Benito - Hendrik Otremba - E-Book

Benito E-Book

Hendrik Otremba

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Beschreibung

1995 fährt der elfjährige Cherubim mit seiner Pfadfindergruppe auf eine dreiwöchige Kanufahrt einen westdeutschen Fluss entlang. Sie alle tragen klingende Fahrtennamen wie Kippe, Maus und Fliegentöter. Ihren Anführer, ein paar Jahre älter als sie, nennen sie Häuptling. Je weiter der Fluss sie trägt, desto verbundener fühlt sich Cherubim den anderen, desto mehr vergisst er sein Zuhause. Dort warten ohnehin nur seine frisch getrennten Eltern auf ihn, die Mutter überfordert, der Vater depressiv. Für den blinden Benito, mit dem er sich eines der Boote teilt, entwickelt er ein zunehmend obsessives Interesse. Dann geschieht ein schreckliches Unglück: Durch einen Jagdunfall wird der Anführer getötet, woraufhin die Jungen bald dem Wahnsinn nahe die Flussfahrt ohne ihn fortsetzen. Immer tiefer geraten sie nun in eine verstörende Welt. Das kindliche Abenteuer wird zu einem surrealen Albtraum. Benito erfährt dabei eine radikale Wandlung: Zunehmend ergeht der zu Beginn noch in sich gekehrte Junge sich in immer zornigeren Monologen, die den Irrweg der Zivilisation anprangern. Aus dem stillen Jungen wird ein fatalistischer Prophet, ein blinder, apokalyptischer Seher. Drei Jahrzehnte später ist aus Cherubim ein bekannter Schriftsteller geworden, der einer rätselhaften Einladung folgend nach Bonn kommt. Am Tag des Empfangs im bekannten Hotel Paradies, das von einer Vielzahl prominenter Menschen aus Politik, Wirtschaft und dem Showgeschäft besucht wird, stürmt ein maskierter Mann den Saal Eden, schließt die 300 Gäste darin ein und schießt minutenlang wild um sich. Wie durch ein Wunder kommt niemand zu Schaden. Cherubim begreift schnell, dass das Attentat nur vorgetäuscht und mit viel Pomp inszeniert ist. Und hat nicht Benito sein linkes Bein genauso nachgezogen wie der Attentäter? In der Folge begibt er sich auf eine Spurensuche durch das Ruhrgebiet, reflektiert die Mythen der alten BRD und muss immer mehr feststellen, dass das öffentlichkeitswirksame Rätsel, dem er in Bonn beiwohnte, eng verwoben ist mit den Ereignissen seiner Kindheit. So wird die Suche nach der Wahrheit auch eine Suche nach seiner eigenen Vergangenheit. In eindringlicher Sprache erforscht Hendrik Otremba, was uns über unsere eigenen Grenzen treibt. Abenteuererzählung und Künstlerroman in einem entwirft Benito im dichten Wechsel zwischen zwei Zeit- und Erzählebenen ein Kaleidoskop aus Zorn und Intellekt, Aktion und Reflexion, Terror und Kunst.

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Benito

(Oder:)

Hendrik Otremba

Benito

Roman

MÄRZ

Für meine Mutter.

Inhalt

Eins

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Kapitel V

Zwei

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Kapitel V

Kapitel VI

Drei

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Kapitel V

Kapitel VI

Kapitel VII

Kapitel VIII

Vier

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Kapitel V

Kapitel VI

Kapitel VII

Kapitel VIII

Kapitel IX

Kapitel X

Fünf

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Kapitel V

Kapitel VI

Kapitel VII

Kapitel VIII

Kapitel IX

Kapitel X

Kapitel XI

Kapitel XII

Sechs

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Sieben

Kapitel I

Literaturnachweise

Es muss eine Marienkäferplage gegeben haben. Jetzt sind alle tot. Die Insekten liegen auf dem kalten, staubigen Marmor. Ihr Rot ist ins Orange verblasst. Auf dem Rücken oder bäuchlings liegen sie. Einer der Leichen steht ein Flügel ab, als habe sie es im Moment des Todes, als Käfer noch, nicht mehr geschafft, ihn einzuklappen. Es liegen da bestimmt 20 Leichen auf dem Fensterbrett, die nun mehr Gegenstände sind, oder keine Gegenstände, nein, vertrocknete Knospen eines Blumenstraußes, der in einer leeren Wohnung zurückgelassen wurde. Hier vom Sessel aus betrachtet, ganz nah an der Fensterscheibe, knapp über den Dächern der Stadt und in Vogelperspektive auf das offene Käfergrab, wirkt das Arrangement des Insektenfriedhofs wie ein Stillleben. Die Sonne muss bereits tief in meinem Rücken stehen, denn mit einem Mal reflektieren ihre Strahlen in den Fensterscheiben des gegenüberliegenden Hauses. Sie tauchen die kleine Dachgeschosswohnung in ein Licht zweiter Hand, so schwach, dass es keine Wärme mehr transportiert. Die Käfer auf der Fensterbank werfen lange Schatten.

Dann tut sich etwas. Ja, einer der Käfer lebt noch. Keiner derer, die da im Staub liegen, bei denen ist es endgültig. Nein, er ist neu auf dieser Bühne, bewegt sich, kommt von irgendwo weiter links. Ein Wanderer, jemand, der auf einer Reise war und nun in sein Dorf zurückkehrt. Dünn sieht er aus, ganz trocken und ausgemergelt. Panisch läuft der Käfer durch das leblose Feld von Körper zu Körper. Er findet seine Angehörigen alle in einem Stadium des Verfalls, das ihn ihr Ableben erkennen lässt. Was er sieht, das ängstigt ihn. Kurz versucht er noch, einen Vorhang zuzuziehen, die Augen davor zu verschließen, und für eine Weile bleibt er regungslos stehen. Bis er es nicht mehr leugnen kann.

Dann geht er seinen schwersten Gang. Bei jedem der vertrockneten Körper hält er inne, nur kurz, als wolle er sie wachstupsen, bewegt sich sachte auf sie zu. Von oben betrachtet sieht er dabei aus wie ein Wagen, der in eine Parklücke einfährt. Der Marienkäfer hält vor jedem der Toten für einen Moment an, in Trauer, scheint in sich zu gehen, um mit gesenktem Haupt eine kurze Andacht mit sich zu sprechen, ja, in wirbelnden Gedanken ein paar letzte Worte an ihre schwindenden Geister zu richten. Dann macht er an der eigenen Mittelachse gespiegelt kehrt, rückwärts, als parke er aus, um sich zitternd zum nächsten Körper zu bewegen. Was hat euch nur dahingerafft? Von Mal zu Mal wird er langsamer, scheint zu resignieren. Als drehe er den traurigen Film zurück, um die Szene, in der er die Käfer ausgelöscht findet, immer wieder aufs Neue zu durchleben. Immer langsamer, in dieser Vergewisserung eingesperrt. Langsam läuft er zum nächsten Körper. Wo kommt der einsame Wanderer her? Auch seine Flügel sind blass und ohne Kontrast. Wo war er, als die anderen starben? Das Alter scheint ihm verwaschen. Was wird er tun, wenn er die Toten verabschiedet hat?

Vom Innenhof rauscht der riesige Baum, der schon in die Mauern hineingeboren wurde. Die Häuser, die seine Wurzeln säumen, stehen da länger als er. Alles schnellt vorbei und geht. Als die Sonne hinter dem Haus verschwindet, erlischt auch die Reflexion. Mit einem Mal wird es Nacht. Das Totendorf auf dem staubigen Marmor verschwindet, während ein dichter Nebel von allem Besitz ergreift. Es ist kalt in der Wohnung. Wieder denke ich an Benito.

… mittlerweile davon aus, dass es sich bei dem Vorfall im bekannten Bonner Hotel Paradies um einen Terroranschlag handelt. Zur Stunde ist das Gebiet um das ehemalige Regierungsviertel in den Bereichen Hochkreuz, Museumsmeile und Rheinaue weiträumig abgeriegelt, Polizeihubschrauber kreisen über der Stadt. Presseberichten ist zu entnehmen, der oder die Täter, deren Identität gegenwärtig noch unbekannt ist, seien am frühen Nachmittag während des alljährlichen Empfangs des Deutschen Wirtschaftskomitees in den Veranstaltungsort eingedrungen und hätten dort zunächst mehrere Geiseln genommen. Augenzeugen zufolge seien über eine halbe Stunde lang Schüsse und Explosionen …

Eins

Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.

(Walter Benjamin, 1940)

The protagonist is thrown into the water to sink or swim.

So he learns something about the water.

(William S. Burroughs, 1987)

I.

Doch, ich muss mit der Anreise beginnen. Dort bereits hat es begonnen, oder nicht begonnen, vielmehr: sich fortgesetzt, dort jedenfalls ist etwas wieder aufgekommen, um mich herum aufgezogen, eine dunkle Aura, oder passender: ein schwarzer Nebel. Etwas, das, mir unsichtbar, immer dagewesen sein mag, sich aber nun erst offenbarte, schleichend und unausweichlich. Nur was es war, was es ist, das kann ich nicht sagen, nicht benennen: ein Rätsel, die Zeit, oder: meine Geschichte, vielleicht auch: die Geschichte der Schwarzen Steine. Sie müssen doch miteinander zusammenhängen, die Orte, die Ereignisse, die Menschen. Wenn ich es nur sagen könnte, wenn ich es nur wüsste. Doch, da gibt es einen Zusammenhang, muss es einen Zusammenhang geben. Sonst wäre ich jetzt nicht hier. Sonst machte das alles keinen Sinn. Sinn. Wie auch immer …

Da stand er nun, Cherubim, abseits auf einer kleinen Brücke, die gerade so breit war, dass ein Mensch über das schmale Wehr laufen konnte, welches hier über das Wasser nahe der Quelle des Flusses führte. Von den anderen Jungen ein ganzes Stück weit entfernt starrte er auf die spiegelnde Oberfläche, die etwa drei Meter unter ihm lag. Er hatte Benito zu den Bäumen gebracht und war dann ein Stück weitergegangen, um nach unten zu gucken. Die gesalzenen Pistazien hatte er schon auf der Zugfahrt verzehrt, kurz bevor sie am Fluss angekommen waren. Sie waren getrennt von den Booten zum Startpunkt der Flussfahrt gereist, die Jungen im Zug und die Boote auf dem Anhänger vom alten Kellermeister, zum Ursprung ihrer Reise, von dem aus der Strom sie die nächsten Wochen gen Süden treiben würde. Im Zugabteil waren Cherubim die Unterseiten der Schenkel auf den roten Kunstlederbezügen festgeklebt. Es war Sommer und die schwitzende Haut haftete hier und da, als wollten die Oberflächen die Körper gefangen nehmen. So empfand er bald jede Bewegung als Kraftakt, als Kampf gegen die Umwelt. Während der Zugfahrt noch, im klappernden und heißen Abteil, waren sie aufgestanden, um die Affen zu schultern und zu schauen, ob sie nicht einer alten Frau oder einem alten Mann beim Austeigen würden behilflich sein können. Als sie dann jedoch schließlich an dem verlassenen Bahnhof angekommen waren, von dem aus es nur noch ein kleiner Fußmarsch zum Treffpunkt mit dem alten Kellermeister sein sollte, der vermutlich schon mit den Booten wartete, hatte niemand auf dem Gang gestanden, dem sie hätten helfen können.

Zwei Stunden später ließ er nun Pistazienschale um Pistazienschale ins Wasser fallen und hegte bei jeder einzelnen die Hoffnung, dass sie nicht unterging, wobei etwa jede zweite Schale dem Wunsch entgegen auf den modrigen Wassergrund herabsank. Trotz der Höhe meinte Cherubim, dann kleine Luftbläschen heraufsteigen zu sehen. Die andere Hälfte blieb auf dem wabernden Spiegel der Wasseroberfläche liegen, der seinen im eigenen Schatten verdunkelten Körper verformte und auch die sachte im Wind wiegenden Bäume hinter ihm in eine unwirkliche, nervöse und unnatürliche Bewegung übergab. Auf diesem Bild trieben jene der Pistazienschalen, die nicht untergingen, als kleine Boote dahin, folgten der Strömung und verließen schließlich das unscharfe Schattenbild. Es hätte den Jungen nicht gewundert, wären sie zu wirklichen Booten geworden. Traf eine Schale auf die Wasseroberfläche, ganz gleich ob sie unterging oder sich zur unbemannten Flussfahrt aufmachte, entstanden um den Punkt des Aufschlags in zarten Wellen wachsende Kreise, die einen sich ebenso vergrößernden Schattenring auf den Grund des Flusses warfen. Weiter dehnten sich die Kreise aus, eine nachträglich entstehende Zielscheibe, die dem Schützen die Treffchance erhöhen wollte, sich auffächerte, aufplusterte, um auch ja getroffen zu werden, mitten ins Herz. Während Wellen und Schatten nun also schnell und zunächst gleichmäßig größer wurden, veränderten sie bald schon merklich die Form, verirrten sich immer mehr ineinander und bildeten bald ein schwindendes und in der unvermeidlichen Auflösung doch wucherndes Muster. Als schwebte ein ungleichmäßig wachsendes Mandala direkt auf ihn zu, unsichtbar und doch in räumlicher Bewegung. Wie die Kreise, die Cherubims Vater mit dem Qualm seiner Zigaretten zu spucken gepflegt hatte, als er noch mit feuchten Augen im Keller gesessen war. Der Junge war fassungslos, dass etwas, das nur als Bewegung der transparenten Wasseroberfläche existierte, einen Schatten, ja, dass Wellen überhaupt Schatten werfen konnten.

Was Cherubim so erzeugte, umfasste ihn. Er tauchte ein in einen Tunnel nicht irdischer Bedingungen, als entstünde ein Portal zwischen ihm, oben auf der Brücke, und dem Wasser da unten. Immer mehr Portale öffnete Cherubim sich auf diese Art, um dort bleiben zu können, wo nichts war, bis eine ganze Fregatte kleiner Pistazienboote den Fluss hinabfuhr, die gesunkenen Schiffchen am Grund unter sich zurücklassend. Immer wieder, immer aufs Neue, als Ausdehnung eines Zustands des Verschwindens. Es überkam ihn ein wohliger Schauer. Als die Hosentasche nur noch Krümel gebar und lediglich ein dünner Salzfilm auf seinen Fingerkuppen zurückgeblieben war, zerfiel das Bild.

Aus der Ferne meinte Cherubim eine Stimme zu hören. Sie ertrank in den Geräuschen der Umwelt, während von rechts eine Kellerassel über das Geländer krabbelte, das seine Kinderhände fest umklammerten. Doch, Benito sagte seinen Namen. Kalt und hart. Sagte er ihn zum ersten Mal? Er stand in Cherubims Rücken, noch bei den Bäumen, den Hosenstall schließend, blass wie ein Geist, beherrscht von der Welt.

»Ich bin fertig.«

»Ich komme schon.«

In Italien war ich nicht mit dem Zug gefahren, hatte mich in den Wäldern des Apennins überwiegend zu Fuß fortbewegt, weswegen die Muskulatur meiner Waden nach den endlosen Wanderungen nun so stark ausgeprägt war, dass sie die Hosenbeine des Wollanzugs spannte, den ich nach einer unruhigen Nacht des kurzen Zwischenaufenthalts am Morgen in meiner Berliner Dachgeschosswohnung angezogen hatte. Keine 24 Stunden nach meiner Rückkehr aus den menschenleeren Wäldern südlich von San Marino, wo ich die letzten drei Jahre in einem selbstgewählten, temporären Exil verbracht hatte, saß ich auf dem Weg nach Bonn das erste Mal seit meiner Flucht wieder in einem Zugabteil. Es hatte mir gefehlt, das Zugfahren, denn auch, wenn meine Albträume häufig mit gewissen Ereignissen auf Bahnsteigen und in Waggons verbunden sind, Ereignisse, die ich nach dem Erwachen schon nicht mehr rekonstruieren kann und die mir immer weiter verblassen und überhaupt nur als leise Ahnung eines schwindenden Gefühls erscheinen, ist es mir doch der größte Genuss im Leben, bei voller Fahrt am Fenster zu sitzen und die Welt vorbeirauschen zu sehen. Doch etwas an dieser Reise war anders, nicht nur, weil ich mich, gerade erst wieder in Deutschland, noch in jener unsichtbaren Transitzone fühlte, die im Geiste entsteht, wenn man nach langem Exil in der Abgeschiedenheit die Zivilisation betritt, unsicher noch auf den Beinen, als seien es die ersten Stunden unter Menschen. Nein, es war die Unkenntnis des tatsächlichen Beweggrunds, der sich mir weiterhin nicht erschloss, wenn dieser verborgen liegende Anlass auch offensichtlich dazu geführt hatte, dass ich ein paar Wochen früher als geplant aus dem Apennin nach Deutschland zurückgekehrt war. Zu den konkreten Gründen, die mich bis in diesen Waggon geleitet hatten, kann ich nur sagen, oder vielmehr – hätte ich da im Zug sagen können –, dass ich einer nebulösen und für mich zu diesem Zeitpunkt noch nicht in ihrer Folgenschwere ersichtlichen Einladung nachkam, die mich in Italien mit der Post erreicht hatte, obwohl ich vor meiner Flucht noch gewisse Vorkehrungen getroffen hatte, Vertuschungen meines Verbleibs sozusagen, die nur der Verlegerin hätten erlauben sollen, mich dort zu erreichen. Auf mir unergründlichem Wege aber hatte es jemand geschafft, mich in Castellino in der Gemeinde Riolunato ausfindig zu machen, einem äußerst entlegenen Winkel, hatte mir dorthin ein paar rätselhafte Zeilen zugeschickt, mit der Einladung zum exklusiven Empfang des Deutschen Wirtschaftskomitees in Bonn und inklusive dreier Übernachtungen im Hotel Paradies, in dem der Empfang stattfinden würde. Auch die Fahrkarte für die Zugfahrt hatte da schon im Umschlag gesteckt, ebenso ein Flugticket Rom-Berlin. Jeden Augenblick erwartete ich nun also, dass ein Mensch in das kaum gefüllte Abteil springen und mich aufklären würde, was der wahre Grund sei, aus dem heraus ich mich in die ehemalige Bundeshauptstadt bewegte, was mich dort erwarten würde, wer das alles arrangiert hatte et cetera. Doch nichts dergleichen geschah. In Bonn war ich bald auf den Tag genau vor sechs Jahren schon einmal gewesen war, was die Zugfahrt einhüllte in ein beunruhigendes, vages Déjà-vu. Ich möchte aber ergänzen, dass der Befund, einer fremden Bestimmung ausgeliefert zu sein, da wohl noch außerhalb meines Bewusstseins gelegen haben muss, sollte sich mir dieser Umstand selbst, die Fremdgelenktheit meines geneigten Handelns nämlich, doch erst viel später lichten. Nun, und meine Neugier wird wohl auch eine Rolle dabei gespielt haben. Aber langsam, keine Hektik, die Pferde gehen bereits mit mir durch.

Sechs Jungen würden sie auf dem Fluss sein, außerdem ihr Anführer, der Häuptling, den sie auch so riefen. Sie, das waren also der Häuptling, älter und größer, ein junger Erwachsener, dann Kippe, Uğur, Maus, Fliegentöter, Benito und Cherubim. Sie sahen merkwürdig aus. Der Häuptling hatte den Eltern der Jungen angeraten, dass vor der großen Reise jedem von ihnen die Haare abrasiert werden sollten, damit sie auf der Fahrt keine Läuse bekämen. Es war ja davon auszugehen, dass sie die Haare nicht regelmäßig würden waschen können. Zudem standen sie alle so knapp vor der Pubertät, dass die Körper schnell zu riechen begannen und die Haare an der frischen Luft binnen eines Tages fettig wurden. Jedes Alter riecht eigentümlich, und hier war der unschuldige Duft der Kindheit bereits im Begriff zu verfliegen. Den Eltern war es egal, ob die Köpfe ihrer Nachkommen von Haaren bedeckt waren oder nicht. Sie einte lediglich, schnell kleinbeizugeben. Es einte sie vielleicht auch, es als Glück zu empfinden, nun drei Wochen lang für sich zu sein, einmal ohne die Kinder. Niemand also gab etwas auf die Frisuren, nicht einmal die Jungen selbst. Bis auf Uğur, der um die schwarz glänzende Pracht seines Hauptes trauerte und der auch keine Eltern hatte, welche das Schären hätten verweigern können. Er hatte Eltern, irgendwo, aber er sah sie nicht. Uğur lebte mit Benito in einem Kinderheim. Seine Eltern konnten nicht wissen, wie er heute aussah, sie waren ihm verschollen. Vielleicht hätten sie alles dafür gegeben, drei Wochen mit ihrem Sohn zu verbringen.

Als die Mutter Cherubim die Haare abrasiert hatte, mit einem von der Nachbarin geliehenen Gerät, war es ihm vorgekommen, als sei eine ganz Horde Ameisen über seinen Kopf gekrabbelt, auch das Geräusch, gleichzeitig ein Surren außen und als zweite Stimme ein dumpfes Brummen im Schädel. Er hatte davon rote Ohren bekommen. So sahen die Jungen nun aus wie eine Bande, oder wie Gefängnisinsassen, und als die Mutter ihm am Bahnhof über den Kopf gestrichen hatte, war er von einem Glücksgefühl übermannt worden, hatte die Schultern im Moment der Berührung hochgezogen, als wolle er ihr entwischen, wobei er sich aber doch ganz unweigerlich an sie geschmiegt hatte in diesem Augenblick. Cherubim hoffte noch immer, dass diese Regung den anderen Jungen verborgen geblieben war.

Sechs Jahre vor meiner zweiten Reise nach Bonn, in der zweiten Welle der großen Pandemie der 20er-Jahre und noch drei Jahre vor meiner Flucht aus Deutschland, hatte ich ebenfalls zunächst im Zug und dann im Taxi vom Hauptbahnhof aus in Richtung des ehemaligen Regierungsviertels gesessen, und bereits da war mir gerade der Bereich südlich des Rheins, der sich von Gronau bis Hochkreuz erstreckt, äußerst merkwürdig erschienen, wie der Modellbau eines Stadtteils, der nur entworfen worden war, um darin etwas Unfassbares geschehen zu lassen. Während meiner nächtlichen Spaziergänge durch das weit gestreckte Gebiet, das einmal das Zentrum der alten BRD repräsentiert hatte, war ich durch die menschenleere Gegend gestreift wie ein Taucher durch das verlassene Atlantis. Schon auf der Rückbank des Taxis war mir dieser Ort wie eine Kulisse vorgekommen. Vom Bahnhof aus führte mich die Fahrt zunächst ein kurzes Stück durch die Südstadt, dann ging es parallel zum Rhein an der Villa Hammerschmidt vorbei, das Taxi passierte das Palais Schaumburg, ich sah die riesige Adenauerbüste vor dem Bundeskanzleramt stehen. Dann ließen wir rechter Hand das Haus der Geschichte hinter uns, woraufhin erst der Lange Eugen auftauchte und kurz darauf, das ehemalige Abgeordneten-Hochhaus noch weit überragend, der Post Tower. Der alleinstehende Wolkenkratzer, dessen Bau 2000 das Ende einer Ära besiegelt und eine neue eingeläutet hatte, erstreckte sich in weitere massive Bauten der Post und Telekom, die sich mit den diversen hier ansässigen Bundesämtern und Forschungsinstituten abwechselten: Adenauerallee, Willy-Brandt-Allee, Helmut-Kohl-Allee. Westdeutsche Geschichte auf einer Länge von sechs Kilometern. Straßen, benannt nach Toten.

Ohne Zögern war ich auf Einladung des Bonner Literaturhauses nach Nordrhein-Westfalen gereist, bot die Lesung doch die Möglichkeit, im Hotel Paradies zu übernachten, das im ehemaligen Regierungsviertel im Grenzbereich von Hochkreuz und Bad Godesberg liegt, dem historischen Stadtteil, den ich Zeit meines Lebens noch nicht besucht hatte und in den das Taxi mich nun mit leicht überhöhter Geschwindigkeit hineintrug. Berlin war mir eng geworden damals, und so verhieß mir der kurze Ausflug neben der Befriedigung meines geschichtlichen Interesses nicht nur eine den Geist erfrischende Abwechslung, sondern auch den Aufenthalt in einem erstklassigen Hotel, dessen Zimmer weitaus großzügiger waren als meine kleine Dachgeschosswohnung. Ich freute mich auf das geräumige Doppelzimmer, das ich im Internet begutachtet hatte, das Buffet, die Sauna, freute mich darauf, ein paar Bahnen im Schwimmbad ziehen zu können. Die Lesung war nicht der Rede wert, ich kann nicht einmal mehr sagen, aus welchem Buch ich damals vortrug. Doch der Aufenthalt im Hotel scheint mir ein paar Zeilen zu verdienen, auch, weil ich heute meine, dass das Gespenst, das sich dort sechs Jahre später materialisieren sollte, bereits in jener wirren Zeit durch die verlassenen Hallen und Gänge spukte.

Langsam, als seien die beiden just aus tiefstem Schlaf erwacht, wankten sie nun in Richtung des Ufers zurück, Benito gleich neben Cherubim, nur eine Armlänge entfernt, damit er in dem unwegsamen Gelände nicht die Böschung herunterfallen konnte und Cherubim ihn zur Not würde festhalten können. Gut zehn Meter vor den anderen blieben sie stehen. Cherubim betrachtete die Jungen, wie sie da beim Hänger mit den Booten standen, als spielten sie den Bäumen ein Stück vor. Benito ließ sich neben ihn in den Schneidersitz auf den Boden fallen, dann kippte er nach hinten über rücklings ins Gras, die Arme und Beine weit von sich gestreckt. Die Hände des blinden Jungen gruben sich ins dichte Gras und es wirkte, als wolle er sich an der Erdoberfläche festkrallen, um von der Drehung seiner Heimat nicht fortgeschleudert zu werden. Benito lächelte.

II.

Cherubim blickte mit einer nicht unerheblichen Sorge auf das doch unweigerlich Kommende. Es war nämlich so, dass er nicht schwimmen konnte. Sein Vater hatte bis zu seiner Suspendierung vom Schuldienst als Schwimmlehrer gearbeitet, aber Cherubim konnte nicht schwimmen. Die Mutter wusste nicht davon, es war ein Geheimnis zwischen Vater und Sohn. In der Zeit, in der sich seine Eltern getrennt hatten, hatte Cherubims Mutter den verschüchterten Jungen in Resignation vor dem Unvermögen des Vaters bei einem Kurs im Schwimmbad angemeldet, denn bald sollte das Schwimmen in der Schule alle zwei Wochen auf dem Stundenplan stehen. Am Elternabend, zu dem sich die Mutter mit offen liegenden Nervenenden geschleppt hatte, war jenen Familien, deren Kinder noch Nichtschwimmer waren, empfohlen worden, den Nachwuchs in Eigenregie auf das neue Schulfach vorzubereiten. Widerwillig war Cherubim also mit dem Fahrrad zum Südbad gefahren, hatte sich umgezogen, seine Sachen im Spind eingeschlossen, um dann frierend und mit verkrampften Zehen über den nassen Boden, der auf eine entsetzliche Art von Haaren und gebrauchten Pflastern bedeckt gewesen war, zum tiefen Becken zu laufen. Erst hatte er nur eine ziellose Wut gespürt, doch als der zitternde Junge dann durch das Hallenbad gelaufen war, die glatte Wasseroberfläche betrachtet und aus den Augenwinkeln die Tiefe des Beckens gemustert hatte, da war diese Wut übergegangen in eine lähmende, in dumpfen Chlorgeruch gehüllte Angst.

Cherubim war am Beckenrand entlanggegangen wie zu seiner eigenen Hinrichtung, der Schwimmlehrer sein Henker. Er hasste diesen Ort. Den Hall, die jauchzenden Schreie, das Platschen, die beschlagenen, gigantisch hohen Fenster mit dem sich an den Ecken ausbreitenden Grünspan, fleckige Fenster, hinter denen die Bäume im Wind wogen, als ob nichts sei, die dicke, furchtbar ermüdende Luft – das alles machte ihm die Schwimmhalle zur Hölle. Die Freude der anderen Kinder, der Übermut der Jugendlichen, die sich an Startblock, Ein- und Dreimeterbrett johlend in ihren Kunststücken zu übertrumpfen suchten, der faulige Geruch, der Umstand, dass das weiche, sorgsam gefaltete Frotteehandtuch nun nass werden würde, dieser Boden: All das widerte ihn an. Es war nicht so, dass Cherubim das Wasser nicht mochte. Ganz im Gegenteil. Er genoss die Abgeschnittenheit im Tauchgang, liebte es, zu Hause, im ersten Stock links, ein Bad zu nehmen, füllte, wenn die Mutter nichts sagte, immer wieder heißes Wasser nach, dehnte auch jeden Duschgang im Waschkeller des bröckligen Zechenhauses, in dem er mit ihr und dem kleinen Bruder lebte, so lange aus, bis der Raum voll Wasserdampf stand. Er schwamm nicht, watete jedoch durchaus gerne durch niedrige Gewässer, wenn sie etwa einen Ausflug an einen See machten, die Mutter, der kleine Bruder und er. Und waren sie einmal am Meer, dann legte er sich am Strand in die Brandung und ließ sich vor- und zurückspülen. Cherubim träumte sich in Unterseeboote, verehrte Taucher, las die maritimen Geschichten Jules Vernes, fantasierte sich die größten Abenteuer auf See. Er war ja ein Kind. Doch all das geschah vom Land aus, oder vielmehr: von dort, wo er noch den Boden unter den Füßen spürte. Im Schwimmbad aber war ihm dieser Zustand der Abkapselung alles andere als eine Zuflucht. Er war da vielmehr von einer großen Furcht befallen, einer Furcht zu ertrinken, unbemerkt vom Wasser absorbiert zu werden. Die Begrenztheit des Schwimmerbeckens und der Umstand, dass er den Grund und die Wände sehen konnte, schnürten ihm die Kehle zu. Er musste sich vorstellen, wie er dort unten lag. Das Schwimmerbecken erschien ihm als karger, glatter Kerker, welcher der endlosen Weite der Meere eine menschengemachte Begrenzung entgegensetzte. Ein luftleerer Raum. Eine Zelle. Der bloße Anblick des hellblau gefärbten Wassers wirkte auf den Nichtschwimmer wie ein erdrückendes Gewicht, eine Grenze zwischen Atmen und Ersticken, zwischen Leben und Tod. Und nun würde er drei Wochen auf dem Wasser sein. Ein Nichtschwimmer auf großer Flussfahrt, hin- und hergerissen zwischen Furcht und Sehnsucht, zwischen Wasser und Land.

Nachdem Cherubim bei seiner dritten Schwimmstunde in Panik geraten war, wild zappelnd und japsend das süßlich-saure Chlorwasser geschluckt hatte, bis der Schwimmlehrer ihn mit einem Kescher vom Rand aus dem Wasser hatte fischen müssen, was der traumatisierte Junge erst zwei Tage nach dem Vorfall seiner Mutter unter Tränen hatte gestehen können, und als er dann vor der nächsten Schwimmstunde nicht vom Küchenboden aufzuheben gewesen war, panisch und der Apathie nahe sein schrilles Ich will nicht wiederholt hatte, immer wieder, als alles vor den Augen also schon in seinen Tränen verschwommen war, da hatte die Mutter nachgegeben und ihn wieder abgemeldet. Sie war unsicher gewesen mit ihm und seinem Bruder in jenen Tagen und Wochen, ahnte sie doch, was die Trennung vom Vater, der weit von ihnen fortgeschleudert worden war, weiter, als sie es erwartet hatte, für ihre Söhne bedeutete. So hatte sie den Ältesten schonen wollen mit ihrer Entscheidung. »Du wirst schon noch schwimmen lernen«, hatte sie beruhigend gesagt, »dein Vater wird es dir beibringen«. Doch er hatte es Cherubim nicht beigebracht.

Das Hotel Paradies, das, gerade mal sechs Stockwerke hoch, dafür jedoch knapp einen halben Kilometer in eine herrschaftliche Breite gestreckt, mit dem gläsernen Haupteingang im Zentrum vielleicht am ehesten an die Form einer alten Kaminuhr erinnert, verfügt zur Ost- und Westseite über mehr als 400 großzügige Zimmer und Suiten. Diente es in den 1990er-Jahren seiner Funktion nach der Beherbergung von Politikern und Diplomaten aus aller Welt, machte es sich gerade auch in diesen jungen Jahren als Kongresszentrum und Veranstaltungsort verdient. Mit zwei großen Sälen und drei Restaurants bot es Raum für diverse Konferenzen, Empfänge, Bälle und Großveranstaltungen, die die mächtigen Übernachtungsgäste aus der ganzen Welt in dem luxuriösen Haus zu zelebrieren pflegten. Schon bald nach seiner Eröffnung genoss es weit über die Grenzen Europas hinaus einen hervorragenden Ruf. Das Paradies, wie es von der Bonner Bevölkerung genannt wurde, war in seiner Hochphase die Spielbühne des neuen Europas. Für eine kurze Zeit ging die Welt dort ein und aus, was kein Zufall war, so hatten die Planer das gigantische Gebäude doch mit dem Ziel konzipiert, der damals noch in Bonn sitzenden Bundesregierung einen repräsentativen Ort zu schaffen. Das Hotel war entworfen worden, um jenen mit dem Fall der Mauer einhergehenden politischen Entwicklungen, die mit dem Wandel von Bonner zu Berliner Republik die 1990er-Jahre bestimmten, einen adäquaten Raum zu bieten. Es sollte der Wiedervereinigung von BRD und DDR einen unbefleckten Ort stiften, sollte nicht zuletzt auch auf der internationalen politischen Bühne Symbol sein für ein sich verjüngendes und wieder geschlossen stehendes Land – so wie das gesamte zu dieser Zeit in den Nordrand Bad Godesbergs wuchernde Parlaments- und Regierungsviertel versuchte, von Veränderung, ja, vom leuchtenden Aufschwung zu erzählen, um so dem Ende der Geschichte zu entkommen. Alles hier war in europäischem Blau und Gold gehalten, wobei sich das Haus mit seinen großzügigen Glasfassaden bewusst transparent gab. Es stand da im Geiste der wachsenden Globalisierung, wollte voller Stolz zeigen, was der Westen war und dass er über den Osten gesiegt hatte. Im Hotel Paradies wurde auf das Ende des Sozialismus angestoßen, auf die Zukunft des Wachstums. Fortschritt! Hier sollte wieder Geschichte geschrieben werden. Der Bauprozess war mit massiven Geldspritzen von Bund und Ländern beschleunigt worden, um das Gebäude rechtzeitig für die 1990 in Bonn stattfindende Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit fertigzustellen, aus der kurz darauf die OSZE hervorging, die in ihrer Größe und Komplexität einen Anspruch mitbrachte, dem kein anderer Bonner Veranstaltungsort an Kapazität genügt hätte. Schon der Bau jedoch geschah dabei im Wissen um die knappe Amtszeit des Hauses, wenn der Umzug der Bundesregierung nach Berlin sich per Hauptstadtbeschluss auch erst 1999 vollziehen sollte. So hatte das Paradies, das während der Wende 1989 in einer notariell bestätigten Rekordzeit von nur neun Monaten gebaut worden war, bereits im Entstehen sein Verfallsdatum gekannt.

Der Häuptling behielt seine braunen Haare, die ihm mit Schwung bis zu den Ohren reichten und in der sengenden Sonne des Sommers glänzten. Die Pubertät hatte er längst überwunden, trug nun den Geruch eines Erwachsenen. Er hatte die Arme in die Hüften gestützt und lachte, erzählte irgendetwas, das Cherubim von seiner Position aus nicht verstehen konnte. Der Junge liebte den Häuptling auf eine Weise, wie es wohl nur in diesem Alter vorkommt: aufblickend und aufrichtig, geschützt, zurückhaltend und genügsam. Sie alle liebten ihn auf diese demütige, unschuldige Art. Schließlich gab der Häuptling den Jungen gute Gründe, von ihnen geliebt zu werden. Dadurch bewahrte er eine einzigartige Bescheidenheit. Er war gerecht und gütig, wusste immer, was zu tun war, handelte und dachte selbstlos. Der Häuptling war ihnen ein wahrer Anführer, eine Person von Reife, selbst noch fast ein Kind und doch erwachsener, als sie es von den Eltern kannten, erwachsen, was auch immer das heißen mochte. Erwachsen zwischen Kindheit und Alter, glänzend in einem kurzen Übergang der Wahrhaftigkeit, gelöst von der Unmündigkeit und noch gefeit vom Wahnsinn und Niedergang des bald schon verfallenden Körpers. Ein unverbrauchter Geist. Er schenkte ihnen Zeit, nahm sie ernst. Er hätte für sie einen Drachen getötet.

Neben dem Häuptling stand Kippe, groß und schlank, zwei oder drei Jahre älter als Cherubim, 14 vielleicht, und bereits ein erfahrener Waldläufer. Er wusste alle Knoten, konnte Zeichen aus den Materialien legen, die ihm der Wald hergab, konnte Bäume und Sterne lesen, Feuer entfachen und löschen, konnte jeden Vogel bestimmen. Er handelte stets äußerst tugendhaft. Vor ihnen hüpfte Uğur auf und ab. Ungebremst und lebhaft griff er den Häuptling an und versuchte, ihm den Knoten vom Halstuch zu ziehen, um eine Reaktion zu provozieren. Uğur, dessen bürgerlicher Name so magisch auf die Jungen wirkte, dass er von der Gruppe als Einziger keinen Fahrtennamen bekommen hatte. Die Reaktion folgte sogleich, denn schon wischte der Häuptling ihn mit einem Handgriff sachte übers Knie und legte den Jungen auf den Boden. Der jaulte kurz auf, dann ging der Laut über in glucksendes Gelächter. Er fiel neben Maus, der, das eine Bein ausgestreckt, das andere angewinkelt und den Oberkörper mit dem Ellbogen aufgestützt, auf dem platt getretenen Boden ruhte. Im Gegensatz zur sonst hageren Gruppe, hatte er wirklich etwas auf den Rippen, und doch empfand er seinen ironischen Fahrtennamen nicht als Ungerechtigkeit, ja, hatte ihn sogar selbst vorgeschlagen. Ein stiller Beobachter. Schüchtern, wie Cherubim. Und etwas abseits, im Schatten der an die Uferböschung grenzenden Bäume, stand dann noch Fliegentöter. Sein Haar, das er vor dem Schären noch schulterlang getragen hatte, war pechschwarz, die Brille breit umrandet und die Gläser tief. Zu seinem Namen war er gekommen, weil er Fliegen mit der bloßen Hand fangen konnte. Doch er tötete sie nicht. Er fing sie aus der Luft, grinste, und ließ sie wieder frei. In seiner Hand hielt er eine Zwille.

Sie trugen Wanderschuhe, graue Grubensocken, speckige, kurze Lederhosen, von Gürteln mit verzierten Koppeln umschlungen, daran die Brotbeutel mit Kompass, Streichhölzern, Probenbuch, Taschenmesser, Fahrtenbuch, an den Hosenbünden außerdem, in lederner Scheide, die Takelmesser. Auf den linken Brusttaschen ihrer graublauen Baumwollhemden befanden sich Aufnäher, die den Bundesadler vor schwarz-rot-gelben Streifen zeigten. Auch die Knoten, mit denen die grauen, rot umfassten Halstücher zusammengehalten wurden, waren mit dem Bundesadler verziert. Über den Hemden trugen sie je nach Wetterlage dunkelblaue, fast schwarze Filzjacken, die, wurden sie einmal im Regen feucht, nach altem Schweiß rochen, der ihnen noch von den Vorträgern anhaftete. Jungenschaftsjacken, abgekürzt Jujas, wurden sie genannt, denn alles bei den Pfadfindern trug einen eigensinnigen Namen.

31 Jahre nach dem Bau des Hotels hatte ich bei meinem ersten Besuch ein Gebäude vorgefunden, das durch die Beschränkungen, die in Folge der Pandemie erlassen worden waren, menschenleer schien. Wo sonst Fahnen im Herbstwind flatterten, wurde in diesen Tagen einzig das bunte Laub aufgewirbelt, das auf den Wegen und Wiesen liegen geblieben war. Der Anblick war eindrucksvoll. Das Hotel entsprach dem pompösen Stadtteil. Vom Hotel aus erreichte man Richtung Norden in wenigen Laufminuten die gigantische Rheinaue, einen 160 Hektar großen Park, der vor dem Paradies lag wie ein Garten Eden und direkt bis zum Rheinufer führte. Der Taxifahrer blickte mich im Rückspiegel an, als wir auf den verlassenen Vorhof beim Haupteingang fuhren, sagte, es sei die erste Fahrt ins Paradies, die er seit Wochen unternehme. Er fragte, ob ich Soldat sei. Ich verneinte.

Als ich dann ausstieg und meine kleine Reisetasche aus dem Kofferraum hob, erspähte ich doch noch ein paar Menschen, die rauchend vor dem aufwendig angelegten Grünwerk standen, das den Hof des Gebäudes dekorierte. Bei der Anfahrt aus dem Taxi heraus hatte ich sie wegen ihrer Tarnfarben nicht bemerkt: Bundeswehrsoldaten, in voller Montur. Schwarze Springerstiefel, Feldhosen, Feldbluse und Feldkappe in Camouflage. Auch an den weiteren Ein- und Ausgängen entdeckte ich nun einsam herumstehende Soldaten. Manche von ihnen saßen auf Plastikstühlen, rauchten oder schauten auf ihre Telefone. Verwirrt blickte ich den Taxifahrer an.

»Alles Bundeswehr hier jetzt, schlecht fürs Geschäft. Die Kollegen fahren nämlich leider kein Taxi, die haben ihren eigenen Fahrdienst.«

Er steckte das Trinkgeld in die Brusttasche seiner Anglerweste, während er mir schon die handsignierte Quittung reichte, und bevor ich überhaupt hätte nachfragen können, was das alles wohl bedeuten mochte, wendete der cremefarbene Mercedes bereits äußerst schwungvoll, um wiederum etwas zu schnell den Hotelvorplatz zu verlassen.

Bei der Anmeldung an der Rezeption fand ich Aufklärung. Während ich noch die Dokumente ausfüllte, beantwortete mir ein sich eindeutig noch in Ausbildung befindlicher, sichtlich nervöser Rezeptionist mit bedeckter Stimme die Frage, was es denn mit all den Soldaten auf sich habe, die sich hier tummelten: Das Hotel Paradies, dessen Betrieb den Richtlinien folgend während der Pandemie weitestgehend heruntergefahren worden war, habe sich den Gegebenheiten angepasst und aus der Not ein Geschäft gemacht. Zivilbürger stiegen dort in jenen Monaten so gut wie gar nicht ab, nein, ich sei bald der einzige Gast, der keine Uniform trage. Seit Februar gebe es tatsächlich kaum Buchungen, nur ein paar weitere kleine Institutionen beherbergten hier unter großzügiger Vergünstigung zivile Gäste, und Privatbuchungen seien überhaupt nur noch über Kontakte möglich. Doch fast jedes der Zimmer in den ersten vier Stockwerken, wie mir der junge Mann nun zuraunte, sei mit Bundeswehrsoldaten belegt, die hier in zweiwöchiger Quarantäne auf einen Einsatz in Mali warteten. Er beugte sich ein Stück vor. Seine Stimme bekam etwas Verschwörerisches. Die Vizedirektorin des Hauses habe vor ihrer Anstellung im Paradies selbst lange für das Militär gearbeitet, und so sei diese neue Partnerschaft schnell besiegelt worden, eine Entwicklung, über die sich die Mitarbeiter und die Leitung des Hotels sehr glücklich schätzten, sicherte dieses neue Klientel dem Haus doch nun das Überleben. Seit Mitte Februar lebten in dem Fünf-Sterne-Hotel zeitgleich etwa 200 Soldaten in Isolation, für jeweils zwei Wochen, bis sie die Quarantäne hinter sich gebracht hatten und in ihre Einsatzgebiete aufbrechen konnten, um von neuen Soldaten ersetzt zu werden, die ihrerseits wieder für zwei Wochen blieben, um dann an irgendeinen fernen Ort geschickt zu werden. So sei in einer Zeit, in der die Hotelbranche eine starke Rezession erfuhr, das Hotel Paradies durchgehend mindestens zur Hälfte belegt, wobei die Soldaten dreimal am Tag Essen gebracht bekämen und mit Getränken versorgt würden, was den Zimmerservice des Hauses mitunter an seine Grenzen bringe. Mittlerweile würde man den jungen Männern, Frauen waren hier nämlich keine untergebracht, auch durchaus mal ein paar Bier oder eine Flasche Schnaps hinstellen. Die Offenheit des Jungen überraschte mich.

Cherubim wusste genau, dass die Dinge zu Hause auch in seiner Abwesenheit unweigerlich fortlaufen würden. Seine Eltern würden sich noch weiter voneinander entfernen, der Vater tiefer in der Kellerwohnung versinken, in der er sich seit seinem Auszug immer mehr vergrub, und die Mutter würde sich weiter von der Idee fortbewegen, ihn wieder bei ihnen einziehen zu lassen. Zuletzt war der Vater nicht einmal mehr ans Telefon gegangen, egal, wie oft Cherubim seine Nummer auf der glatt geschliffenen Wählscheibe des grünen Posttelefons gewählt hatte. Wenn der Vater den Hörer nicht abnahm, ging Cherubim eine halbe Stunde später zu seiner Mutter, teilte ihr mit, dass er es noch mal versuchen wolle, da der Vater ja vielleicht nun wieder daheim sein könnte. Da wusste er aber insgeheim schon, dass dieser zwar dasaß und doch nicht an den Apparat gehen würde. Trotzdem rief er an, in einer irrationalen Hoffnung, die sich gegen seine Verzweiflung stemmte und sie dabei immer monströser werden ließ. Manchmal dachte Cherubim auch, dass dem Vater vielleicht etwas zugestoßen sei.

Vereinzelt sah ich sie in den kommenden Tagen umherstreunen, Soldaten, die traurigen Blickes ihre halbe Stunde Hofgang vollzogen, stets allein, missmutig an ihren Zigaretten ziehend. Das Camouflage ihrer Anzüge, das sie in der Natur so vorzüglich zu tarnen wusste, stellte sie in dieser Umgebung als Fremdkörper aus. Während ich nach der Ankunft in mein Zimmer im sechsten Stock fuhr, blickte ich verstohlen aus dem gläsernen Panorama-Aufzug in die militärisch belegten Etagen und bemerkte, dass die tiefen Teppiche dort von dicken Folien bedeckt waren, aus Gründen der besseren Hygiene sicherlich, doch auch, um den edlen Webstoff vor den aggressiven Profilen der Springerstiefel zu schützen.

Wenn man es so sah, charakterisierte sich das Paradies als ein Ort mit einem gewissen Kalkül, mit einem sein Überleben sichernden Opportunismus. Ein Umstand, der in diesem Haus bald Tradition hatte. War es in den 1990er-Jahren noch seiner Bestimmung folgend Austragungsort der Politik gewesen, hatte es sich nach dem Umzug der Bundesregierung in die neue Hauptstadt Berlin als Treffpunkt internationaler Großkonzerne erfunden. So war seit dem Millennium dort nicht mehr die Politik ein- und ausgegangen, sondern die Wirtschaft. Viele derer, die das Hotel in den 1990er-Jahren durch die große Drehtür noch als Politiker betreten hatten, kamen auch nach dem Regierungsumzug nach Bonn, jetzt in Beraterfunktion oder als Manager. Das Hotel jedoch hatte sich verändert. Auch hier war deutlich spürbar gewesen, was der Hauptstadtbeschluss für ganz Bonn bedeutet hatte. In den letzten Jahren vor der großen Zäsur hatte sich in der Stadt eine breite Bürgerbewegung entwickelt, Aufkleber prangten an Ampeln, Schildern, Mülleimern und auf den Heckscheiben der Autos. Ja zu Bonn!Doch die Aufforderung blieb folgenlos, und so passten sich die Bonner Bürger den neuen Gegebenheiten an – oder zogen weg. Es war in dieser Zeit nicht unüblich, dass ein Mitarbeiter des Finanzministeriums von einem auf den nächsten Tag zur Telekom wechselte und das Kornblumenblau seiner Krawatte durch Magenta ersetzte. Bonn erfuhr eine starke Fluktuation, auch wenn die Stadt Zweitsitz der Regierung und Heimat einiger wichtiger Bundesämter bleiben sollte. In den Diplomatenschulen blieben ganze Stuhlreihen unbesetzt, gleiches galt für die Spielorte der Theater- und Opernszene. Die Linie 66 wurde zum Telekom-Express und der Post Tower überragt noch heute den Langen Eugen um ziemlich genau 47 Meter.

Für das Hotel war der Tower das Symbol der Rettung, trafen sich nun doch Post und Telekom eben dort, wo noch kurz zuvor internationale Politik auf den Weg gebracht worden war. Schnell versammelte sich dort ein neues, machtvolles Publikum. So blieb das Paradies ein Ort der Einflussnahme. Es öffnete sich, und bald ging es heiß her, wenn ab November etwa der Bonner Karneval die beiden Säle bespielte, Messen stattfanden, mediale Großereignisse oder Poker- und Darts-Turniere. Das Paradies arrangierte sich mit der neuen Situation, wurde renoviert, ging mit der Zeit. Und als das Hotel dann in der Pandemie erneut einem radikalen Umbruch gegenüberstand und die zwei Jahrzehnte lang akquirierte Kundschaft plötzlich einbrach, da meldete sich genau zum richtigen Zeitpunkt das Militär, das das Haus seinerseits wohlgemerkt bereits gut kannte, hielt es dort doch seit der Eröffnung 1990 jährlich sowohl den Ball der Streitkräfte als auch den der Luftwaffe ab. Erst die Politik, dann, mitsamt der ihr verbundenen Spaßgesellschaft, die Wirtschaft, und schließlich das Militär.

Dass ich während meines ersten Aufenthalts in Bonn beinahe der einzige zivile Gast war, fand ich nicht unangenehm, hatte ich doch Sauna und Schwimmbad für mich alleine, saß in den Morgenstunden im prunkvollen Frühstückssaal ohne Tischnachbarn und begegnete auf den weiten Fluren lediglich den wenigen Hotelangestellten, die immerzu geschäftig durch die Gänge huschten. Die Stille jedoch erschien mir bisweilen gespenstig, und mehr als einmal meinte ich, hinter der nächsten Ecke lauere jemand auf mich. Bog ich dann jedoch vorsichtig ab, war da niemand. Wer hätte da auch sein sollen? Die Soldaten mussten auf ihren Zimmern bleiben. Für sie gab es keine Sauna, kein Schwimmbad, kein Restaurant. Heimlich beobachtete ich sie aus dem Panorama-Aufzug durch ihre offenen Zimmertüren. Jung waren sie. Manche sahen fast noch aus wie Kinder. Kinder, die auf ihr Zimmer geschickt worden waren. Stubenarrest im Paradies.

Cherubim war sich bald sicher, dass sich das schmale Zechenhaus, in dem er mit Mutter und Bruder wohnte, weiter verschieben würde. Während er auf dem Fluss war, würde es die Koordinaten ändern, sodass der Vater es nicht mehr wiederfinden und es schließlich vergessen würde. Das Haus hatte ja schon mit seiner Verwandlung begonnen. Der Keller, improvisiert ausgebaut zu einem Werkraum mit einer Theke, in dem Cherubim, als sein Vater noch bei der Familie lebte, viel Zeit verbracht hatte, war ganz langsam zu einem anderen Ort geworden. Es war jetzt kälter dort. Die Dinge, die alle an ihrem angestammten Platz blieben, waren unbeweglich in der Zeit gefangen. Wenn der Vater zurückkäme, würden sie genauso dort liegen, wie er sie verlassen hatte. Es würde einfach so weitergehen, dachte Cherubim, auch wenn er schon wusste, dass es nicht dazu kommen würde. Es würde nicht funktionieren. Der Staub, der sich unlängst auf allem abgesetzt hatte, zeigte es ihm. Lag da, wie in der Wohnung eines Toten. Die Zeit verging ja doch, entgegen allem Anschein, und sie würde an nichts auf der Welt spurlos vorübergehen.

Zwei Wochen vor Cherubims Abfahrt auf die große Flussfahrt war der Fußboden des Kellers aufgebrochen. Als hätten sich zwei Gesteinsschichten wie bei einem Erdbeben übereinander geschoben. Unter dem fleckigen, kratzigen Teppich hatte sich der aufgebrochene Estrich zu einer Wölbung erhoben, deren Spannung unter dem groben Textil nachgab, wenn man darauf stieg. Die Mutter sagte, der aufgebrochene Kellerboden sei ein Bergbauschaden, das Erdreich unter der Zechensiedlung weitgehend ausgehöhlt, was auch der Grund für die schiefen und rissigen Wände sei. Doch Cherubim wusste, dass sie sich irrte. Erst waren er und sein Bruder ganz begeistert gewesen, hatten darüber fantasiert, mit welchen Maschinen die Schmuggler da unter der Siedlung ihre Tunnels gruben und in welchen Gefährten sie ihr Gut transportierten. Als sie aber begriffen, dass hier etwas zu Ende ging, da hatten sie innegehalten. Es war der Lauf der Dinge, der das Haus veränderte, es fortbewegte. Der Vater würde es nicht mehr finden können, wenn er eines Tages zurückkehren sollte. Irgendwann würde es zusammenstürzen.

III.

Nach der Rückkehr aus dem Apennin fühlte ich mich ohne Ort. Heimatlos, treibend und ohne Anker. So fiel der nächtliche Aufenthalt in meiner Dachgeschosswohnung kurz aus. Unwirklich wirkte sie auf mich mehr wie eine sich bereits auflösende Erinnerung, eine Requisite, durch die ich nur mit äußerster Vorsicht schreiten konnte, um nicht noch anzustoßen an etwas Vergessenem. Nur der Geruch kam mir vertraut vor. Mein Geruch, der ewig an mir haften und dabei doch immer älter werden würde.

Auch Uta, der ich die Wohnung während meiner Abwesenheit zum Schreiben überlassen hatte, konnte ich riechen. Doch wir begegneten uns nicht. Sie hatte nach Ankündigung meiner Rückkehr den Schreibtisch geräumt. Ob sie hier auch übernachtet hatte? War sie dabei allein gewesen? Seit meiner Flucht vor drei Jahren hatten wir uns nicht gesehen. Neben ihrem wohligen Geruch konnte ich außer dem Abrieb eines Radiergummis auf der Schreibtischunterlage keine weiteren Indizien ihrer Anwesenheit finden. So stellte ich nur meine Tasche ab und kaufte mir vom chinesischen Imbiss, den es zu meinem Erstaunen immer noch gab, eine Schale Xian-Nudeln. Der Betreiber, der dort wohl auch während der drei Jahre meiner Abwesenheit Tag für Tag hinter der Theke gestanden hatte, erkannte mich nicht mehr. Als ich im Bad ungewöhnlich lange in den Spiegel blickte, ahnte ich den Grund dafür: Der Bart war voll und buschig, und die Haare trug ich so lang, dass ich sie nun im Nacken zum Zopf binden konnte. In der anonymen Abgeschiedenheit des Apennin, wo mich lediglich Lucio dann und wann damit aufgezogen hatte, ich sähe seit meiner Ankunft in Italien immer mehr wie ein Waldmensch aus, war es mir egal gewesen. Meine Studenten sollte ich erst in einer Woche treffen, zu Beginn des Wintersemesters. Bis dahin würde ich mich rasieren und versuchen, einen Termin bei Magdalena zu bekommen. Falls sie überhaupt noch Haare schnitt. In drei Jahren kann viel passieren. Die Nacht verbrachte ich im Sessel am Fenster, zog früh am Morgen los, noch recht zerknittert, worüber auch der glattgebügelte Anzug nicht hinwegtäuschen konnte, der noch im Plastiksack der Reinigung im Schrank gehangen hatte und mir wie eine Verkleidung vorkam.

Es existierte keine Direktverbindung mehr von Berlin nach Bonn, sodass ich mehrfach umsteigen musste, nach den ersten drei Stunden in Osnabrück, dann kurz darauf in Münster und gegen Ende in Köln. Den ersten Teil der Strecke über driftete ich ab, konnte keinen klaren Gedanken fassen. Als der Zug dann im Ruhrgebiet durch meine Geburtsstadt fuhr, wobei er nicht anhielt, sich aber im Schritttempo stotternd durch den Bahnhof schob, ganz als wolle er mich auf irgendetwas hinweisen, befiel mich plötzlich eine bleierne Schwere. Durch das Zugfenster begegnete mir im letzten Licht des Tages eine Welt, die ich kannte und die mir gleichzeitig unerreichbar erschien. Erst erblickte ich den tristen Busbahnhof, mit dem künstlich angelegten, von Stein und Beton gesäumten Teich, in dem sonst nur Müll schwamm, in dem ich nun jedoch tatsächlich ein paar Enten erspähen konnte. Noch langsamer fuhr der Zug dann durch diese merkwürdige Transitzone zwischen Innenstadt und besiedeltem Gebiet, jene typische Bahnhofsgegend, die wohl jede westdeutsche Stadt dieser Größenordnung gemein hat: Geschäfte, die es nie bis ins Zentrum geschafft haben, dann linker Hand ein doppelstöckiges Casino, das in meiner Kindheit ein wunderschönes Kino gewesen war, rechts sogleich Parkhaus und Fitnessstudio, dann wieder links das bisschen Rotlicht, welches unvergänglich an einer langgezogenen, steilen Treppe hochrankte, und schon zog auch das riesige Rathaus am rechten Fenster vorbei, das auf mich im Vorbeifahren wirkte wie die überdimensionierte Version eines Modellbauhauses. Der Zug wurde wieder schneller, sodass bald das Grabeland mit seinen zahllosen Hütten wie verwischt an mir vorbeirauschte, um dann in Wohngebiete und die kleinen, innerstädtischen Wäldchen überzugehen, die Norden und Süden der Stadt voneinander trennten.

Das Ruhrgebiet war wieder grün. Es hatte sich den alten Ruß von den Schultern geblasen, seit es zur Ruhe gesetzt worden war. Aus dem Verfall der Industrieregion war etwas gewachsen. Es wucherte in den Ruinen. Der Zug passierte den Zentralfriedhof, rauschte schließlich ohne Halt am Bahnhof Süd vorbei, der, von verlassenen Häusern gesäumt, unendlich verloren auf mich wirkte. Dann ging es an vereinzelten Siedlungen vorbei, die weiter von den Gleisen entfernt im Schatten des Kraftwerks lagen. Der Zug fuhr über die Kanalbrücke, um dann Hochlarmark zu passieren, wo in der Ferne Omas Turm rot blinkte, der seit meinem Geburtsjahr 1984 vis-à-vis in Herne Baukau weit über den Kohlenpott ragte und in meiner Kindheit synonym gestanden hatte für die glücklichen Besuche bei der geliebten Großmutter. Ich hatte wirklich immer gedacht, der Turm gehöre ihr. Das Wesen dieser Gegend erschien mir vom Zugfenster aus unverändert: Industriegebiete, Firmenhöfe, Parkplätze, Grabeland, Schrottplätze, Zechensiedlungen, Fabrikhallen, Autohäuser, Brachland, Gartenhütten, Fußballfahnen, Supermärkte. Eingeworfene Fenster. Fernsehleuchten hinter Häkelgardinen. Spielplätze, Ascheplätze, Friedhöfe. Erst weit nach Oberhausen konnte ich meinen Blick wieder vom Fenster lösen.

In Bonn sprang ich vor dem Bahnhof in ein Taxi, das mich wieder mit leicht überhöhter Geschwindigkeit über die drei unter der Erde liegenden Bundeskanzler fuhr, wobei mir erst jetzt, bei der zweiten Anreise und einzig durch die Aufzählung des Taxifahrers, in dem ich meinen Chauffeur von vor sechs Jahren wiederzuerkennen meinte, bewusst wurde, dass das letzte Stück der Allee nach Friedrich Ebert benannt ist, dem ersten Reichspräsidenten der Weimarer Republik, der, 1925 verstorben, von den Schreckensjahren nach ihm nichts mehr mitbekommen hatte. Und schon bogen wir auf den Parkplatz des Hotels ein. Dieses Mal waren Flaggen gehisst. Das Gebäude strahlte im Glanz unzähliger Scheinwerfer. Es schien sich verjüngt oder im Alter an Würde gewonnen zu haben.

Die Zeit war an keinen Ort gebunden, sie verging überall. Trotzdem wollte Cherubim sie zurückdrehen, wollte die gegangenen Pfade in Gegenrichtung verfolgen, bis er eine Gabelung fand, an der er sich anders entscheiden, eine andere Abzweigung würde nehmen können. Er wollte nicht, dass die Boote vom Anhänger gingen, dass sie abgeladen und zum Ufer getragen wurden, wollte nicht mit seinen kalkigen Storchenbeinen durch die Brenneseln staksen müssen. Rückwärts zum Zug gehen, die Landschaft in die andere Richtung vorbeirauschen sehen, weg von sich, das Loch im Fahrschein vom Schaffner schließen lassen und die Pistazien ausspucken und wieder in ihren schützenden Hüllen verbergen, die er dafür aus der Hosentasche hervorholen würde. Da anhalten, wo er seine Mutter zum letzten Mal gedrückt, wo ihn seine Mutter zum letzten Mal gedrückt hatte, bevor er in das Abteil geklettert war. Die Sätze mit dem Stift rückwärts aus dem Fahrtenbuch saugen. Er wollte alles wieder zurück ändern. Gleichzeitig aber ertrug er den Stillstand nicht. Sein Körper begann zu zittern. Wie im Takt eines Liedes, eines schnellen Liedes, eines Liedes, das bibberte. Mehr eine Vibration, die langsam durch seinen Körper wanderte, bis er die rechte Hand zur Faust ballte, als könnte er damit etwas anhalten, das doch ganz unweigerlich kommen würde. In gleichmäßigem Takt drückte er die Faust einen Zentimeter nach unten, zog sie ruckartig zurück, dann wieder runter und immer so fort. Da griff Benito nach seiner Hand, umklammerte mit Druck das Gelenk, bis Cherubim aus dem Tick ausbrechen konnte.

»Hör damit auf!«

Benito, dessen Welt Cherubim sich dunkel und endlos vorstellte, mit scharfer Stimme. Wie hatte er seine Hand finden, wie seine Nervosität bemerken können? Cherubim hörte auf zu zittern. Der Blinde ging an ihm vorbei und schritt zielstrebig auf die anderen zu, die bei den Booten am Anhänger standen und die Reihenfolge diskutierten, in der sie die drei Kanus herunterheben sollten. Sie würden Hilfe brauchen.

Der nächste Tag war ein Sonntag. Der Empfang aber, für den im Hotel schon emsig Vorbereitungen getroffen wurden, war erst für den Montag angesetzt, und so fuhr ich am Morgen mit der Straßenbahn Richtung Nordwesten, um in einem Café am alten Frankenbad zu frühstücken, das mir Uta einst empfohlen hatte und das es tatsächlich noch gab. Es war ungewohnt warm für die Jahreszeit, sodass ich beschloss, mich draußen hinzusetzen. In Italien hatte ich immer nur wenig gefrühstückt, Brot, Tomaten, Kaffee, doch nun verlangte mein Körper, von den Strapazen der Reise geschwächt, nach mehr Masse. Ich bestellte mit wenig Zurückhaltung, blickte bei Kaffee und Orangensaft und dieser und jener Köstlichkeit auf den großzügigen Platz vor dem ehemaligen Hallenbad, der ein beliebter Treffpunkt der Nachbarschaft zu sein schien und sich bereits zur frühen Stunde gut gefüllt hatte. Familien saßen dort zusammen, Jugendliche, ein paar Säufer, allesamt versorgt von einem mobilen Kaffeestand, der bei seiner Kundschaft keinen Unterschied machte, was mir irgendwie gefiel, gleichzeitig aber auch wie verlogenes Kalkül vorkam. Die Süchtigen der Stadt hatte es von ihrem langjährigen Treffpunkt, dem Bonner Loch am Bahnhof, das 2017 zugeschüttet worden war, über die ganze Stadt versprengt, und so saßen sie nun dezentralisiert in Grüppchen zusammen, auf die geeigneten Plätze des Innenstadtgebiets, einer komplexen Logik folgend, nach Rauschmitteln sortiert. Bonn war eine Drogenstadt, wie ich erst spät erfahren hatte, in der das Milieu ähnlich groß war wie in Frankfurt oder Berlin. Eine befreundete Autorin, die in Bonn groß geworden war, hatte mir vor Jahren erzählt, wie sie als Jugendliche einmal am Bonner Loch zum Pinkeln in den Tiefgaragenbereich gegangen war und dabei einen bekannten Jungpolitiker beobachtet hatte, der sich gerade einen Schuss in den Oberschenkel setzte. Erst hatte sie nur ein Paar teuer aussehende Schuhe und die Anzughose bemerkt, am Boden, den Oberkörper hinter einer Säule im Halbschatten verborgen, war dann in weitem Bogen näher herangegangen, um nachzuschauen, ob alles in Ordnung sei – und da hatte sie ihn erkannt, den aufstrebenden Stern am Politikhimmel, wie die Zeitungen ihn nannten.

Nach dem Frühstück am Frankenbad beschloss ich, die sechs Kilometer zurück ins Hotel zu Fuß zu gehen, passierte bald darauf das Stadthaus, das im sonst eher unscheinbaren, in den benachbarten Gassen fast niedlich anmutenden Stadtbild völlig deplatziert wirkte: Ein riesiges Raumschiff einer den Menschen feindlich gesinnten Spezies, das dort gelandet war und nun störrisch über der Stadt thronte. Doch die Atmosphäre schien dem außerirdischen Baumaterial nicht gut zu tun, es war bereits deutlich gezeichnet vom unaufhaltsamen Verfall. Ich ließ das Unding hinter mir und bewegte mich weiter durch die leere Altstadt, sah ein Karussell sich drehen ohne Gäste darauf, ging weiter, pinkelte an einen Baum an der Elisabethkirche. Niemand war da, den das hätte stören können. Bonn erschien mir wie eine Spielwelt, die von riesigen Marionettenspielerhänden auf die Kriegstrümmer aufgesetzt worden war. Ausgedachte Gebäude, die wie bei einem Monopoly-Spiel mit jeder Zeitenrunde das Stadtbild weiter verändert hatten, bis es zu einem unkenntlichen Querschnitt vergangener Moden verkommen war.

Am frühen Nachmittag erreichte ich wieder das Hotel, in dem durch den Trubel mittlerweile deutlich zu erkennen war, dass dort am nächsten Tag eine exklusive Großveranstaltung stattfinden würde. Ich setzte mich in einen Sessel in der hintersten Ecke der Lobby, ließ mir ein alkoholfreies Weizenbier bringen und beobachtete aus dem Schatten das Kommen und Gehen, die Handwerker, das Hauspersonal, die prominenten Gäste, die heute schon eincheckten und sich in der Warteschlange, die sich an den drei Schaltern der Rezeption gebildet hatte, nicht selten wie alte Bekannte in die Arme fielen, wobei sie in übertriebener Lautstärke die Vornamen ihrer Gegenüber riefen, so als könnten sie es kaum fassen, sich hier über den Weg zu laufen, wenn auch ihre Betonung gleichzeitig suggerierte, und darin glichen sich alle Begrüßungen ohne Abweichung, dass sie mit der Anwesenheit des Begrüßten natürlich fest gerechnet hatten. Ein kunstvoller Spagat. Mich begrüßte niemand.

Als die Lobby sich gegen frühen Abend leerte, ging ich zum Tresen und fragte, ob man mir sagen könne, wer denn eigentlich für mein Zimmer bezahlt habe. Die Rezeptionistin schlug ein großes Buch auf, das Paradies schien in dieser Hinsicht ein wenig old fashioned, ging mit ihrem Zeigefinger durch die Zeilen, bis sie meinen Namen gefunden hatte, strich dann von links nach rechts über die dicht beschriebene Seite in ein leeres Feld, das ganz am Ende fast im Knick der Bindung verschwand, blickte auf, lächelte mich an und verneinte. Ich dankte, machte kehrt und zog mich auf mein Zimmer zurück.

Als ich weit nach Mitternacht noch immer keinen Schlaf finden konnte, zog ich mich wieder an und verließ das Hotel. Ich spazierte um das Gebäude, bis ich auf der Rückseite über eine Wiese unter den hinteren Teil des Gebäudes gelangte, der hier auf massive Betonstelzen gebaut worden war. Scheinbar war ich, ganz ohne das zu bemerken, einem mysteriösen Geräusch gefolgt, dessen Quelle ich nun in der Schwärze der Nacht in der Lüftungsanlage des Hotels ausmachte, die hier unablässig pumpte, unter tiefem Brummen Frischluft einsog und die alte Luft wieder ausstieß. Mehrere Minuten stand ich da und konnte den Blick nicht von der mechanischen Lunge lassen. Die Lüftungsanlage gab dem monströsen Bau etwas Lebendiges, und dann wieder auch nicht, lag der atmende Apparat doch zwischen den Stelzen als ein nur noch dahinsiechendes, riesenhaftes Tier, das bereits seine letzten Atemzüge tat.

IV.

Der Vater lebte nun in einem Industriegebiet direkt an der Autobahn. Nach der Trennung hatte er dort eine winzige Kellerwohnung im Haus eines indischen Fernsehreparateurs bezogen, der mit seiner Familie auf zwei weitläufigen Etagen über dem Geschäft wohnte, das das gesamte Erdgeschoss einnahm. Im Keller des Hauses hatte sich die Familie zudem eine Sauna eingerichtet, die an die Wohnung des Vaters grenzte, weshalb es dort immer warm und manchmal furchtbar feucht war. Später, als der Vater dort schon nicht mehr lebte, gab es in dem Haus einen Brand, durch den zwar, bis auf ein paar milde Rauchvergiftungen, niemand verletzt wurde, die Rettungskräfte aber einige illegale Wohnungen entdeckten, in denen mehrere Menschen ohne Aufenhaltserlaubnis lebten. Am Frühstückstisch hatte die Mutter Cherubim darüber aus der Zeitung vorgelesen, er war erschrocken und hatte die Gesichter vor sich gesehen, die Gesichter der Menschen, die dort gelebt und die sich mit seinem Vater angefreundet hatten, Menschen, mit denen er Darts gespielt und Silvester gefeiert hatte, sah sie von Ruß geschwärzt, wie sie ihn stumm anblickten, so als schauten sie durch ihn hindurch. Was würde nun mit ihnen geschehen?

Als der Vater dort eingezogen war, Jahre vor diesem Brand, und als Cherubim ihn das erste Mal besuchte, hatte dieser bald die Tür zu seiner winzigen Abstellkammer geöffnet, die auf die Rückseite der kleinen Saunazelle zuging. »Ist das zu fassen?«, hatte er seinen Sohn mit einem gequälten Lächeln gefragt, und auf das Nichts der leeren Kammer gezeigt, aus der ein muffiger Geruch strömte, so als bestätigte dieser Umstand etwas, das sich in seinem Kopf zusammengebraut hatte. Doch das war nicht der einzige Umstand, in dem sich für den Vater die Ungerechtigkeit seiner Situation manifestierte. Obwohl auch ein stets blasser und kreislaufschwacher Elektriker namens Udo im Haus wohnte, der für den Fernsehreparateur arbeitete, standen alle Armaturen in der Wohnung des Vaters unter Strom. Er hatte den Spannungsmesser auf die Spüle gedrückt. Das Lämpchen hatte geleuchtet und der Vater hatte verlegen gelacht. »Siehst du das?«, hatte er mit glasigen Augen gefragt. Er fühlte sich von der Welt gestraft und verbrachte seine Zeit damit, vor dieser eingebildeten Strafe zu resignieren und alles hinzunehmen, was ihm widerfuhr. Er erzählte Cherubim davon, immer, jedes Mal.

Am Montagmorgen fühlte ich mich gut. Ich erwachte um kurz vor 7 ohne Wecker, duschte ausgiebig und sah ein wenig fern, was ich seit vielen Jahren nicht mehr getan hatte. In den regionalen Nachrichten lief ein Beitrag zum anstehenden Empfang, der um 13 Uhr im großen Hauptsaal Eden des Hotels stattfinden würde, wo bei Großveranstaltungen bis zu 2300 Gäste Platz fanden, und an diesem Tag, großzügig und mit viel Freiraum zwischen den Tischen und Stühlen, für etwa 600 Menschen eingedeckt worden war, damit die exklusive Gesellschaft auch genug Ellbogenfreiheit würde finden können. Scheinbar war auch ein Kamerateam zugegen, zeigte das Fernsehen doch aktuelle Bilder vom Saal, während dieser noch bestuhlt wurde. Hoher Besuch war angekündigt, wie die Moderatorin kommentierte, so wurde etwa der hochbetagte Ex-Bundeskanzler          erwartet, samt seiner neuen Verlobten, deren Name noch unbekannt war und über die in der Sendung spekuliert wurde, als sei ihr für heute erwartetes, erstmaliges Auftreten in der Öffentlichkeit mit dem Ex-Kanzler von staatstragender Bedeutung. Nach dem Frühstück, bei dem ich, von einer der mehr im Verborgenen gelegenen Ecken des weitläufigen Frühstücksraums beobachtend, allerlei aus den Medien bekannte Gesichter erblickt hatte, unter anderem den vor Jahren tiefgestürzten Manager         , der, und das ist mir deutlich in Erinnerung geblieben, zunächst lediglich eine Brühe zu sich nahm und dann aber, beim zweiten Gang ans Buffet, Unmengen Lachs auf seinen Teller wuchtete, wollte ich mich in den Veranstaltungssaal stehlen, um mich dort ein wenig umzuschauen, wurde aber von zwei Sicherheitsleuten abgewiesen, die gerade dabei waren, den Metalldetektor an der Eingangstür zu testen. Angesichts der Prominenz der erwarteten Gäste hatte ich hier eher die Feldjäger erwartet, vielleicht auch, weil ich das Hotel mit jener militärischen Präsenz assoziierte, die mir bei meinem ersten Besuch sechs Jahre zuvor begegnet war.

Ich ging zurück auf mein Zimmer, um auf den offiziellen Beginn der Veranstaltung zu warten. Die Uhr zeigte zu diesem Zeitpunkt gerade kurz nach 9 Uhr, wie ich auf dem Zimmer feststellte, und so beschloss ich nur wenige Minuten später, während derer ich vom Fenster aus die Ankunft weiterer prominenter Gäste beobachtete, die Hotelsauna aufzusuchen, die sich im ersten Kellergeschoss befand. Als ich dort kurz darauf in weißem Bademantel und Schlappen in den aufgeheizten Vorraum trat, entkleideten sich gerade die ehemalige Verteidigungsministerin            und die Schauspielerin          Sie drehten sich lächelnd zu mir um,            flog sogar ein belustigtes »Hallo!« von den Lippen, als sie mich sah. Ich nahm Abstand von meinem Saunaplan, stammelte ebenfalls eine Begrüßung und machte postwendend kehrt, um zurück in den sechsten Stock zu fahren.

In der mechanisch surrenden Kabine des Aufzugs ließ mich der Mann schmunzeln, der mir von der rückseitig verspiegelten Tür entgegenblickte. Mit dem weißen Bademantel, in Kombination mit dem langen Bart und den noch längeren Haaren, sah ich aus wie Johannes Friedrich Guttzeit, ein Guru der frühen Lebensreform-Bewegung. Da hielt der Aufzug im Erdgeschoss, um den Fernsehmoderator       aufzunehmen, der eine große Hugo-Boss-Papiertüte bei sich trug. Ich erschrak. Uns verband ein Vorfall, mit dem meine Flucht ins italienische Exil damals begonnen hatte. Überrascht nahm ich einen aufdringlichen Moschusgeruch wahr.       schien mich trotz meines veränderten Aussehens zu erkennen, jedoch nicht auf meinen Namen zu kommen. Er gab grinsend ein »Ach, Hallo!« von sich, nickte dann und schaute aus dem gläsernen Aufzug in die sich entfernende Lobby, in der parallel zu unserer unverhofften Begegnung just die Chefredakteurin der Frankfurter Allgemeinen Zeitung umgeknickt zu sein schien, die ich zwar erkannte, deren Name jedoch mir wiederum entfallen war – jedenfalls kniete sie am Boden. Ich schloss für einen Moment die Augen und öffnete sie dann zeitgleich mit der Aufzugtür. Auch       stieg im Obergeschoss aus und folgte dem Flur zu meiner Erleichterung in die entgegengesetzte Richtung.