traditionellen Familienmodell hingezogen fühlte, weil er sich nach einem Ersatz für sein eigenes zerrüttetes Elternhaus sehnte. Es brach Kampel das Herz, dass er Dominik nicht den gleichen Familienzusammenhalt bieten konnte. Doch es war nicht zu ändern. Die Ehe zwischen ihm und Maria war unweigerlich zum Scheitern verurteilt. Als Kampel sich dann von seiner Frau trennte, war es so, als hätte er sich auch von seinem Sohn getrennt. Er war völlig aus seinem Leben verschwunden.

Kampel wurde abrupt aus seinen Gedanken gerissen, als ihm jemand von hinten auf die Schulter tippte. Als er sich umdrehte, zuckte er unwillkürlich zusammen.

Vor ihm stand Dominik in einem bis zum Boden reichenden, dünnen, schneeweißen Gewand mit langen Ärmeln. Kampel wusste, dass dieses Kleidungsstück als Thawb bezeichnet wurde. Die meisten Leute brachten den Thawb mit reichen Öl-Scheichs in Verbindung, denn in Ländern wie Saudi-Arabien wurde er noch heute regelmäßig getragen.

»Was ist?«, blaffte Dominik, als er den überraschten Blick seines Vaters bemerkte.

Kampel schluckte. »Entschuldige, ich bin nur ein wenig überrascht«, sagte er diplomatisch. »Ich habe dich noch nie in einem Thawb gesehen. Ist dir darin nicht kalt? Immerhin ist es Mitte Dezember.«

»Mir geht’s gut«, gab Dominik trotzig zurück. »Mohammed – möge Gott ihn loben und Heil schenken – hat so etwas immer getragen und dem war nie kalt.«

Kampel verkniff sich die Bemerkung, dass der Prophet des Islam auch nicht im kalten Deutschland, sondern in einer heißen Wüstenregion gelebt hatte. Stattdessen warf er einen betonten Blick auf seine Uhr. »Wenn wir jetzt losgehen, schaffen wir es noch rechtzeitig zu dem Tisch, den ich für uns reserviert habe.«

»Du kannst es ja kaum erwarten, von hier wegzukommen«, sagte Dominik angriffslustig. Er deutete auf die vorbeiziehenden Menschenmassen. »Es ist dir unangenehm, mit mir gesehen zu werden, nicht wahr? Es wäre wahrscheinlich peinlich, wenn dich jemand hier erkennt: einen der bekanntesten Religionswissenschaftler Deutschlands zusammen mit seinem muslimischen Sohn …«

Kampel zuckte bei dieser Bemerkung zusammen, denn Dominik hatte einen wunden Punkt getroffen. Tatsächlich waren ihm die neugierigen Blicke der vorbeiziehenden Menschen unangenehm. Kampel wollte so schnell wie möglich raus aus der Menge. Er schämte sich zutiefst für diesen Gedanken, doch es war die Wahrheit. Was war er nur ein Vater? Er sollte seinen Sohn unterstützen, doch er wollte einfach nur weg.

Kampel entschied sich dafür, die Situation zu überspielen: »Nein, nein. Ich habe es nur eilig wegen unserer Reservierung. Lass uns gehen.«

Dominik machte ein murrendes Geräusch und folgte seinem Vater. Sie gingen über den Potsdamer Platz zu einem Fußgängerüberweg und stellten sich an die Ampel.

Auf der anderen Straßenseite war wie immer um diese Jahreszeit ein kleiner Weihnachtsmarkt aufgebaut. Der imposante Weihnachtsbaum und die winterlich geschmückten Buden mit ihren bunten Lichtern strahlten in der Dunkelheit.

»Bloß weg von hier«, murmelte Dominik, als er und Kampel die Straße überquerten und sie sich dabei dem Weihnachtsmarkt näherten.

Kampel konnte sich einen Seufzer nicht verkneifen.

»Was ist?«, zischte Dominik ihn herausfordernd an.

Kampel biss sich auf die Lippen. Er hatte sich fest vorgenommen, kein falsches Wort gegenüber Dominik zu verlieren, aber sein Sohn machte es ihm nicht leicht. Er wusste, wie er seinen Vater zur Weißglut treiben konnte.

»Früher hast du Weihnachtsmärkte geliebt«, sagte Kampel. Seine Stimme füllte sich mit Sehnsucht nach den alten Zeiten: »Ich weiß noch, wie gerne du kandierte Äpfel und Makronen gegessen hast. Und wie wir mit dir …«

»Damals war ich noch ungläubig!«, unterbrach Dominik ihn. »Heute sind mir Weihnachtsmärkte unangenehm. Ein Muslim sollte sich von solchen Veranstaltungen fernhalten!«

»Warum denkst du das? Ich habe schon häufig Muslime auf Weihnachtsmärkten gesehen.«

Dominik machte ein verächtliches Geräusch. »Das waren ganz bestimmt keine Muslime, die du dort gesehen hast. Ein echter Muslim richtet sein Leben nach dem Propheten aus – Gott segne ihn und schenke ihm Heil. Er hat uns streng davor gewarnt, die Feste und Gebräuche der Ungläubigen nachzuahmen, da wir dann selbst zu Ungläubigen werden. Der Prophet – Friede sei mit ihm – sagte: ›Wer ein Volk nachahmt, wird einer von ihnen!‹«3

Kampel ging schweigend weiter. Er wusste nicht, was er darauf erwidern sollte. Einerseits war er beeindruckt, dass sein Sohn gerade aus einem Hadith zitiert hatte, andererseits fand er es erschreckend, wie streng sich Dominik an diese jahrhundertealten Worte hielt.

Sein Sohn legte nach. Er fing an, sich in Rage zu reden: »Muslime sollten sich von Weihnachtsmärkten fernhalten. Sie sind eine Erfindung der Schriftenf–« Er brach mitten im Wort ab.

Doch Kampel wusste, was Dominik hatte sagen wollen. »›Weihnachtsmärkte sind eine Erfindung der Schriftenfälscher.‹ Wolltest du das sagen?«

Dominik atmete tief ein. Er schien zu überlegen, ob er diesen Streit wirklich fortsetzen sollte. Schließlich entschied er sich, in die Vollen zu gehen: »Ja, Weihnachtsmärkte sind eine Erfindung der Schriftenfälscher, die ihren Götzen anbeten!«

Schriftenfälscher? Götzen? Kampel war von Dominiks Vokabular ebenso beeindruckt wie erschrocken. Dominik musste sich sehr aufmerksam mit den islamischen Quellen beschäftigt haben. Kampel wusste nicht, was er darauf entgegnen sollte. Er wollte keinen Streit provozieren und schwieg. Es wäre vermutlich am besten, das Thema Religion auf sich beruhen zu lassen.

Auch Dominik schwieg eine Weile. Er murmelte halblaut: »Egal, du verstehst das nicht.«

Das wiederum konnte Kampel so nicht stehen lassen. »Du unterschätzt mich, Dominik. Ich verstehe sogar sehr gut, wovon du sprichst. Mit den Schriftfälschern meinst du die Christen, die nach islamischem Glauben die Bibel abgeändert und so das Wort Gottes verfälscht haben. Natürlich kenne ich diese Geschichte. Ich habe fast mein ganzes Leben lang den Islam erforscht und zahlreiche Bücher über ihn geschrieben.«

»Du kennst dich ja toll aus«, sagte Dominik sarkastisch. »Aber du verstehst es nicht!«

»Was meinst du damit?«

Dominik rang nach Worten. »Mag sein, dass du dich mit dem Islam beschäftigt hast, aber du verstehst ihn nicht! Wenn du die Botschaft Gottes wirklich verstehen würdest, würdest du nicht diese schrecklichen Bücher schreiben, in denen du den Koran analysierst wie ein gewöhnliches Buch, das ein gewöhnlicher Mensch geschrieben hat!«

»Ich bin ein Wissenschaftler Dominik, kein Gläubiger.«

»Und genau deshalb kapierst du es einfach nicht!«

Kampel wusste nicht, was er darauf sagen sollte. Er wollte keine Grundsatzdiskussion mit seinem Sohn führen. »Lass uns einfach essen gehen«, sagte er und ging weiter.

Doch Dominik blieb stehen. »Dieses Treffen war keine gute Idee. Ich hätte mich von Mama nicht dazu überreden lassen dürfen. Ich kann einfach nicht mit jemandem reden, der sich vor Gottes Worten so sträubt wie du!« Er schwieg einen Moment und schüttelte dann den Kopf. »Ich gehe jetzt besser.«

Mit diesen Worten machte Dominik auf dem Absatz kehrt und ging zurück zu der Ampel, die sie gerade überquert hatten.

»Warte, Dominik! Es tut mir leid.« Kampel zog an Dominiks Thawb, um ihn am Gehen zu hindern.

Als er an dem weißen Gewand zog, fiel etwas aus dem Stoff und landete auf der Straße. Kampel bückte sich danach. Es war ein kleiner, schwarzer Anhänger, der an einer Kette aus grünem Samt hing. Auf dem Schmuckstück war in schwungvollen, goldenen Lettern ein arabisches Wort geschrieben: Fitna.

Dominik riss Kampel die Kette aus der Hand. »Fass das bloß nicht an!«, schrie er seinen Vater an. Sein Gesicht war von einer Sekunde auf die andere rot vor Wut geworden.

Kampel war von Dominiks plötzlicher Heftigkeit erschrocken. »Tut mir leid, ich wollte doch nur …«

»Es ist mir egal, was du wolltest! Ich will dich nie wieder sehen!«

Mit diesen Worten drehte sich Dominik um und rannte über die rote Ampel, ohne die hupenden Autos zu beachten. Er lief über den Platz und verschwand in der S-Bahn-Station, deren große, viereckige Überdachung so charakteristisch für den Potsdamer Platz war.

Kampel rannte seinem Sohn nicht hinterher. Es wäre sinnlos gewesen. Er blieb stattdessen auf dem Potsdamer Platz zurück, allein zwischen den vorbeiströmenden Menschenmassen. Er fühlte sich schrecklich einsam.

Kapitel 7

 

»Das war meine letzte Begegnung mit Dominik, bevor er in den Dschihad zog«, schloss Kampel seine Erzählung ab. »Nach diesem Streit hat er mich völlig gemieden. Er hat meine Anrufe nicht angenommen und mir nicht einmal die Tür aufgemacht, als ich ihn besuchen wollte.« Kampels Stimme wurde schwer. »Und dann verschwand er …«

»Das tut mir leid«, sagte Lisa leise. Sie empfand aufrichtiges Mitleid mit Kampel. Es stand außer Frage, wie nahe ihm das Verschwinden seines Sohnes ging.

Ihr Blick wanderte zu einem Foto auf seinem Schreibtisch. Es zeigte Paul Kampel zusammen mit einer großgewachsenen Frau mit langen, dunkelblonden Haaren und einem kleinen, dunkelhaarigen Jungen. Die Familie auf dem Bild sah glücklich aus.

»Ihr Sohn sah ihnen unglaublich ähnlich«, sagte Lisa, als sie den Jungen auf dem Foto betrachtete.

Kampel lächelte matt. »Danke. Das habe ich schon häufig gehört und es hat mich immer stolz gemacht. Je älter Dominik wurde, desto ähnlicher sah er mir. Viele Bekannte scherzten, er könnte mein jüngerer Klon sein.«

Die Kommissarin wurde nachdenklich. »Es ist schwer zu glauben, dass dieser lächelnde kleine Junge auf dem Foto später zu einem Dschihadisten wurde.«

Kampel nickte traurig. »Ich kann es immer noch nicht richtig wahrhaben …« Er deutete auf die oberste Reihe des Regals hinter ihm. Dort standen die Bücher, die er selbst geschrieben hatte. »Ich habe mich fast mein ganzes Leben lang mit Dschihadisten beschäftigt und dann wurde mein Sohn selbst zu einem.«

Kampel starrte wieder auf den Anhänger in seiner Hand. »Der Anhänger, den ich bei Dominik gefunden habe, sah genauso aus wie dieser hier. Werden diese Dinger wirklich von Dschihadisten benutzt, um neue Rekruten anzuwerben?«

»Ja. Der Anhänger Ihres Sohnes war wahrscheinlich Teil einer Aufnahmeprüfung in den Islamischen Staat.«

»Und diese Prüfung hat er offensichtlich bestanden«, murmelte Kampel traurig. »Er ist in den Heiligen Krieg gezogen …«

Lisa lehnte sich auf der Couch ein Stück nach vorne. Ihre Stimme wurde eindringlich: »Herr Kampel, der Anhänger in Ihrer Hand stammt wahrscheinlich von demselben Mann, der Dominik seinen Anhänger gegeben hat. Dieser Mann ist immer noch dort draußen und rekrutiert junge Leute dafür, in Syrien oder sogar hier in Deutschland Terroranschläge zu verüben. Ich und meine Kollegen hatten bisher keine Chance, an den Kerl heranzukommen. Wir haben überhaupt keine Ahnung, wer er ist. Er bleibt immer im Hintergrund und steht mit seinen Rekruten niemals in direktem Kontakt. Er gibt seine Fitnas niemals selbst an die von ihm ausgewählten Anwärter, sondern lässt sie über ein weit verzweigtes Netzwerk übermitteln. Wenn ein Anhänger einen Anwärter erreicht, wurden sie zuvor durch so viele Hände gegeben, dass keiner mehr den ursprünglichen Absender verraten kann. Glauben Sie mir, meine Abteilung hat alles versucht, um den Mann hinter diesen Anhängern zu finden, aber bisher sind alle Spuren im Sand verlaufen.«

Die Frustration war aus Lisas Stimme deutlich herauszuhören. »Diese Dschihadisten kommunizieren fast nur mündlich miteinander. Sie benutzen so gut wie keine Handys oder Computer und entziehen sich damit völlig unseren gängigen Abhörmethoden. Noch dazu ist ihr ganzes System wie eine Hydra aufgebaut: Jedes Mal, wenn wir einen ihrer Kontaktmänner erwischen, setzen sie an seiner Stelle zwei neue ein.«

Die Kommissarin deutete auf den Anhänger in Kampels Hand. »Aber jetzt haben wir eine neue Spur. Diese Fitna ist die erste, die wir abfangen konnten, kurz nachdem sie ihren Empfänger erreicht hat. Sie wird uns direkt zu dem Mann führen, der Ihren Sohn in den Heiligen Krieg geschickt hat, Herr Kampel.«

Ein Schauer jagte über Kampels Rücken, als er die Kette in seiner Hand betrachtete. Konnte dieses unscheinbare Schmuckstück ihn wirklich zu dem Mann führen, der seinen Sohn zu einem Dschihadisten gemacht hatte?

»Wie sind Sie an diesen Anhänger herangekommen?«, fragte Kampel.

»Ich habe ihn einem angehenden Rekruten für den Islamischen Staat abgenommen«, erwiderte Lisa. »Ich habe diesen Kerl schon seit langer Zeit beobachtet. Mir war klar, dass er sich demnächst einer Dschihadistengruppe anschließen würde. Heute bin ich dem Anwärter in eine Moschee gefolgt und ich hatte Glück: Nach dem Gebet kam jemand auf ihn zu und gab ihm den Anhänger. Als er die Moschee verließ, habe ich ihn abgefangen und ihm das Ding abgenommen.«

»Sie waren in einer Moschee?«, fragte Kampel überrascht. »Sind Sie dort nicht aufgefallen?«

»Nein. Ich war in einer Burka dort.«

Kampel nickte anerkennend. Bei einer Burka handelte es sich um ein Kleidungsstück für muslimische Frauen, das den kompletten Körper verhüllte. Die einzige Verbindung zur Außenwelt war ein feinmaschiges Stoffgitter, durch das die Trägerin hindurchsehen konnte. Die Burka gab weder das Gesicht, noch die Körperform einer Frau preis. Es war wenig verwunderlich, dass Lisa Albers in diesem Aufzug in der Moschee nicht aufgefallen war.

Kampel war ernstlich beeindruckt von dem Tatendrang der Kommissarin. Sie schien zu allem entschlossen zu sein.

»In welcher Moschee wurde der Anhänger übergeben?«, fragte er.

Lisa nannte ihm einen Namen. Kampel hatte von dieser Moschee noch nie gehört, aber das überraschte ihn nicht: In Berlin gab es viele sogenannte »Hinterhof-Moscheen«, die nur den dort verkehrenden Gläubigen bekannt waren und von denen die Öffentlichkeit nichts wusste. Nicht einmal die deutschen Behörden konnten sagen, wie viele dieser Moscheen es in Deutschland gab. Anders als bei Kirchen, die im Zusammenhang mit der Kirchensteuer amtlich gemeldet werden mussten, benötigten neu entstehende Moscheen keine behördliche Genehmigung. So konnten Hinterhof-Moscheen völlig unbemerkt in alten Fabrikhallen, Lagerhallen und anderen abgeschiedenen Orten eröffnet werden.

Kampels Gedanken rasten. Dominik musste seinen Anhänger ebenfalls in einer Moschee zugesteckt bekommen haben, doch Kampel hatte nie herausgefunden, in welcher. Und das, obwohl er intensive Recherchen über alle Berliner Moscheen angestellt hatte, die extremistisch aufgefallen waren. Da gab es etwa die Ibrahim-al-Khalil-Moschee in Berlin-Tempelhof. Die Moschee war 2015 von fast vierhundert Beamten untersucht worden, weil der Imam in Verdacht stand, Muslime zum Heiligen Krieg in Syrien angestiftet zu haben und tauchte seitdem regelmäßig in den Berichten des Berliner Verfassungsschutzes auf.4 Auch die Al-Nūr-Moschee in Berlin-Neukölln war immer wieder extremistisch aufgefallen. Mehrere dort auftretende Imame wurden wegen Volksverhetzung angezeigt, weil sie die Vernichtung der Juden gepredigt hatten. Der bekannte deutsche Konvertit und Salafist Pierre Vogel war dort ein genauso gern gesehener Gast wie Denis Cuspert – besser bekannt als der Rapper Deso Dogg –, der sich dem Islamischen Staat in Syrien angeschlossen hatte.5 Cuspert war auch in der As-Sahāba-Moschee in Berlin-Wedding häufig zugegen gewesen.6 Die Moschee galt als rein salafistisch und versuchte vor allem deutsche Konvertiten anzusprechen. Die Predigten, die den Heiligen Krieg im Namen des Islamischen Staats verherrlichten, HeiHeiwurden deshalb ausschließlich auf Deutsch gehalten. Im Umfeld der Hicret-Camii-Moschee in Berlin-Moabit hatte Kampel ebenfalls erfolglos nach Hinweisen auf Dominik gesucht. Die Hicret-Camii-Moschee wurde vom Verfassungsschutz als Treffpunkt für Extremisten eingeordnet und der dort tätige Imam war wegen des Anwerbens von Kämpfern für den Islamischen Staat zu einer Freiheitsstrafe verurteilt worden7 Unter den Besuchern der Moschee hatte sich auch Anis Amri befunden – jener Dschihadist, der am 19. Dezember 2016 mit einem Lastwagen in einen Berliner Weihnachtsmarkt gefahren war und dabei zwölf Menschen getötet und über 50 weitere teils schwer verletzt hatte.8 Amri hatte 600 Meter von der Hicret-Camii-Moschee entfernt ein Handyvideo aufgenommen, in dem er erklärt hatte, er wolle zum Märtyrer werden.9

Wie sehr Kampel sich auch bemüht hatte, all diese Recherchen rund um radikale Moscheen waren letztlich erfolglos geblieben. Er hatte nie herausgefunden, welche Moscheen Dominik besucht hatte und von wem er zum Eintritt in den Heiligen Krieg motiviert worden war.

Lisa Albers riss Kampel aus seinen Gedanken: »Der Anhänger in Ihrer Hand ist die bisher heißeste Spur zu dem Mann hinter der Fitna. Der Anhänger wird uns direkt zu ihm führen.«

Die Kommissarin hielt einen Moment inne. »Der Text in dem Anhänger ist im wahrsten Sinne des Wortes eine Fitna: eine Glaubensprüfung. Diese Prüfung kann nur jemand bestehen, der sich bestens mit dem Islam auskennt. Deshalb brauche ich Ihre Hilfe, Herr Kampel. Sie müssen mir helfen, dieser Fitna zu folgen.«

»Aber warum wenden Sie sich ausgerechnet an mich?«, fragte Kampel. »Warum bitten Sie nicht einen Ihrer Kollegen um Hilfe? Sie müssen in Ihrer Abteilung doch jemanden haben, der sich mit dem Islam auskennt. Ich habe überhaupt keine Ahnung von Polizeiarbeit!«

Lisa seufzte. »Natürlich haben wir in unserer Abteilung auch ausgewiesene Experten zum Islam. Aber an diese Kollegen kann ich mich nicht wenden. Das hat zwei Gründe.« Sie streckte einen Finger nach oben. »Erstens: Ich habe für den offiziellen Weg keine Zeit. Wir müssen die Aufgabe, die uns dieser Anhänger stellt, innerhalb eines Tages lösen. Wenn wir es bis dahin nicht schaffen, wird der Mann hinter der Fitna alle Hinweise, die uns zu ihm führen könnten, für immer löschen. Dieses schmale Zeitfenster ist eine Sicherheitsmaßnahme bei derartigen Aufnahmeprüfungen.« Lisa schüttelte den Kopf. »Es würde viel zu lange dauern, mich an meine Kollegen zu wenden. Wir müssen die Fitna heute lösen.« Sie hob einen zweiten Finger. »Zweitens: Ich könnte den offiziellen Weg nicht mal dann in Anspruch nehmen, wenn ich es wollte. Ich wurde von diesem Fall nämlich explizit abgezogen. Man hat mich an den Schreibtisch strafversetzt. Ich hätte niemals in der Moschee sein und dem Anwärter diesen Anhänger abnehmen dürfen.«

»Warum wurden sie von dem Fall abgezogen?«, fragte Kampel überrascht.

»Weil ich in dieser ganzen Angelegenheit persönlich befangen bin. Sie und ich haben etwas gemeinsam, Herr Kampel: Wir beide haben private Gründe, um den Mann hinter diesem Anhänger zu finden. Diese Sache ist für mich etwas Persönliches.«

Lisa verschränkte unwillkürlich die Arme vor sich. Ihre ganze Körpersprache verriet Kampel, dass es zwecklos sein würde, sie nach dem konkreten Grund zu fragen, aus dem sie den Mann hinter der Fitna fassen wollte.

»Wie auch immer«, fuhr Lisa fort. »Wenn ich mich jetzt an meinen Vorgesetzten wende und ihm eröffne, dass ich immer noch diesen Fitnas hinterherjage, wird man mir den Fall sofort wegnehmen. Es wird zu einer Untersuchung meiner Arbeitsmethoden kommen und das wird sich über Monate hinziehen. Aber diese Zeit haben wir nicht. Diese Fitna muss heute gelöst werden. Wenn der Mann, den wir suchen, innerhalb eines Tages nichts von seinem Anwärter hört, vernichtet er alle Hinweise, die uns zu ihm führen könnten.«

Die Kommissarin blickte Kampel eindringlich an. »Gemeinsam können wir den Mann finden, der Ihren Sohn in den Heiligen Krieg geschickt hat.Heiligen Krieg geschickt hsd Also werden Sie mir helfen?«

Kampel hielt einen Augenblick inne. Sein Blick wanderte zum Fenster und hinaus zu dem kleinen, schiefstehenden Gewächshaus in seinem Garten. Jedes Mal, wenn er in dem Gewächshaus vor seinen Rosen stand, dachte er an Dominik. Und jedes Mal fragte er sich, was genau mit ihm passiert war, bevor er verschwand. Diese Unwissenheit nagte an ihm. Er würde alles dafür tun, um endlich Antworten zu erhalten.

»Ich helfe Ihnen«, sagte Kampel.

Er wusste noch nicht, dass er sich mit diesem Satz auf den längsten Tag seines Lebens eingelassen hatte.

Kapitel 8

 

In Potsdam, einer Stadt wenige Kilometer vor Berlin, saß ein Mann in einem abgedunkelten Büro vor seinem Computer. Er war einer der Letzten in dem großen Bürogebäude. Die meisten Leute, die hier arbeiteten, waren bereits in ihren wohlverdienten Feierabend gegangen. Dem Mann im Büro machte es jedoch nichts aus, länger zu bleiben. Auf den heutigen Arbeitstag hatte er sein ganzes Leben lang hingearbeitet.

Er warf einen nervösen Blick auf sein Handy. Er erwartete den Anruf von einem seiner Kontaktmänner. Dieser Anruf würde die Sache Gottes einen gewaltigen Schritt voranbringen.

Seine Kontaktmänner kannten den Mann im Büro nur unter seinem Decknamen: Raschid. Er hatte sich diesen Namen zu Ehren von Raschid ad-Din Sinan gewählt, dem »Alten vom Berge«. Der Alte hatte im zwölften Jahrhundert westlicher Zeitrechnung die ismailitischen Assassinen in Syrien angeführt und sich während der Kreuzzüge mutig dem Heer der Ungläubigen gestellt.

Die Assassinen hatten Raschid schon immer fasziniert. Die Assassinen waren ihren Feinden zahlenmäßig weit unterlegen gewesen, hatten ihre geringe Truppenstärke jedoch mit umso raffinierteren Kampfmethoden ausgeglichen. Sie hatten zugeschlagen, wenn es ihre Gegner am wenigsten erwarteten und sie dann in helle Panik versetzt. Sie waren Meister der asymmetrischen und psychologischen Kriegsführung gewesen.

Raschid bewunderte besonders, wie geschickt die Assassinen die Strukturen ihrer Feinde infiltriert hatten. Die Assassinen hatten an ihren Einsatzorten oft jahrelang gelebt, direkt unter den Blicken ihrer Feinde, aber doch im Verborgenen. Sie hatten sich an ihre Umgebung angepasst und die Sprache, Sitten und Bräuche ihrer Gegner aufmerksam studiert, sich dabei jedoch immer auf ihre wahre Aufgabe vorbereitet. Wenn es der Feind am wenigsten erwartete, schlugen sie schließlich zu: In aller Öffentlichkeit und bei hellem Tageslicht schlachteten sie mit Messern hochrangige politische Figuren ab und erfüllten die Herzen ihrer Feinde mit Angst und Schrecken.

Inzwischen waren Jahrhunderte vergangen, doch noch heute inspirierten die Methoden der Assassinen Mudschahidin auf der ganzen Welt. Einer dieser Mudschahidin war Raschid. Genau wie die Assassinen hatte er sich an die Ungläubigen angepasst, ihr Vertrauen gewonnen und war tief in ihre Strukturen eingedrungen. Er kämpfte jedoch nicht mit Messern und Schwertern, wie die alten Assassinen. Die wichtigsten Waffen der heutigen Zeit waren Informationen.

Und Raschid saß direkt an der Quelle.

Das Bürogebäude, in dem Raschid sich befand und in dem er schon seit Jahren täglich ein- und ausging war das Bundespolizeipräsidium in Potsdam. Von hier aus wurde die polizeiliche Strategie der gesamten deutschen Polizei ausgearbeitet und koordiniert. Besonders interessant war das Bundespolizeipräsidium für Raschid, weil es ein Teilorgan des GTAZ war. Die Abkürzung GTAZ stand für Gemeinsames Terrorismusabwehrzentrum. Das GTAZ war im Jahr 2004 gegründet worden und beschäftigte sich ausschließlich mit islamisch motiviertem Terrorismus. Es war keine eigenständige Behörde, sondern ein Zusammenschluss von insgesamt 40 deutschen Sicherheitsbehörden, die ihre Informationen bündelten, um den Kampf gegen Dschihadisten besser aufeinander abzustimmen.