Be My Friend - Isabella M. May - E-Book
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Be My Friend E-Book

Isabella M. May

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Beschreibung

Rot? Schwer zu erklären, wieso, doch sobald Sophia ihn das erste Mal sieht, fasst sie bereits ihren Entschluss: Sie will, dass sie Freunde werden. Es ist albern und absurd, doch sie spürt sofort, dass er besonders ist und sie ihn verstehen könnte - wenn er sie nur lässt. Das Problem ist, dass er das offensichtlich völlig anders sieht: Er nutzt jede Gelegenheit, um ihr aus dem Weg zu gehen und sie kalt abblitzen zu lassen. Er kann sie nicht ausstehen - doch warum? Sophia will es dennoch wagen, ihm näherzukommen, aber sie ahnt nicht, welches Chaos sie damit lostritt ... genauso wenig wie er. Denn er hat ein Geheimnis. 'Be My Friend' ist eine Geschichte, die sich in zwei abwechselnden Perspektiven (POV) teilt - ihre und seine. Getrennt bilden sie zwei völlig unterschiedliche Eindrücke, aber zusammen zeigt sich die eigentliche, wahre Geschichte: Feindschaft, Neugier, Annäherung, Ablehnung, Verständnis, Missverständnis, Freundschaft und Liebe zwischen zwei jungen Menschen: Sophia und Jascha.

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Epilog

1. Auflage, 2024

Copyright © 2024 by Isabella Haltrich

– alle Rechte vorbehalten.

Wien, Österreich

Produktion, Design und Konzeption: Isabella Haltrich

Copyright © Cover-Illustration: Resalami Studio

[email protected]

www.isabellamay.info

1

Rot? Wieso sind seine Haare rot? Sie sehen wie eine dunkle Erdbeere aus oder vielleicht ein glasierter Bratapfel. Was ist noch alles rot? Auf jeden Fall sind sie satt und kräftig, also frisch gefärbt. Auch der Schnitt ist ungewöhnlich – wild und zerzaust – und trotzdem liegen seine Haare in einem beinahe Mittelscheitel um sein Gesicht. Er erinnert Sophia an diesen einen Musiker. Wie hieß der noch gleich? Yungblud.

„Guten Morgen! Schön, euch alle frisch und munter im neuen Schuljahr zu begrüßen – ihr dürft euch setzen“, ruft Professorin Rosenthal viel zu motiviert. Sophia dreht sich zurück nach vorn und beobachtet, wie die Professorin mit ihrem cremeweißen Hosenanzug mit den grässlichen schwarzen Knöpfen durchs Klassenzimmer stolziert.RosenthalsHaare sind schwarz und haben immer noch diesen Bob-Schnitt wie schon vor dem Sommer. Daran hat sich nichts geändert.

Die SchülerInnen nehmen Platz und warten geduldig, während Frau Rosenthal ihre bauchige Tasche auf den Tisch stellt und darin kramt. Sie holt das gelbe Klassenbuch hervor, schlägt es vorn auf und überfliegt dann das Register.

„Die meisten Namen kenne ich ja bereits“, sagt sie mit einem Lächeln und nickt freundlich in die Runde, „aber auch ein paar neue sind darunter: Patrizia und Zamil aus der 7C – richtig?“ Die beiden SchülerInnen bestätigen und Rosenthal blickt weiter durch die Reihe. Jetzt bleiben ihre Augen am Tisch ganz hinten links hängen, wo er sitzt. Sie kontrolliert erneut das Klassenbuch: „Dann musst du wohl Jascha Hesse sein. Mein Name ist Maria Rosenthal und ich bin bis zum Abschluss eure Deutsch- und Klassenlehrerin.“

Der Junge nickt.

„Du bist aus Hannover hierhergezogen – habe ich das richtig gehört?“

Wieder nickt er wortlos, doch die Professorin lässt sich von seinem Schweigen nicht beirren und antwortet: „Na dann hoffe ich, in Wien gefällt es dir genauso gut.“

Beide diesen Worten zieht er sofort die Augenbrauen zusammen, schmunzelt merkwürdig und blickt wieder zurück auf den Stift, den er zwischen seinen Fingern dreht. Er wirkt gleichgültig, fast schon kühl, aber trotzdem irgendwie nervös, findet Sophia.

„Sollen wir uns in der Pause vorstellen?“, flüstert Leana ihr zu und Sophia nickt. Das wäre nur höflich – oder?

„Aber ein bisschen Angst macht er mir schon“, meint Leana dann und kichert leise. „Die Haare sind komisch.“

Komisch? Sophia mag sie irgendwie. Sie dreht sich erneut nach ihm um und beobachtet, wie er seinen Kopf in den Nacken legt und hinauf zur Decke starrt. Er wirkt etwas unbeholfen und hat offensichtlich längst bemerkt, dass ihn alle – wirklich alle – neugierig anstarren. So ist das immer in der Klasse, wenn sich etwas verändert. Das geht vorbei.

„Na gut. Heute gehen wir erst einmal nur den Lehrplan und die Lektüreliste für das neue Schuljahr durch und danach bin ich schon gespannt zu hören, wer in den Sommerferien fleißig gelesen hat und mir gute Bücher empfehlen kann – einverstanden? Fangen wir an: ...“

~

Der erste Schultag ist bei Professorin Rosenthal immer recht entspannt. Im Grunde unterhalten sie sich nur und reden über irgendwelche Sommergeschichten. Fast alle haben etwas erzählt, der Neue aber nicht – an seiner Stelle hätte Sophia auch keine Lust dazu gehabt.

Als es am Ende dann zur Pause läutet und Rosenthal wieder im Türrahmen verschwindet, stehen Sophia und Leana wie besprochen auf und gehen zum letzten Tisch der Reihe hinten links. Leana wirkt aufgeregt, aber Sophia hat keine Angst davor, mit dem Neuen zu reden. Im Gegenteil – sie ist unheimlich neugierig auf ihn.

„Du heißt Jascha – richtig“, fragt Sophia mit möglichst freundlicher Stimme. „Ich bin Sophia.“

„Und ich bin Leana. Freut uns, dass du nun in unserer Klasse bist!“, sagt sie mit ihrer quirligen Art und lächelt den Neuen breit an.

Der Junge allerdings blickt bloß unbeeindruckt von seinem Tisch hoch und wechselt dann mit seinen Augen zwischen ihnen hin und her. Er hat blaue Augen; himmelblau – nein – wasserblau, wie ein klares Flussbett. Seine Haut ist eher hell, beinahe blass und er hat weiche Gesichtszüge, volle Lippen und einen eher scharfkantigen Kiefer, der wie ein Kontrast zum Rest seines Gesichts wirkt. Er ist irgendwie schön, aber seine Art ist kalt und distanziert. Spannend – findet Sophia.

„Hey“, sagt er kurz angebunden und das ist das Erste, was Sophia aus seinem Mund hört. Ein schnelles hey gibt nicht viel preis, aber Sophia hört dennoch einiges heraus: Seine Stimme klingt leise, kratzig und dumpf, als wäre er heiser, aber kein bisschen zaghaft. Er wirkt nicht schüchtern, nur unruhig. Aber wieso ist er dann so abweisend? Was verbirgt er?

„Du bist aus Hannover“, fragt Leana nun und er nickt.

„Wie ist es dort so?“, schließt Sophia direkt an und mustert den Jungen weiter. Er trägt einen schwarzen oversized Sweater mit breiten Schulternähten und einem weißen Aufdruck vorn darauf – vielleicht von einer Band, die sie nicht kennt? Bei genauerem Hinblick sieht Sophia dann noch ein paar kleine Tattoos an seinen Handgelenken und Fingern, die hervorblitzen – das ist wieder ungewöhnlich. Sie wusste nicht, dass man sich mit 16 schon tätowieren lassen darf. Oder ist er älter?

„Ganz normal. Nichts Besonderes“, antwortet der Junge wieder kurz angebunden und zuckt die Schultern. Will er nicht mit ihnen reden?

„Und wieso bist du hierhergezogen?“, ruft plötzlich Thomas hinter Leana hervor. Langsam mischen sich die anderen MitschülerInnen zu ihnen – sie sind genauso neugierig wie sie. Der Junge jedoch legt den Kopf seitlich in den Nacken und fährt sich unbeholfen durch die wilden roten Haare. Er wirkt sichtlich irritiert davon, wie sich immer mehr Menschen um seinen Tisch versammeln, und Sophia hat das Gefühl, dass ihn die viele Aufmerksamkeit überfordert.

„Löchern wir ihn nicht so! Er kann uns später immer noch mehr erzählen“, sagt sie mit freundlicher Stimme und beendet so die Fragerei. Sie zieht Leana hinüber zu den anderen beiden Neuen und die übrigen MitschülerInnen folgen ihnen. Beim Gehen beobachtet Sophia dann noch, wie er erleichtert seufzt und seine gespannten Schultern senkt. Sie muss schmunzeln und fasst ihren Entschluss:

Sophia will, dass sie Freunde werden.

1

Jascha hat das Gefühl, dass ihn alle heimlich anstarren – und er hasst es. Wenn er sich eine Hölle ausmalen müsste, dann wäre sie genau das hier: ein Zimmer voller Fremder, die ihn mit den Augen durchlöchern und sich direkt vor seiner Nase das Maul über ihn zerreißen. Sie denken wahrscheinlich, sie wären ja alle so subtil, doch es gibt nichts Auffälligeres, als wenn Menschen versuchen, unauffällig zu sein.

„Guten Morgen! Schön euch alle frisch und munter im neuen Schuljahr zu begrüßen – ihr dürft euch setzen“, ruft eine große, schwarzhaarige Frau, als sie den Klassenraum betritt. Die Frau hat ein freundliches Gesicht und wirkt nett, aber das sind sie anfangs immer, bis sie irgendwann beschließen, dass sie dich nicht ausstehen können. Früher oder später ist es doch immer so.

Die große Frau öffnet das Klassenbuch und sagt dann: „Die meisten Namen kenne ich ja schon“, sie lächelt, „aber auch ein paar neue sind darunter: Patrizia und Zamil aus der 7C – richtig?“

Jetzt blickt sie weiter durch die Reihe und Jascha spürt, wie er immer unruhiger wird. Er weiß genau, was gleich passiert, dass die Lehrerin auch seinen Namen aufrufen wird. Am liebsten würde er diesen Part überspringen, aber keine Chance:

„Dann musst du wohl Jascha Hesse sein. Mein Name ist Maria Rosenthal und ich bin bis zum Abschluss eure Deutsch- und Klassenlehrerin“, sagt sie und blickt ihn dabei direkt an. Das ist die Gelegenheit für die anderen, um ihn jetzt sogar direkt anzugaffen. Fuck! Merkt man, dass er nervös ist? Sehen sie ihm sein Geheimnis an? Haben sie ihn längst durchschaut? Jascha fühlt sich wie im scheiß Zoo, doch wenn er die Fassung verliert, wird es nur noch schlimmer. Durchatmen.

Jascha nickt und fokussiert sich auf die Lehrerin.

„Du bist aus Hannover hierhergezogen – habe ich das richtig gehört?“

Er kann immer noch spüren, wie alle Blicke auf ihm liegen, wie sie ihn mustern. Ob sie es nun wissen, oder nicht – sie haben alle längst ein Urteil über ihn gefällt und ergötzen sich an seiner Unbeholfenheit. Jascha will ihnen nicht mehr Angriffsfläche schenken, als nötig – ganz sicher nicht. Scheiß Parasiten. Wieder nickt er bloß.

„Na dann hoffe ich, in Wien gefällt es dir genauso gut“, sagt sie daraufhin und lässt endlich von ihm ab.

Genauso gut? Die Frau hofft also, hier gefällt es ihm genauso gut? Jascha bemüht sich, nicht laut loszulachen – was für ein Witz. Er hofft wirklich, Wien ist zumindest etwas besser als die Hölle, aus der er kommt.

Jascha dreht den Stift zwischen seinen Fingern, so wie er es immer tut, wenn er nervös ist, und mustert seine neuen KlassenkameradInnen. Sie sehen alle so normal aus, beinahe aufgesetzt und fein. Eine homogene Masse an OberschülerInnen, von denen keiner in irgendeiner Weise heraussticht oder auffällt – großartig. Jascha passt hier also noch weniger hin als schon in seine alte Klasse – falls das überhaupt möglich ist. Das muss er aber auch gar nicht – redet er sich ein. Nicht mehr lange, nur noch ein bisschen, nur noch 2 Jahre und er ist raus aus dieser Shitshow. Er darf es nur nicht wieder versauen und sitzen bleiben, er darf nicht eine Sekunde länger an diesen Ort gebunden sein, als nötig. Zwei Jahre – nicht mehr.

„Na gut. Heute gehen wir erst einmal nur den Lehrplan und die Lektüreliste für das neue Schuljahr durch und danach bin ich schon gespannt zu hören, wer in den Sommerferien fleißig gelesen hat und mir gute Bücher empfehlen kann – einverstanden? Fangen wir an: ...“

~

Geschafft. Die erste Stunde ist vorüber – noch zwei weitere, dann ist Jascha für heute befreit. Er legt den Kopf in den Nacken und geht seinen Plan für den restlichen Tag durch: Nach der Schule hat er noch kurz Zeit, um sich etwas zum Essen zu kaufen, und dann muss er sofort los zu seinem Vorstellungsgespräch. Der Laden soll irgendwo im Einkaufszentrum neben der Schule sein. Er wird es schon finden – hoffentlich.

Jascha seufzt. Er braucht das Geld – dringend. Bis zu seinem 18. Geburtstag sind es nur noch acht Monate und selbst wenn er den Job bekommt, reicht auch das niemals, um die gesamte Summe zusammenzubekommen: 10.000 Euro. Fuck, niemals. Zumindest nicht, wenn er nur den einen Job hat. Er muss noch irgendwie anders an Geld kommen und das möglichst ohne, dass jemand Fragen stellt, wofür er es braucht. Aber wie? Gras verkaufen? Das ist lächerlich, er hat keine Ahnung von sowas.

Jascha will gerade aufstehen und sich für die Dauer der Pause am Klo verschanzen, da tauchen plötzlich zwei Mädchen an seinem Tisch auf und starren ihn mit großen Augen an.

„Du heißt Jascha – richtig?“, fragt die eine. „Ich bin Sophia.“

Das Mädchen wirkt freundlich und neugierig, und das macht Jascha skeptisch. Sie hat lange braune Haare und braune Rehaugen, mit einer viel zu perfekten, porenreinen Haut. Sie ist dieses klassische hübsche Mädchen, trägt aber ein oversized T-Shirt und eine lockere Jeans, als wüsste sie das nicht – die hasst Jascha besonders.

„Und ich bin Leana. Freut uns, dass du nun in unserer Klasse bist!“, sagt die andere übertrieben euphorisch und lächelt Jascha an. Sie hat blonde Haare, kleine Sommersprossen und hellblaue Augen – noch so eine.

„Hey“, sagt Jascha kurz angebunden und hofft, dass ihnen das genügt. Er hat gerade wirklich keine Lust auf Small Talk, aber leider scheint die Blonde den Wink nicht zu verstehen und plappert weiter:

„Du bist aus Hannover?“, fragt sie und Jascha nickt.

„Wie ist es dort so?“, schließt die Erste weiter an und nimmt ihn eindringlich ins Visier. Sie sieht ihn aufmerksam an, was er unbehaglich findet. Irgendwas an ihrer Art gibt ihm das Gefühl, sie würde ihn durchschauen, als würde sie ihm all seine Geheimnisse von den Augen ablesen können. Fuck! Hat sie es gemerkt? Verdammt, was ist ihr Problem? Warum starrt sie ihn so an?

„Ganz normal. Nichts Besonderes“, antwortet Jascha und zuckt gleichgültig mit den Schultern. Er bemüht sich gar nicht erst, gesprächig zu wirken oder freundlich oder gesellig. Er will das alles nicht, er sucht hier keine Freunde – diesen Fehler macht er nicht.

„Und wieso bist du hierhergezogen?“, ruft plötzlich wieder irgendjemand anderes und Jascha spürt, wie sein Körper sich verkrampft. Er hasst all das hier, er hasst diese Neugier und all die Fragen. Wieso können die ihn alle nicht einfach in Ruhe lassen? Was geht die das an, warum er hierhergezogen ist? Gar nichts!

„Löchern wir ihn nicht so! Er kann uns später immer noch mehr erzählen“, sagt plötzlich das Mädchen mit den braunen Haaren und nimmt ihm so die Bürde ab, irgendeine Ausrede zu erfinden. Jascha ist erleichtert.

Er beobachtet, wie das Mädchen ihre Freundin schnappt und damit auch die anderen dazu animiert, von ihm abzulassen. Sofort atmet Jascha auf und entspannt seine Schultern. Dieses Mal ist er den Fragen und Blicken noch entkommen, aber was ist in der nächsten Pause? Was wird morgen sein? Wie soll er so zwei ganze Jahre durchstehen?

Fuck.

2

Die ganze Woche schon hat Sophia versucht, mit dem Neuen ins Gespräch zu kommen, aber er ist meisterhaft darin, andere abzublocken. Er kommt erst kurz vor Schulbeginn in die Klasse, verschwindet jede Pause irgendwo im Hof, oder auf den Toiletten und haut auch sofort wieder ab, sobald die letzte Glocke läutet. Immer wieder hält Sophia nach ihm Ausschau, doch keine Chance. Auch Leana hat es mittlerweile aufgegeben und meinte: Wenn er nicht mit uns reden will, ist das sein Pech. Wahrscheinlich hat sie recht.

„Na gut, ich muss los zum Handballtraining“, seufzt Leana und umarmt Sophia schnell. „Wir sehen uns am Montag!“

„Ja, bis Montag!“, verabschiedet sich Sophia von ihrer Freundin und beobachtet, wie diese in der Menge verschwindet.

Es ist Samstag und sie haben sich am Vormittag im Einkaufszentrum getroffen. Nun ist Sophia wieder allein und überlegt, wo sie noch hinschauen könnte. Der Buchladen ist immer eine gute Idee. Sie kauft nie etwas, aber liebt es, sich die kunstvollen Umschläge der Fantasyromane anzuschauen. Sie will gerade los, da blitzt plötzlich etwas in ihrem Augenwinkel auf, etwas Sattrotes.

Sophia dreht sich danach um und entdeckt plötzlich diesen ungewöhnlichen roten Haarschopf, wie er in diesem veganen Badebomben Geschäft steht und mit einer älteren Frau spricht – vielleicht seine Mutter? Sophia ist überrascht und geht auf das Geschäft zu, bis sie irgendwann das weiße Schild an seinem T-Shirt bemerkt und versteht: Er arbeitet hier? Im Lush?

„... die hier ist mit Orange und Limette, hat also einen frischeren Duft, als die andere ...“

Sophia muss schmunzeln, als sie unauffällig näherkommt und tarnungshalber an den Handcremen riecht. Immer wieder sieht sie aus dem Augenwinkel rüber und beobachtet, wie freundlich er mit dieser Dame spricht, wie nett er dabei lächelt. Wieso lächelt er in der Klasse nie so?

Irgendwann bedankt sich die Frau und trägt ihre Auswahl zur Kassa. Danach dreht er sich zufrieden um und trifft dabei auf Sophia, wie sie ihm entgegen grinst. Zuerst lächelt auch er – wahrscheinlich erkennt er sie nicht sofort – doch dann verdunkelt sich sein Gesicht.

„Was willst du hier?“, bellt er leise und sein Blick dabei ist eisig, was Sophia etwas einschüchtert.

„Ich bin zufällig vorbeigekommen und hab dich gesehen. Ich wollte nur Hallo sagen“, versucht sie freundlich zu bleiben. „Seit wann arbeitest du hier?“

„Na dann: Hallo“, antwortet er frostig und will sich gerade wieder wegdrehen. Eben noch hat er gelächelt, wieso ist er jetzt wieder so kühl? Ist Sophia wirklich so unausstehlich? Sie will es weiter versuchen und sagt:

„Ich wusste gar nicht, dass man mit 16 schon arbeiten darf.“

„Darf man, aber ich bin ohnehin 17“, entgegnet er und geht hinüber zum Waschbecken mit den Seifenproben, um die Wasserflecken und Seifenreste wegzuwischen.

„Das ist richtig cool! Ich liebe den Lush-Shop!“, sagt Sophia euphorisch und kurz sieht es so aus, als würde er innehalten und etwas sagen, doch er wischt einfach weiter.

„Bekommst du auch Rabatte?“, ist sie weiterhin bemüht, ihn in ein Gespräch zu verwickeln.

„Nach dem Probemonat 10 %“, antwortet er, „aber die werde ich nicht für irgendwelche Klassenkameradinnen benutzen, falls du das gehofft hast.“

Er arbeitet also erst seit Kurzem hier.

„Das wollte ich damit eh nicht fragen. Ich freu' mich nur, dass ich dich hier getroffen habe“, sagt Sophia mit einem Lächeln und jetzt dreht er sich mit einem merkwürdigen, nachdenklichen Ausdruck auf seinem Gesicht nach ihr um. Seine roten Haare fallen dabei tief in sein Gesicht und lassen das Blau seiner Augen noch blauer erscheinen.

„Na dann“, sagt er noch mit einem kalten Hauch in der Stimme und geht einfach Richtung Personalraum.

Sophia ist verwirrt über seine Reaktion und sieht ihm irritiert nach. Wieso mag er sie nicht? Was hat sie an sich, das so schrecklich für ihn ist? Trotzdem ist sie auch zufrieden damit, dass er überhaupt mit ihr geredet hat – wenn auch nur kurz. Ein kleiner Triumph.

2

„Entschuldigung, können Sie mir vielleicht etwas empfehlen, das fruchtig riecht?“, fragt eine Frau mit braun-grauen Locken und Jascha dreht sich zu ihr um.

„Sehr gerne, wir haben sogar mehrere: ...“, antwortet er mit einem Lächeln und sucht die passenden Produkte heraus.

Das ist Jaschas erster richtiger Arbeitstag und er fühlt sich großartig. Seine Chefin Lisa ist wirklich nett und hat ihn am Montag quasi direkt für einen Probemonat eingestellt. Gestern war die Einschulung und heute kann er bereits selbstständig die KundInnen beraten. Überraschenderweise ist die Arbeit gar nicht so übel und gibt ihm ein Gefühl von Kontrolle.

„... diese hier ist mit Kokos und Ananas, die könnte Ihnen gefallen ...“

Jeder Samstag, den er fortan hier arbeiten wird, bringt ihn ein kleines Stück näher an sein Ziel – endlich. Seine Mutter war zuerst nicht wirklich begeistert darüber, dass Jascha samstags arbeiten möchte, doch dann hat auch sie sich gefreut. Vielleicht hilft dir das, dich hier besser einzufinden, hat sie gesagt. So weit wagt Jascha nicht zu hoffen, aber das ist in Ordnung. Dieser Job hat ohnehin nur einen Zweck für ihn: Geld. Solang er das jeden Monat bekommt, ist ihm egal, wo er arbeitet, oder was er dafür tun muss.

„... die hier ist mit Orange und Limette, hat also einen frischeren Duft, als die andere“, sagt er nun, als er der Frau noch eine weitere Badebombe vorstellt und lässt sie daran riechen. Sie wirkt angetan und nickt zufrieden.

„Ja, ich glaube die hier gefällt mir am besten. Vielen Dank – die nehme ich“, bedankt sich die Frau und trägt die eingetütete Badebombe nach hinten zur Kassa.

Jascha ist zufrieden. Er hat das Gefühl, er ist gut in dem, was er hier tut. Motiviert dreht er sich um und will einer weiteren Kundin helfen, doch dann erkennt er die Person: Das ist sie, dieses Mädchen aus seiner Klasse. Sie grinst ihn an und kommt auf ihn zu. Ist das ein höhnisches Grinsen? Lacht sie ihn aus, weil er in so einem Laden arbeitet?

„Was willst du hier?“, fragt er angespannt, doch bemüht gleichzeitig, sich zu zügeln.

„Ich bin zufällig vorbeigekommen und hab dich gesehen. Ich wollte nur Hallo sagen“, antwortet sie übertrieben freundlich und zupft sich ihr weites Shirt zurecht. „Seit wann arbeitest du hier?“

Jascha kann spüren, wie sein Blut zu wallen beginnt. Was bildet die sich ein, hierherzukommen und sich über ihn lustig zu machen?

„Na dann: Hallo“, antwortet er kurz und knapp und will sie einfach so stehen lassen. Soll sie doch denken, was sie will, soll sie sich ruhig über ihn amüsieren, soll sie am besten auch der ganzen Klasse davon erzählen und sich dann mit ihnen gemeinsam über ihn lustig machen – ist ihm scheißegal.

„Ich wusste gar nicht, dass man mit 16 schon arbeiten darf“, spricht sie weiter und Jascha bleibt stehen. Seine Chefin Lisa steht gerade an der Kassa. Wenn er sie jetzt einfach ignoriert, wird er am Ende noch gefeuert. Niemals, das wird er nicht riskieren – für niemanden!

„Darf man, aber ich bin ohnehin 17“, entgegnet er und geht dabei hinüber zum Waschbecken, um es zu putzen.

„Das ist richtig cool! Ich liebe den Lush-Shop!“, sagt sie und Jascha spürt, wie sich bei dieser ekeligen, heuchlerischen Freundlichkeit sein Magen umstülpt.

„Bekommst du auch Rabatte?“, ergänzt sie dann.

Aha. Da ist also der Grund für all das Getue. Sie will ihn ausnützen, um durch ihn Prozente abzustauben. Was ein Wunder.

„Nach dem Probemonat 10 %“, antwortet er, „aber die werde ich nicht für irgendwelche Klassenkameradinnen benutzen, falls du das gehofft hast.“

„Das wollte ich damit eh nicht fragen. Ich freu' mich nur, dass ich dich hier getroffen habe“, behauptet sie dann und Jascha hält kurz inne. Was soll das? So ein Bullshit.

Jetzt sieht er sie direkt an und versucht, in ihren braunen Möchtegernrehaugenabzulesen, was sie wohl im Schilde führt. Ist es eine Wette? Ein Scherz? Langeweile? Er versteht es nicht.

„Na dann“, sagt er kühl und nimmt den schmutzigen Putzfetzen in seiner Hand zum Anlass, um ohne weitere Worte zum Personalraum zu flüchten. Sie hatte ihren Spaß, jetzt soll sie endlich wieder verschwinden und ihn in Frieden lassen.

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„... im Lush? Echt“, ruft Leana laut durchs Telefon. „Das kann ich mir ja so gaaar nicht vorstellen!“

Sie lacht und irgendwie hält Sophia ihre Reaktion für unangebracht. Wieso lacht sie?

„Wieso das?“, fragt Sophia prüfend.

„Na ja. Er sieht dauernd so einschüchternd und wütend aus. Das passt einfach nicht zu einem Shop für Seifen und Badeschaum“, versucht Leana sich zu erklären und lacht wieder. „Da rennen ja alle Leute davon!“

Aus irgendeinem Grund nervt Sophia auch dieser Spruch und nun bereut sie, dass sie Leana überhaupt davon erzählt hat.

„Das finde ich übertrieben“, antwortet sie. „Er hat dort ganz anders gewirkt als in der Schule.“

„Wirklich? Habt ihr geredet?“, fragt Leana erstaunt und Sophia dreht sich auf dem Bett um, sodass sie nun auf dem Bauch liegt. Sie legt das Smartphone vor ihr Gesicht und seufzt.

„Nur kurz, aber ich glaube wirklich, dass er eigentlich ganz nett ist – wenn er will“, sagt sie nun.

„Keine Ahnung“, stöhnt Leana ungläubig, „aber wenn er jedes Mal abblockt, wenn man versucht, mit ihm zu reden, dann bringt das auch nichts. Da verlier' ich die Lust, es überhaupt zu versuchen.“

„Ja, kann sein“, murmelt Sophia, doch ihre Gedanken sind anders. Sie weiß, dass er sie immer wieder abweist. Auch im Lush war es nicht anders, doch aus irgendeinem Grund, will sie nicht locker lassen. Warum? Ihr Bauchgefühl sagt ihr, dass er mit seiner schroffen Art härter tut, als er eigentlich ist, dass er vielleicht sogar einsam ist. Sophia ist es jedenfalls.

„Reden wir über etwas anderes. Wie war das Training?“, fragt sie schnell, als ob das ihre Gedanken stoppen könnte.

Sophia kennt so viele Menschen; manche sind glücklich, manche sind es nicht, doch sie alle haben immerzu ein Lächeln auf den Lippen. Auch Sophia lächelt viel; manchmal ehrlich und manchmal nicht. An manchen Tagen, da will sie am liebsten nur die Augen verdrehen – durchgehend –, oder auf jede Frage hin mit den Schultern zucken oder einfach nur schweigen und weitergehen – so wie er. Sie tut es nicht, sie lächelt stattdessen, doch er tut es. Bei ihm ist es genau andersherum: Er ist dauernd mürrisch und genervt, er redet mit niemandem und lächelt nie – außer dann, wenn niemand hinsieht. Wieso?

Seit er in ihre Klasse gekommen ist, denkt Sophia viel darüber nach, warum er wohl so ist, wie er ist. Sie fragt sich, ob er immer schon so war, ob in Hannover vielleicht alle seine Freunde genauso sind, oder ob es einen anderen Grund gibt. Es interessiert sie, denn sie wird das Gefühl nicht los, sie könnte es verstehen, wenn sie es nur wüsste. So unterschiedlich sie auch sind, so vollkommen gegensätzlich sie sich auch verhalten, Sophia fühlt sich ihm ähnlicher als jedem anderen, den sie kennt. Macht das Sinn?

3

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4

Auch diese Woche hat er kaum mit ihr geredet. Immer wieder hat sie versucht, mit ihm ins Gespräch zu kommen, ihn am Morgen nett begrüßt, oder in den Pausen nach den Hausaufgaben gefragt – mehr als ein knappes Hallo oder ein wortloses Zettel-Zuschieben konnte sie damit nicht erreichen. Irgendwann hat sie es dann aufgegeben – zumindest in der Schule. Sophia weiß, dass er in der Schule nicht mit ihr reden wird, doch es gibt noch einen anderen Weg:

Heute ist wieder Samstag, und Sophia betritt den pudrig-duftenden Seifenshop im Einkaufszentrum. Sie hat sich alles genau überlegt; was sie tun und was sie sagen wird, wie sie ihm zeigen wird, dass sie gute Absichten hat. Erst als sie ihn dann sieht, wie er mit seinem knallroten Haarschopf bei den Lotionen steht und die schwarzen Tiegel schlichtet, vergisst sie ihren ganzen Plan und stolpert unbeholfen in den Shop hinein. Genau wie beim letzten Mal lächelt er kurz und wird dann wieder kühl, als er sie erkennt.

„Verfolgst du mich?“, fragt er scharf und rollt die Augen.

Sophia beruhigt ihre aufgeregten Nerven und antwortet so souverän wie möglich: „Ich suche nach einem Geschenk für meine Mutter – sie hat übermorgen Geburtstag.“

Das ist keine Lüge; Sophias Mutter hat tatsächlich Geburtstag – der perfekte Vorwand.

„Ist das so“, murmelt er skeptisch und schlichtet weiter die Lotionen.

„Kannst du mir vielleicht helfen, was für sie auszusuchen?“, fragt Sophia nun und stellt sich in sein Sichtfeld. Heute lässt sie sich nicht so einfach abwimmeln.

Jetzt seufzt er und hält inne. Dann stellt er den Karton mit den Tiegeln beiseite und streift sich die roten Haare aus der Stirn, während er sagt: „Bringen wir es schnell hinter uns: Nach was genau suchst du?“

Sophia grinst triumphierend und sieht sich kurz im Laden um: „Ich weiß noch nicht, was kannst du denn empfehlen?“

Wieder rollt er mit den Augen und zieht dann die Brauen zusammen: „Das ist keine Cocktailbar: Willst du was für die Haut, für die Haare oder zum Baden?“

Es ist komisch, aber trotz seiner kühlen Sprüche fühlt sich Sophia glücklich, dass er mit ihr spricht. Ist das albern? Sie weiß es einfach, sie fühlt es ganz genau, dass es sich auszahlen wird, sich um ihn zu bemühen, dass sie ihn verstehen wird ... und er der erste Mensch sein wird, der sie versteht.

„Vielleicht etwas zum Baden“, antwortet Sophia und nimmt einige der Badebomben in die Hand, um sie genauer anzusehen. Sie haben lustige Formen und bunte Farben und in manchen davon, versteckt sich noch ein besonderer Kern aus Blütenblättern oder Salzkristallen. Wien ein Schatz.

„Schäumend oder nicht schäumend?“, fragt er weiter und Sophia überlegt.

„Schäumend!“, entscheidet sie und lächelt. „Darum geht es doch beim Baden, oder nicht?“

Er jedoch, wirkt vollkommen unbeeindruckt.

„Welche Düfte mag sie? Pudrig, blumig, fruchtig oder herber?“

Wieder überlegt Sophia. Wenn sie ehrlich ist, weiß sie das gar nicht. Schwer zu sagen, woran es liegt, aber ihre Mutter und sie stehen sich wohl nicht nahe genug, um so etwas zu wissen. Warum nicht? Warum weiß sie so etwas nicht?

„Ich weiß nicht“, murmelt Sophia etwas verloren und fühlt sich peinlich berührt, während sie all die verschiedenen Badekugeln betrachtet.

„Lavendel ist beliebt: Wenn du dir also nicht sicher bist, solltest du einfach was mit Lavendel nehmen“, sagt er plötzlich und irgendwie klingt seine Stimme dabei viel weicher als davor, fast schon nett.

Sophia sieht ihm überrascht zu, wie er eine der Lavendelkugeln einpackt und sie ihr dann einfach entgegenstreckt. Er lächelt nicht – das wäre wohl zu viel des Guten – aber wenigstens rollt er dabei nicht mit den Augen. Er sieht sie einfach nur an und wartet, bis sie die kleine Tüte schließlich nimmt.

„Jetzt hast du alles – oder“, sagt er dann und klingt wieder so kühl wie gewohnt. Er will sich gerade umdrehen und weiterarbeiten, da platzt es aus Sophia heraus:

„Warum magst du mich nicht?“

Eigentlich wollte sie nicht so aufdringlich sein, geschweige denn so direkt fragen, aber es kam wie von selbst über ihre Lippen. Er sieht sie daraufhin wieder direkt an und wirkt verwirrt, beinahe irritiert. Er scheint zu überlegen, was er sagen soll, und Sophia hält es kaum noch aus.

„Ich mag dich nicht nicht – wir sind nur einfach keine Freunde“, ist alles, was er daraufhin antwortet und gleich darauf dreht er sich um und lässt sie stehen.

Nicht nicht. Ich mag dich nicht nicht. Sophia muss grinsen. Er hat zwar gesagt, dass sie keine Freunde seien, aber dieses nicht nicht mögen, ist bereits mehr, als sie erwartet hätte. Nicht nicht – oder noch nicht? Er mag sie noch nicht.

4

Dieses Mal läuft die Arbeit im Shop schon richtig gut. Jascha kennt bereits das gesamte Sortiment auswendig. Er weiß alle Produktarten und die verschiedenen Duftnoten, in die sie unterteilt sind, genau wie die Funktionen und Besonderheiten. Auch Lisa hat gesagt, dass sie sehr zufrieden mit ihm ist. Es ist lange her, dass er das Gefühl hatte, etwas richtigzumachen, dass ihm jemand gesagt hat, dass er nützlich ist. Es tut gut und gibt ihm einen kleinen Hauch von Genugtuung.

Kurz hat Jascha sogar das Gefühl, dass nichts auf der Welt seine gute Laune trüben könnte, doch dann sieht er sie. Das Mädchen mit den langen Haaren und den braunen Augen kommt in den Laden und nimmt ihn direkt ins Visier. Will sie sich wieder über ihn lustig machen? Rabatte abstauben? Ist sie dafür extra hierhergekommen?

„Verfolgst du mich?“, fragt er scharf und rollt die Augen. Reicht es ihr nicht, ihn in der Schule zu nerven?

„Ich suche nach einem Geschenk für meine Mutter – sie hat übermorgen Geburtstag“, antwortet sie – eine Ausrede?

„Ist das so“, murmelt Jascha skeptisch und dreht sich zurück zu den Lotionen, die er eben noch geschlichtet hat. Wenn er sie einfach ignoriert, geht sie vielleicht wieder. Er hat keine Lust, sich mit ihr zu unterhalten oder dieses lächerliche Pingpong gezwungener Freundlichkeit zu spielen.

„Kannst du mir vielleicht helfen, was für sie auszusuchen?“, fragt sie nun und Jascha seufzt. Er hält inne. Er überlegt wirklich, einfach wegzugehen und sie zu ignorieren; er will es, doch dann knickt er ein.

„Bringen wir es schnell hinter uns: Nach was genau suchst du?“, fragt er schließlich und hofft, dass er es nicht bereuen wird. Ein einziger dummer Spruch, oder ein Kommentar zu seinem Job und er lässt sie einfach stehen – garantiert.

Sie grinst zufrieden, als hätte sie bekommen, was sie wollte und sagt: „Ich weiß noch nicht, was kannst du denn empfehlen?“

Was soll denn das nun? Wieder rollt er mit den Augen: „Das ist keine Cocktailbar: Willst du was für die Haut, für die Haare oder zum Baden?“

„Vielleicht etwas zum Baden“, antwortet das Mädchen dann und nimmt einige der Badebomben in die Hand. Sie dreht sie vorsichtig in ihren Fingern und betrachtet sie von allen Seiten. Sie sieht dabei beinahe süß aus, aber Jascha lässt sich nicht täuschen.

„Schäumend oder nicht schäumend?“, fragt er weiter.

„Schäumend!“, sagt sie dann und lächelt. „Darum geht es doch beim Baden, oder nicht?“

Was will sie hier beweisen? Wem will sie was vormachen?

„Welche Düfte mag sie? Pudrig, blumig, fruchtig oder herber?“, fragt er einfach weiter, um es schnell hinter sich zu bringen, und sieht sie direkt an.

Jetzt verändert sich ihr Gesicht. Ganz kurz – kaum bemerkbar – blitzt durch ihr aufgesetztes Lächeln ein Hauch Unsicherheit hindurch.

„Ich weiß nicht“, murmelt sie und wirkt beinahe nervös. Wieso reagiert sie so komisch? Was hat sie verstört?

„Lavendel ist beliebt: Wenn du dir also nicht sicher bist, solltest du einfach was mit Lavendel nehmen“, sagt Jascha nun und will ihr damit helfen. Er kann nicht erklären wieso, aber in diesem kurzen Moment, in dem ihr Lächeln sich verändert, wirkt sie viel echter als davor.

Jascha nimmt die Badebombe mit dem Lavendel und gibt sie in eine der Papiertüten. Jetzt streckt er sie ihr entgegen und mustert dabei den Ausdruck auf ihrem Gesicht. Sie wirkt überrascht – doch worüber?

„Jetzt hast du alles – oder“, sagt er dann, um diesen merkwürdigen Moment zu beenden, und will gerade gehen, doch sie stoppt ihn.

„Warum magst du mich nicht?“, fragt sie plötzlich und Jascha hält inne. Warum er sie nicht mag? Was soll diese Frage? Was will sie damit bezwecken?

Er sieht sie verwirrt an und überlegt, was er antworten soll. Was will sie überhaupt von ihm hören? Will sie einfach nur Bestätigung? Geht es ihr die ganze Zeit bloß darum? Ist sie eine von diesen Menschen, die krampfhaft von jedem gemocht werden müssen, um sich gut zu fühlen? Wie erbärmlich.

„Ich mag dich nicht nicht – wir sind nur einfach keine Freunde“, ist alles, was Jascha antwortet und mehr wird er dazu nicht sagen. Er sieht keinen Grund, warum er ihr die Bestätigung geben soll, die sie so verzweifelt sucht. Sie sind keine Freunde und werden es auch nie sein, also hat sie es damit hoffentlich kapiert. Sie soll ihn einfach nur in Ruhe lassen und sich jemand anderen suchen, den sie nerven kann.

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„Das war eine gute erste Sitzung, Jascha. Wir sehen uns in zwei Wochen.“

Jascha nimmt seine Jacke und verschwindet ohne ein weiteres Wort durch die dunkle Holztüre in den Flur und dann zum Aufzug hinunter in den Hof. Gute erste Sitzung – am Arsch! Jascha ist wütend und genervt. Er hasst die Therapie – sowohl die hier, als auch die früher in Hannover. Er weiß, dass er nicht drum herumkommt, und er weiß, dass sie nötig ist, um sein Ziel zu erreichen – doch er hasst es dennoch.

Am Weg durch den Hof kickt Jascha die Kiesel am Asphalt und wird dabei immer langsamer, bis er schließlich stehenbleibt. Er seufzt, steckt die Hände in die Jackentaschen und blickt hoch in die Sonne, die immer mal wieder durch die Wolken hindurch zwinkert.

Fighting of the past

My demon

Tell anotherm lie

another

Wieso denkt er jetzt wieder an diesen Song? Lost My Head von Domenic Haynes. Er hat ihn heute Morgen schon gehört. Normalerweise hört Jascha sowas nicht – sowas Ruhiges –, doch hin und wieder ... an Tagen wie heute ... da passt es einfach. Es tut irgendwie weh, doch es tut genau richtig weh. Ist das so, wie seine alte Therapeutin immer sagte? Dass Jascha Schmerz viel besser kennt als Wohlgefühl? Dass er danach sucht, um sich sicher zu fühlen? Und wenn es so ist?

You let me down

I broke myself to pieces

everyday I stray from healing

I kept you 'round

Er geht weiter.

„Na mein Schatz – wie lief es?“, fragt Jaschas Mutter vorsichtig, als er zu ihr in den dunkelblauen VW Passat steigt. Sie klingt so erwartungsvoll und zuversichtlich, das will er ihr nicht verderben.

„Gut.“

„Das macht mich froh“, sagt sie nun und ihre Augen strahlen. „Glaubst du, wird dir die neue Therapeutin hier besser gefallen, als Frau Doktor Musek?“

„Gleich, denke ich.“

Seine Mama nickt und Jascha schnallt sich an.

Seine Mutter bemüht sich – sehr sogar – und das weiß er. Sie tut einfach alles, um ihm zu helfen, doch manchmal fühlt sich das wie ein Eiertanz an. Je mehr sie sich um ihn sorgt und ihn bemuttert, umso kaputter fühlt er sich. Wenn mit ihm alles stimmen würde, wenn wer er ist, normal wäre, dann hätte sie doch keinen Grund, sich so zu sorgen – oder?

Jascha ist dankbar, denn so gibt es wenigstens einen Menschen auf der Welt, der will, dass es ihm gut geht. Und dennoch ... Er muss wohl das undankbarste Arschloch auf Erden sein, dass ihm ihre wohlwollende Art trotzdem auf die Nerven geht.

„Wie wäre es, wenn wir uns heute am Abend Pizza bestellen – hättest du Lust?“

„Klar.“

Jup – ein riesiges Arschloch. Er weiß es und dennoch kann er die Verkrampfung in seiner Brust nicht stoppen, die ihm sagt, er muss sofort aus dem fahrenden Auto springen und zu Fuß nach Hause laufen, weil er ihr liebevolles Lächeln nicht erträgt. Irgendwo tief in seinem pechschwarzen Herzen weiß er wohl, dass sie ihn nur liebt, weil sie muss – weil er ihr Kind ist.

„Ist alles in Ordnung? Du siehst genervt aus.“

„Alles gut – ich hab' bloß Migräne.“

Jascha weiß ganz genau, wie viel sie seinetwegen ertragen musste, wie viel sie für ihn geopfert hat. Sie hält es ihm nie vor – nicht ein einziges Mal – doch er spürt es dennoch. Wäre er nicht hier, dann könnte sie ein zufriedenes Leben in Hannover leben, sie hätte noch Kontakt zu ihren Eltern, würde jede Woche ihre Freunde sehen und ihren kleinen Stadtgarten mit dem Gemüsebeet genießen. Stattdessen sitzt sie nun in Wien in einer Dachgeschosswohnung fest.

Seine Mutter behauptet zwar immer, der Grund für ihren Umzug wäre ihr tollesJobangebot gewesen, doch Jascha weiß genau, dass das nicht stimmt. Sie hat es wegen ihm getan – nein, für ihn – und der Jobwechsel war nur eine zufällige passende Gelegenheit. Wahrscheinlich verdient seine Mutter jetzt sogar weniger als noch in Hannover. Sie möchte es nicht zugeben, doch das muss sie auch nicht. Er weiß es ohnehin.

„Ich hab' dich lieb – ich hoffe, das weißt du“, sagt seine Mutter nun mit leiser, weicher Stimme und das gibt Jascha den Rest.

Sofort zieht sich sein Herz zusammen und lässt seinen Hals zuschnüren. Er spürt das Kribbeln in seiner Nase, das er so hasst, und lehnt seinen Kopf gegen die Beifahrertür. Er streicht sich die roten Haarsträhnen über die Augen und verschränkt die Arme. Jascha atmet ein und atmet aus, bis das Kribbeln endlich aufhört.

„Ja, ich weiß.“

6

Irgendwas ist heute anders. Es ist nicht ungewöhnlich, dass er mit niemandem spricht, dass er jeglichen Kontakt mit den KlassenkameradInnen meidet, aber heute ist es mehr als das. Er wirkt angespannt, unruhig und abgelenkt. Außer Sophia scheint das niemanden zu interessieren oder gar zu beunruhigen, nicht einmal die LehrerInnen achten auf ihn. Er sitzt während des Unterrichts einfach nur da und dreht seinen Bleistift zwischen den Fingern, immer und immer wieder.

„Langweilt dich mein Unterricht – Jascha?“

Sophia schreckt aus ihren Gedanken hoch und richtet ihren Blick zurück nach vorn. Professor Holzböck hat sich mittlerweile mit verschränkten Armen und einem provokanten Lächeln an die Vorderseite des Lehrerpults gelehnt und nimmt ihn eindringlich ins Visier. Sofort ist der Klassenraum totenstill und keiner wagt es, zu sprechen oder gar zu atmen. Alle blicken angespannt zwischen ihm und dem Lehrer hin und her und warten auf eine Reaktion, doch er sieht bloß unbeeindruckt von seinem Stift hoch und zuckt wortlos die Schultern.

„Tatsächlich“, lacht Holzböck und seine Augenbrauen schnellen überrascht hoch, was die Brille auf seiner gekräuselten Nase hochrutschen lässt. Sophias Puls verdoppelt sich.

„Wer es sich leisten kann, sogelassen zu sein, muss wohl bereits alles wissen, was im Unterricht besprochen wird – oder was denken die anderen darüber“, die Stimme des Lehrers hebt sich und bekommt einen bedrohlichen Unterton, als er nun durch die Klasse blickt. Keiner wagt es, zu sprechen.

„Na dann lass uns mal hören – Jascha – wie wird discere im Indikativ Plusquamperfekt konjugiert“, fragt Holzböck höhnisch, doch er starrt bloß zurück und schweigt.

„Nichts? Wie sieht es mit dem Konjunktiv Präsens aus?“

Wieder schweigt er und Sophia kann sehen, wie sich seine Augenbrauen immer tiefer ziehen und seine Schultern verkrampfen.

Jetzt lacht Holzböck: „Vielleicht liegt es ja am Wort – immerhin bedeutet discere lernen. Womöglich fällt es dir mit dormire, dem Wort für schlafen, leichter? Wie lautet denn da der Konjunktiv Präsens?“

Auch jetzt noch schweigt er und dann spannt sich seine Hand so fest um den Bleistift darin, dass dieser in einem leisen Knacksen zerbricht. Sofort hört man überraschte Stimmen und Gemurmel und selbst Holzböck hält kurz inne, doch dann lacht er wieder und zieht seinen breiten Mund zu einem provokanten Lächeln auseinander.

„Ojemine, Jascha ist wohl schlecht gelaunt. Ich wäre auch wütend, wenn ich nicht einmal die einfachsten Lateinvokabeln konjugieren könnte“, sagt Holzböck und dreht sich unbeeindruckt zurück an die Tafel. „Vielleicht sollte dir das zu denken geben – Jascha. Einmal sitzen bleiben und deswegen sogar die Stadt verlassen sollte doch genügen, um sich endlich etwas mehr um gute Noten zu bemühen – findest du nicht?“

Sophia hält den Atem an und blickt erneut zu ihm nach hinten. Sein Blick ist nach unten auf den Tisch gerichtet und seine Finger schieben die Holzsplitter und Grafitreste seines gebrochenen Bleistiftes umher. Sein Körper ist weiterhin angespannt, doch seine Augen wirken finster und trüb.

„Das war voll heftig.“

„Ist er verrückt?“

„Er macht mir echt Angst.“

Sophia hört all die leisen Stimmen, die böse Tuscheln, doch der Unterricht geht einfach weiter.

~

Sobald es zur Pause läutet und Professor Holzböck in seinen langen, schlaksigen Schritten aus der Klasse verschwindet, stupst Sophia Leana an der Schulter an. Sie deutet mit dem Kopf hinüber zum Tisch links hinten in der Reihe und geht dann darauf zu.

„Was machst du!“, zischt Leana leise und versucht, sie zurückhalten, doch Sophia ist entschlossen.

Er sitzt immer noch wortlos an seinem Platz und starrt hinaus aus dem Fenster. Vielleicht sollte Sophia das als Zeichen sehen, vielleicht will er seine Ruhe, doch sie kann einfach nicht anders. Sie bleibt direkt vor seinem Tisch stehen und seufzt. Obwohl er sie nicht ansieht, kann sie erkennen, wie sich daraufhin sein Kiefermuskel verkrampft und sich seine Hände erneut zu Fäusten ballen. Kurz überlegt sie wieder zu gehen, doch dann sagt sie:

„Er ist ein Mistkerl.“

Ihr Herz pocht vor Nervosität, doch von ihm kommt keine Reaktion. Er bleibt weiter abgewendet, doch Sophia bildet sich ein, ein kleines Zucken an seinem Mundwinkel zu erkennen, also spricht sie weiter:

„Das ist jetzt das dritte Jahr, in dem wir ihn als Lateinlehrer haben und er war schon immer so ein Arschloch.“

Mittlerweile hat sich auch Leana zu ihnen gestellt, doch sie hält Abstand und wirkt unentschlossen.

„Er ist nicht einmal ein guter Lehrer – ich weiß bis heute nicht, was der Unterschied zwischen Konjugation und Deklination sein soll“, eine kleine Lüge, „und ich wette, keiner in der Klasse hätte die beiden Wörter konjugieren können.“

„Ja – er sollte nicht Holzböck, sondern Hurenböck heißen“, lacht plötzlich Thomas hinter ihnen und mischt sich dazu. Er will immer überall mitreden, aber solang er Sophia zustimmt, soll ihr das Recht sein.

„Niemand kann ihn leiden“, sagt nun endlich auch Leana was dazu und Sophia lächelt zufrieden.

„Ich wette, der konjugiert sogar beim Dirtytalk mit seiner Frau“, sagt dann wieder Thomas und lacht mit seiner typischen lauten Stimme los, woraufhin auch Stefan, Mo, Patrizia und dann die Mädchen aus der vorderen Reihe kichern. Jetzt macht Zamil stöhnende Geräusche und wirft dabei irgendwelche willkürlichen Lateinvokabeln ein, woraufhin die anderen noch mehr kreischen, als wären sie Affen in einem Zoo. Der Fokus verlegt sich weg von der hinteren Reihe und zurück nach vorn zu den anderen, die wild herumalbern, doch das ist okay, denn Sophia weiß bereits, dass er es hasst, wenn ihn alle anstarren.

„Was Holzböck zu dir gesagt hat, war einfach nur fies. Ignorier' seine Sprüche, er hat keine Ahnung“, sagt Sophia dann noch leise, sodass die anderen sich nicht wieder zu ihnen drehen. „Wahrscheinlich sucht er sich in der nächsten Stunde ohnehin jemand Neuen, über den er sich beschweren kann.“

Immer noch schweigt er und bleibt abgewendet, doch mittlerweile hat sich seine Faust gelöst und auch sein Kiefer gelockert – das genügt Sophia. Sie ist zufrieden und lässt ihn in Ruhe.

6

Jascha starrt hinab auf seine Finger, in denen er den Bleistift dreht. Er liest in Gedanken die Buchstaben, die auf seinen Knöcheln stehen: F-U-C-K. Und dann die Buchstaben auf der anderen Hand: T-H-E-M. Er zieht die schwarze Tinte auf seiner Haut mit den Augen nach, immer und immer wieder. An Tagen wie diesen ist dieses Ritualdas Einzige, was ihn beruhigt.

„Langweilt dich mein Unterricht – Jascha“, hört Jascha die höhnische Stimme des Lehrers, die seine Gedanken durchbricht. Nicht heute – knurrt Jascha in Gedanken und blickt in das provokante Grinsen des Lehrers, wie dieser mit seiner großen, dünnen Gestalt an der Tischplatte lehnt – er sieht wie Slenderman aus. Wahrscheinlich fühlt er sich gerade so richtig überlegen, doch das beeindruckt Jascha nicht. Ohne ein Wort zuckt er also mit den Schultern.

„Tatsächlich“, lacht der Lehrer daraufhin und seine Augenbrauen heben sich. Die Art, wie sich dabei auch seine Nase kräuselt und seine Oberlippe spannt, lässt Slenderman wie eine Ratte mit Brille aussehen. Widerlicher Typ.

„Wer es sich leisten kann, sogelassen zu sein, muss wohl bereits alles wissen, was im Unterricht besprochen wird – oder was denken die anderen darüber“, seine Stimme hebt sich und dann lässt er seinen Blick über die Klasse schweifen, als ob er nach Bestätigung sucht. Wirklich? Er bezieht seine ganze Stärke aus der Unsicherheit von ein paar SchülerInnen? Wie armselig. Auch das beeindruckt Jascha nicht, also schweigt er weiter.

„Na dann lass uns mal hören – Jascha – wie wird discere im Indikativ Plusquamperfekt konjugiert“, fragt der Lehrer höhnisch, doch Jascha starrt ihn einfach an. Try me, du Wichser – denkt er dabei.

„Nichts? Wie sieht es mit dem Konjunktiv Präsens aus?“

Wieder schweigt Jascha und er kann spüren, wie ihn dabei alle anstarren. Es sollte ihm egal sein – es ist ihm egal – doch es bringt dennoch seinen Puls zum Rasen.

„Vielleicht liegt es ja am Wort – immerhin bedeutet discere lernen. Womöglich fällt es dir mit dormire, dem Wort für schlafen, leichter? Wie lautet denn da der Konjunktiv Präsens?“

Wie lange will er noch auf Jascha herumhacken? Hat er ihn nicht schon genug vor allen bloßgestellt? Reicht das nicht? Jaschas Fäuste spannen sich so fest um den Stift in seiner Hand, dass dieser plötzlich nachgibt und darin zerbricht. Das Knacksen und das kurze Stechen, als sich die Splitter in seine Haut drücken, geben Jascha einen Hauch von Genugtuung. Das ist eine Warnung. Lass mich gefälligst in Ruhe.

Kurz sieht es so aus, als würde der Lehrer tatsächlich aufhören, als würde er verstehen, dass Jascha genug hat, doch natürlich kommt es anders:

„Ojemine, Jascha ist wohl schlecht gelaunt. Ich wäre auch wütend, wenn ich nicht einmal die einfachsten Lateinvokabeln konjugieren könnte“, sagt der Lehrer und dreht sich zurück zur Tafel. „Vielleicht sollte dir das zu denken geben – Jascha. Einmal sitzen bleiben und deswegen sogar die Stadt verlassen sollte doch genügen, um sich endlich etwas mehr um gute Noten zu bemühen – findest du nicht?“

Jaschas Herz stockt. Der Typ glaubt also, er hat Hannover verlassen, weil er sitzen geblieben ist? Glaubt er tatsächlich, dass das der Grund war? Jascha sollte vielleicht froh sein, denn dieser Grund passt ihm weitaus mehr als die Wahrheit. Wenn alle LehrerInnen glauben, dass er in Hannover bloß zu faul zum Lernen war, dann beruhigt das Jascha. Es ist besser so und dennoch breitet sich in seiner Brust wieder dieser höllische Druck aus, ein Krampfen, welches ihm sagt, dass sich niemals etwas ändern wird.

„Das war voll heftig.“

„Ist er verrückt?“

„Er macht mir echt Angst.“

Er kann sie hören. Jascha hört jede der Stimmen, die leise über ihn spottet, hört diese und noch mehr. Obwohl es ihm egal sein sollte, tut es weh. Noch immer.

~

Sobald es zur Pause läutet und Slenderman endlich wieder aus dem Klassenzimmer verschwindet, atmet Jascha innerlich erleichtert auf. Er weiß genau, dass dies nur eine kurze Atempause vor dem nächsten Schlag ist, doch wenigstens hat er die heutige Lateinstunde überstanden.

Jascha dreht seinen Kopf zum Fenster und starrt hinaus auf den roten Belag des Sportplatzes. Er überlegt, nach draußen zu gehen und Luft zu schnappen, doch sein ganzer Körper ist verkrampft. Wenn er jetzt aufsteht, starren ihn alle an; entweder mit Angst, Ekel oder Mitleid im Gesicht und das erträgt er gerade nicht. Er entscheidet sich dazu, auf seinem Platz zu bleiben, doch bereut es sofort wieder, als plötzlich sie zu seinem Tisch geschlichen kommt:

„Er ist ein Mistkerl.“

Ihre Stimme klingt merkwürdig, als hätte sie Angst, mit ihm zu sprechen, doch wieso tut sie es dann? Kann sie ihn nicht einfach in Ruhe lassen? Jascha ignoriert ihren Versuch und starrt weiter aus dem Fenster.

„Das ist jetzt das dritte Jahr, in dem wir ihn als Lateinlehrer haben und er war schon immer so ein Arschloch.“

Aus dem Augenwinkel erkennt Jascha, wie sich immer mehr der KlassenkameradInnen zu ihnen umdrehen und wird nervös. Bitte nicht, er hat doch gerade erst Slenderman überstanden.

„Er ist nicht einmal ein guter Lehrer – ich weiß bis heute nicht, was der Unterschied zwischen Konjugation und Deklination sein soll und ich wette, keiner in der Klasse hätte die beiden Wörter konjugieren können.“

„Ja – er sollte nicht Holzböck, sondern Hurenböck heißen“, dieses Mal ist es dieser eine Junge – Thomas – der sich mit seinem idiotischen Kommentar einmischt und scheinbar halten ihn alle in der Klasse für superlustig.

„Niemand kann ihn leiden“, sagt dann irgendein Mädchen.

„Ich wette, der konjugiert sogar beim Dirtytalk mit seiner Frau“, spricht dann wieder dieser Thomas und dann wird es völlig absurd, als irgendein Junge zu stöhnen beginnt und alle in der Klasse loslachen. Was soll dieser Bullshit? Finden sie das wirklich lustig? Ist es auch superlustig, wie Slenderman Jascha vor gesamter Klasse gedemütigt hat? Die Lachen der anderen widern ihn an, doch wenigstens haben sie sich dadurch wieder von ihm abgewandt.

„Was Holzböck zu dir gesagt hat, war einfach nur fies. Ignorier' seine Sprüche, er hat keine Ahnung“, taucht dann wieder die Stimme von ihr auf. „Wahrscheinlich sucht er sich in der nächsten Stunde ohnehin jemand Neuen, über den er sich beschweren kann.“

Aus irgendeinem Grund überraschen ihn ihre Worte. Sie ist die Einzige, die nicht über diese dummen Witze lacht. Jascha überlegt kurz, ob er antworten soll, doch er entscheidet sich dagegen. Warum sollte er? Was würde das für einen Unterschied machen? Dann geht sie endlich wieder und er atmet auf.

7

Sophia schlägt die Augen auf und vertreibt mit ihren langen Wimpern die Dunkelheit um sich herum. Sie ist wach, jetzt ist sie es.

In einem langen, bebenden Atemzug beruhigt sie ihren rasenden Puls und wischt mit dem Handrücken über ihre überschwemmten Wangen. Auch ihr Kopfkissen hat einen salznassen Abdruck bekommen, doch sie dreht es einfach um und damit ist es ausgelöscht. Es ist nicht ungewöhnlich für sie, so aufzuwachen, oder so zu träumen.

Sophia ist einer dieser Menschen, die sich morgens immer an ihre Träume erinnern können. Sobald sie aufwacht, tauchen die Erinnerungen zurück in ihren Kopf und dort bleiben sie oft Stunden, Tage oder sogar Monate bestehen. Nicht viele Menschen können das, doch für Sophia ist es mehr ein Fluch als ein Segen. Obwohl die Inhalte ihrer Träume meist komplett absurd und im Nachhinein nur noch schwer zu erklären sind, ist das, was sie dabei fühlt, echt und benebelt ihre Gedanken.