Bevor der Abend kommt - Joy Fielding - E-Book
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Bevor der Abend kommt E-Book

Joy Fielding

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Beschreibung

Cindy Carver hat es nicht leicht mit ihrer 21-jährigen Tochter Julia: Das bildschöne Mädchen träumt von der großen Karriere und entfernt sich dabei immer weiter von ihrer Mutter. Doch eines Tages verschwindet Julia spurlos. Als die Ermittlungen der Polizei ergebnislos bleiben, macht sich die verzweifelte Cindy selbst auf die Suche nach ihrer Tochter. Und sie weiß – wenn Julia überhaupt noch am Leben ist, zählt jede Sekunde ...

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Das Buch

Das Familienleben von Cindy Carver ist alles andere als rosig: Die Scheidung von ihrem Mann Tom liegt zwar einige Jahre zurück, doch richtig überwunden hat sie den Verlust nie, und ein neues Glück konnte sie bisher nicht finden. Vor allem die Beziehung zu ihrer Tochter Julia ist schwierig: Die ständigen Auseinandersetzungen mit der schönen jungen Frau, die ihren ganzen Ehrgeiz darauf richtet, eine berühmte Schauspielerin zu werden, zermürben Cindy mehr und mehr. Doch dann geschieht etwas Entsetzliches, das die täglichen Streitereien banal und bedeutungslos erscheinen lässt: Julia verschwindet spurlos. Die Ermittlungen der Polizei bleiben zunächst ergebnislos, und so beschließt Cindy in ihrer Verzweiflung, selbst zu handeln. Sie verfolgt jede nur mögliche Fährte und lässt nichts unversucht, die Stunden vor Julias Verschwinden zu rekonstruieren. Dabei stößt sie schnell auf Verdächtige, die ihre schrecklichsten Ängste zu bestätigen scheinen. Und Cindy weiß: Mit jeder Stunde, die vergeht, sinken die Chancen, dass sie Julia jemals wieder in die Arme schließen wird …  

 Joy Fielding 

gehört zu den unumstrittenen Spitzenautorinnen Amerikas. Seit ihrem Psychothriller „Lauf, Jane, lauf“ waren alle ihre Bücher internationale Bestseller. Joy Fielding lebt mit ihrem Mann und zwei Töchtern in Toronto, Kanada, und in Palm Beach, Florida. Weitere Informationen unter www.joy-fielding.de

Joy Fielding im Goldmann Verlag:

Blind Date • Solange du atmest • Die Schwester • Sag, dass du mich liebst • Das Herz des Bösen • Am seidenen Faden • Im Koma • Herzstoß • Das Verhängnis • Die Katze • Sag Mami Goodbye • Nur der Tod kann dich retten • Träume süß, mein Mädchen • Tanz, Püppchen, tanz • Schlaf nicht, wenn es dunkel wird • Nur wenn du mich liebst • Bevor der Abend kommt • Zähl nicht die Stunden • Flieh wenn du kannst • Ein mörderischer Sommer • Lebenslang ist nicht genug • Schau dich nicht um • Lauf, Jane, lauf!

(alle auch als E-Book erhältlich)

Joy Fielding
Bevor der
Abend kommt
Roman
Deutsch von Kristian Lutze
Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
Die amerikanische Originalausgabe erschien 2003 unter dem Titel »Lost« bei Atria Books, New York
Ausgabe September 2004
Copyright © der Originalausgabe 2003 by Joy Fielding, Inc.,
Copyright © der deutschsprachigen Erstveröffentlichung 2004 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.
Umschlagagentur: UNO Werbeagentur Umschlagmotiv: FinePic, München
Für Annie,meine Süßkartoffel
1
 
 
Der Morgen begann wie so oft mit einem Streit. Als es später wichtig wurde, sich an den genauen Ablauf der Ereignisse zu erinnern und daran, wie alles so mühelos außer Kontrolle geraten war, sollte Cindy angestrengt versuchen, sich zu vergegenwärtigen, worüber genau sie und ihre ältere Tochter gestritten hatten. Den Hund, die Dusche, die bevorstehende Hochzeit ihrer Nichte – alles würde völlig belanglos klingen, nicht wert, dass man laut wurde und erhöhten Blutdruck bekam. Ein Schwall von Worten, der über ihre Köpfe hinwegwehte wie ein plötzlicher Sturm, Schäden verursachte, die Fundamente aber intakt ließ. Jedenfalls bestimmt nichts Außergewöhnliches. Der Beginn eines normalen Tages. Zumindest hatte es da noch so ausgesehen.
(Regieanweisung: Cindy in dem schmuddeligen grünblauen Frottébademantel, den sie sich gekauft hatte, kurz nachdem Tom gegangen war, kommt aus ihrem Schlafzimmer und trocknet sich ihr kinnlanges, braunes Haar ab; Julia am anderen Ende des Flures im ersten Stock, ein gelb-weiß gestreiftes Handtuch um den Körper gewickelt, läuft vor der Badezimmertür zwischen ihrem Zimmer und dem ihrer Schwester auf und ab, Ungeduld brodelt aus ihrem gertenschlanken, ein Meter achtzig langen Körper wie Lava aus einem Vulkan; Elvis, der permanent struppige, apricotfarbene Wheaten-Terrier, den Julia bei ihrem Wiedereinzug zu Hause vor knapp einem Jahr mitgebracht hat, bellt und hüpft in die Luft schnappend neben ihr hoch.)
»Heather, was in Gottes Namen machst du da drinnen?« Julia hämmerte an die Badezimmertür, erhielt keine Antwort und hämmerte erneut.
»Hört sich an, als würde sie duschen«, bemerkte Cindy und bereute noch im selben Moment, sich überhaupt eingemischt zu haben.
Julia starrte ihre Munter unter dem Mob ihrer aschblonden Haare hinweg an, die sie jeden Morgen mühsam glatt föhnte, um jede Andeutung ihrer natürlichen Locken zu tilgen. »Offensichtlich.«
Cindy staunte, dass ein Wort so viel Gehässigkeit transportieren, so viel Verachtung mitteilen konnte. »Ich bin sicher, sie ist gleich fertig.«
»Sie ist schon seit einer halben Stunde da drinnen. Und für mich ist dann kein heißes Wasser mehr übrig.«
»Es ist bestimmt noch jede Menge heißes Wasser da.«
Julia schlug mit der Faust ein drittes Mal gegen die Badezimmertür.
»Hör auf, Julia. Wenn du nicht aufpasst, machst du sie noch kaputt.«
»Ja, klar. Als ob ich eine Tür einschlagen könnte.« Wie zum Beweis hämmerte sie erneut gegen die Tür.
»Julia …«
»Mutter …«
Patt, dachte Cindy. Wie üblich. So war es zwischen ihnen beiden gewesen, seit Julia zwei Jahre alt war und sich gesträubt hatte, das weiße Rüschenkleid anzuziehen, dass Cindy ihr zum Geburtstag gekauft hatte. Selbst nachdem Cindy ihre Niederlage eingestanden und ihr erklärt hatte, sie könne anziehen, was sie wolle, hatte die störrische Kleine sich geweigert, an ihrer eigenen Party teilzunehmen.
Mittlerweile waren neunzehn Jahre vergangen, Julia war einundzwanzig, und nichts hatte sich geändert.
»Bist du mit dem Hund draußen gewesen?«, fragte Cindy.
»Wann hätte ich denn das machen sollen?«
Cindy gab sich Mühe, den sarkastischen Unterton in der Stimme ihrer Tochter zu überhören. »Nach dem Aufstehen, so wie es sich gehört.«
Julia verdrehte ihre großen grünen Augen zur Decke.
»Wir hatten eine Abmachung«, erinnerte Cindy sie.
»Ich gehe später mit ihm raus.«
»Er ist schon die ganze Nacht hier drinnen eingesperrt. Wahrscheinlich muss er dringend raus.«
»Er kommt schon klar.«
»Ich will keine weiteren Unfälle.«
»Dann geh du doch mit ihm«, fauchte Julia. »Ich bin nicht gerade passend gekleidet für einen Spaziergang.«
»Sei nicht so stur.«
»Sei nicht so anal.«
»Julia …«
»Mutter …«
Patt.
Julia schlug mit der flachen Hand gegen die Badezimmertür. »Okay, Schluss jetzt. Alle raus aus dem Becken.«
Cindy empfand die Schwingung von Julias Hand auf der Tür wie eine Ohrfeige. Sie fasste sich an die Wange und spürte das Brennen. »Das reicht, Julia. Sie kann dich nicht hören.«
»Das macht sie absichtlich. Sie weiß, dass ich heute ein wichtiges Casting habe.«
»Du hast ein Casting.«
»Für Michael Kinsolvings neuen Film. Er ist wegen des Filmfestivals in der Stadt und hat sich zu einem Casting für junge Talente aus der Gegend bereit erklärt.«
»Das ist ja toll.«
»Dad hat es arrangiert.«
Cindy zwang sich zu einem Lächeln mit zusammengebissenen Zähnen.
»Du machst es schon wieder.« Julia imitierte den gequälten Gesichtsausdruck ihrer Mutter. »Wenn du jedes Mal einen Anfall kriegst, wenn ich Dad erwähne …«
»Ich kriege keinen Anfall.«
»Die Scheidung ist jetzt sieben Jahre her, Mom. Komm drüber weg.«
»Ich versichere dir, dass ich gründlich über deinen Vater weg bin.«
Julia zog eine ihrer dünnen, sorgfältig gezupften Augenbrauen hoch. »Wie auch immer, sie suchen eine Unbekannte, was wahrscheinlich heißt, dass jedes Mädchen in Nordamerika die Rolle haben will. Heather, Herrgott noch mal«, brüllte Julia, während die Dusche stotternd versiegte. »Du bist nicht die Einzige, die hier wohnt!«
Cindy starrte auf den dicken cremefarbenen Läufer. Es war noch nicht ganz ein Jahr her, dass Julia beschlossen hatte, nach sieben Jahren Zusammenleben mit ihrem Vater, zu ihrer Mutter und ihrer Schwester heimzukehren, und das auch nur, weil die neue Frau ihres Vaters zu verstehen gegeben hatte, dass das 450-Quadratmeter-Penthouse mit Seeblick für drei Personen zu klein war. Julia hatte ihrer Mutter ebenso deutlich gemacht, dass sie nur vorübergehend und aus finanzieller Notwendigkeit wieder zu Hause eingezogen war und sich eine eigene Wohnung nehmen würde, sobald ihre geplante Schauspielkarriere begonnen hatte. Cindy hatte ihre Tochter dankbar mit offenen Armen aufgenommen, um die verpasste Zeit, all die verlorenen Jahre wettzumachen, dass sogar der Anblick von Julias widerspenstigem, auf den Wohnzimmerteppich pinkelndem Hund ihre anfängliche Begeisterung nicht dämpfen konnte.
Die Tür zu Heathers Zimmer ging auf, und ein Teenager in einem knielangen lila Nachthemd mit kleinen rosa Herzchen blinzelte verschlafen in den Flur. Zarte lange Finger schoben ungebändigte Locken aus dem schmalen Botticelli-Gesicht und rieben die sommersprossengesprenkelte Stupsnase. »Was ist denn das für ein Lärm?«, fragte das Mädchen, während Elvis hochsprang, um ihr Kinn abzulecken.
»Oh, verdammt noch mal«, murmelte Julia wütend, als sie ihre Schwester sah, und trat mit dem nackten Fuß gegen die Badezimmertür. »Duncan, beweg deinen knochigen Arsch da raus.«
»Julia …«
»Mutter …«
»Duncans Arsch ist nicht knochig«, meinte Heather.
»Ich kann nicht glauben, dass ich zu spät zu meinem Casting komme, weil der schwachsinnige Freund meiner Schwester meine Dusche benutzt.«
»Es ist nicht deine Dusche, er ist nicht schwachsinnig, und er wohnt schon länger hier als du«, protestierte Heather.
»Ein Riesenfehler«, sagte Julia und sah ihre Mutter vorwurfsvoll an.
»Sagt wer?«
»Dad.«
Cindys Lippen verzogen sich mechanisch zu dem künstlichen Lächeln, mit dem sie jede Erwähnung ihres Ex-Mannes kommentierte. »Damit fangen wir jetzt lieber nicht an.«
»Fiona findet das auch«, beharrte Julia. »Sie sagt, sie kann nicht verstehen, was dich geritten hat, ihn hier einziehen zu lassen.«
»Ich hoffe, du hast dem dämlichen Spatzenhirn gesagt, sie soll sich um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern.« Die wütenden Worte drängten förmlich über Cindys Lippen, selbst wenn sie es gewollt hätte, hätte sie sie nicht zurückhalten können.
»Mom!« Heather riss entsetzt ihre dunkelblauen Augen auf.
»Also wirklich, Mutter«, sagte Julia und verdrehte ihre grünen Augen erneut zur Decke.
Es war das »wirklich«, was Cindy den Rest gab. Es traf sie wie ein Pfeil ins Herz, und sie musste sich an der Wand abstützen. Und als wollte auch er noch dringend seinen Kommentar abgeben, hob Elvis ein Bein und pinkelte gegen die Badezimmertür.
»Oh nein!«
Cindy starrte ihre ältere Tochter wütend an.
»Guck mich nicht so an. Du warst schließlich diejenige, die geflucht und ihn damit so aufgeregt hat.«
»Mach es einfach weg.«
»Ich habe keine Zeit, es wegzumachen. Mein Vorsprechtermin ist um elf Uhr.«
»Es ist halb neun!«
»Du hast ein Casting?«, fragte Heather ihre Schwester.
»Michael Kinsolving ist zum Filmfestival in der Stadt und hat beschlossen, ein paar Schauspielerinnen von hier für seinen neuen Film zu casten. Dad hat es arrangiert.«
»Cool«, meinte Heather, und erneut verzogen sich Cindys Lippen zu einem frostigen Lächeln.
Die Badezimmertür ging auf und entließ eine Dampfwolke in den Flur, gefolgt von der großen, schlanken Gestalt Duncan Rossis. Seine dunkle Haare fielen ihm in die verschmitzen braunen Augen, und er trug nichts weiter als ein kleines weißgelbes Handtuch um die Hüften und ein schräges Lächeln im Gesicht. Rasch verschwand er in dem Zimmer, das er sich seit beinahe zwei Jahren mit Cindys jüngerer Tochter teilte. Die ursprüngliche Verabredung war natürlich gewesen, dass er einen leeren Raum im Keller bezog, ein Arrangement, das ganze drei Monate gehalten hatte. Weitere drei Monate leugneten alle Beteiligten das Offensichtliche, nämlich dass Duncan sich in Heathers Zimmer schlich, sobald Cindy eingeschlafen war, um morgens wieder zurückzuschleichen, bevor sie aufwachte, bis schließlich alle aufhörten, sich etwas vorzumachen, ohne dass Duncans endgültiger Umzug in den ersten Stock je erwähnt worden wäre.
In Wahrheit hatte Cindy kein Problem damit, dass Heather und Duncan miteinander schliefen. Duncan war ihr ehrlich sympathisch, er war rücksichtsvoll und hilfsbereit im Haus und hatte es sogar geschafft, sein inneres Gleichgewicht und seine gute Laune zu bewahren, als auf der anderen Seite des Flurs der Mahlstrom namens Julia eingezogen war. Sowohl Duncan als auch Heather waren nette, verantwortungsbewusste Jugendliche, die seit ihrem ersten Jahr auf der Highschool zusammen waren und seither von Heirat gesprochen hatten.
Das war das Einzige, was Cindy bisweilen wirklich Sorgen machte.
Manchmal betrachtete sie Duncan und ihre Tochter, während die beiden beim Frühstück Zeitung lasen – Honey Nut Cheerios für ihn, Cinnemon Toast Crunch für sie – und dachte, dass die beiden beinahe zu vertraut und gesetzt miteinander waren. Sie staunte, dass Heather sich so bereitwillig auf ein sicheres und fast spießiges Leben einließ, und fragte sich, ob es etwas damit zu tun hatte, dass sie ein Scheidungskind war. »Warum hat sie es so eilig, sich zu binden? Sie ist erst neunzehn. Sie geht aufs College. Sie sollte sich durch die Gegend schlafen«, hatte Cindy ihren Freundinnen neulich zu deren Entsetzen anvertraut. »Na ja, wann soll sie es denn sonst machen?«, hatte sie hinzugefügt und dabei an ihre eigene unfreiwillige Enthaltsamkeit gedacht.
Cindy konnte die Affären, die sie seit ihrer Scheidung gehabt hatte, an einer Hand abzählen, zwei in der unmittelbaren Folge von Toms abrupter Entscheidung, sie wegen einer anderen Frau zu verlassen, einer Frau, die er dann für eine dritte Frau sitzen gelassen hatte, als seine Scheidung von Cindy rechtskräftig wurde. Sieben Jahre voller anderer Frauen, dachte Cindy jetzt, und jede jünger und aufgetakelter als ihre Vorgängerin. Torten im Dutzend billiger, dachte sie und spürte, wie sie die Zähne aufeinander biss. Und dann kam die kleine Fiona, das frischeste Törtchen von allen. Verdammt, sie war bloß acht Jahre älter als Julia, noch nicht einmal eine Torte, sondern bloß ein Keks!
»Mom?«, fragte Heather.
»Hmm?«
»Alles in Ordnung?«
»Mrs. Carver?« Duncan tauchte wieder neben Heather auf, hatte jedoch das Handtuch gegen eine modisch gebleichte Jeans und ein dunkelblaues T-Shirt ausgetauscht, das er sich über seine noch feuchte und völlig unbehaarte Brust gestreift hatte.
»Sie denkt an meinen Vater«, verkündete Julia missmutig.
»Was? Tue ich nicht.«
»Und warum dann das Leichenstarre-Lächeln?«
Cindy atmete tief ein, um ihre Mundpartie zu entspannen, und spürte, wie ihr Kinn verdächtig wackelte. »Ich dachte, du hättest es so eilig, unter die Dusche zu kommen.«
»Es ist doch erst halb neun«, sagte Julia, und Elvis fing an zu bellen.
»Will da etwa jemand einen Spaziergang machen?«, fragte Duncan den Hund, der den jungen Mann als Antwort zunehmend hektisch umkreiste und noch lauter bellte. »Na, dann los, alter Junge.« Elvis rannte, gefolgt von Duncan, die Treppe hinunter, als das Telefon in Cindys Schlafzimmer zu klingeln begann.
»Falls es Sean ist, bin ich nicht da«, erklärte Julia ihrer Mutter.
»Warum sollte Sean auf meiner Nummer anrufen?«
»Weil ich an meiner nicht drangehe.«
»Und warum gehst du nicht dran?«
»Weil ich mich von ihm getrennt habe, was er aber nicht akzeptieren will. Ich bin nicht da«, wiederholte Julia, während das Telefon weiter klingelte.
»Und was ist mit dir?«, fragte Cindy ihre jüngere Tochter scherzhaft. »Bist du hier?«
»Warum sollte ich mit Sean reden?«
»Ich bin in zwanzig Minuten zurück«, rief Duncan an der Haustür.
Mein bestes Kind, dachte Cindy und griff nach dem Hörer des Telefons auf ihrem Nachttisch.
»Ich bin nicht da«, stellte Julia in der Tür stehend noch einmal klar.
»Hallo.«
»Ich bin’s«, meldete sich eine Stimme. Cindy ließ sich auf die Kante ihres ungemachten Betts sinken und spürte einen Kopfschmerz, der in ihrem Nacken zu pochen begann.
»Ist es Sean?«, flüsterte Julia.
»Es ist Leigh«, flüsterte Cindy zurück, und Julia verdrehte enttäuscht die Augen Richtung Fenster zum Garten. Draußen erweckte die Sonne an diesem schönen Tag Ende August die Illusion von Ruhe und Frieden.
»Warum flüsterst du?«, fragte Cindys Schwester. »Du bist doch nicht krank, oder?«
»Mir geht es gut. Und dir? Du rufst reichlich früh an.«
»Früh für dich vielleicht. Ich bin schon seit sechs auf den Beinen.«
Nun war es an Cindy, die Augen zu verdrehen. Leigh hatte die Rivalität zwischen Geschwistern zu einer wahren Kunstform entwickelt. Wenn Cindy seit sieben Uhr wach war, war Leigh schon seit fünf auf; wenn Cindy Halsschmerzen hatte, hatte Leigh Halsschmerzen und Fieber; wenn Cindy an einem Tag eine Million Dinge zu erledigen hatte, waren es bei Leigh eine Million und eins.
»Diese Hochzeit bringt mich noch ins Grab«, seufzte Leigh. »Du hast ja keine Ahnung, wie viel Planung eine Hochzeit von dieser Größe erfordert. Keine Ahnung.«
»Ich dachte, alles wäre so gut wie geregelt.« Cindy wusste, dass Leigh die Hochzeit ihrer Tochter plante, seit Bianca fünf war. »Gibt es ein Problem?«
»Unsere Mutter macht mich vollkommen wahnsinnig.«
Cindy spürte, wie sich ihre Kopfschmerzen rapide über Hinterkopf und Stirn bis zur Nasenwurzel ausbreiteten. Sie versuchte, sich ihre drei Jahre jüngere, sechs Zentimeter kleinere und gut zehn Pfund schwerere Schwester vorzustellen, konnte sich jedoch nicht mehr an ihre Haarfarbe erinnern. In der vergangenen Woche war es ein dunkles Kastanienbraun gewesen, in der Woche davor ein beunruhigendes Karottenrot.
»Was hat sie jetzt wieder gemacht?«, fragte Cindy widerwillig.
»Ihr Kleid gefällt ihr nicht.«
»Dann nimm ein anderes.«
»Dafür ist es zu spät. Das verdammte Teil ist schon genäht. Heute Nachmittag ist die Anprobe. Du musst unbedingt kommen.«
»Ich?«
»Du musst sie davon überzeugen, dass das Kleid fantastisch aussieht. Dir wird sie glauben. Außerdem willst du doch bestimmt Heather und Julia in ihren Kleidern sehen.«
Cindys Kopf schnellte in Julias Richtung, die immer noch in der Tür stand. »Heather und Julia haben heute Nachmittag auch eine Anprobe?«
»Kommt nicht in Frage!«, rief Julia. »Ich geh da nicht hin. Ich hasse dieses blöde Kleid.«
»Um vier Uhr. Und sie dürfen sich auf keinen Fall verspäten«, fuhr Leigh fort, ohne etwas von Julias Gezeter mitzubekommen.
»Ich trage dieses scheußliche lila Kleid auf keinen Fall«, setzte Julia neu an und begann, vor der offenen Tür auf und ab zu laufen. »Darin sehe ich aus wie eine riesige Weintraube.«
»Die Mädchen werden da sein«, erklärte Cindy mit Nachdruck und beobachtete, wie ihre Tochter die Arme in die Luft warf. »Aber ich kriege gerade ziemlich üble Kopfschmerzen.«
»Kopfschmerzen? Ich bitte dich, ich habe jetzt seit zwei Tagen Migräne. Außerdem habe ich zig Dinge zu erledigen. Wir sehen uns dann um vier.«
»Ich geh da nicht hin«, sagte Julia, als Cindy aufgelegt hatte.
»Du musst. Du bist eine Brautjungfer.«
»Ich hab zu tun.«
»Sie ist meine Schwester.«
»Dann zieh du doch das verdammte Kleid an.«
»Julia …«
»Mutter …«
Julia machte auf dem Absatz kehrt, verschwand im Bad am Ende des Flurs und knallte die Tür hinter sich zu.
(Rückblende: Julia, als pummeliges Kleinkind mit Shirley-Temple-Locken, die ihre sommersprossigen Eichhörnchen-Bäckchen rahmen, schmiegt sich an den Bauch der schwangeren Cindy, die ihr eine Gutenacht-Geschichte vorliest; Julia im Alter von neun, die stolz ihren Fiberglasgips präsentiert, nachdem sie sich bei einem Sturz vom Fahrrad beide Arme gebrochen hat; Julia mit dreizehn, schon fast einen Kopf größer als ihre Mutter, die sich trotzig weigert, sich bei ihrer Schwester dafür zu entschuldigen, dass sie sie beleidigt hat; Julia im darauf folgenden Jahr, wie sie ihre Sachen in einen neuen Louis-Vuitton-Koffer packt, den ihr Vater ihr gekauft hat, ihn zu seinem vor dem Haus wartenden BMW trägt und ihre Kindheit – und ihre Mutter – hinter sich lässt.)
Später sollte Cindy sich fragen, ob diese Bilder eine Vorahnung der drohenden Katastrophe gewesen waren, des Unglücks, das im Begriff war zuzuschlagen, ob sie in irgendeiner Weise den Verdacht hatte, dass das Bild von Julia, die hinter der zuschlagenden Badezimmertür verschwand, das Letzte sein würde, was sie von ihrer schwierigen Tochter sehen sollte.
Wahrscheinlich nicht. Wie hätte sie das ahnen sollen? Und warum? Es war noch viel zu früh am Tag, um sich der Tatsache bewusst zu sein, dass großes Unglück wie auch das Böse häufig aus dem hoffnungslos Alltäglichen entspringt, dass entscheidende
2
 
 
»Ich hab einen tollen Mann kennen gelernt.«
Cindy starrte ihre auf der anderen Seite des Campingtischs sitzende Freundin an. Trish Sinclair war der Inbegriff achtloser Weltgewandtheit und altersloser Eleganz. Eigentlich hätte sie nicht schön sein dürfen, doch genau das war sie, mit einem Gesicht voller konkurrierender scharfer Kanten und den unnatürlich schwarzen Haaren, die ihre Modigliani-artigen Züge noch betonten und in dramatischen Locken auf ihre knochigen Schultern und den üppigen Brustansatz fielen, der sich über dem obersten Knopf ihrer knallgelben Bluse wölbte. »Du bist verheiratet«, erinnerte Cindy sie.
»Nicht für mich, Dummerchen. Für dich.«
Cindy legte den Kopf in den Nacken, hielt ihr Gesicht in die Sonne und atmete den leichten Herbsthauch in der Luft ein. In einem Monat würde es wahrscheinlich schon zu kalt sein, um tagsüber auf einer Bank im Garten ihrer Freundin zu sitzen, während sie bei Thunfisch-Sandwich und Chardonnay die Filme auswählten, die sie beim diesjährigen Festival sehen wollten. »Kein Interesse.«
»Lass mich doch erst mal erzählen, bevor du übereilte Entscheidungen triffst.«
»Ich dachte, wir wollten über Filme sprechen.« Cindy blickte Hilfe suchend zu ihrer Freundin Meg. Meg Taylor sah nicht aus wie vierzig, sondern eher wie fünfzehn, und war so blond und flachbrüstig, wie Trish dunkel und vollbusig war. Sie saß in einer abgeschnittenen Jeans und einem rot-weiß gestreiften Träger-Top am anderen Ende der langen Bank und schien in das entmutigend dicke Programm des diesjährigen Festivals vertieft.
»Der neue Patricia-Rozema-Film klingt gut«, meinte sie leise mit leicht knittriger Stimme wie Silberfolie.
»Welche Seite?«, fragte Cindy dankbar für die Gelegenheit, das Thema zu wechseln. Trishs letzter Verkuppelungsversuch kurz vor Julias Wiedereinzug war ein einziges Desaster gewesen. Nach einem unerbittlichen Kreuzverhör hatte sich der drei Mal geschiedene Anwalt vorgebeugt, doch statt ihr ein versöhnliches Küsschen auf die Wange zu hauchen, wie Cindy es erwartet hatte, rammte er seine Zunge derart tief in ihren Hals, dass Cindy sich schon einen Klempner bemühen sah, um ihn wieder loszuwerden.
»Sondervorführungen«, erklärte Meg ihr. »Seite 97.«
Cindy blätterte hektisch durch den Programm-Katalog des Festivals.
»›Elegant fotografiert und hervorragend besetzt‹«, zitierte Meg aus dem Programmheft, »›beeindruckt Rozemas neustes Werk vor allem durch …‹«
»Ist das nicht die Frau, die immer Filme über Lesben macht?«, unterbrach Trish sie.
»Wirklich?«
Cindys Blick wanderte zwischen ihren beiden engsten Freundinnen hin und her. Cindy und Meg waren seit der elften Klasse unzertrennlich; Cindy und Trish hatten sich gefunden, nachdem sie vor zehn Jahren am Clinique-Tresen bei Holt’s zusammengestoßen waren. »Mansfield Park war nicht über Lesben«, sagte Cindy und dachte, dass die beiden Frauen sich über die Jahre nicht wesentlich verändert hatten.
»Der hatte lesbische Untertöne«, fand Trish.
»Mansfield Park ist von Jane Austen«, erinnerte Meg sie.
»Er hatte auf jeden Fall Untertöne.«
»Und was willst du damit sagen …?«
»Ich will dieses Jahr keine Lesben.«
»Du willst keine Lesben?«
»Ich hab die Nase voll von Lesben. Wir haben letztes Jahr genug Filme über Lesben gesehen.«
Cindy lachte. »Hast du eine Lesben-Quote?«
»Und gilt das auch für Schwule?« Meg nahm einen Apfel aus dem Obstkorb und biss geräuschvoll hinein.
»Ja.« Trish strich sich eine dichte Strähne aus der Stirn und rückte den herzförmigen Diamantanhänger an ihrem Hals zurecht. »Von denen hab ich auch die Nase voll.«
»Tja, damit hätte sich dann wohl die Hälfte der Filme erledigt.« Cindy trank einen Schluck Wein, hielt ihn im Mund und spürte die warme Spätaugustsonne auf ihren Wangen. Seit sechs Jahren versammelten sich die drei Frauen in Megs Garten, um zu essen, zu trinken und eine Auswahl aus den hunderten von Filmen zu treffen, die beim alljährlichen Internationalen Filmfestival von Toronto gezeigt wurden. Ein weiteres Jahr war gekommen und gegangen. Ein weiteres Festival stand vor der Tür. In der Zwischenzeit hatte sich nicht viel verändert bis auf die Tatsache, dass Julia nach Hause gekommen war.
Und das bedeutete, dass sich alles verändert hatte.
»Er würde dir wirklich gefallen«, schaltete Trish unvermittelt wieder um. Sie hatte offensichtlich die ganze Zeit nur auf den richtigen Moment und die nächste Gelegenheit gewartet, das Thema wieder aufs Tapet zu bringen. »Er ist intelligent, lustig und sieht gut aus.«
Cindy betrachtete Wolkenfetzen, die sich aus einer vorbeiziehenden Formation lösten und sich wie Spinnennetze über das Blau des Himmels spannten. »Kein Interesse«, erklärte sie erneut.
»Er heißt Neil Macfarlane und ist Bills neuer Steuerberater. Wir haben gestern mit ihm zu Abend gegessen, und er ist wirklich zum Niederknien, das schwöre ich dir. Du wirst ihn lieben.«
»Wie sieht er denn aus?«, fragte Meg.
»Groß, schlank, wirklich süß.«
»Wie wär’s mit The Winds of Change?«, schlug Cindy vor, ohne auf ihre beiden Freundinnen einzugehen. »Seite 257.«
Trish stöhnte auf, als sie die genannte Seite aufschlug.
Meg verschluckte sich fast an einem Apfelstück in ihrem Mund. »Das ist nicht dein Ernst. Ein iranischer Film? Hast du Caravan to Heaven vergessen?«
»War das der mit dem Kamel, das im Sand feststeckt, und sie drei Stunden gebraucht haben, um es zu befreien?« Trish verzog das Gesicht, als sie daran dachte.
»Genau der.«
»Damit wäre der Iran auch raus.«
»Und was ist mit Frankreich?«, fragte Cindy.
»In französischen Filmen wird immer nur geredet und gegessen«, sagte Meg.
»Manchmal haben sie auch Sex«, erklärte Trish ihr.
»Beim Sex reden sie auch«, sagte Meg.
»Frankreich ist also ebenfalls gestrichen?« Cindy blickte von Meg zu Trish und zurück. »Wie wär’s hiermit? Night Crawlers. Seite 316. Aus Schweden. Haben wir ein Problem mit Schweden?«
Meg nahm das schwere Programm und las laut vor, als wäre sie im Unterricht aufgerufen worden. »›In körnigen Bildern wirft der Film einen einfühlsamen Blick auf die schmutzige Seite des Vorstadtlebens. Kompromisslos und …‹«
»Moment mal«, unterbrach Trish sie erneut. »Was hatten wir beschlossen, was ›kompromisslos‹ bedeutet?«
»Nun«, meinte Cindy, »mal sehen, ob wir den Code noch drauf haben. Poetisch heißt …«
»Langatmig«, antwortete Meg.
»Atemberaubende Bilder …«
»Stinklangweilig«, sagte Trish.
»Kompromisslos heißt …«
Trish und Meg tauschten wissende Blicke. »Wackelige Handkamera«, waren sie sich einig.
»Gut. Okay«, sagte Cindy. »Poetisch, atemberaubende Bilder und kompromisslos wollen wir also auch nicht.«
»Außerdem haben wir Schwule, Lesben und den Iran ausgeschlossen.«
»Vergiss Frankreich nicht.«
»Mit Frankreich sollten wir nicht so voreilig sein«, plädierte Cindy.
»Was ist mit Deutschland?«
»Humorlos.«
»Hongkong?«
»Zu brutal«, sagte Meg.
»Kanada?«
Die Frauen starrten sich leeren Blickes an.
»Wie wär’s mit dem neuen Film von Michael Kinsolving?«, fragte Cindy. »Seite 186.«
»Ist der nicht ziemlich out?«
»Er könnte jedenfalls ganz bestimmt einen Erfolg gebrauchen.« Wieder hob Meg den schweren Katalog hoch und las laut vor. »Frisch, eigenwillig, aktuell und kontrovers.« Sie ließ das Programm sinken und biss erneut in ihren Apfel. »›Kontrovers‹ ist ein bisschen problematisch. Es könnte ein CodeWort für ›vulgär‹ sein.«
»Julia hatte heute Morgen ein Casting mit Michael Kinsolving«, sagte Cindy.
»Wirklich? Wie ist es gelaufen?«
»Ich weiß nicht.« Cindy zog ihr Handy aus ihrer Handtasche im Leopardenlook, drückte Julias Festnetznummer und ließ es zwei-, dreimal klingeln. Sie wollte gerade auflegen, als sie Julias gehauchtes Flüstern im Ohr hatte.
»Hier ist Julia«, säuselte die Ansage verführerisch. »Tut mir Leid, dass ich Ihren Anruf nicht entgegennehmen kann, aber ich möchte auf keinen Fall verpassen, was Sie mir zu sagen haben, deshalb hinterlassen Sie nach dem Ton bitte eine Nachricht, und ich rufe, sobald ich kann, zurück. Oder versuchen Sie es auf meinem Handy unter 416-555-4332. Vielen Dank und einen schönen Tag.«
Cindy unterbrach die Verbindung und wählte Julias Handynummer. »Hier ist deine Mutter, Schätzchen«, sagte sie, als sie noch einmal die gleiche Nachricht hörte. »Ich ruf nur an, um zu fragen, wie der Vorsprechtermin gelaufen ist. Melde dich, wenn du kannst. Sonst sehe ich dich um vier«, fügte sie beinahe unwillkürlich hinzu.
»Was ist um vier?«, fragte Meg, als Cindy ihr Handy wieder in der Handtasche verstaute.
»Anprobe für das Brautjungfernkleid.«
»Ugh«, meinte Trish. »Ich weiß noch, wie ich Brautjungfer bei der Hochzeit meiner Schwester war. Sie hatte die hässlichsten Kleider, die man sich vorstellen kann. Rosa Taft ausgerechnet. Könnt ihr euch mich in Rosa vorstellen?«
»Ich liebe Rosa«, sagte Meg.
»Es war mir unendlich peinlich. Ich wollte mich nur noch in einem Loch verkriechen und sterben, wofür ich bis zum heutigen Tag den Kleidern die Schuld gebe. Hattest du Brautjungfern, als du Gordon geheiratet hast?«, fragte sie Meg.
»Acht«, sagte Meg ausdruckslos. »In rosa Taft.«
Cindy lachte sowohl über die Erinnerung als auch über Trishs verdutztes Gesicht. »Ich war eine von ihnen.«
»Sie sieht fantastisch aus in rosa Taft«, sagte Meg und stimmte in das Lachen ein.
Plötzlich wehten Klänge aus Beethovens 9. Symphonie durch den Garten. »Mein Telefon«, erklärte Cindy und griff in ihre Handtasche. »Wahrscheinlich Julia.« Sie hielt das Handy ans Ohr.
»Ich habe ihm deine Nummer gegeben«, sagte Trish hastig.
»Was?«
»Ich habe Neil Macfarlane deine Nummer gegeben.«
»Hallo?«, drängte eine raumgreifende männliche Stimme aus dem kleinen Telefon in Cindys Hand. »Hallo? Ist da jemand?«
»Ich kann nicht glauben, dass du irgendwem meine Nummer gegeben hast, ohne mich vorher zu fragen«, fauchte Cindy, das Telefon fest an die Brust gepresst.
»Er ist wirklich süß«, wiederholte Trish zur Entschuldigung.
»Hallo?«, fragte die Stimme noch einmal.
»Tut mir Leid«, sagte Cindy und unterdrückte den Drang, ihrer Freundin das Handy an den Kopf zu schmeißen.
»Cindy?«
»Neil?«, fragte Cindy zurück.
Er lachte. »Trish hat Ihnen offensichtlich erzählt, dass ich anrufen würde.«
Cindy blickte wütend zu ihrer Freundin, die sich ein weiteres Glas Wein eingoss. »Was kann ich für Sie tun, Neil? Ich fürchte, ich habe schon einen Steuerberater.«
»Sei nett«, flüsterte Trish.
»Wenn das so ist«, sagte Neil locker, »darf ich Sie vielleicht irgendwann mal zum Abendessen einladen?«
»Zum Abendessen?«
»Lass es nicht an ihm aus, dass du sauer auf mich bist«, sagte Trish.
»An wann hatten Sie denn gedacht?«
»Wie wär’s mit heute Abend?«
»Heute Abend?«
»Er ist wirklich süß«, flüsterte Trish beinahe flehend.
»Heute Abend passt mir gut«, ergab Cindy sich in ihr Schicksal, worauf Trish entzückt aufjuchzte, während Meg in mädchenhafter Begeisterung auf und ab hüpfte. »Wann und wo?«
»Die Pasta Bar um sieben Uhr?«
»Wir treffen uns dort.« Cindy warf das Telefon zurück in ihre Handtasche und fuhr zu ihrer Freundin herum, deren ohnehin breites Lächeln jetzt beinahe von einem Ohr zum anderen reichte. »Ich kann nicht glauben, dass du mir das angetan hast.«
»Oh, entspann dich. Du wirst dich großartig amüsieren.«
»Ich hatte seit über einem Jahr keine Verabredung mehr.«
»Dann wird es ja höchste Zeit, meinst du nicht auch?«
»Ich weiß gar nicht, worüber ich reden soll.«
»Keine Sorge. Dir fällt schon was ein.«
»Ich habe nicht die leiseste Ahnung, was ich anziehen soll.«
»Etwas Elegantes«, riet Trish.
»Und sexy«, sagte Meg.
»Alles klar, elegant und sexy. Ich hatte keinen Sex mehr seit …«
»Drei Jahren«, sagten Trish und Meg im Chor.
Cindy lachte. »Das hast du ihm wahrscheinlich auch schon erzählt, oder?«
»Was denkst du denn? Das erzähle ich doch jedem.« Trish schenkte Cindy Wein nach, hob ihr Glas und prostete ihr zu. »Auf gute Filme, guten Wein und guten Sex.«
Meg biss wieder in ihren Apfel. »Das Ganze ist so französisch. Findet ihr nicht auch?«
 
»Es darf nicht wahr sein, dass sie mir das angetan hat«, murmelte Cindy, als sie an der Ecke Balmoral Avenue und Avenue Road vor einer roten Ampel wartete. »Es kann nicht wahr sein, dass sie ihm meine Nummer gegeben hat.« Sie schüttelte den Kopf, wurde ungeduldig und rannte bei der ersten Lücke im Verkehr über die dicht befahrene Ausfallstraße. »Und es darf erst recht nicht wahr sein, dass ich zugesagt habe. Was ist los mit mir?«
Sobald sie einen Fuß auf den Bürgersteig gesetzt hatte, hörte sie Elvis bellen, obwohl ihr Haus am anderen Ende der Straße lag. Es war also niemand zu Hause, und der Hund hatte wahrscheinlich auf den Teppich im Flur gepinkelt, sein neuester Lieblingsprotest, wenn man ihn länger als eine halbe Stunde alleine ließ. Sie hatte versucht, ihn in der Küche einzuschließen, doch er fand immer einen Weg hinaus. Er hatte es sogar geschafft, den großen Drahtkäfig zu öffnen, den Cindy gekauft hatte und der jetzt leer in der Garage stand. Cindy kicherte. Er war in der Tat ganz Julias Hund.
Eine sanfte Brise wehte raschelnd durch die dichten, sattgrünen Blätter der Ahornbäume, die die malerische breite Straße im Stadtzentrum säumten. Cindy und Tom hatten das alte, braune Backsteinhaus an der Ecke Balmoral und Poplar Plains erst wenige Monate vor Toms Auszug gekauft, und sie hatte es als Teil ihrer Scheidungsvereinbarung behalten. Im Gegenzug hatte Tom das Apartment mit Meerblick in Florida und das Ferienhaus am Ufer des Sees in Muskoka behalten, was Cindy nur recht war, weil sie immer eine Stadtpflanze geblieben war.
Das war einer der Gründe, warum sie Toronto liebte, und zwar von dem Moment an, als ihr Vater die Familie kurz nach ihrem dreizehnten Geburtstag vom Stadtrand Detroits hierher verpflanzt hatte. Anfangs hatte ihr die Vorstellung, in eine Stadt und ein neues Land zu ziehen, Angst gemacht – Dort schneit es immer; die Leute reden nur Französisch, und wenn du einen Bären siehst, musst du absolut still stehen -, doch binnen weniger Tage waren sämtliche Befürchtungen durch die angenehme Realität Torontos zerstreut worden. Was Cindy neben der interessanten Architektur, den unterschiedlichen Vierteln und der Fülle von Kunstgalerien, Trend-Boutiquen und Theatern an der Stadt am meisten gefiel, war die Tatsache, dass Menschen sie tatsächlich bewohnten und nicht nur tagsüber hier arbeiteten, um abends in irgendwelchen Eigenheimsiedlungen am Stadtrand zu verschwinden. Das Zentrum von Downtown Toronto war zum größten Teil eine Wohngegend. Stattliche Stadtvillen mit Swimmingpool im Garten lagen in derselben Straße wie moderne Bürohochhäuser, und man war immer nur wenige Minuten von einer U-Bahn-Station entfernt – die U-Bahn war sauber, die Straßen waren sicher, die Menschen höflich, wenngleich ein wenig reservierter als ihre südlichen Nachbarn. Eine Drei-Millionen-Stadt – fünf Millionen, wenn man das Einzugsgebiet mitrechnete -, und es gab selten mehr als fünfzig Morde im Jahr. Erstaunlich, dachte Cindy, streckte die Arme aus, drückte die Stadt an die Brust und vergab ihr sogar die hohe sommerliche Luftfeuchtigkeit, die ihr ohnehin lockiges Haar weiter kräuselte.
Nach dem Tod ihres Mannes hatte Cindys Mutter kurz erwogen, wieder nach Detroit zu ziehen, wo ihr Bruder und ihre Schwester nach wie vor lebten, doch ihre Töchter, mittlerweile beide verheiratete Mütter, hatten es ihr ausgeredet. In Wahrheit hatte man Norma Appleton nicht lange überreden müssen. Binnen weniger Monate hatte sie das alte Haus der Familie an der Wembley Avenue verkauft und eine brandneue Eigentumswohnung an der Prince Arthur Avenue bezogen, nur einen Block vom Shopping-Mekka der Bloor Street und mit dem Auto keine fünf Minuten von ihren beiden Kindern entfernt.
(»Wir hätten sie zurück nach Detroit ziehen lassen sollen«, hatte Leigh sich mehr als einmal beklagt. »Sie macht mich wahnsinnig.«
»Du nimmst sie zu ernst. Lass dich doch nicht von ihr ärgern.«
»Das sagt sich so leicht für dich. Du kannst ja sowieso nichts falsch machen.«
»Ich mache alles Mögliche falsch.«
»Das musst du mir nicht sagen.«)
Cindy stieß unwillkürlich ein Lachen aus, das in der leeren Straße verhallte. Sie war jedes Mal aufs Neue überrascht, dass ihre Mutter und ihre Schwester so oft miteinander über Kreuz lagen, während sie sich in Wahrheit sehr ähnlich waren – von beiden hatte man schon nach kurzer Begegnung für längere Zeit genug.
Cindy sah auf die Uhr. Es war schon fast drei. Sie hatte gerade noch genug Zeit, mit dem Hund zu gehen und ihre Shorts gegen eine lange Hose auszutauschen, bevor sie zur Anprobe bei Marcel’s aufbrechen sollte. Danach musste sie zurück nach Hause eilen, duschen und sich für ihre dämliche Verabredung mit Neil Macfarlane umziehen. Und sie hatte nach wie vor keinen Schimmer, was sie tragen sollte. Sie hatte keine Kleider, die elegant und sexy waren. Was hatte sie bloß geritten, ihm zuzusagen? Sie drückte die Daumen und schickte ein Stoßgebet zum Himmel, dass Julia pünktlich um vier zu der Anprobe erscheinen würde.
Es war schon erstaunlich, wie viel Zeit und Energie sie die Grübeleien über ihre ältere Tochter kosteten, dachte sie. Als Julia bei ihrem Vater gelebt hatte, hatte Cindy sich jede Minute des Tages Sorgen gemacht. Aß sie vernünftig, ging sie zeitig ins Bett, machte sie ihre Hausaufgaben? War sie in Sicherheit? War sie glücklich? Weinte sich das Kind jede Nacht in den Schlaf, wie Cindy es oft tat, und bereute ihre Entscheidung? Wünschte sie sich, zu Hause bei ihrer Mutter und ihrer Schwester zu sein, weil sie tief in ihrem Herzen wusste, dass sie dorthin gehörte? War es nur falscher Stolz, der sie ein trotziges Jahr nach dem anderen bei ihrem Vater hielt?
Es kam ihr so vor, als hätte Julia selbst während ihrer Abwesenheit unverhältnismäßig viel Raum in dem Haus an der Balmoral Avenue eingenommen. Julia zu vermissen war eine Konstante in Cindys Leben geworden, ein Dauerschmerz in der Magengrube wie ein Geschwür, das sich sogar zu verheilen weigerte, als Julia entschied, nach Hause zurückzukehren.
Aus dem Augenwinkel nahm Julia eine Bewegung wahr und wandte den Kopf zum Haus ihrer Nachbarn. Faith Sellick, mit 31 Jahren gerade Mutter geworden, saß auf der Treppe vor dem Haus und wiegte ihren Oberkörper hin und her, das Gesicht hinter ihren ungekämmten Haaren verborgen.
»Faith?« Cindy ging vorsichtig den Weg zum Haus hinunter und beobachtete, wie die normalerweise freundliche und lebhafte junge Frau langsam den Kopf von den Knien hob, ihr rundes, hübsches Gesicht tränenüberströmt und vollkommen ausdruckslos. »Faith, was ist los? Alles in Ordnung?«
Faith drehte sich zum Haus um und blickte dann wieder Cindy an. Cindy sah, dass die weiße Bluse der jungen Frau mit Milch bekleckert war, die aus ihren angeschwollenen Brüsten tropfte und münzgroße Flecken auf dem Stoff hinterließ.
»Was ist los, Faith? Wo ist das Baby?«
Faith starrte Cindy mit matten, traurigen Augen an.
Cindy blickte an der jungen Frau vorbei und strengte sich an, irgendwelche Geräusche aus dem Innern des Hauses zu vernehmen, doch sie hörte nur Elvis, der nebenan bellte. Tausend Gedanken schossen ihr durch den Kopf: Faith und ihr Mann hatten sich fürchterlich gestritten; er hatte sie und das Baby verlassen; Kyle, dem zwei Monate alten Sohn des Paares, war etwas Schreckliches zugestoßen; Faith war kurz nach draußen gegangen, um frische Luft zu schnappen, und hatte sich ausgeschlossen. Doch keine der Möglichkeiten erklärte Faiths leeren Blick und die Tatsache, dass sie Cindy anstarrte, als hätte sie sie nie zuvor gesehen. »Faith, was ist los? Sagen Sie was.«
Aber Faith schwieg.
»Faith, wo ist Kyle? Ist Kyle irgendwas zugestoßen?«
Faith starrte zum Haus, frische Tränen kullerten über ihre Wangen.
Den Bruchteil einer Sekunde später schoss Cindy an der jungen Frau vorbei ins Haus. Zwei Stufen auf einmal nehmend, stürmte sie nach oben und stieß die Tür zum Kinderzimmer auf. Jeder Atemzug zerriss ihre Brust wie ein Jagdmesser. Tränen brannten in ihren Augen, als sie auf die Wiege zustürzte, voller Angst davor, was sie erblicken würde.
Das Baby lag auf frischen blau-weißen Gingan-Laken auf dem Rücken. Es trug ein gelbes Strampelhöschen und ein passendes gelbes Mützchen, und sein anmutiges Gesicht war sanft und rund wie das seiner Mutter, die vollkommenen Lippen zu einem hinreißenden Schmollen geschürzt, die Hände zu kleinen roten Fäusten geballt, die winzigen Fingerknöchel weiß. Atmete es?
Cindy trat vorsichtig näher an die Wiege, beugte sich über das Gitter, hielt ihre Wange an den Mund des Babys und atmete seinen wunderbaren Säuglingsgeruch ein. Sanft drückte sie ihre kühlen Lippen auf seine warme Brust und hielt die Luft an, bis sie spürte, wie der ganze Körper des Kleinen zitterte, als er tief einatmete. »Gott sei Dank«, flüsterte Cindy und streifte mit den Lippen über die Stirn des Kleinen, um sicherzugehen, dass er kein Fieber hatte. Dann richtete sie sich wieder auf, verließ auf wackeligen Beinen langsam rückwärts das Zimmer und zog die Tür hinter sich zu, wobei sie sich daran erinnern musste, das Atmen nicht zu vergessen. »Gott sei Dank, dir geht es gut.«
Faith saß immer noch auf der Treppe vor dem Haus und wiegte ihren Körper gleichmäßig hin und her, als wollte sie die Bewegungen der Äste des Ahornbaumes in ihrem Vorgarten imitieren. Cindy trat aus dem Haus und setzte sich neben sie. »Faith?«
Faith sagte nichts, sondern wiegte sich nur wortlos weiter von einer Seite auf die andere.
»Faith, was ist los?«
»Es tut mir Leid«, hauchte Faith so leise, dass Cindy sich nicht sicher war, ob sie überhaupt etwas gesagt hatte.
»Was tut Ihnen Leid? Ist irgendwas passiert?«
Faith sah sie verwundert an. »Nein.«
»Was ist denn dann los? Was machen Sie hier draußen?«
»Weint das Baby?«
»Nein, es schläft tief und fest.«
Faith strich sich unsicher über die Brüste.
»Es hat bestimmt Hunger.«
»Er schläft«, widersprach Cindy.
»Ich bin eine schlechte Mutter.«
»Nein, das sind Sie nicht. Sie sind eine wundervolle Mutter«, versicherte Cindy ihr wahrheitsgemäß und erinnerte sich an Faiths Begeisterung, als sie an ihre Tür geklopft hatte, um ihre Schwangerschaft zu verkünden, wie nett sie Cindy um jeden Rat gebeten hatte, den diese ihr geben könnte, und wie wunderbar sanft und geduldig sie mit dem Baby umging. »Vielleicht sollten wir lieber reingehen.«
Faith leistete keinerlei Widerstand, als Cindy ihr auf die Beine half. Sie führte sie durch den breiten Flur in das Wohnzimmer auf der Rückseite des Hauses. Auf dem Holzboden lag ein blau melierter Pullover neben dem Stutzflügel. Faith bückte sich, um ihn aufzuheben, schob ihre Arme grob durch die Ärmel und knöpfte die drei weißen Köpfe zu. Dann ließ sie sich auf ein grünes Samtsofa sinken und legte den Kopf auf das Polster.
»Wie ist Ryans Büronummer?«
»Ryan ist auf der Arbeit«, sagte Faith.
»Ja, ich weiß. Ich brauche seine Telefonnummer.«
Faith starrte leeren Blickes auf die hellgrüne Wand gegenüber.
»Schon gut. Ich finde sie auch so. Sie bleiben hier und legen sich hin.«
Faith lächelte, hob gehorsam die Füße auf das Sofa und zog die Knie an die Brust.
3
 
 
»Du bist zu spät.«
»Tut mir Leid. Früher ging’s nicht.«
»Ich hatte gesagt, vier Uhr«, erinnerte Leigh ihre Schwester und tippte demonstrativ mit ihren breiten, rot lackierten Nägeln auf das goldene Armband ihrer Uhr, bevor sie ihr mit frischen Strähnchen verziertes Haar aus ihrem beinahe hysterisch verkniffenen Gesicht strich. Die Ungeduld in ihren hellbraunen Augen wurde von einem dicken schwarzen Lidstrich und Mascara noch unterstrichen, die wie winzige Kohleklümpchen in ihren Wimpern klebte. Anspannung lag auf ihren Schultern wie ein abgetragener Schal. »Es ist fast halb fünf«, sagte sie. »Marcel muss um fünf gehen.«
»Es tut mir wirklich Leid.« Cindy blickte von ihrer Schwester zu dem kleinen Mann mit lockigen Haaren in enger brauner Lederhose, der sich in der anderen Ecke des langen, voll gestopften Raumes mit seinem Assistenten beriet. »Es gab ein Problem mit meiner Nachbarin. Sie benimmt sich sehr seltsam. Ich fürchte, das Ganze ist mir irgendwie entglitten.«
»Das tut es doch immer«, sagte Leigh.
»Was soll das denn heißen?«
»Vergiss es, jetzt bist du hier. Also lass uns keine große Sache draus machen.«
Cindy atmete tief ein und zählt stumm bis zehn. Wenn du dir nicht ausgerechnet einen Schneider mitten in der Pampa gesucht hättest, hätte ich es vielleicht pünktlich geschafft, wollte sie sagen. Wenn du diese blöde Anprobe nicht mitten in der Rushhour angesetzt hättest, wäre ich vielleicht nicht ganz so spät gekommen. Außerdem bist du diejenige, die eine große Sache daraus macht, nicht ich. Stattdessen sagte sie: »Und wie läuft es bisher?«
»Wie zu erwarten.« Leigh senkte ihre Stimme zu einem Flüstern. »Mutter macht mich wahnsinnig.«
»Was habt ihr beide da zu flüstern?«, fragte eine raue Stimme aus einer der Umkleidekabinen auf der Rückseite des Ladens.
Cindy drehte sich um und registrierte die Details des kleinen Schneidersalons mit einem Blick: das große Schaufenster, nackte weiße Wände mit Ständern, an denen Samt- und Seidenkleider in diversen Stadien der Fertigstellung hingen, Ballen hellen Stoffs, die den Boden und die beiden einzigen Stühle im Raum bedeckten, ein großer, bis zum Boden reichender Spiegel in einer Ecke, drei entsprechend ausgerichtete Spiegel in den anderen Ecken, dazu ein Hinterzimmer, in dem sich mehrere Tische, Nähmaschinen und Bügelbretter drängten. Cindy schlenderte zu einem Ständer mit eher legeren Kostümen und Kleidern, der an eine Wand geschoben worden war, und fragte sich, ob sie vielleicht etwas fand, das hinreichend elegant und sexy für ihr Abendessen mit Neil Macfarlane war.
»Cindy ist hier«, rief Leigh ihrer Mutter zu.
»Hallo, Schätzchen«, flötete die körperlose Stimme ihrer Mutter.
»Hi, Mom. Wie ist das Kleid?«
»Sag du es mir.« Cindy beobachtete, wie ihre normalerweise lebhafte 72-jährige Mutter den weißen Vorhang aufstieß, der ihr als Umkleidekabine gedient hatte, unsicher die Stirn runzelte und an ihrem magentafarbenen Satinkleid zupfte.
»Sag ihr, dass sie hinreißend aussieht«, flüsterte Leigh hinter vorgehaltener Hand, während sie so tat, als würde sie sich die Nase kratzen.
»Was hat deine Schwester gesagt?«
»Sie hat gesagt, du siehst hinreißend aus«, erklärte Cindy ihrer Mutter.
»Und was denkst du?«
»Logisch«, sagte Leigh leise. »Was ich denke, zählt nicht.«
»Was murmelt deine Schwester jetzt wieder?«
»Ich bin hier, Mutter. Du brauchst nicht Cindy zu fragen.«
»Ich finde, du siehst wunderschön aus«, sagte Cindy, die die Einschätzung ihrer Schwester ehrlich teilte, und tätschelte den modischen Pagenkopf ihrer Mutter.
Norma Appleton verzog abschätzig den Mund. »War doch klar, dass ihr Mädchen zusammenhaltet.«
»Was für ein Problem hast du denn mit dem Kleid, Mom?«, fragte Cindy, entdeckte auf dem Ständer mit der Freizeitmode ein kurzes rotes Cocktailkleid und fragte sich, ob es ihre Größe war.
»Der Ausschnitt gefällt mir nicht.« Ihre Mutter nestelte an der inkriminierten Stelle. »Er ist zu schlicht.«
Vielleicht war der Ausschnitt doch zu tief, dachte Cindy, als sie das gewagte Oberteil des roten Kleids sah. Sie wollte Neil Macfarlane schließlich kein falsches Bild vermitteln. Oder?
Er ist wirklich süß, flüstere Trish ihr ins Ohr.
»Ich habe Mutter schon hundert Mal erklärt …«
»Ich bin hier«, sagte Norma Appleton. »Du kannst mit mir reden.«
»Ich hab dir schon eine Million Mal erklärt, dass Marcel den Ausschnitt noch mit Perlen einfassen will.«
Cindy verwarf die Idee mit dem roten Kleid, und ihr Blick wanderte weiter zu einem langen, formlosen, beigen Leinensack. Auf gar keinen Fall, entschied sie, als sie sich vorstellte, sich in den ausladenden Stofffalten zu verlieren. Sie wollte auch nicht, dass Neil Macfarlane dachte, er würde mit einer Nonne ausgehen. Oder?
Du hattest seit drei Jahren keinen Sex.
»Ich hasse Perlenstickerei«, sagte ihre Mutter.
»Seit wann hasst du Perlenstickerei?«
»Schon immer.«
»Wie wär’s mit einer Jacke?«, schlug Cindy vor, während sie versuchte, die Stimmen in ihrem Kopf zum Schweigen zu bringen. »Vielleicht könnte Marcel etwas aus Spitze machen …« Sie warf Marcel einen flehenden Blick zu, worauf jener seinen Assistenten sofort stehen ließ und in die Mitte des Raumes eilte.
»Ein Spitzenjäckchen ist eine reizende Idee«, stimmte ihre Mutter zu.
»Ich dachte, du magst keine Spitze«, sagte Leigh.
»Ich habe Spitze schon immer gemocht.«
Bei ihrem letzten Rendezvous hatte sie ein Spitzennegligé angehabt, erinnerte Cindy sich. Der Name des Mannes war Alan, und sie hatten sich kennen gelernt, als er in Megs Laden für seine Schwester zum Geburtstag ein Paar Türkis-Ohrringe gekauft hatte. Cindy erfuhr, dass er gar keine Schwester hatte, als seine Frau die Ohrringe in der nächsten Woche gegen etwas Schlichteres eintauschte. Doch da war es natürlich schon zu spät. Das Negligé war gekauft, die Tat begangen.
»Was meinen Sie, Marcel?«, fragte Cindy unnatürlich laut. Der arme Mann trat einen Schritt zurück und sah sich nervös zu Cindys Mutter um, wobei er versuchte, nicht auf die tiefen Falten zu starren, die ihre Finger in seinem Werk aus zartem Satin hinterließen.
Ohne zu zögern, nahm er das Bandmaß, das wie ein Schal um seinen Hals hing. »Was immer Sie wünschen.«
Was immer Sie wünschen, wiederholte Cindy stumm und genoss den Klang der Worte. Wie lange war es her, dass ihr irgendwer angeboten hatte, was immer sie wünschte? Würde Neil Macfarlane es tun?
Er ist zum Niederknien, das schwöre ich dir. Du wirst ihn lieben.
»Hab ich das richtig mitgekriegt, dass du eben etwas von Problemen mit einer Nachbarin gesagt hast?«, fragte ihre Mutter und hob die Arme, damit Marcel ihre Länge messen konnte.
»Ja«, sagte Cindy, dankbar für die Ablenkung. »Erinnerst du dich an die Sellicks von nebenan? Die vor ein paar Monaten ein Baby bekommen haben?«, fragte sie, als wäre sie sich selbst nicht mehr sicher. »Ich glaube, dass sie möglicherweise unter postnatalen Depressionen leidet.«
»Das hatte ich auch«, sagte Leigh.
»Du hattest Hämorrhoiden«, meinte ihr Mutter.
Marcel verzog das Gesicht und schlang das Maßband um Norma Appletons üppigen Busen.
»Ich hatte sowohl nach Jeffrey als auch nach Bianca postnatale Depressionen.«
»Daran kann ich mich nicht erinnern.«
»Natürlich nicht. Wenn ich hingegen Cindy wäre …«
»Cindy hatte nie postnatale Depressionen.«
»Apropos Bianca«, unterbrach Cindy die beiden, »wo ist eigentlich die schöne künftige Braut?« Sie blickte sich in dem Salon um, weil ihr erst jetzt auffiel, dass weder ihre Nichte noch ihre beiden Töchter zu sehen waren.
»Sie hatten keine Lust mehr zu warten und sind zu Starbucks gegangen.«
»Heather sieht in ihrem Kleid wunderschön aus«, sagte Norma Appleton.
»Und die Braut, Mutter?«, fragte Leigh spitz. »Wie sieht Bianca in ihrem Kleid aus? Oder verdient sie keine Erwähnung?«
»Was redest du da? Ich hab doch gesagt, sie sieht wunderschön aus.«
»Nein, das hast du nicht.«
»Das habe ich ganz bestimmt.«
»Was ist mit Julia?«, ging Cindy dazwischen.
»Julia?«, höhnte Leigh. »Julia hat uns bisher nicht mit ihrer Anwesenheit beehrt.«
»Sie ist noch nicht hier?«
»Ich bin sicher, ›das Ganze ist ihr bloß irgendwie entglitten‹«, sagte Leigh mit einem gezwungenen Lächeln.
»Ich hab doch gesagt, es tut mir Leid.« Cindy griff nach dem Handy in ihrer Handtasche. »Sie hatte ein Casting. Vielleicht musste sie warten …«
»Was für ein Casting denn?« Ihre Mutter drehte sich um, damit Marcel ihren Rücken vermessen konnte.
»Bei Michael Kinsolving, dem Regisseur. Er ist wegen des Filmfestivals in der Stadt.« Cindy wählte die Nummer ihrer Tochter und lauschte dem Klingeln.
»Du und dein blödes Festival«, sagte Leigh abschätzig.
»Ist Michael Kinsolving nicht mit Cameron Diaz zusammen?«, fragte ihre Mutter. »Vielleicht ist es auch Drew Barrymore. Seit Drei Engel für Charlie kann ich die beiden einfach nicht mehr auseinander halten. Wie dem auch sei, er hat einen ziemlichen Ruf bei den Damen.«
»Oh, Mutter, Herrgott noch mal«, rief Leigh ungeduldig. »Woher willst du denn irgendwas über diesen Michael Dingsda wissen, wer zum Teufel das auch immer sein mag?«
Ihre Mutter straffte mit gerade so viel rechtschaffener Empörung ihre Schultern, dass Marcel das Gleichgewicht verlor und sein Maßband fallen ließ. »Ich lese im People-Magazin über ihn.«
»Michael Kinsolving ist ein sehr bedeutender Regisseur«, sagte Cindy, während Julias Stimme ihr ins Ohr hauchte. »Tut mir Leid, dass ich Ihren Anruf nicht entgegennehmen kann«, flüsterte das Band verführerisch. Cindy legte sofort auf, rief Julias Handy an und lauschte der gleichen gehauchten Ansage noch einmal.
»Er hatte schon ziemlich lange keinen Hit mehr«, erklärte ihre Mutter kenntnisreich. »Außerdem ist er offenbar so eine Art Sex-Süchtiger.«
»Ich glaube, das ist Michael Douglas«, schaltete Marcel sich begeistert ein, nachdem er seinen sicheren Stand und das Maßband wieder gefunden hatte.
»Wirklich?«
»Bevor er Catherine Zeta-Jones geheiratet hat.«
»Kann es sein, dass wir dieses Gespräch wirklich führen?« Leigh warf verzweifelt die Hände in die Luft.
»Was hast du für ein Problem, Schätzchen?«, fragte ihre Mutter.
»Mein Problem ist«, setzte Leigh an, und kleine Schweißtröpfchen bildeten sich auf ihrer Stirn, die ihre frisch gesträhnten Locken in alle möglichen Richtungen abstehen ließen, »dass meine Tochter in weniger als zwei Monaten heiratet und sich offenbar niemand einen feuchten Kehricht darum kümmert, dass die Zeit langsam knapp wird und noch immer tonnenweise Sachen zu erledigen sind.«
»Es wird schon alles klappen, Schätzchen.« Ihre Mutter zupfte an dem langen Taftrock. »Ist das nicht schrecklich viel Stoff? Ich sehe ja aus wie ein Hippie.«
»Sie geht nicht dran.« Cindy steckte das Handy wieder in die Handtasche und starrte zur Ladentür, als wollte sie Julia mit schierer Willenskraft herbeizitieren.
»Sie ist vierzig Minuten zu spät.«
»Vielleicht hat sie sich verirrt.«
»Verirrt?«, fragte Leigh ungläubig. »Sie steigt an der Haltestelle St. Clair in die U-Bahn und an der Station Finch wieder aus. Wie sollte sie sich da verirren?«
»Vielleicht hat sie die Haltestelle verpasst. Ihr kennt doch Julia. Manchmal ist sie ganz abwesend.«
»Julia war in ihrem ganzen Leben noch keinen Moment lang abwesend. Sie weiß immer ganz genau, was sie tut.«
»Was soll das heißen?«
»Leigh, warum zeigst du uns nicht dein Kleid?«, schlug ihre Mutter vor.
»Ja«, sagte Cindy müde. »Mom sagt, es wäre wundervoll.«
»Mom hat es noch gar nicht gesehen.«
»Guter Versuch«, flüsterte ihre Mutter, als Leigh sich kopfschüttelnd und vor sich hin murmelnd in die Umkleidekabinen im hinteren Teil des Ladens verzog. »Du musst mit deiner Schwester reden, Liebes. Sie macht mich wahnsinnig.«
Cindys Blick fiel auf ihr Abbild in einer Scheibe des dreiteiligen Ankleidespiegels. Erschrocken, aber unfähig, sich abzuwenden, trat sie darauf zu, als wäre sie unvermittelt an einen Unfallort geraten. Wann bin ich so hässlich geworden, fragte sie sich, hypnotisiert von den Falten, die sich um ihre großen Augen und ihren kleinen Mund drängten, und starrte, bis ihre noch zarten Gesichtszüge ganz verschwammen und nur noch die verräterischen Linien des Alters übrig waren. Sie blinzelte auf der Suche nach der jungen Frau, die sie einmal gewesen war, und erinnerte sich, dass sie irgendwann einmal als schön gegolten hatte.
Wie Julia.
Wann hatte ihr ein Mann zuletzt gesagt, dass sie schön war, fragte sie sich und stieß einen Stoffballen von dem Stuhl, als sie vor ihrem Spiegelbild zurückwich. Hin und her gerissen zwischen verschiedenen Gefühlen setzte sie sich: Sie war ungeduldig mit ihrer Schwester, wütend über ihre ältere Tochter und neugierig auf Neil Macfarlane. War er wirklich so intelligent, witzig und attraktiv, wie Trish behauptete? Und wenn ja, warum sollte er sich dann für eine 42-jährige Frau mit nicht mehr ganz festen Brüsten und absackendem Hintern interessieren? Ein derartiger Hauptgewinn konnte doch gewiss aus einer beliebigen Zahl perfekter junger Frauen auswählen, die es kaum erwarten konnten, seine Bekanntschaft zu machen. Tom jedenfalls hätte diese Wahl garantiert für beschränkt gehalten.
Cindy sah auf die Uhr. Schon fast zehn vor fünf. Wenn sie hier fertig und zu Hause war, immer vorausgesetzt, dass sie den Laden einigermaßen fahrtüchtig und nicht komplett irre verließ, blieb ihr gerade noch genug Zeit, sich zu duschen und umzuziehen, von dem Gedanken, sich um etwas Essbares für die Kinder zu kümmern, ganz zu schweigen. Sie seufzte und dachte, dass Heather und Duncan sich eine Pizza bestellen konnten. Dabei fiel ihr ein, dass Julia erwähnt hatte, dass sie vielleicht mit ihrem Vater zu Abend essen wollte. War sie etwa bei ihm?
»Tataa!«, verkündete Leigh, zog den Vorhang beiseite und trat in mehrere Quadratmeter rosa Taft gehüllt vor ihre Mutter und ihre erschrockene Schwester.
Das ist nicht wahr, dachte Cindy, machte den Mund auf, um etwas zu sagen, brachte jedoch kein Wort heraus.
»Natürlich will ich bis zur Hochzeit noch zehn Pfund abnehmen, damit es hier enger sitzt.« Leigh zerrte an den Falten um Bauch und Hüfte und strich den Taft glatt. »Und was meint ihr?« Sie streckte die Hände in die Luft und drehte sich einmal um die eigene Achse.
»Das würde ich nicht tun, Schätzchen.« Norma Appleton wies auf die Arme ihrer Tochter.
»Was?«
»Deine ›Huhu, Helens‹«, sagte ihre Mutter mit einer Grimasse.
»Meine was?«
»Deine ›Huhu, Helens‹«, wiederholte ihre Mutter mit einer viel sagenden Kopfbewegung.
»Wovon redest du überhaupt? Wovon redet sie?«, wollte Leigh von Cindy wissen.
»Erinnerst du dich an Tante Molly?«, fragte Cindy zögernd.
»Natürlich erinnere ich mich an Tante Molly.«
»Erinnerst du dich an ihre Freundin Helen von gegenüber?«
»An eine Helen kann ich mich nicht erinnern.«
»Egal«, fuhr Cindy fort und wappnete sich innerlich schon gegen den Wutanfall, der garantiert folgen würde, »jedenfalls hat Tante Molly jedes Mal, wenn sie Helen gesehen hat, gewunken und gerufen: ›Huhu, Helen. Huhu, Helen.‹ Und dabei hat die Haut an der Unterseite ihrer Arme geschwabbelt, sodass Mom irgendwann angefangen hat, diesen Teil der Arme die ›Huhu, Helens‹ zu nennen.«
»Was!«
»Huhu, Helen«, sagte ihre Mutter und winkte einer unsichtbaren Frau auf der anderen Seite des Raumes zu. »Huhu, Helen.«
»Wollt ihr damit etwa sagen, meine Arme schwabbeln?«
»Arme schwabbeln immer«, beschwichtigte Cindy.
»Deine nicht«, sagte ihre Mutter.
»Nein, Cindys Arme sind perfekt«, stimmte Leigh ihr wütend zu und lief vor ihrer Mutter und Schwester auf und ab. »Das liegt daran, dass Cindy Zeit hat, fünfmal die Woche ins Fitness-Studio zu rennen.«
»Ich gehe nicht fünfmal pro Woche ins Fitness-Studio.«
»Weil Cindy nur zur Arbeit gehen muss, wenn sie Lust dazu hat …«
»Das ist nicht wahr. Ich arbeite drei Nachmittage die Woche.«
»… sodass sie jede Menge Zeit hat, Sachen zu tun wie ins Fitness-Studio oder zum Filmfestival zu gehen und …«
»Was für ein Problem hast du bloß mit dem Filmfestival?«
»Ich habe überhaupt kein Problem damit. Ich würde ehrlich gesagt liebend gern zehn Tage damit zubringen, in einen Film nach dem anderen zu gehen. Ich mag Filme genauso gerne wie du.«
»Und warum tust du das dann nicht?«
»Weil ich eine Verantwortung habe. Weil ich vier Kinder und einen Mann habe, um die ich mich kümmern muss.«
»Deine Tochter heiratet demnächst, deine Söhne sind auf dem College, und dein Mann kann sich um sich selber kümmern.«
»Als ob du irgendwas darüber wüsstest, wie man sich um seinen Mann kümmert«, sagte Leigh und wurde sofort sichtlich blass. »Das habe ich nicht so gemeint.«
Cindy nickte, unfähig, einen Ton herauszubringen.
»Das ist alles deine Schuld«, wandte Leigh sich an ihre Mutter. »Du und deine verdammten ›Huhu, Helens‹.«
»Du nimmst alles viel zu ernst«, sagte ihre Mutter. »Das hast du schon immer getan. Außerdem ist das keine Entschuldigung dafür, gemein zu deiner Schwester zu sein.«
Leigh ließ schuldbewusst den Kopf sinken. »Es tut mir wirklich sehr Leid, Cindy. Bitte verzeih mir.«
»Du hast eine Menge Stress«, räumte Cindy bemüht großzügig ein.
»Glaub mir, du hast ja keine Ahnung.« Leigh drückte die Arme an den Körper und hielt sie absolut starr. »Es ist eine Katastrophe nach der anderen. Das Hotel hatte den Ballsaal doppelt gebucht, und es hat Tage gedauert, die Sache zu klären; der Florist sagt, Flieder im Oktober ist ausgeschlossen …«
»Wer hat denn im Oktober Flieder?«, fragte ihre Mutter.
»Die Schwiegerfamilie in spe hat noch nicht angeboten, auch nur einen Penny beizusteuern, und jetzt will Jason auf einmal eine Reggae-Band statt des Trios, das wir engagiert haben.«
»Er ist der Bräutigam«, erinnerte Cindy ihre Schwester.
»Er ist ein Idiot«, gab Leigh zurück, als die Tür aufging.
»Wer ist ein Idiot?« Leighs Tochter Bianca marschierte unvermittelt in den Laden, dicht gefolgt von Cindys Tochter Heather. Wie ihre Mutter war die 22-jährige Bianca leicht übergewichtig, wobei sich die zusätzlichen Pfunde in der Hauptsache um ihre Hüften angesammelt hatten, was sie kleiner aussehen ließ, als sie in Wirklichkeit war. Ebenfalls wie ihre Mutter hatte Bianca hellbraune Augen, einen vollen Mund und ein breites Lächeln.
(Schnappschüsse: Die sechs Jahre alte Cindy, die zu Halloween in einem Wonder-Woman-Kostüm steckt, lächelt schüchtern in die Kamera, während die drei Jahre alte Leigh, nackt bis auf eine komische schwarze Maske, im Hintergrund herumkaspert; die dreizehnjährige Cindy und die zehnjährige Leigh stehen links und rechts neben ihrer Mutter vor ihrem neuen Haus in der Wembley Avenue, Leigh hat den Arm im Rücken ihrer Mutter ausgestreckt und hält ihre Finger hinter Cindys Kopf zu Hasenohren hoch; Mutter und ihre halbwüchsigen Töchter sitzen auf einem großen Felsen am Ufer des Lake Joseph, Cindy blinzelt in die Sonne, Leighs Gesicht ist im Schatten verborgen.)
»Hallo, Tante Cindy.«
»Hallo, Süße.«
»Wer ist ein Idiot?«, fragte Bianca erneut.
Leigh tat die Frage ihrer Tochter mit einem Achselzucken ab und gab vor, mit den Falten ihres Kleides beschäftigt zu sein.
»Hi, Mom.« Heather begrüßte Cindy mit einem Kuss auf die Wange.
»Hallo, Liebes. Ich hab gehört, du siehst umwerfend aus in dem Kleid. Tut mir Leid, dass ich es verpasst habe.«