Blaue Harmonie - Marion Hübinger - E-Book

Blaue Harmonie E-Book

Marion Hübinger

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Beschreibung

Wenn die Farbe deiner Gefühle zu deinem Schicksal wird! Das Leben der siebzehnjährigen Sarina ist nahezu perfekt. Ihre Familie gehört zu den Wenigen, die es geschafft haben, sich vor der verheerenden Pandemie auf der Erde in Sicherheit zu bringen und auf dem Planeten Aeterna unterzukommen. Hier wird das Leben der Menschen von der Farbe ihrer Auren bestimmt und ist ein harmonisches Miteinander. Zumindest glaubt das Sarina. Bis ihr Bruder eingesperrt wird, weil das Blau seiner Aura in ein zorniges Rot übergeht, und sie erkennt, wie gefährlich diese Welt tatsächlich ist. Aber Sarina hat Glück. Sie ist die Einzige, deren immerzu hellgelbe Aura nichts über ihre Gefühle verraten kann. Sie und der fremde Junge, der plötzlich an ihrer Schule auftaucht ...

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Seitenzahl: 380

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Blaue Harmonie
Über die Autorin
Impressum
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
Danksagung

Marion Hübinger

Blaue Harmonie

Soul Colours 1

Über die Autorin

Marion Hübinger ist am Bodensee aufgewachsen, aus beruflichen Gründen zog es sie später nach München, wo sie seitdem mit ihrer Familie lebt. Als gelernte Buchhändlerin steht das Lesen und Verkaufen von Büchern im Vordergrund, doch sie hat ihren Wunsch, etwas Eigenes mit Worten zu schaffen, nie aus den Augen verloren. Im Genre Fantasy fand sie 2014 ihren schriftstellerischen Hafen, neben zahlreichen Fantasy Jugendromanen veröffentlicht sie auch Kinderbücher und Romance. Heute arbeitet sie in einer kleinen Buchhandlung mit Schwerpunkt Kinder-/ Jugendbuch. Wenn sie jetzt nach Hause kommt, wartet ein Schreibtisch voller Hefte, Blöcke, Stifte und Notizen auf sie. Ihre fantasievollen Geschichten fließen immer zuerst auf unzählige Seiten Papier.

Impressum

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.deabrufbar.

Print-ISBN: 978-3-98658-032-2

Auch als eBook erhältlich

Text: © Marion Hübinger

Die Soul-Colours-Reihe von Marion Hübinger erschien von 2015 bis 2022 als eBook-only-Ausgabe bei Impress, einem Imprint des Carlsen Verlages.

Buchsatz: Grit Richter, Tagträumer Verlag

Umschlaggestaltung: Grit Richter, Tagträumer Verlag

unter Verwendung von Bildmaterial von creativemarket.com

Lektorat: Pia Praska

Tagträumer Verlag

ein IMPRINT der EISERMANN MEDIA GMBH

Alte Heerstraße 29 | 27330 Asendorf

Alle Personen und Namen innerhalb dieses Buches sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Für Amelie,

weil wir die Freude an Fantasy-Serien teilen

1. Kapitel

»Mum, ich gehe heute nach der Schule noch zu Colin!«

Bepackt mit meinen Schulsachen stehe ich im Türrahmen unseres Sportraums und entdecke die Silhouette meiner Mutter hinter dem weißen Paravent. Die fließenden Bewegungen ihres Körpers gleichen einer sich im Wind wiegenden Weide. Seufzend stelle ich meine Tasche ab und ändere kurz den Startmodus an meiner Watch ab. Noch drei Minuten bis ich endgültig los muss.

Im Grunde erwarte ich nichts. Seit mehr als drei Monaten kündige ich jeden zweiten Mittwoch den Besuch bei meinem Bruder an, immer vergebens. Mum hat noch mit keiner Silbe erwähnt, dass sie mitkommen will. Und trotzdem lässt mich auch heute dieser winzig kleine Funke namens Hoffnung kurz ausharren. Hoffnung auf eine Reaktion. Ein kurzes Nicken, ein Hauch von einem Lächeln, irgendetwas das mir zeigt, dass meine Mutter kein gefühlskalter Eisklotz ist. Dass sie ihren Sohn noch nicht endgültig abgeschrieben hat? Dass sie unsere kleine Familie, die durch Vaters gewaltsamen Tod sowieso schon gelitten hat, nicht aufgibt? Doch auch jetzt fährt sie unbeirrt mit ihren Yogaübungen fort.

»Sei dir bewusst, wie du dich mit der Energie in der Erde verbindest, wie sie von deinen Füßen bis in die ausgestreckten Fingerspitzen fließt und dich erdet«, vernehme ich auf einmal Sunnys sanfte und melodiöse Stimme. Sie muss am Fenster gestanden haben, sonst hätte ich sie früher bemerkt.

»Ewiges Aeterna, Sunny«, rufe ich in den Raum hinein. »Du bist heute wieder früh da.«

Sunny ist die persönliche Fitnesstrainerin meiner Mutter und geht nun schon seit einigen Wochen bei uns zuhause ein und aus. Ein Lichtfleck auf einer eher düsteren Landkarte. Seit unsere Familie nur noch auf meine Mutter und mich reduziert ist. Sunny erinnert mich an einen exotischen Vogel. Sie flattert fröhlich ins Haus, schleppt jede Menge Lebensweisheiten an und hinterlässt überall ein paar Farbtupfer. Und nebenbei arbeitet sie beharrlich daran, dass Mum und ich nicht ganz im Sumpf des Schweigens versinken.

»Wir sind gleich fertig, bitte stör sie jetzt nicht. Sie versucht zum ersten Mal den Baum.« Sunny ist leise zu mir getreten. Wie üblich umgibt sie eine intensive Duftwolke, hervorgerufen von mindestens einem Dutzend Räucherstäbchen. Von dieser uralten Methode der Duftmanipulation halte ich überhaupt nichts.

»Wie kannst du es da drin nur aushalten«, halte ich naserümpfend entgegen. »Was hast du gegen Neue Geruchswelten? Die Chemiker arbeiten Tag und Nacht daran Düfte zu entwickeln, die der Entspannung dienen. Warum musst du immer diese antiken Stäbchen anschleppen?«

»Ach, Sarina, du weißt doch, wie sehr ich an den alten Traditionen hänge. Schon vor Jahrhunderten wurden auf der Erde duftende Hölzer während der Meditation verbrannt. Ihre Düfte können durchaus zu einem ausgeglichenen seelischen Zustand führen. Sag mir, warum soll dieses Wissen denn nicht mehr genutzt werden? Nur weil auf unserem Planeten die besten Forscher des Weltalls leben, heißt das für mich nicht, dass alles Alte in Vergessenheit geraten muss.«

Es hat keinen Sinn mit Sunny zu streiten. Wir haben unterschiedliche Ansichten. Sie klammert sich fast gewaltsam an die Erinnerungen, die sie mit ihrem früheren Leben auf der Erde verbinden. Doch dieser Planet ist ausgestorben. Und Aeterna ist auch zu ihrem Rettungsanker geworden.

Ich selbst kann mir ein anderes Leben als das auf Aeterna nicht vorstellen. Hier bin ich geboren. Die Lebensbedingungen sollen denen auf der Erde nicht unähnlich sein. Aeterna besitzt eine dichte und warme Atmosphäre und verfügt im Gegensatz zu anderen Planeten über genügend Sonneneinstrahlung. Schwer zu kämpfen haben wir lediglich mit den regelmäßig wiederkehrenden Stürmen. Da unser Planet erst vor 22 Jahren entdeckt wurde, ist er noch extrem dünn besiedelt. Am letzten Jahrestag wurde die Zwanzigtausend erstmals überschritten. Seine bewohnbare Fläche besteht trotz der annähernd gleichen Größe wie die Erde lediglich aus einer kleinen Inselgruppe. Der Rest liegt verborgen im Ozean.

Wir Aeteraner leben auf der größten Insel, die beiden kleineren dienen denen, die es sich leisten können, zur mentalen Erholung. Am meisten schätzen wir auf Aeterna die klare und erfrischende Luft, die sich wie ein angenehmes Prickeln auf der Haut anfühlt. Ein staubfreier Planet ist ein kostbares Gut. Das zählt zu den größten Vorzügen von Aeterna. Unbegreiflich, dass Sunny auch nur einen Gedanken an die Erde verschwendet. Einem Planeten, dessen hohe selbsterzeugte Luftverschmutzung am Ende zur größten Gefahr für seine Bewohner wurde. Denn ein einzigartiger Virus konnte sich wie die Samen einer Pflanze über die Staubpartikel in der Luft in rasender Geschwindigkeit verbreiten. Die Pandemie, an der die gesamte Erdbevölkerung im Verlauf jenes extrem trockenen Sommers 2042 starb, war nicht aufzuhalten. Glücklicherweise gelang es einer kleinen Anzahl von Menschen rechtzeitig vor dem Großen Sterben auf den gerade erst entdeckten Planeten Aeterna zu fliehen. Unter anderem Sunny und meinen Eltern.

»Du und deine Träumereien«, sage ich und schenke Sunny ein großzügiges Lächeln. »Wir haben es doch überhaupt nicht nötig zurückzuschauen.« Doch sie zieht nur die Augenbrauen vielsagend in die Höhe.

Ich mag Sunny trotzdem. Von Anfang an ist sie wie eine große Schwester zu mir gewesen. Dabei überragt sie mich nur um ein paar Zentimeter, was bei meinen Einsachtundfünfzig keine große Kunst ist. Manchmal stecke ich meine dunkelbraunen Locken kunstvoll nach oben, um größer zu wirken. Aber Sunny lacht jedes Mal, wenn sie mich bei diesen Versuchen ertappt. »Wahre Größe kommt von innen« behauptet sie dann nicht besonders hilfreich. Dabei meint sie es vollkommen ernst. Sunny strotzt nur so vor Selbstbewusstsein. Sie inszeniert sich selbst mit ihren bunten wild gemusterten Kleidern zu einem Kunstwerk. Niemals würde ich mich so auf die Straße trauen! Ich versuche mit einem einfarbigen legeren Sportdress von meiner ungewöhnlich blassen Haut eher abzulenken. Da meine Wimpern von Natur aus dicht und lang und die Augenbrauen kräftig gezeichnet sind, fallen meine ungewöhnlich grünen Augen sowieso schon jedem auf, der mich ansieht. Sunny begreift nicht, dass ich mir manchmal wünsche durchschnittlicher auszusehen. Sie hingegen ist stolz auf ihr Aussehen. Sowohl die Kleidung als auch die langen schwarzen Haare, die Sunny fast bis zum Po reichen, sind typisch für ihre hawaiianische Abstammung. Meistens trägt sie einen dicken geflochtenen Zopf. Wenn Sunny von ihrer Heimat erzählt, kommt sie schnell ins Schwärmen. Hawaii ist eine Inselgruppe im Pazifik und war sogar mal ein Königreich. Darauf legt sie besonderen Wert. Doch auch die über eine Million Einwohner wurden vom Ikarusvirus vernichtet.

»Aber du musst doch zugeben, Sarina«, wirft Sunny jetzt ein, ohne sich von meinem gnädigen Kommentar aus dem Konzept bringen zu lassen. »Deiner Mutter geht es richtig gut!«

»Zum Glück, ja!«

Ich denke an die vielen Nächte zurück, in denen meine Mutter in unserem Haus herumgegeistert ist, weil sie nicht schlafen konnte. Doch sie zieht nie in Erwägung, dass die Schlaflosigkeit mit den dramatischen Ereignissen in unserer Familie zusammenhängen könnte. Gefühle bestimmen nicht das Leben meiner Mutter. Diese Lektion habe ich bereits als kleines Kind gelernt. Stattdessen schiebt sie es auf eine altersbedingte hormonelle Veränderung in ihrem Körper. »Das müssen die Wechseljahre sein.« Wie oft habe ich diesen Satz inzwischen von ihr gehört! Tagsüber ist Mum oft völlig übermüdet und niemand kann es ihr Recht machen. Vor allem ich nicht.

»Ich behaupte ja nicht, dass die Idee mit dem Yoga schlecht war«, bestätige ich. »Aber diese Sportart ist trotzdem völlig veraltet. Eine Intensivkur von Neue Geruchswelten würde ihr sicher auch helfen.«

»Das ist nicht dasselbe«, sagt Sunny und wirft mir einen ihrer tiefgründigen Blicke zu. Ihre Pupillen weiten sich wie die Nachtaugen einer Eule und ziehen mich hypnotisch in ihren Bann. Gleichzeitig beginnt es in meinem Kopf eigenartig zu summen. Als würde jemand an mein Gehirn andocken. Dieser Moment geht so schnell vorbei, dass ich mich frage, ob ich mir das Ganze nur eingebildet habe.

Sunny jedenfalls wendet ihre Aufmerksamkeit längst wieder meiner Mutter zu. »Bravo, Dinah, der Baum ist dir wunderbar gelungen!«

Sie verlässt ihren Beobachtungsposten und ich folge ihr gedankenlos ein paar Schritte in den Raum. Meine Mutter sitzt auf ihrer sonnengelben Yogamatte und strahlt uns an. Das enganliegende Energizer Shirt und die Pants lassen ihren Körper noch schlanker wirken. Ihre kurzen braunen Haare stehen in alle Himmelsrichtungen ab. Sie sieht beinahe knabenhaft aus. Im Schein der frühen Sonnenstrahlen, die verschmitzt durch das Fenster blinzeln, wirkt sie tatsächlich für einen Moment glücklich. Aber was bedeutet das schon. Ich dringe trotzdem nicht zu ihr vor.

»Sarina, willst du nicht auch mal wieder mitmachen? Es tut gut zu lernen den Körper so zu beherrschen.«

Ich schrecke hoch. »Nein, keine Chance!«

Die eine Stunde, zu der sie mich überreden konnte, als Sunny zum ersten Mal bei uns war, hatte mir wirklich gereicht. Unmögliche sinnlose Verrenkungen zu irgendwelchen sphärischen Klängen, nur um am Ende in einer Art Trance einzuschlafen. Nein, danke. Auch wenn Sunny anderer Meinung ist, unsere Wissenschaftler entwickeln im Auftrag der Regierung die besten Zerstäubungsanlagen, die unsere Technik zu bieten hat. Ewige Glückseligkeit, so heißt die neueste Duftnote, die wir tagtäglich an jedem Ort auf der Insel einatmen und die uns Aeteraner automatisch in einen entspannten Zustand versetzt. Mehr braucht es nicht für ein friedvolles Miteinander.

»Wie wäre es mit ein paar Mantras? Du singst doch so gern. Und danach …«

»Mum«, unterbreche ich ihre Schwärmereien. Ein Blick auf meine Watch zeigt mir, dass ich mein Lauftempo mittlerweile um 8,5% erhöhen muss, um rechtzeitig zur Schule zu kommen. »Ich muss jetzt wirklich los! Wegen Colin …«

»Ja, ja«, winkt meine Mutter allzu schnell ab. »Es ist gut, dass du gehst.«

»Mum«, bettle ich mit fast kindischem Trotz um mehr und verschränke dabei meine Arme vor der Brust. »Es sind jetzt über drei Monate …«

Demonstrativ schließt sie die Augen und führt ihre Zeigefinger an die Schläfen. Ich kenne diese Geste. Wie bereits tausend Mal zuvor zerschellt mein Herz an dieser unüberwindbaren Mauer. Kompromisslos schließt mich meine Mutter aus ihrem Leben aus. Der erste Anflug von Kopfschmerzen, seid leise Kinder, stört eure Mutter nicht, ihr habt hier nichts zu suchen. Colin, der mich an die Hand nimmt und weg führt …

»Nimm Colin doch etwas von dem Tee mit, den ich heute mitgebracht habe. Eine Kräutermischung aus meinem Garten. Wirkt harmonisierend und stärkt die Nerven«, dringt Sunnys sanfte Stimme zu mir durch.

Ich werfe ihr einen dankbaren Blick zu. Ich hasse es, wenn ich mich in solchen Erinnerungen verliere. Sunny kommt zu mir und drückt aufmunternd meine Hand.

»Das ist ein altes Rezept von meiner Großmutter«, flüstert sie mir mit einem frechen Zwinkern zu. Ich verdrehe die Augen. Aber schon im nächsten Moment müssen wir beide lachen.

»Ich werd‘s Colin ausrichten«, versichere ich ihr und denke wieder einmal, wie froh ich bin, dass Sunny zu uns gestoßen ist.

Und das habe ich ausgerechnet Hunter zu verdanken, der von ihrer fachlichen Kompetenz als Trainerin gewusst hat. Hunter, groß, stämmig und ein echter Aeteraner. Er gehörte zu den Wachmännern, die aufgetaucht waren, als Colin abgeholt wurde. Und ist seither nicht mehr aus unserem Leben verschwunden. Ich glaube nicht, dass er dabei nur seinem Beschützerinstinkt gefolgt ist. Witwe mit abtrünnigem Sohn und schwer erziehbarer außergewöhnlicher Tochter – so muss es zwar förmlich auf Mutters Stirn gestanden haben. Manchmal werde ich das Gefühl nicht los, dass mehr dahinter steckt. In seiner Gegenwart fühle ich mich oft wie auf dem Prüfstand. Trotzdem bleibt mir nichts anderes übrig, als seinen Einzug in unser Haus zu akzeptieren. Und ich kann nicht leugnen, dass Hunter meiner Mutter auf eine seltsame, für mich nicht einsichtige Weise gut tut. Ich will mich also nicht beklagen.

Ich werfe einen letzten Blick auf meine Mutter. »Ich geh dann mal«, verkünde ich laut.

Sunny winkt mir kurz zu. Sie ist gerade dabei, den Raum für die Entspannungsphase zu verdunkeln. »Grüß Colin von mir!«

»Von mir auch, Sarina.«

Meine Füße stocken nur den Bruchteil einer Sekunde. Aber die Gedanken purzeln kopfüber. Werde ich, Mum, aber wann wirst du ihn endlich mal besuchen gehen? Mein Herz trägt schwer an diesem Satz. Doch es steht mir nicht zu, über das komplizierte Verhältnis zwischen den beiden zu urteilen. Ich atme tief durch. Das genügt, um mich wieder im Griff zu haben. Außerdem kann ich darauf vertrauen, dass die Gefühlsscans wegen mir niemals anschlagen werden. Ich bin eine Paria, meine Gehirnaktivität ist dermaßen groß, dass ich im Gegensatz zu anderen Aeteranern dazu in der Lage bin meine Gefühle selbst zu kontrollieren. Ich beachte die Sensoren, die uns überall umgeben und unsere Stimmungen messen, nie. Und auf Ewige Glückseligkeit bin ich auch nicht angewiesen. Ich sollte mich glücklich schätzen.

Während ich in meine Airmax schlüpfe, taucht trotzdem Colins verzweifeltes Gesicht in meinem Kopf auf. Der Morgen, an dem die Wächter ihn vor unserer eigenen Haustür abgeholt haben. Ein roter Scan, der über sein Schicksal entschied. Und Rot bedeutet so viel wie Gefahr. Im Bruchteil von Sekunden waren sie da. Da er mit 21 Jahren volljährig war, konnten ihn die Elitewachen ohne großen Prozess abholen. »Im Namen des Gesetzes von Aeterna und zum Schutz aller Bewohner«, so lautete die offizielle Begründung des Obersten Wachmanns, als sie ihn von zuhause mitnahmen. Ich konnte nur hilflos zusehen. Das Gesetz von Aeterna ist unanfechtbar.

Über drei Monate ist das jetzt her. Colin wurde erst ins Solium, den Hauptsitz der Regierung, gebracht. Dort führten sie unzählige Gespräche mit ihm. Der Bürgermeister höchstpersönlich hatte ihn aufgesucht, die Eliteführung, verschiedenste Ärzte: Colin, der Sohn des erfolgreichen Technoleiters Joseph Mahler, mit den besten Aussichten auf einen hohen Posten in der Regierung. Seine Gefühle waren außer Kontrolle. Seitdem ist er in Isolierhaft. Ich selbst halte meinen Bruder nicht für gefährlich. Aber das Gesetz will es so. Darum ist es mir auch nur erlaubt Colin zweimal im Monat zu besuchen. Zu meinem eigenen Schutz.

Ich bin schon fast zur Haustür raus, da fällt mir Sunnys Tee ein. Der Kochraum wird eigentlich nur von ihr genutzt. Keiner in dieser Familie hat sich je dazu berufen gefühlt diesem Raum mehr Zeit als nötig zu widmen. Schon gar nicht meine Mutter. Unser Essen bestellen wir einfach bei Gesund & Fit. Alles, was unser Körper braucht, misst die Watch, und aufgrund der Daten erhalten wir unsere persönlichen Mahlzeiten geliefert. Ich entdecke eine dekorative blaue Schale mit frischem Obst. Daneben steht der Multikocher. Ich hätte nicht gedacht, dass dieses nutzlose Gerät jemals zum Einsatz kommt. Doch Sunny bereitet damit ihre fruchtigen Shakes und Milchspeisen zu. Sie betreibt in meinen Augen einen völlig übertriebenen Aufwand, um an die notwendigen Vitamine zu kommen. Ich schlucke einfach die mir zugewiesene Tablette, keine unnötigen Einkäufe, keine Nutzspuren im Kochbereich, keinerlei Zeitverlust.

Die Teedose steht zum Glück direkt neben dem Multikocher. Beim Öffnen umspielt ein intensiver fremdartiger Duft meine Geruchssinne. Wieder so eine eigenwillige Mischung aus Sunnys Kräutergarten. Davon kann sie gar nicht genug anschleppen. Auf der Suche nach einer Verpackungsmöglichkeit bleibt mein Blick an dem alten Papierfetzen hängen, den mein Vater eingerahmt und in die Tür des Schrankes gehängt hat. Es handelt sich um einen Zeitungsausschnitt aus dem Jahr 2040, in dem er zum jüngsten Forschungsminister Deutschlands gewählt wurde. Dad hat Colin und mir immer wieder erzählt, dass die mit Tinte bedruckten Papiere lange Zeit zu der beliebtesten Informationsquelle der Erdbewohner zählten. Der Gedanke kommt mir immer noch völlig absurd vor. Ich benötige nur wenige Touchs, um mich in die Datenbanken auf Aeterna einzuloggen.

Beladen mit meinem Tablet, den Sportsachen und dem in kompostierbarer Luftfolie verpackten Tee mache ich mich auf den Weg zur Schule. Mein Scan an der Haustür schimmert hellgelb wie immer. Ohne die geringste Abweichung. Aeterna kann sich auf mich verlassen.

***

»Ewiges Aeterna, Sarina«, ruft mir Gina zu. Sie läuft gerade mit ihrem Zwillingsbruder Moses an unserem Haus vorbei. »Nimmst du heute den Shuttle?«

Seit diesem Jahr gehen die beiden auch auf meine Schule. Sie sind die einzigen Jugendlichen in meinem Alter, die in unserer Siedlung wohnen. Wir sind schon immer Nachbarn gewesen. Aber meine Eltern haben keinerlei Kontakt zu den Passolas gesucht. Und darum blieben auch Colin und ich eher für uns. Ich habe es nie hinterfragt.

»Heute nicht«, antworte ich Gina, die erwartungsvoll stehenbleibt. Ihrem Gesicht nach zu urteilen, ist das nicht die Antwort, die sie sich gewünscht hat.

»Läufst du etwa wieder?«, fragt sie ungläubig. Unsere Schule liegt direkt im Centrum. Mit dem Überlandshuttle braucht man exakt 12,5 Minuten. Da er lediglich auf einer Kufe gleitet, erreicht er auch auf kurzen Strecken eine Geschwindigkeit von über 200 km/h. Allerdings umrundet er zunächst die Hochebene für zwei weitere Stationen, während ich den direkten Weg auf die Hochebene nehmen kann. Nur ein paar Straßen von uns entfernt liegt die Shuttlestation.

»Ja, aber ich bin spät dran. Wir sehen uns in der Maxima.«

Mein Blick schweift über die Häuser unserer Straße. Unsere Siedlung wirkt noch verschlafen. Als ob sie erst ein Glockenschlag zum Leben erwecken könnte. Doch die Vorhänge bleiben verschlossen, die eine oder andere Elitegattin gönnt sich noch eine Runde Schlaf.

Wenn ich die Wahl habe, gehe ich die sechzehn Kilometer zur Schule am liebsten zu Fuß. Mir ist bewusst, dass ich Gina jedes Mal enttäusche, aber das nehme ich in Kauf. Sie zählt nicht zu meinen Freundinnen. Ein Nachbarskind, mehr nicht. Kundschafterin nannten Colin und ich früher ihre Mutter, wann immer wir deren prüfende Blicke im Rücken spürten. Und integrierten sie in unsere abenteuerlichen Spiele als Inbegriff des Feindes ein. Unsere Eltern hielten es für angebracht, dass wir so oft es ging an der frischen Luft waren. Gina und Moses durften jedoch nie draußen spielen.

Ich fülle meine Lungen mit der morgendlichen reinen Luft und fühle mich auf eigenartige Weise getröstet. Mein Gesicht spürt das vertraute Kribbeln auf der Haut. Ein Blick in das intensive Blau des Himmels genügt mir, um zu wissen, dass die Sturmwahrscheinlichkeit heute bei fünfzig Prozent liegt. Für uns Aeteraner ein selbstverständlicher Gedanke, denn die Stürme halten uns oft zuhause fest. Meine Watch könnte mir sofort genauere Daten liefern, doch ich folge bereits dem ausgetretenen Weg, der aus unserer kleinen Siedlung hinausführt. Die trockene sepiabraune Erde weist hier nur wenig Risse oder Krater auf. Wir wohnen am Rand des Tieflands, das sich bis zum Ozean hinzieht. Mein Ziel sind jedoch die nördlichsten Ausläufer des Hochlandes, einem zerklüfteten Gebirgsmassiv, das nur wenig Zivilisation zulässt. Auf einer der Hochebenen liegt unsere bedeutende Stadt, das Centrum.

Die zwölfprozentige Erhöhung meiner Geschwindigkeit, die mir gerade angezeigt wird, stellt kein Problem dar. Schnell finde ich den richtigen Rhythmus. Und genieße die morgendliche Stille um mich herum. Wie so oft verliere ich mich im stummen Dialog mit mir selbst. Niemand, der etwas von mir will, niemand, der in meinen Augen eine Spur von Traurigkeit oder Einsamkeit entdecken könnte. Völlig ungefiltert fluten Bilder durch meinen Kopf. Der kunstvoll geschwungene Türklopfer am Eckhaus fällt mir ins Auge, der so gar keinen Sinn macht, da sich unsere Türen per Handscan öffnen lassen. Ich entdecke eine neue rote Skulptur vor dem Eingang meiner früheren Deutschlehrerin am Lyceum. Sie hat eine Schwäche für völlig abstrakte Statuen. Auch der alte Herr aus Haus Nr. 15 sitzt bereits auf seiner Bank neben dem Eingang und winkt mir freundlich zu.

Doch nichts von all dem kann darüber hinwegtäuschen, dass diese Siedlung aus völlig identischen weißgetünchten Häusern besteht. Ein Klon nach dem anderen. Großzügig und praktisch gebaut, moderner Wohnraum für die Soliummitarbeiter und ihre Familien. Nur wenige Farbtupfer. Dort, wo sich jemand die Mühe macht den kleinen Vorplatz persönlich zu gestalten. Unser Haus gehört nicht gerade zu den Vorzeigemodellen. Ein künstlicher Rasen, umgeben von einer halbhohen Mauer aus Steinquadern. Nostalgisch mutet lediglich das schmiedeeiserne Tor an. Eine flüchtige Erinnerung meines Vaters, der darauf bestanden hatte.

Ich spüre ein kurzes Ziehen in meiner Brust bei dem Gedanken an ihn. Schiebe es bewusst beiseite und laufe gleichmäßig weiter. Dabei ignoriere ich wie gewohnt die Sensoren, die jedes Mal hellgelb aufleuchten, sobald ich eine der verborgenen Lichtschranken durchbreche. Die Gefühlsscans können auch im Freien die Energie, die uns umgibt, sichtbar und damit kontrollierbar machen. Sie erfassen unsere Stimmung in verschiedenfarbigen Auren. Neben meiner seltenen hellgelben Aura reicht das Spektrum von Blau, Violett über Grün und Orange bis hin zur roten Aura, die ein sofortiges Eingreifen notwendig macht. Nur dadurch kann die Regierung den Menschen ein möglichst sorgenfreies Leben ermöglichen. Ein friedvoller Planet. Dies zählte zu den großen Visionen der ehemaligen Erdbewohner nach ihrer Flucht.

2. Kapitel

Schon liegen die letzten Häuser vor mir. Eilige Schuhabsätze klappern in der Ferne, doch als ich mich umdrehe, kann ich nur noch die Rücklichter eines abfahrenden Hydros erkennen. In unserer Siedlung besitzen außer Hunter neun andere Soliumangestellte ein Hydroauto. Dieses Fortbewegungsmittel ist einzig und allein den Elitewächtern zugeteilt. Für alle anderen Aeteraner steht der Shuttle kostenlos zur Verfügung. Niemals würden wir die kostbare Luft absichtlich belasten!

Mein Weg führt mich jetzt auf die offene Ebene. Eine heftige Windbö erfasst mich, kaum dass ich aus dem Schatten der Häuser getreten bin. Eine ungemütliche Kampfansage. Das Warnsignal auf der Watch zeigt mir aufgrund der aktuellen Laufbedingungen eine mögliche Verspätung von sieben Minuten an. Noch einmal erhöhe ich die Frequenz meiner Schritte. Dank der Jumper mit ihren leicht zu aktivierenden Sprungfedern erreiche ich problemlos eine Geschwindigkeit von 40,72 km/h. Ich ziehe den Kragen meines anthrazitfarbenen Nanopullovers höher, dankbar, dass ich ihn heute aus dem Stapel gezogen habe. Vielleicht sollte ich die Trainingsjacke aus dem Rucksack holen? Doch das bedeutet kostbare Zeit, die ich nicht mehr habe.

Vor mir liegt eine gut zwei Kilometer lange Strecke, die fast parallel zu den Shuttlegleisen verläuft. Ein endloses Nichts aus harter Erde und den ersten Bruchstücken des Hochlandes. Es wirkt schon aus der Ferne beeindruckend, so als hätte rohe Gewalt die Gesteinsmassen aufgestapelt. Trotzdem war es der Regierung wichtig, die Stadt auf der Hochebene zu erbauen. Und es ist ihr gelungen einen einzigartigen völlig geometrisch angelegten Ort zu erschaffen, zu dem seine Bewohner jeden Morgen in den Shuttles strömen. Doch selbst beim Anblick des Shuttles, der gerade direkt neben mir vorbeirauscht und den Höhenunterschied vom Tiefland mühelos überwindet, bereue ich meine Wahl zu laufen keine Minute. Unter freiem Himmel fühlt sich alles leichter an. Eine Lektion aus frühen Kindertagen: Mit Colin an der Hand die Welt erkunden, sich im Wettstreit mit ihm messen, lernen nicht zu stolpern. Aber jetzt ist er selbst verdammt heftig gestolpert. Wenn es mir doch nur möglich wäre ihm zu helfen!

Als vier Jahre älterer Bruder war Colin schon immer mein großes Vorbild gewesen. Wir waren auf uns allein gestellt. Unser Vater arbeitete unermüdlich an irgendwelchen bahnbrechenden Erneuerungen für das Solium, doch wir erfuhren nie Genaueres. Und Mum war immer nur mit sich selbst und ihren diversen Krankheiten beschäftigt. Colin wurde im Grunde ungefragt zu meinem Aufpasser, meinem Lehrmeister und engstem Vertrauten. Und ich war seine gelehrige Schülerin. Jeder frisch erlernte Griff im Kampfsport wurde an mir erprobt. Die physikalischen Energiegesetze führte er mir vor Augen, indem er mich einen Hügel hinunterschubste. Bei dem Gedanken muss ich heute noch schmunzeln. Wir hatten großes Glück, dass ich außer ein paar Schürfwunden keine weiteren Blessuren abbekam. Selbst als Klavierlehrer eignete sich Colin bestens. Unser gemeinsames Vorspiel in meinem ersten Schuljahr zum Jahrestag von Aeterna, vierhändig - der Applaus war mir damals Lohn genug für die unzähligen Fingerübungen, zu denen mich Colin gezwungen hatte.

Mein Bruder, ein willensstarker Junge. Seit ich zurückdenken kann, wollte er es unbedingt in die Eliteeinheit schaffen. Keiner konnte vorhersehen, was der unerwartete Tod unseres Vaters vor einem halben Jahr bei ihm auslösen würde. Ausgerechnet mein Bruder, dessen blaue Aura immer von einem hingebungsvollen und in sich ruhenden Menschen sprach. Aus heiterem Himmel wurde das Solium zu seinem erklärten Feind. Ihn interessierte nicht, dass unser Vater den Wachmann im Gerichtsaal zuerst angegriffen hatte. Er hielt alles, was das Solium über die Ereignisse berichtete, für eine Lüge. Die Ärzte, die meine Mutter in ihrer Not zu uns nachhause bestellte, verordneten Sonderbesprühungen mit Stimmungsaufhellern. Das gilt als die übliche Therapieform bei extremen Aurenschwankungen. Doch auch eine hochkonzentrierte Dosis Ewige Glückseligkeit half Colin nicht über den Verlust hinweg.

Am schlimmsten war die Veränderung in seinem Verhalten Mum gegenüber. Sinnlos beschuldigte er sie für Vaters Tod verantwortlich zu sein, weil sie ihn an dem Tag ins Gericht geschickt hatte. Ich habe das keine Sekunde für möglich gehalten. Woher sollte sie wissen, was passieren würde? Ihr ging es nur darum, dass er ein gutes Wort für ihren Bruder einlegen sollte. Colin und ich haben allerdings nie in Erfahrung bringen können, was Onkel Davidoff vor Gericht vorgeworfen wurde. Auch nicht durch hartnäckiges Nachfragen. Tatsache ist aber, dass unser Onkel, den wir im Grunde kaum kannten, seitdem verschwunden ist.

»Sarina«, hatte mein Vater kurz bevor er zur Anhörung ins Solium fuhr, zu mir in seinem Arbeitszimmer gesagt. »Sarina, ich weiß, dass du die Gabe besitzt deinen Geist nicht von Unwahrheiten und Irreführungen blenden zu lassen. Ich bitte dich heute nur um eines, mein Augenstern, verliere nie den Blick für die Wahrheit. Sie kann manchmal anders aussehen als du für möglich hältst. Und hilf Colin, er ist in Wahrheit viel schwächer als du!«

Mit diesen Worten hatte er mich allein und völlig verwirrt zurückgelassen. Er musste geahnt haben, dass eine Aussage für seinen Schwager auch ihn belasten würde. Möglicherweise hatte er sogar viel mehr gewusst, als er uns sagen durfte. Immerhin war er im Solium ein- und ausgegangen. Was seinen unsinnigen Tod noch viel schlimmer macht.

Ich wünschte, ich würde Antworten darauf finden, warum Dad sterben musste. In der offiziellen Darstellung hieß es, dass er den Richter grundlos mit seiner Dazzler bedroht hat, woraufhin er in dem allgemeinen Durcheinander, das dadurch entstanden war, einem zu hohen Impuls elektromagnetischer Strahlung ausgesetzt war. Die Elitewachen hätten lediglich ihren Job gemacht. Jeder Soliummitarbeiter, auch mein Vater, trägt zum Schutz eine Energiewaffe bei sich, die nicht größer als eine Taschenlampe ist. Allerdings heißt es, dass eine DEW nur als Verteidigungswaffe eingesetzt werden darf. Ich hatte mit Colin endlos darüber diskutiert. Er war der Meinung, dass irgendjemand seine Dazzler gezielt auf unseren Vater abgefeuert hat. Nur so hätte die Wirkung tödlich sein können. Doch die Elite hat den Fall untersucht und diese Möglichkeit eindeutig ausgeschlossen. Alles ist im Dunkeln geblieben.

»Hey, wo bist du schon wieder mit deinen Gedanken?«, reißt mich eine bekannte Stimme aus eben diesen Gedanken. Nur mein allerbester Freund Josh kann so stürmisch sein, dass er mich bei einer Umarmung von hinten fast umwirft.

»Mann, musst du mich immer so erschrecken?« Ich spiele die Empörte und drehe mich zu ihm um.

»Musst du immer so tun, als wären wir alle Luft für dich?«, hält er dagegen. »Ich hab dich doch gerufen. Aber du reagierst rein gar nicht, null, nada!«

Bevor ich etwas erwidern kann, tritt Joshs älterer Bruder zu uns. Er rückt seine schmale Brille auf der Nase zurecht. »Ewiges Aeterna, Sarina! Josh übertreibt wie immer maßlos. Wir sind heute spät dran und gerade erst auf den Weg zum Montiac eingebogen.«

Mir wird ganz warm im Bauch, während ich den Gruß erwidere. Ich mochte Jasons ernstes Wesen schon immer. Früher war er einfach nur der schlaue große Bruder, der mir mordsmäßig imponiert hat. Aber inzwischen wünsche ich mir, dass er mehr in mir sieht als nur Joshs Freundin aus Kindertagen. Allerdings liegt genau da das Problem. Obwohl ich Jason schon lange kenne, weiß ich nicht, woran ich bei ihm bin. Manchmal ignoriert er mich völlig oder verdreht nur die Augen über Joshs und meine kleinen Albernheiten, und am nächsten Tag textet er mich auf dem ganzen Schulweg über die neuen Gesetzesentwürfe oder verbesserten Trainingsmöglichkeiten zu. Eigentlich ist er viel zu genial für uns alle. Er zählt zu den absoluten Überfliegern an unserer Schule. Er könnte bereits in einem Jahr mit gerade erst neunzehn seinen Abschluss machen, während die meisten noch zwei Jahre länger durchhalten müssen.

Wie immer trägt Jason ein fluoreszierendes Hemd und seine graue viel zu große Protecjacke. Er hat sie bei seinem Vater abgestaubt. Die kurzen blonden Haare kleben ihm förmlich am Kopf und sein Seitenscheitel ist mit Gel nach oben verwuschelt, so dass seine hohe Stirn noch mehr zur Geltung kommt. Auf den ersten Blick würde man kaum glauben, dass Jason und Josh Brüder sind. Denn Joshs wilde hellbraune Locken und der kleine Bart am Kinn geben ihm ein richtig verwegenes Aussehen. Er hat auf alle Fälle was von einem Abenteurer an sich. Und meistens sprudelt er vor Energie.

Dass wir so ziemlich die einzigen Läufer in der Gegend sind, schweißt uns drei zusammen. Auch in der Schule hocken wir viel aufeinander, obwohl nur Josh in meiner Stufe ist. Jason ist ein Jahr älter als wir. Die beiden wohnen mit zwei weiteren Geschwistern auf der größten Farm der Insel. Auf ihr lässt die Regierung alle notwendigen Pflanzen für Neue Geruchswelten anbauen. Ihr Vater ist ein berühmter Botaniker und experimentiert auch mit seltenen oder fast schon ausgestorbenen Pflanzen. Er leistet Aeterna großartige Dienste.

Wir sind heute an einer anderen Stelle als gewöhnlich aufeinander getroffen. Der Abzweig zum Montiac, der Hochebene Aeternas, liegt direkt vor uns. Ab hier geht es stetig bergauf.

»Warum habt ihr euch denn verspätet?«, will ich wissen, während wir gemeinsam dort einbiegen.

»Ach, nur das Übliche«, meint Josh lässig. »Ich musste noch die Temperaturen in den Gewächshäusern für Pa prüfen, und Jason hat unterwegs unbedingt die Nachrichten wegen des Unwetters auf seiner Watch verfolgen müssen.«

»Das ist ja nichts Neues«, sage ich lachend. »Mich hat meine Mum aufgehalten.«

»Wieso?«, will Josh wissen.

»Na ja, ich hab mal wieder versucht sie daran zu erinnern, dass heute Besuchstag ist«, gestehe ich leise.

»Mensch Sarina, du weißt doch, dass du dich damit nur selber fertig machst.«

Ich seufze leise. »Hast ja Recht, Josh.« Er legt seinen Arm tröstend um meine Schulter.

»Unsere Lauffrequenz sollte auf 21% erhöht werden. Unter Berücksichtigung der Steigung und der Luftzirkulation könnten wir es noch pünktlich halb neun schaffen«, teilt uns Jason mit, der ein Stück hinter uns geht.

Auf Jason ist Verlass. Wir sind noch nie zu spät gekommen. Im Gleichtakt erhöhen wir unser Tempo bergauf. Wir müssen jetzt allerdings vermehrt auf das lose Geröll achten, das den Anstieg auf dem letzten Stück erschwert.

»Sarina! Hast du das mit dem Orkan mitbekommen? Wir haben echt Glück gehabt, dass der doch noch an Aeterna vorbeigezogen ist. Wir mussten Pa heute Nacht helfen alle Pflanzenhäuser zu sichern. Er hat sich furchtbare Sorgen gemacht, weil die neuen thermoplastischen Kunststoffzelte bislang nicht sturmerprobt sind. Er wollte mir nicht glauben, dass alles gut geht. Falls es sich der Sturm anders überlegt, bin ich trotzdem ausgerüstet.« Gut gelaunt wedelt Josh mit seiner Profi-Outdoorausrüstung vor meiner Nase herum. Der kleine vakuumverpackte Beutel enthält einen regendichten Anzug und eine Art Schutzzelt, das man in wenigen Sekunden über sich spannen kann. Die Gewichte werden erst auf Knopfdruck aktiviert, so dass es fest im Boden verankert wird, sollten Windhosen über einen hinweg ziehen. Ich habe meine Ausrüstung bisher noch nie benötigt, weil die Wetterstation im Solium die Orkanwarnungen immer rechtzeitig herausgibt.

»Laut aktuellem Bericht zieht der Orkan weiter aufs offene Meer hinaus«, verkündet Jason so laut, dass wir es nicht überhören können. »Du kannst unseren Meteorologen beruhigt glauben.«

»Ach, man muss auf das Schlimmste gefasst sein«, erwidert Josh grinsend.

»Das Schlimmste?«, hake ich nach. »Das Schlimmste wäre schon wieder Homeunterricht. Warum brauen sich gerade über Aeterna so viele Stürme zusammen?«

»Das hängt mit der globalen …«, setzt Jason zu einer Erklärung an. Ich hebe demonstrativ die Hand, um ihn zu stoppen. »Kein Bedarf, Jason! Das war eine rein rhetorische Frage. Es ist mir wirklich egal. Was mir aber nicht egal ist, dass wir dann jedes Mal zuhause festhocken. Ich habe die ständigen Ausgangssperren so satt.«

»Ja, aber es dient immerhin unserer Sicherheit. Die Wahrscheinlichkeit auf Aeterna bei einem Hurrikan umzukommen, beträgt 12,8%, über sechs Mal so viel als auf anderen Planeten«, klärt uns Jason gewissenhaft auf. Er kann es einfach nicht lassen.

»Ich hasse es allein zu lernen!« gesteht Josh. Er klingt leicht aus der Puste. »Wisst ihr noch, der Hurrikan Ende des letzten Schuljahres? Als wir eine Woche lang nicht raus konnten? Einfach ätzend.«

»Hast du da nicht den Oberlehrer spielen wollen, Jason?«, frage ich lachend in seine Richtung.

»Erinnere mich nicht daran!« Josh stöhnt und wartet, bis Jason zu uns aufschließt. »Du hast verzweifelt versucht mir die chemischen Elemente und ihre Formeln einzuimpfen, stimmt‘s, Bruderherz?«

»Einen Versuch war es wert.«

»Ich weiß überhaupt nicht, wie ihr beiden für Chemie so viel Begeisterung aufbringen könnt!«, jammert Josh anklagend und macht immer noch keine Anstalten weiterzugehen.

Ich knuffe ihn in die Seite. »Als ob du mit deinen Logarithmen so viel besser bist! Komm, wir müssen weiter.«

Josh ist der beste Freund, den man sich wünschen kann. Wir kennen uns seit der ersten Klasse. Mit niemand anders kann ich so ausgelassen sein, seine gute Laune ist ansteckend wie ein Bazillus. Mit seinen siebzehn Jahren wirkt er manchmal noch wie ein kleines Kind.

Lachend erreichen wir die Hochebene. Die Stadt breitet sich im Sonnenlicht schachbrettartig vor uns aus. Vom Platz des Handels aus, dem Mittelpunkt des Centrums, erreicht man die verschiedenen Bereiche Forschung, Gesundheit, Arbeit und Wohnen. Unsere Schule, die Maxima, liegt zum Glück auf dieser Seite des Centrums, so dass wir nur noch durch das Labyrinth der Ideen gehen müssen. Das Viertel trägt den Namen aufgrund des großen verzweigten Komplexes voller Büros, in denen Forscher, Techniker und Schreiber arbeiten. Auch mein Vater hatte hier sein Büro. Dahinter beginnt das Viertel des Wissens, in dem unsere Schule liegt. Mir imponiert immer wieder der Anblick der Maxima: ein gigantisches Bauwerk, das von oben an einen Vogel mit ausgebreiteten Flügeln erinnert.

Die Maxima ist eine Eliteschule, an der hauptsächlich Forschung betrieben wird. Wer es einmal dahin geschafft hat, dem öffnen sich nach Schulabschluss automatisch die Wege ins Solium, hat mein Vater immer gepredigt. Für ihn war von vornherein klar, dass seine beiden Sprösslinge die Maxima besuchen würden. Ich selbst wäre auch von mir enttäuscht gewesen, wenn es letztes Jahr nicht geklappt hätte. Die Förderung an der Schule ist perfekt. Je nach Interessensgebieten können wir unsere Fächer auswählen und uns entsprechend spezialisieren. Zu meinen Hauptfächern gehören neben Chemie Umweltschutz und Medizin. Ich belege fast alle Kurse gemeinsam mit meiner besten Freundin Marie. Uns hat von Anfang an nicht nur die Begeisterung für Chemie verbunden, sondern auch eine große Portion Ehrgeiz. Josh spöttelt immer über unsere hochgesteckten Ziele. Aber er macht sich im Gegensatz zu uns wenig Gedanken über seine Zukunft.

»Los, wir sprinten!«, schreit Josh plötzlich direkt neben meinem Ohr. Dabei packt er meine Hand und zieht mich mit sich.

Ich lasse mich überrumpeln und stürme los. Vorwärts, an den verspiegelten Bürofenstern vorbei, von einem Innenhof zum nächsten, beinahe so, als würden wir fliegen. Auf den letzten Metern überhole ich Josh. Ein kindischer Spaß. So testen wir gern unsere Grenzen aus. Ausgelassen springe ich über die künstlich angelegten Rasensegmente und komme ein paar Sekunden vor Josh auf dem halbkreisförmigen Vorplatz der Schule an. Von ihm führen strahlenförmig die Wege zu den kleineren Nebengebäuden der Schule sowie zum Café Pontus. Davor stehen wie üblich etliche Schüler in kleinen Gruppen herum und verbummeln die letzten Minuten. Wir haben eindeutig Zeit wettgemacht. Ich stütze die Hände in die Seiten und atme tief durch. Josh dagegen schnaubt neben mir wie ein Walross.

»Hey ihr zwei Verrückten! Wer hat diesmal gewonnen?« Marie gesellt sich zu uns. Groß, blond und sehr intelligent. So würde ich sie in Kurzform beschreiben. Und der liebenswerteste Mensch, den ich kenne. Jeden Morgen wartet sie hier geduldig auf uns, auch wenn der Shuttle, mit dem sie fährt, viel früher im Centrum ankommt.

Neben meiner resoluten Freundin zu stehen bedeutet in ihren Kernschatten einzutreten. Nicht nur wegen unserer unterschiedlichen Größe. Es liegt vor allem an ihrer unglaublichen Präsenz, um die ich sie schon so manches Mal beneidet habe. Marie meint zwar immer, ich würde sie an eine Fee aus einem Märchen erinnern, das ihr ihre Mutter früher erzählt hat. Feen wären außergewöhnliche Wesen mit recht spektakulären Gaben. Angeblich sind sie deswegen zartgliedrig und besitzen eine genauso durchscheinende Haut wie ich. Auch die langen braunen Haare, die sich ganz von allein sanft wellen, passen zu dem Bild, das sie entwirft. Vielleicht sollte mich das trösten. Trotzdem stört es mich, dass ich mich manchmal so flüchtig wie eine Nebelschwade fühle, die sich beim nächsten Windstoß auflöst.

»Du bist heute spät dran, Süße, aber egal«, meint sie und hakt sich bei mir unter. Sie wirft Josh einen entschuldigenden Blick zu und zieht mich energisch Richtung Eingang. »Hast du es schon gehört?«

»Was denn?« Irritiert bleibe ich kurz vor der gläsernen Eingangsfront stehen. Der Strom der Schüler teilt sich automatisch um uns, einige fragende Gesichter drehen sich kurz zu uns um. Doch dann gehen auch sie auf die zwei Schiebetüren zu, halten ihre Watch an den Keypass-Reader und erhalten nach erfolgreichem Scan Eintritt. Unterdessen sehe ich Marie immer noch auffordernd an. Zu ihrem modischen Kurzhaarschnitt trägt sie ihre neueste Errungenschaft, eine auffallend dicke schwarze Brille, die den Blick sofort auf ihr hübsches Gesicht lenkt. Die Stupsnase und die zarten Sommersprossen fallen erst bei näherem Hinsehen auf. Aber irgendetwas ist heute anders als sonst. Sie wirkt aufgekratzt. Was ist passiert?

»Du Ärmste, das kommt davon, wenn man nicht wie normale Menschen den Shuttle nimmt. Es gab heute kein anderes Gesprächsthema!«, bemitleidet mich meine Freundin prompt.

»Eigentlich halte ich mich nicht für bedauernswert, das weißt du ganz genau«, antworte ich entschieden. Eine Millionen Mal haben wir schon darüber diskutiert, warum ich in die Schule laufe. Kein einziges Argument meiner Freundin habe ich gelten lassen, nicht einmal die Möglichkeit mit ihr mehr Zeit zu verbringen. 12,5 Minuten, die wir im dichten Gedränge ständen, wo jeder uns zuhören könnte.

Marie nimmt ihre Brille ab und schaut mich mit ihren hellblauen Augen eindringlich an. »Bist du sicher?«, flüstert sie fast beschwörend.

Ich muss mir ein Schmunzeln verkneifen. Ihre Wangen sind vor Aufregung gerötet und sie wippt aufgeregt von einem Fuß auf den anderen. »Also, sag schon, was gibt es Spannendes?«, stoße ich lachend aus.

Marie lässt sich nicht lange bitten. »Okay, Gesprächsstoff Nummer eins heute war …«, beginnt sie, doch im nächsten Moment werden wir von einer Elitesprecherin unterbrochen.

»Meine Damen, bitte halten Sie nicht den Betrieb auf, gehen Sie zügig in ihre Kurszimmer, der Unterricht beginnt gleich.«

Die diensthabende Elitesprecherin, die den Eingang kontrolliert, kommt in ihrer engen schwarzmetallenen Uniform mit einem missbilligenden Blick auf uns zu. Ich zupfe Marie am Ärmel. Ins Visier der Elitesprecher zu geraten ist nicht unbedingt angebracht. Auffälligkeiten registrieren sie sofort. Immerhin müssen sie auf die strikte Einhaltung der Schulregeln achten und vor allem auf unsere aktuellen Scans. Dafür haben sie Zugriff auf unsere Daten und melden besondere Vorkommnisse sofort weiter. Sie sind im Prinzip der Elitewache untergeordnet, obwohl sie sich noch in der Ausbildungsphase befinden. Ich schätze das Lernklima an der Maxima zwar sehr, weil wir, was das Lernen angeht, völlige Freiheit haben. Aber ein kleiner Beigeschmack bleibt. Die Elitesprecher halten uns jederzeit vor Augen, dass sich keiner einen Ausrutscher leisten kann. Nur die Besten werden ihren Abschluss bekommen. Nur diejenigen von uns, deren Scans unauffällig bleiben.

»Komm, lass uns lieber reingehen«, entscheidet Marie leise. Zügig gehen wir mit einem höflichen Nicken an der Elitesprecherin vorbei. Das flügelartig gebaute Schulgebäude aus poliertem blau schimmerndem Granitgestein empfängt uns mit der gedämpften Stille, die von dem ganz in Weiß gehaltenen, mit Spiegeln versehenen Forum ausgeht. Eine schmale Treppe aus Alabaster führt zu einer Empfangstheke, die dezent beleuchtet und im Grunde nie besetzt ist. Möglicherweise existiert sie nur wegen ihrer architektonischen Eleganz. Dahinter führen rechts und links die Gänge zu den Treppen der einzelnen Geschosse. Diese sind systematisch nach Fachgebieten angeordnet. In den Tiefgeschossen liegen das pathologische Institut und die anderen Medizinräume, darüber die Naturwissenschaften, gefolgt von den Geisteswissenschaften samt den Juristen, im obersten Stockwerk liegen etliche große Vorlesungsräume sowie die musischen und künstlerischen Bereiche. Unser Weg führt uns in den hintersten rechten Flügel. Erst kurz vor dem Chemielabor können Marie und ich unser Gespräch in Ruhe fortsetzen.

»Wegen vorhin, was wolltest du mir eigentlich so Dringendes erzählen?«

Marie hält ihren Daumen an den Handscan und greift nach dem Laborkittel, der augenblicklich in der Klappe neben der Tür erscheint. »Also, Sarina, alle reden nur noch von dem Neuzugang!«

»Was?«, rufe ich fassungslos. »Ein Neuzugang unter dem Jahr? Das gab es doch noch nie an der Maxima!«

»Im Prinzip richtig. Aber trotzdem soll morgen ein neuer Schüler kommen. Angeblich hat er alle Tests mit Bravour bestanden.«

Alle Tests, auch die Feelings? »Sonderbar«, überlege ich laut, während ich auch meinen Laborkittel in Empfang nehme und überziehe. »Hast du eine Ahnung, woher er kommt?«

»Niemand weiß genaues, es gab im Shuttle nur jede Menge Gerüchte. Irgendwer hat behauptet, er käme nicht von Aeterna!«

Entsetzt starre ich Marie an. Wir wissen beide, was das bedeutet. Zum obersten Leitsatz des Soliums zählt, dass die Eliteschüler der Maxima aus Aeterna sein müssen. Immerhin bilden wir die Zukunft des Soliums. Und ein Austausch mit anderen Planeten war bislang völlig indiskutabel.

»Wie kann er die Feelings schaffen, wenn er nicht von der Insel ist?«

Marie zuckt mit den Schultern, während sie sich unter den Bodyscanner stellt. Die elektrische Anzeige leuchtet orange, ein Zeichen ihrer positiven und vitalen Lebenseinstellung. Die Tür öffnet sich automatisch.

»Keine Idee. Aber man hört hier und da was von seinen Scans. Angeblich sind sie gelb, lichtgelb!« Das letzte Wort klingt nach sehr vielen Ausrufezeichen.

Ich bleibe abrupt in der geöffneten Tür stehen. Meine Augen richten sich automatisch auf das hellgelbe Licht über mir. Marie kennt mich gut genug, um meine Gedankenblitze zu lesen.

»Du hast richtig gehört. Lichtgelb! Genau wie bei dir!«

Ich zwinge mich zu einem bewussten Schritt nach vorn. Die milchig verglaste Tür schließt kaum hörbar hinter mir. Was hat das zu bedeuten? Es sind lediglich 0,35% Bewohner mit lichtgelben Scans auf Aeterna erfasst. Eine überaus seltene Aura. Denn dazu ist es notwendig, seine Gefühle ständig mit dem Kopf abgleichen zu können. Ich mache das nicht bewusst und habe es mir auch nicht ausgesucht. Die einzigen Parias, die ich kannte, sind bereits tot: mein Vater und meine Großmutter.

»Ewiges Aeterna. Hallo die Damen«, unterbricht unser Chemieprofessor meine Überlegungen. »Schön, dass Sie uns auch beehren, wir dürften damit vollständig sein.«

Sind wir tatsächlich die Letzten? Die vierzehn Kursteilnehmer bilden eine überschaubare Gruppe. Alle stehen bereits vor ihren Versuchsaufbauten, wenn auch noch in leise Gespräche vertieft. Marie lässt sich nicht aus der Ruhe bringen, sondern grinst Klaus ein wenig kokett an.

»Ewiges Aeterna, Klaus. Sorry, dass Sie auf uns warten mussten.«

»Wenn die Damen dann bitte Platz nehmen würden«, fordert er uns mit einer einladenden Geste auf. Seine Augen blitzen jedoch schalkhaft auf. Jetzt kann auch ich mir das Lachen kaum verkneifen. An Klaus, unserem Prof, ist definitiv ein Schauspieler verloren gegangen. Er ist mit Abstand der beliebteste Kursleiter an der Maxima. Und beeindruckt uns alle immer wieder mit der Genialität auf seinem Fachgebiet. Klaus zählt mit zweiundzwanzig zu den jüngsten Professoren, die je an der Maxima lehren durften.

»Spaß beiseite, ich bitte diejenigen, deren Versuchsprozesse noch nicht abgeschlossen sind, fortzufahren. Mit den übrigen bespreche ich ihre weitere Vorgehensweise in Einzelgesprächen. Ich bitte Sie daher um etwas Geduld. Marie, bitte kommen Sie doch gleich mit Ihren Unterlagen nach vorn.«

»Kein Problem, ich habe alles bei mir«, verkündet sie selbstbewusst wie immer. Ein Glück, dass sie unser gemeinsames Projekt protokolliert und erläutert. Mein Part liegt in der praktischen Ausführung.

Von meinem Arbeitsplatz aus beobachte ich Marie im Gespräch mit Klaus. Er wirkt so lässig und doch voll konzentriert. Sein rechter Fuß wippt unter dem Tisch auf und ab, so als höre er heimlich Musik. Ab und an fährt er sich mit der Hand durch sein stoppeliges Haar, das nur am Oberkopf länger wächst und perfekt gestylt ist. Dann wieder vollführt er große Gesten, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen. Ich frage mich, ob ich in fünf Jahren auch schon eine Professur haben könnte. Oder ob ich eher in der Soliumfabrik arbeiten werde. Ich würde alles dafür geben, um dem Solium zu dienen.

»… wir testen heute mit einem neuen Mischungsverhältnis«, erklärt Marie Klaus gerade, als beide zu mir an den Tisch treten.

Er wirft mit hochgezogener Augenbraue einen Blick auf die leeren Behälter vor mir. Ich fühle mich ertappt und spüre eine leichte Röte in mein Gesicht aufsteigen. Doch Marie lenkt zum Glück die Aufmerksamkeit von mir ab. »Haben Sie schon gehört, dass morgen ein Neuer kommen soll?«