Couchgeflüster - Lilli Beck - E-Book

Couchgeflüster E-Book

Lilli Beck

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Beschreibung

Kopfstand gegen Liebeskummer Die verträumte Nelly leitet ein kleines Yoga-Studio in Berlin. Als ihr eines Tages Ben über den Weg läuft, glaubt sie, endlich ihre große Liebe gefunden zu haben. Doch schon bei der zweiten Begegnung erinnert sich der vermeintliche Traummann an nichts mehr. Ben leidet nämlich unter retrograder Amnesie: Jede Erinnerung an die letzte Woche ist weg. Was tun? Nelly greift zu einer ungewöhnlichen Therapie. Vielleicht kann sich Ben dann ja auch daran erinnern, was mit dieser anderen Frau ist, die plötzlich auftaucht und behauptet, seine Verlobte zu sein ... Der Roman «Couchgeflüster» erschien 2010 zunächst unter dem Pseudonym Mira Becker.

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Seitenzahl: 330

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Lilli Beck

Couchgeflüster

Roman

 

 

 

Über dieses Buch

Kopfstand gegen Liebeskummer

Die verträumte Nelly leitet ein kleines Yoga-Studio in Berlin. Als ihr eines Tages Ben über den Weg läuft, glaubt sie, endlich ihre große Liebe gefunden zu haben. Doch schon bei der zweiten Begegnung erinnert sich der vermeintliche Traummann an nichts mehr. Ben leidet nämlich unter retrograder Amnesie: Jede Erinnerung an die letzte Woche ist weg. Was tun? Nelly greift zu einer ungewöhnlichen Therapie. Vielleicht kann sich Ben dann ja auch daran erinnern, was mit dieser anderen Frau ist, die plötzlich auftaucht und behauptet, seine Verlobte zu sein …

Der Roman «Couchgeflüster» erschien 2010 zunächst unter dem Pseudonym Mira Becker.

Vita

Lilli Beck, 1950 in Weiden/Oberpfalz geboren, wurde in einer Disko in München von einer Modelagentin entdeckt. Es folgten die ersten Fotos in Paris. Anschließend arbeitete sie u. a. für Zeitschriften wie BRIGITTE, landete wegen ihrer schönen Beine auf Strumpfpackungen und Plakaten, war die Pirelli-Kühlerfigur der 70er Jahre und Covergirl auf der LP «Mit Pfefferminz bin ich dein Prinz» von Marius Müller-Westernhagen. Zwischendurch absolvierte sie ein Schauspielstudium, war Cutter-Assistentin (u. a. bei Wim Wenders' «Der amerikanische Freund») und bekam erste TV- und Filmrollen. Nach der Geburt ihrer Tochter gab sie die Schauspielerei auf und wechselte hinter die Kamera als Visagistin. 2000 verließ sie die Welt des schönen Scheins, um zu schreiben. 2002 erfolgten die ersten Veröffentlichungen von Kurzkrimis. 2008 folgte der erste Roman: «Reich heiraten!» erschien im Rowohlt Taschenbuch Verlag. Danach folgten «Chili und Schokolade» und «Sie haben sich aber gut gehalten!». Der Roman «Couchgeflüster» erschien 2010 zunächst unter dem Pseudonym Mira Becker.

Für M.

1

Durchatmen. Und nicht nervös werden. Es gibt kein Problem.

Schnaufend liege ich ausgestreckt auf einer rosa Matte und versuche mich zu entspannen. Ach, was soll’s, sage ich mir. Ich werde diesen doofen Brief einfach verdrängen und meine Aufmerksamkeit lieber auf den Unterricht richten.

«Atem fließen lassen … Konzentriert euch auf euren Körper … fühlt die Bewegungen …»

Mist.

Es funktioniert nicht. Ich kriege den Schrieb einfach nicht aus dem Kopf. Dabei muss ich mich zusammenreißen! Sonst gefährde ich meine Existenz.

Nein! Das darf nicht passieren. Deshalb sollte ich auch Ellen, die Neue in der Gruppe, genau beobachten. Sie hat zwar angegeben, Yogaerfahrung zu haben, aber manche Anfänger behaupten das nur, um nicht korrigiert zu werden. Im Moment sehen ihre fließenden Bewegungen jedoch tatsächlich so aus, als besuche sie heute nicht zum ersten Mal eine Yogastunde.

«Schulterbrücke … Beckenboden anspannen … Atem fließen lassen … auf eure Mitte konzentrieren … Ausatmen … Einatmen», weise ich meine Schülerinnen mit sanfter Stimme an.

Noch sechs Wochen Zeit. Das sind zweiundvierzig Tage. Eintausendundacht Stunden und … Die Minuten kann ich nicht im Kopf ausrechnen.

Praktisch könnten sich aber in jeder dieser Minuten neue Yogaschüler anmelden. Theoretisch wären das dann … wahrscheinlich viel zu viele. Die hätten gar nicht alle Platz in meinem Trainingsraum. Ich habe ja nur den einen. Und der ist gerade mal fünfzig Quadratmeter groß. Ich müsste Neuanmeldungen auf eine Warteliste setzen.

Na bitte: alles ganz einfach. Ich muss mich nicht unter Druck setzen. Panik ist unnötig.

Jetzt aber Konzentration.

«Knie nach außen sinken lassen … Tief durchatmen … Becken zur Decke strecken … Atem fließen lassen …»

Oder ich könnte etwas erben. Allerdings sind Millionäre in meiner Verwandtschaft eine ausgestorbene Spezies. Ob mir jemand die ausstehenden drei Studiomieten leihen würde? Auf die Schnelle fällt mir nur leider niemand ein, der dreitausend Euro übrig hat. Ich könnte natürlich auch bei der Bank nach einem höheren Dispokredit fragen. Nein, meine Beraterin war beim letzten Termin nicht besonders freundlich. Von der kriege ich keinen Cent mehr. Höchstens, wenn ich sie überfalle. Ich musste ziemlich rumheulen, um wenigstens noch die Wohnungsmiete überweisen zu können. Total negativ die Frau. Um die dreißig, ganz hübsch, aber ständig eine hässliche Zornfalte zwischen den Augenbrauen. Nicht ein einziges Mal hat sie mein Lächeln erwidert. Ich war kurz davor, sie zu fragen, ob sie vielleicht auch Geldsorgen hat. Das wäre zwar höchst eigenartig, wo sie doch direkt an der Quelle sitzt, aber immerhin eine plausible Erklärung für ihre miese Laune. Vielleicht hätte ich ihr auch eine Gratisstunde Relaxyoga anbieten sollen, damit sie ihren Kopf von diesen ewigen Summen und Zahlen frei kriegt.

Mist. Schon wieder abgelenkt.

«Ausatmen … Einatmen … Rückenlage … Entspannen … Atem fließen lassen …»

Manchmal fällt es mir ziemlich schwer, loszulassen. Einfach mal an gar nichts zu denken. Daran sind meine starken Naturlocken schuld. Krause Haare, krauses Gehirn, hat meine Großmutter immer gesagt. Von ihr habe ich auch die rotblonden, wilden Locken geerbt – und die konfusen Gedankengänge. Wie bei ihr schwirrt auch mir immer unglaublich wirres Zeug im Kopf herum. Wie fleißige Ameisen rennen die Gedanken durch meine Gehirnwindungen. Dagegen hilft nur Schlaf. Viel Schlaf. Und natürlich Yoga. Damit kann jeder lernen, sich zu entspannen. Ich hab’s schließlich auch gelernt. Zugegeben, heute klappt es nicht so richtig. Aber es ist ja auch verdammt schwer, wenn man nicht weiß, wie man auf so einen bescheuerten Mahnbrief des Vermieters reagieren soll. Zu dumm, dass ich das Schreiben überhaupt geöffnet habe. Normalerweise landen meine Briefe nämlich im Post-Karton. Erst am Monatsende bearbeite ich dann alles. Damit diese dröge Arbeit nicht allzu frustrierend ist, verkleide ich mich dann immer mit weißer Bluse und einem spießigen Rock und spiele Buchhalterin. Sie heißt: «Miss Zahlmeister», entstammt einem alten Buchhalter-Geschlecht und kümmert sich einmal im Monat um den Papierkram. Total effektive Methode. Kann ich nur wärmstens empfehlen. Wie ich zu meiner Überraschung nämlich festgestellt habe, erledigen sich manche Schreiben sowieso von selbst oder sind schlicht nicht mehr aktuell. Leider gibt es aber auch diese berühmten Ausnahmen von der Regel, wie ich heute erkannt habe.

Jetzt muss ich mich aber wirklich zusammenreißen! Neun Schülerinnen warten auf mein Kommando.

«Tief ausatmen … langsamer Übergang in den aufrechten Sitz.»

Ein Glück, dass dies hier ein Kurs für Fortgeschrittene ist und ich nur wenig erklären muss. Dennoch, so zerstreut wie heute habe ich schon lange nicht mehr unterrichtet. Nur gut, dass die Stunde gleich vorbei ist. Dann ist sowieso Schluss für heute.

Die letzten Töne der Entspannungsmusik verklingen. Langsam erheben wir uns, ziehen im aufrechten Stand ein Bein an, stützen den Fuß am Oberschenkel ab, nehmen die Arme für eine bessere Balance zur Seite und verweilen in der Baumstellung.

Nach einigen tiefen, gleichmäßigen Atemzügen lege ich die Hände vor der Brust aneinander und beende die Übung. «Namaste.»

Es folgt eine kleine Verbeugung, dann verabschiede ich mich mit einem philosophischen Gedanken für den Tag: «Die Eile ist der Feind der Klugheit.»

Am Ende der Stunde eine Art Botschaft zu formulieren ist ein Ritual, das ich eingeführt habe, um meinen Unterricht von den kommerziellen Studios abzugrenzen. Yoga bedeutet ja nicht nur körperliche Übungen. Es schärft auch den Geist und harmonisiert das Gemüt.

«Namaste», erwidert die Gruppe den Gruß. Zufriedene Gesichter blicken mich an. Dann schnappen sich meine Schüler ihre Handtücher und eilen zu den Duschen.

Auch ich fühle mich ungeachtet meiner wirren Überlegungen entspannt – zumindest körperlich. Mein gedankliches Abschweifen scheint unbemerkt geblieben zu sein.

«Wie hat es dir gefallen, Ellen?», spreche ich die Neue im Rausgehen an.

«Ja … ganz gut», antwortet sie zögernd und streicht sich eine aschblonde Haarsträhne aus der flachen Stirn. «Aber vielleicht brauche ich doch mehr Power, um den Babyspeck loszuwerden. Nach der dritten Geburt ist das Gewebe ziemlich ausgeleiert, und der Speck sitzt wie zementiert auf den Problemzonen. Weißt schon, hier …» Demonstrativ kneift sie sich an Bauch und Po und rollt verzweifelt mit den Augen.

Seltsam. Sie müsste doch während der Stunde gemerkt haben, dass Yoga nicht nur bedeutet, sich auf der Matte herumzurollen. Wenn sie die einzelnen Übungen genau ausgeführt hätte, wäre sie jetzt schweißgebadet. Ich sehe aber nicht das kleinste Schweißtröpfchen auf ihrer hellen Haut. Offensichtlich hat sie sich nicht genügend angestrengt.

«Schon klar», stimme ich ihr sanft lächelnd zu. «Mit drei Kindern bist du ein ganz anderes Tempo gewohnt. Gegen Babyspeck kann ich dir den Rückbildungskurs empfehlen. Der konzentriert sich speziell auf diese Partien. Ich kann dir versprechen, dass du danach außer Atem bist … Draußen im Vorraum am Empfangstresen liegt der neue Stundenplan. Einen Mutter-Kind-Kurs werde ich demnächst übrigens auch abhalten.»

«Mmm», nuschelt Ellen mäßig interessiert und verschwindet Richtung Umkleide. Im Vorraum sehe ich aber, wie sie tatsächlich nach einem Plan greift.

«Hat mich gefreut, dass du mitgemacht hast», rufe ich ihr nach und sehe plötzlich drei imaginäre Babys an ihren wohlgerundeten Hüften hochklettern. Vielleicht sollte sie ihren Speck lieber behalten. Da würden die süßen Kleinen doch viel gemütlicher sitzen als auf knochendürren Modelhüften.

«Hat sie gemeckert?»

Britta, meine beste Freundin, steht unvermittelt neben mir und sieht mich besorgt an. Sie sorgt sich oft – nicht nur um mich. Meistens sind es hochsensible Schauspieler, um die sie sich als Chefin ihrer erfolgreichen Casting-Agentur kümmert. Das Umsorgen und das Kümmern liegen in ihrer Natur. Sie ist einfach der mütterliche Typ mit großem Herzen und großer Figur. Britta selbst bezeichnet sich gern als XL-Beauty. Und mit ihren halblangen, brünetten Haaren, den blauen Augen, dem vollen Mund und dem ebenmäßigen Gesicht ist sie in meinen Augen tatsächlich eine umwerfendene Schönheit – auch ohne Modelmaße.

«Nee, wieso sollte sie meckern?», frage ich irritiert und zwirble verlegen eine Haarsträhne um meinen Zeigefinger, während wir aus dem Trainingsraum schlendern.

Britta wischt sich den Schweiß aus ihrem üppigen Dekolleté. «Na ja, mir ist aufgefallen, dass du heute nicht ganz bei der Sache warst. Und du zupfst mal wieder an deinen Haaren. Du hast doch was!»

Mist, sie hat’s bemerkt. Leugnen hat keinen Zweck. Britta besitzt nicht nur hypersensible Mutter-Antennen, die jedes noch so schwache Notsignal orten, sie kennt auch alle meine Marotten. Haarezwirbeln ist nur eine davon.

Für mich ist Britta die beste Freundin, die man haben kann. Wir kennen uns schon seit der Kindheit. Sie ist im Nebenhaus aufgewachsen, und obwohl sie älter ist, durfte ich sie zur Schule begleiten. Später half sie mir, meine Pickel zu überschminken und mich für meine ersten Partys zurechtzumachen. Zeitversetzt erlebten wir die erste Liebe, halfen uns über den unvermeidlichen Liebeskummer hinweg und dienten, wenn nötig, der anderen als Alibi. Als Britta dann in die Filmbranche reinrutschte, ging sie für ein paar Jahre nach München, und unser Kontakt schlief vorübergehend etwas ein. Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass es zum größten Teil meine Schuld war, weil ich immer wieder vergaß, mich zu melden. Doch eines Tages, kurz nach der Eröffnung meines Yogastudios, stand sie plötzlich vor mir. Sie meldete sich für einen Kurs an und schickte mir auch noch jede Menge Bekannte und Freunde. Ohne ihre Unterstützung wäre mein Start in die Selbständigkeit sicher nicht so glatt verlaufen.

Seufzend zeige ich ihr den Brief des Vermieters, den ich unter dem Tresen deponiert habe. Britta liest mit hochgezogenen Brauen.

«Nelly, ich weiß ja, wie vergesslich du bist.» In ihrem Blick liegt etwas Amüsiertes. «Hat nicht auch Sven deshalb mit dir Schluss gemacht? Du vergisst ja sogar deinen eigenen Geburtstag.»

«Ach, Geburtstage», winke ich ab. «Daran erinnert mich meine Mutter. Und Sven ist ein spießiger Pünktlichkeits-Freak. Der flippt schon wegen lächerlicher fünf Minuten aus. Sein Leben verläuft genauso langweilig und schnurgerade wie sein exakter Scheitel. Wir wären niemals glücklich miteinander geworden. Wir konnten uns ja nicht mal über die Farbe der Wände einigen.»

«Aber die Miete nicht zu bezahlen!», fährt Britta vorwurfsvoll fort. «Dafür gibt es doch Daueraufträge, du Träumerin.»

«So weltfremd, wie du glaubst, bin ich auch wieder nicht. Natürlich werden Miete, Strom und so normalerweise per Einzugsauftrag abgebucht. Der blöde Überziehungskredit ist aber leider am Limit. Die Bank zahlt nicht mehr.»

Britta ist entsetzt. «Du bist bei deiner Bank so hoch verschuldet?»

«Das sind doch keine Schulden», beruhige ich sie, «ich habe nur mein Konto etwas überzogen. Das ist völlig normal.»

«Sobald man das Konto überzieht, nimmt man einen Kredit in Anspruch, und das nennt man dann Schulden, Nelly», klärt mich Britta kopfschüttelnd auf. «Die Banken berechnen ziemlich hohe Zinsen dafür. Und eh du dichs versiehst, wachsen sie dir über den Kopf. Du solltest überlegen, wo du sparen und Kosten reduzieren kannst.»

«Hab ich doch längst», verkünde ich nicht ohne Stolz. «Valerie, die bis vor kurzem den Vormittagsunterricht gab, habe ich bereits entlassen. Ich gebe jetzt alle fünf Stunden selbst. Einschließlich der ersten, um zehn Uhr morgens. Und da ich ja wieder Single bin, kann ich mich jetzt voll und ganz auf meine Karriere konzentrieren. Es wird schon wieder. Und wegen der Bank … Na ja … Sobald sich ein paar neue Mitglieder angemeldet haben, ist dieses alberne Problemchen von der Matte.»

«Ach ja?» Britta scheint nicht überzeugt. «Mir kamen die Kurse in letzter Zeit eher leer vor.»

«Ja, leider», stimme ich ihr schwermütig zu. «Seit ein, zwei Monaten flattern mehr Kündigungen als Neuanmeldungen ins Haus. Allein die beiden Vormittagskurse zwischen zehn und zwölf Uhr sind noch gut besucht, von Müttern, deren Kinder in dieser Zeit in der Schule sind. Es darf nur nicht so weitergehen, sonst bin ich …» Ich beende den Satz nicht, um nichts heraufzubeschwören.

Erschrocken sieht Britta mich an und lässt sich auf einen der weißen Stühle fallen, die im Vorraum um drei kleine Tische stehen. In ihrem pflaumenblauen Outfit passt sie perfekt vor die weiß-lila gestreifte Wand mit der überdimensionalen Hibiskusblüte direkt hinter ihr. Nur dass ihr gerade die gesamte Lebensenergie ausgegangen zu sein scheint.

«Du meinst … sonst bist du pleite?», flüstert sie fassungslos und schüttelt ihr weißes Handtuch, als könne sie die benötigten Scheinchen damit hervorzaubern. «Hast du denn keine Rücklagen?»

Zum Glück ist niemand in der Nähe. So eine peinliche Unterhaltung könnte auch noch die letzten Schülerinnen verschrecken. Dann wäre ich tatsächlich ruiniert.

«Rücklagen? Machst du Witze?», entrüste ich mich und zeige mit ausgestreckten Armen in die Runde. «Alles, was ich hatte, steckt hier drin.»

«Du meinst, die gesamte Erbschaft deiner Großmutter?» Britta starrt mich mit weitaufgerissenen Augen an und scheint es nicht glauben zu können.

Seufzend bestätige ich ihre Vermutung. «Du hast doch gesehen, wie diese marode Hinterhofklitsche vorher aussah. Eine heruntergekommene Schusterwerkstatt, die einige Jahre leerstand und vor sich hin gammelte. Fünfzigtausend Euro reichten da gerade mal für die nötigsten Umbauten. Und ich habe weder geprotzt noch teure Materialien verwendet.» Mit einem gewissen Besitzerstolz blicke ich mich um. «Für weniger wäre mein Traum aber nicht zu verwirklichen gewesen. Die beiden Stützsäulen waren kostspielig, aber unbedingt notwendig, um aus zwei kleinen Räumen einen großen Trainingsraum zu machen. Parkett musste wegen der Hygiene sein. Umkleideraum und Duschen sowieso. Der einzige wirkliche Luxus ist die exotische Wandgestaltung. Aber du musst zugeben, dass sie dem Vorraum eine besondere Note verleiht. Jedenfalls machst du dich ausgesprochen gut vor dem farbenfrohen Kunstwerk.»

Kaum habe ich meinen kleinen Vortrag beendet, atme ich tief durch und straffe meine Schultern. Mit neunundzwanzig Jahren seinen Traumjob gefunden zu haben und selbständig zu sein ist kein Grund, depressiv zu werden. Schon eher einer, sich zu freuen.

Aufmunternd lächle ich sie an. «Zerbrich dir nicht meinen Kopf. Eine Nacht drüber schlafen, und schon sieht die Welt wieder ganz anders aus.»

Britta schüttelt den Kopf und schweigt.

«Ich war übrigens nur deshalb etwas unkonzentriert», fahre ich in meiner Verteidigungsrede fort, «weil ich nachgerechnet habe, wie viele Neuanmeldungen nötig wären, um aus den roten Zahlen rauszukommen. Ich bin da sehr zuversichtlich. Yoga ist doch total angesagt. Und so ein Mahnbrief ist noch keine Kündigung. Vermutlich meint Jacobi es nicht so ernst. Vergiss den doofen Schrieb einfach! Ich denk schon gar nicht mehr daran.»

Seufzend gibt mir Britta den Brief zurück. «Wäre Probleme verdrängen eine Kunst, wärst du eine begnadete Künstlerin, Nelly. Entweder, du rechnest dir die Angelegenheit schön, oder du spielst Dornröschen: Legst dich schlafen und hoffst, dass sich alle Widrigkeiten über Nacht in Luft auflösen. Aber sag mir Bescheid, bevor dir das Wasser bis zum Hals steht. Ich bin zwar selber ziemlich knapp bei Kasse, seitdem ich meine Wohnung gekauft habe, doch du kannst immer auf mich zählen.»

Spontan umarme ich Britta. «Mir wird schon was einfallen.»

 

Gegen halb neun verlassen wir geduscht und umgezogen das Studio. Ich trage wie üblich eine bequeme Jeans, darüber ein hellblaues Schlabbershirt und ein Käppi auf dem Kopf, um meine nervigen Haare zu bändigen. Meine Füße stecken in schlichten, blauen Flipflops, und über den Schultern baumelt ein hellbrauner Rucksack, in dem ich meine Trainingsklamotten transportiere. Alles in allem ein vollkommen unspektakulärer Look. Als Yogalehrerin muss ich ja nicht jedem Modetrend hinterherlaufen. Auch deshalb ist es mein Traumjob: Ich mach mir nämlich nichts aus Trends, und Eitelkeit ist eine Eigenschaft, die mir gänzlich fehlt.

Im Unterschied zu meiner Nichtfrisur glänzt Brittas dunkles, halblanges Haar frisch gewaschen. Und ihr Outfit ist wie immer sehr modisch. Heute trägt sie eine helle Hose mit einer taillierten, dunkelgrünen Jacke im trendigen Knitterlook, dazu helle Leinenstiefel. Brittas Garderobe setzt sich zum großen Teil aus Berliner Mode-Labels zusammen, die für meinen Geldbeutel sowieso zu teuer wären. Ein flüchtiger Beobachter hält uns sicher nicht für enge Freundinnen. Aber uns ist das egal.

Gemeinsam schlendern wir Richtung Turmstraße, wo Britta ihren Wagen geparkt hat. Es ist einer dieser milden Juliabende, an denen die Luft nach Lindenblüten riecht und keiner nach Hause will.

«Sollen wir noch einen Stopp einlegen?», fragt Britta, als wir Beim ollen Wilhelm, einer Urberliner Kneipe, vorbeikommen.

«Gerne, nach drei Unterrichtsstunden habe ich immer einen Bärenhunger.»

«Zu Hause ist dein Kühlschrank aber sicher leer, weil du mal wieder vergessen hast, ihn aufzufüllen, richtig?» Britta sieht mich grinsend an. «Kein Wunder, dass du nicht dick wirst. Vermutlich wiegst du keine fünfzig Kilo.»

«Keine Ahnung, ich hab doch keine Waage. Aber ich bin ja auch viel kleiner als du und trainiere …» Ich beende den Satz nicht, sonst denkt Britta noch, es wäre eine Anspielung auf ihre Figur.

Aber es ist schon geschehen. «Ach ja», stöhnt sie genervt. «Ich wünschte, mein Job würde mir mehr Zeit für Sport lassen, dann würde mich die neue Hose nicht schon wieder am Bauch zwicken.»

Und ich wünsche mir insgeheim, lediglich ein Figurproblem zu haben, denke ich und hake mich bei meiner Freundin unter. «Was hältst du von ein paar privaten Trainingsstunden? Du hast mich mit so vielen Empfehlungen unterstützt, dass ich mich gern revanchieren möchte», sage ich und biete ihr spontan den Sonntag an. «Da hab ich immer frei, und bei dir könnte es auch klappen.»

Überrascht blickt Britta mich an. «Nelly, was für eine phantastische Idee! Dafür lade ich dich zu einer Bulette ein.»

Wie gesagt: Meine Freundin hat ein großes Herz.

Unsere Stammkneipe ist ein uriges Lokal aus der Gründerzeit mit dunkel gewordener Holztäfelung an Wänden und Decke. Hier werden aber noch keine Busladungen mit Touristen vor der Tür ausgekippt, die Berliner Kneipenluft schnuppern wollen. Hier sind Krethi und Plethi noch unter sich.

Wir finden zwei freie Plätze in einer gemütlichen Ecke und bestellen Bier und Buletten bei Rudi. Für seine berühmten Fleischklopse verwendet der immer gutgelaunte Wirt ausschließlich Fleisch von garantiert freilaufenden bayerischen Glückskühen, die auf saftigen Bergwiesen nur pestizidfreies Gras gefressen haben.

«Hast du eine Ahnung, warum die Mitgliedschaften im Einzelnen gekündigt wurden?», erkundigt sich Britta, als wenig später unser Essen kommt. «Ich meine: Sind das faule, übergewichtige Couchpotatos, die lieber auf dem Sofa abhängen? Oder eher diese athletischen Fitnessfreaks, die unbedingt an coolen High-Tech-Geräten trainieren wollen?»

«Wenn ich das wüsste, Britta», seufze ich deprimiert und stippe die köstlich duftende Bulette in den Mostrich.

Verwundert blickt sie mich an. «Willst du mir weismachen, dass du deine Kunden nicht kennst? Es muss dir doch auffallen, wer nicht mehr zu den Stunden erscheint.»

«Ja, das schon», räume ich ein. «Aber den tatsächlichen Grund kenne ich leider nicht. Kündigungen kommen doch schriftlich, und jemanden direkt darauf anzusprechen wäre taktlos. Außerdem hätte da bestimmt jeder eine Ausrede parat.»

«Mmm», stimmt Britta mir kauend zu. «Dennoch würde ich mir an deiner Stelle mal die Konkurrenz in der Nähe ansehen.»

Selbstbewusst straffe ich meine Schultern. «Ach, da gibt es nur dieses Sportzentrum in der Turmstraße. Und die bieten kein Yoga an.»

«Sicher?», fragt meine besorgte Freundin.

«Ja. Deshalb war Moabit ja so ideal für mich. Der Kiez ist eben noch nicht so ’ne In-Gegend wie Mitte, wo alle naslang ein neues Studio eröffnet. Ich habe die Nebenstraßen rund um die Bremer Straße gründlich gecheckt, bevor ich den Mietvertrag unterschrieben habe. Das kannst du mir glauben. Mein Laden liegt in einer 1-a-Lage mit direktem U-Bahn-Anschluss.»

Andächtig wischt Britta den Mostrichklecks auf dem Teller mit einem Stück Schrippe zusammen. «Glaub ich dir ja alles, Nelly. Aber das war vor einer Ewigkeit, oder?»

«Zwei Jahre, beinahe auf den Tag genau», relativiere ich.

Energisch schiebt Britta ihren Teller zur Seite und mustert mich mit gerunzelter Stirn. «Aufwachen, Nelly! In zwei Jahren kann viel passieren. Man kann heiraten, ein bis zwei Kinder kriegen und sich wieder scheiden lassen. Oder eben mit einem kleinen Yogastudio Pleite machen, weil man immer noch keine eigene Website hat, ausgerechnet sonntags einen Ruhetag einschiebt und den neuen Fitnessclub in der Nachbarschaft ignoriert.» Ihre Stimme klingt vorwurfsvoll. «Moabit wird langsam, aber sicher auch hip. Ist dir nicht aufgefallen, wie in deiner Nachbarschaft immer mehr Häuser renoviert werden? Der Laden in der Turmstraße zieht die Leute magisch an wie ein Millionär arme Mädchen. Und wer auf der Suche nach einem Typen mit dicker Brieftasche ist, lernt ihn dort vermutlich eher kennen als nachts in irgendwelchen Clubs.»

«Echt?», huste ich ungläubig, weil ich mich bei dieser Hiobsbotschaft glatt an meiner Bulette verschluckt hab.

«Ja, echt, Miss-Augen-zu-und-schlafen-legen. Ich könnte mir vorstellen, dass dieser Fitnessclub nicht ganz unschuldig an deinem Mitgliederschwund ist. So leid es mir tut, dir das sagen zu müssen, Nelly: Der Laden ist nicht übel. Alles auf dem neuesten Stand. Jede Menge Geräte, dazu Sauna, Massagen und –»

«Trainierst du etwa fremd?», fahre ich sie ungewollt heftig an.

«Quatsch. Ich würde dir nie untreu werden. Vorletzte Woche wurde dort für eine Telenovela gedreht. Ich hab nur die Schauspieler abgeliefert und mich ein wenig umgesehen. Und, Nelly …» Britta beugt sich ganz dicht zu mir. «Sie bieten auch Yoga an.»

Mist!

Habe ich die Konkurrenz wirklich unterschätzt? Na, die werden sich noch wundern!

2

Die Woche vergeht ohne eine einzige Neuanmeldung. Und trotz intensiven Nachdenkens fällt mir auch keine Lösung für meine finanzielle Misere ein. Auf die Vorstellung, mein geliebtes Yogastudio zu verlieren, reagiert mein Gehirn nur mit krausen Gedanken wie: Lotto spielen oder Spielbankbesuch, was im Prinzip keine schlechte Idee wäre, weil ich da auf einen Schlag stinkreich werden könnte – wenn ich das nötige Startkapital hätte.

Eigentlich wollte ich an diesem Sonntag ja etwas länger schlafen, aber das Sorgenkarussell in meinem Kopf hindert mich daran. Vor allem die Frage: Sollte ich mir tatsächlich mal die Konkurrenz ansehen? Heißt es nicht, dass man seine Feinde kennen muss, um sie besiegen zu können? Ich könnte eine Yoga-Probestunde nehmen und dabei spionieren und …

Ach, so komme ich nicht weiter.

Ein klarer Fall für einen ausgiebigen Kopfstand. Das hilft, die Dinge aus einer anderen Perspektive zu betrachten.

Kopfüber starre ich an die Wand im Schlafzimmer. Dort lese ich:

Im Grunde ist alles ganz einfach!

Diese Worte habe ich an die Wand gemalt – natürlich verkehrt herum. Darüber balanciert ein rosa Elefant mit einem Bein auf einem türkisfarbenen Ball. Normalerweise hellt das Bild auch die mieseste Stimmung auf. Doch irgendwie sieht der Elefant heute seltsam grau aus. Frustriert breche ich meine Morgenmeditation nach wenigen Minuten ab und schlurfe ins Bad.

Beim flüchtigen Blick in den Spiegel schrecke ich zusammen. Die Ringe unter meinen blaugrünen Augen beweisen, dass Probleme einen Menschen nicht schöner machen. Meine Haare hängen mir wie verfilzte Wolle ins Gesicht und spiegeln eindeutig meine düstere Stimmung wider. Gegen mein rotblondes Lockengestrüpp hilft aber keine noch so teure Kurpackung. Das habe ich alles schon getestet. Nicht mal die Olivenöl-Eigelb-Paste, die ich in einem Anfall von Verzweiflung auf Anraten einer Frauenzeitschrift aufgetragen habe, konnte etwas bewirken. Ich habe sogar damit geschlafen. Das hätte ich aber besser lassen sollen. Denn die Pampe war über Nacht eingetrocknet und nur sehr schwer auszuwaschen. Seitdem binde ich meinen Haarwust lieber zusammen, Käppi drauf und fertig.

Mir ist jetzt nach starkem Kaffee und etwas Salzigem. So was wie ’ne scharfe Salami oder ein Rollmops.

Doch im Kühlschrank entdecke ich lediglich eine halbleere Flasche Wasser, eine halbe ausgequetschte Zitrone und zwei leere, sauber ausgewaschene Joghurtbecher. Keine Ahnung, was ich damit vorhabe. Und in meinem antiken Küchenbüfett langweilt sich ein einsamer Teebeutel.

Aber ich brauche dringend eine Stärkung. Schließlich findet heute unser monatliches Familienessen statt. Strenggenommen fehlt ja mein Vater zur vollständigen Familie, seit die Ehe meiner Eltern vor gut vier Jahren geschieden wurde. Hätten sie noch zehn Monate länger miteinander gestritten, hätten sie es bei der Silberhochzeit krachen lassen können.

Der Scheidungsgrund war aber nicht wie so oft eine andere Frau, sondern Mamas Beruf. Sie ist Psychologin und Therapeutin, und Paps degradierte ihre Tätigkeit gerne abfällig zu einem Freizeitjob. Außerdem warf er ihr stets vor, dass sie ihre Familie vernachlässigen würde. Er habe nicht geheiratet, um dann zwei Kinder allein zu erziehen. Als Deutsch- und Geschichtslehrer war er nämlich immer derjenige, der mittags nach Hause kam und uns versorgt hat. Mama entgegnete in diesen Diskussionen meist, dass sie nicht studiert habe, um nur am Herd zu stehen.

Geheiratet haben die beiden übrigens erst, als mein jüngerer Bruder Phillip unterwegs war. Ich bin quasi unehelich, und Paps musste mich nach der Hochzeit adoptieren. Nach der Scheidung hat Mama dann nicht wieder geheiratet. Manchmal habe ich den Eindruck, dass sie für alle Zeiten genug von der Ehe hat. Ihrer Überzeugung nach glauben alle Männer, Ehefrauen seien billige Haushälterinnen.

Manchmal ging es bei den Streitereien aber auch um mich. Um genau zu sein: um meine berufliche Zukunft. Meine Unentschlossenheit in dieser Frage sei ein Erbe meiner Großmutter väterlicherseits. Auch Paps hat mich nie gedrängt. Eine Berufswahl habe schließlich erheblichen Einfluss auf das ganze Leben, war seine Begründung. Mama dagegen fand, mein Zögern sei Verplempern von kostbarer Zeit.

Vielleicht gab es wirklich nicht viele Gemeinsamkeiten zwischen meinen Eltern. Aber nach zwei Kindern und vierundzwanzig gemeinsamen Jahren muss es doch Verbindungen geben, oder? Immerhin heiße ich Antonella mit vollem Namen (ich mag es aber nicht, wenn ich so angesprochen werde), und der setzt sich aus den beiden Vornamen meiner Eltern zusammen, Anton und Ella.

Aber was weiß ich schon von der Ehe. Meine längste Beziehung waren die sechs Monate mit Sven. Mama macht sich manchmal Vorwürfe, dass meine Bindungsunfähigkeit mit der Scheidung zusammenhängen könnte. In solchen Momenten drängt sie mich dann zu einer Therapie. Aber so ein Seelenstriptease ist nichts für mich. Für meine phlegmatische Ader gibt es ohnehin eine ganz plausible Erklärung: Ich kam drei Wochen zu früh auf die Welt. Deshalb schlafe ich auch so gerne. Mein Körper versucht diese letzten wichtigen Wochen im Bauch der Mutter nachzuholen. Phillip behauptet sogar, mein Gehirn sei wegen der Frühgeburt unterentwickelt, und ich wäre deshalb so vergesslich.

So ein Quatsch: Mein Gehirn stresst sich eben nicht mit Nebensächlichkeiten, sondern sortiert Banalitäten klugerweise aus.

Das Knurren meines Magens erinnert mich daran, dass der Kühlschrank unverändert leer ist. Na, dann muss es heute mal Junkfood zum Frühstück sein. Einmal im Jahr schadet es bestimmt nicht.

Eilig schlüpfe ich in mein weißes Sommerkleid (Mama besteht auf ordentliche Kleidung) und die dazu passenden Ballerinas. Dann schnappe ich mir mein magersüchtiges Portemonnaie und verlasse die Wohnung.

Vorbei an den hundert Jahre alten Markthallen, die sonntags leider geschlossen sind, schlurfe ich Richtung Imbissbude in der Turmstraße. Von der weiß ich, dass sie um diese Zeit schon aufhat.

Beim Näherkommen weht mir vom Curry-Eck der sündige Duft gebratener Würstchen entgegen und lässt mir das Wasser im Mund zusammenlaufen. Und fürs Auge wird auch was geboten: Ein Typ mit breiten Schultern und hamsterbraunen Wuschelhaaren steht vor dem Tresen. Sein knackiger Hintern in den engen Jeans ist auf jeden Fall ein aufregenderer Anblick als mein leerer Kühlschrank.

Als wäre es das Normalste überhaupt, stelle ich mich dicht neben ihn und schiele unauffällig zu ihm rüber.

Er beendet soeben ein Telefongespräch und bestellt dann sein Essen. «Einmal Curry mit Pommes.»

Seine sexy Stimme klingt nach einer langen Clubnacht und wenig Schlaf.

«Für mich auch», rufe ich dem Wurstverkäufer frech zu, als würde ich tatsächlich dazugehören.

Wie erhofft, wendet sich der Wuschelkopf jetzt mir zu. Er ist gut einen Kopf größer als ich und dürfte so um die dreißig sein. Die Enden seiner hellbraunen Haare sind ausgebleicht. Von irgendeiner Wassersportart, vermute ich – auch wegen der gesunden Gesichtsfarbe und der breiten Schultern. Am besten gefallen mir aber seine kräftige Nase und die kleine Narbe auf der Stirn. Dadurch sieht er nicht wie ein langweiliger Schnösel aus, und sie verleiht ihm irgendwie sogar eine erotische Ausstrahlung.

Verzückt lächele ich ihn an. Doch irgendwie scheint er mit seinen hellgrünen Augen durch mich hindurchzusehen. Es könnte aber auch ein entsetztes Starren sein. Denn sein Blick haftet an meinem weißen Kleid, als hätte ich mich in eine Gardine gewickelt.

Vielleicht ist er ein Morgenmuffel wie ich, oder er war überhaupt noch nicht im Bett. So ein süßer Typ ist mir schon lange nicht mehr über den Weg gelaufen. Und genau wie ich muss er Single sein. Denn wer sich an einem Sonntagmorgen allein eine Currywurst gönnt, kann ja wohl kaum eine Freundin haben. Vielleicht wurde er ja genau wie ich gerade erst verlassen. Das würde auch erklären, warum er so abwesend wirkt. Ein kleines Lächeln oder wenigstens eine hochgezogene Augenbraue wäre doch das Mindeste beim Anblick meines Kleids.

«Macht jenau sechs Euro zusammen.» Der Wurstbrater serviert die Bestellung. «Noch wat zu trinken für euch?»

«Ähm … das ist ein Missverständnis», wende ich kleinlaut ein, krame in meiner Börse und lege drei Euro auf den Zahlteller.

Aus dem Augenwinkel beobachte ich, wie der Wuschelkopf einen Zehn-Euro-Schein obendrauf legt und sagt: «Für mich noch ’ne Cola.»

Enttäuscht schnappe ich mir meinen Teller und verziehe mich an einen der beiden Stehtische. Auf einen Flirt hat der Typ wohl keinen Bock, sonst würde er seine Wurst ja nicht direkt am Tresen verspeisen, sondern sich zu mir stellen.

Schade!, seufze ich still vor mich hin. Im Moment hab ich offensichtlich weder beruflich noch privat Glück. Und dabei hätte mich so ein kleiner Sonntagsflirt ganz wunderbar von meinen Problemen abgelenkt.

 

Auf der Fahrt nach Wilmersdorf mit meinem klapprigen Golf bin ich immer noch enttäuscht über meine mangelnde Wirkung auf den grünäugigen Typen.

Ob er das weiße Kleid zu spießig fand? Möglich wär’s. Sein starrer Blick wirkte jedenfalls nicht besonders angetan von meinem Outfit. Vielleicht sollte ich doch mehr auf mein Äußeres achten und meine Weiblichkeit mehr betonen, wie Mama immer rät. Blöderweise gibt es sexy Klamotten nicht für lau. Wegen meines finanziellen Engpasses werde ich dieses Thema also notgedrungen zurückstellen müssen.

Ich will gerade tief durchatmen und mich mental auf das Sonntagsessen mit Mama und Phillip einstellen, als mein Wagen auf der Joachimstaler Straße zu stottern beginnt.

O nein, das fehlt mir gerade noch! Der Sprit ist alle. Ich hab mal wieder vergessen, den Kilometerstand aufzuschreiben. Das muss ich nämlich tun, um zu erkennen, wann der Tank leer ist, weil die olle Benzinuhr kaputt ist. Mit dem letzten Tropfen bugsiere ich den Golf in einen freien Parkplatz und steige aus. Der Weg zur U-Bahn-Station Kurfürstendamm wäre weiter, als zu Fuß in die Fasanenstraße zu laufen, wo meine Mutter wohnt. Also spare ich mir die unnötige Ausgabe für ein Ticket, raffe mein Kleidchen und renne trotz steigender Temperaturen los.

Ich bin wild entschlossen, mich nicht zu verspäten und Mama keinen Anlass zum Meckern zu geben.

Angefeuert von einem hupenden Auto und «Kiek-mal-Lola-rennt-wieder-Zurufen», erreiche ich mein früheres Zuhause dennoch zehn Minuten zu spät.

Mama lebt immer noch in derselben Vier-Zimmer-Wohnung, in der auch wir Kinder aufgewachsen sind.

Keuchend drücke ich auf die Klingel. Kurz darauf ertönt das Brummen des Türöffners.

Durchatmen, ermahne ich mich, als ich das herrschaftliche Eingangsportal betrete. Drinnen empfängt den Besucher schwarz-weiße Eleganz aus der Gründerzeit: marmorverkleidete Wände, eingelassene Spiegel und dunkelrote Kokosläufer auf gebohnerten Treppenstufen. Das Treppenhaus wird auf jeder Etage von einem Kronleuchter erhellt. Nach oben gelangt man außerdem mit einem altmodischen Lift, dessen verschnörkelte, schmiedeeiserne Tür noch mit der Hand geschlossen werden muss. Seit einigen Jahren bleibt der Aufzug aber manchmal zwischen den Stockwerken stecken. Über eine Stunde saß ich mal fest, bis endlich der Mechaniker kam und mich befreite. Seitdem nehme ich immer die Treppe in die dritte Etage.

Mama erwartet mich an der Wohnungstür. Offensichtlich kommt sie direkt aus der Küche, denn am Bund ihrer schwarzen Bundfaltenhose steckt noch ein Geschirrtuch. Sie trägt eine zartbeige Hemdbluse mit kurzen Ärmeln und flache schwarze Slipper. Wie immer sieht sie sehr elegant aus. Auch ihr von wenigen grauen Fäden durchzogenes kastanienbraunes Haar ist perfekt frisiert. In dem Outfit könnte sie auch Patienten empfangen. Denn die honigfarbene Hornbrille auf der zierlichen Nase verleiht ihr genau die Kompetenz, die sie für ihren Beruf braucht, ohne sie aber zu streng aussehen zu lassen.

«Meine Güte, Antonella, du scheinst ja völlig überhitzt zu sein.» Nach meinem Eintreten mustert sie mich vorwurfsvoll. «Bist du etwa von Moabit hierhergerannt?»

Meine Mutter hält sich selten mit zeitraubenden Begrüßungsritualen auf. Sie kommt lieber sofort auf den Punkt.

«Hallo, Mama», erwidere ich genervt, denn sie weiß genau, dass ich meinen vollen Namen ätzend finde. «Ich trainiere für den Stadtmarathon.»

Sie schließt die bleiverglaste Tür, zieht die Stirn kraus und betrachtet mich erstaunt, als sei sie soeben auf eine noch unentdeckte Verhaltensstörung gestoßen. «Hast du nicht gesagt, Sonntag wäre dein freier Tag? Den solltest du aber auch tatsächlich einhalten, Antonella. Der Körper braucht Erholungsphasen. Hoffentlich wird dieses Yoga nicht zur Obsession.»

Lächelnd übergehe ich ihren besorgten Erziehungsversuch und frage nach meinem Bruder. «Ist Phillip schon da?»

«Wo soll er denn sonst sein?», antwortet sie irritiert.

Ach so, stimmt ja. Ich habe ganz vergessen, dass Phillip vor kurzem zurück ins «Hotel Mama» gezogen ist.

«Er hat bereits Platz genommen. Wir essen heute in der Loggia. Aber mach dich bitte noch etwas frisch.»

Der unterschwellige Vorwurf in ihrer Stimme suggeriert, dass sie mein Aussehen schlampig findet. Sie belabert mich ständig, Make-up aufzulegen und mein Haar vom Friseur professionell pflegen zu lassen. Geschminkte und gutfrisierte Frauen würden mehr Kompetenz ausstrahlen. Aber ich wage zu bezweifeln, dass mich meine Schüler für fähiger halten, wenn mir nach einer schweißtreibenden Stunde Poweryoga die Wimperntusche über die Wangen liefe.

«Kann ich dir noch etwas helfen?», frage ich auf dem Weg durch den langen Flur, vorbei an meinem ehemaligen Kinderzimmer. (Meines und nicht Phillips Zimmer hat Mama zu ihrer Praxis umfunktioniert.)

«Sehr gern. Wenn du wieder bei Atem bist, kannst du den Salat waschen, die Kartoffeln aufsetzen, den Tisch decken und die Erdbeeren für den Nachtisch putzen.»

Ein Scherz. Seit Mama meine Erziehung als gescheitert ansieht, treibt ihr Humor manchmal skurrile Blüten. Es hat eine Weile gedauert, bis ich das kapiert habe.

Schuldbewusst erkläre ich mit leiser Stimme: «Das nächste Mal erscheine ich pünktlich und koche mit, versprochen.» Beinahe bin ich versucht, hinzuzufügen: mit getuschten Wimpern und Hochsteckfrisur.

Meine Mutter schüttelt nur den Kopf und verschwindet in der Küche.

Ich weiß ja, dass ich meine Zusagen nicht immer einhalte. Aber ich bin voller guter Vorsätze und will heute zur Abwechslung mal eine gute Tochter sein. Deshalb habe ich doch auch brav dieses weiße Sonntagskleid angezogen, das sie mir vor einiger Zeit gekauft hat. Na ja, um ehrlich zu sein: Eigentlich habe ich mich zurechtgemacht, weil ich mein Yogastudio retten will. Und dazu brauche ich vielleicht ihre Unterstützung.

Runtergekühlt auf normale Gesichtsfarbe, betrete ich wenig später die Loggia. Als Kinder haben wir von hier oben versucht, den Passanten auf die Köpfe zu spucken. Phillip fand das irgendwann zu langweilig und wechselte zu Wasserbomben, wenn Mama nicht zu Hause war.

Mein Bruder sitzt bereits am schöngedeckten Tisch. «Erster!», begrüßt er mich feixend und zupft selbstgerecht wie der Sieger eines großen Wettbewerbs seinen schneeweißen Hemdkragen zurecht.

Noch so ein Spiel aus unserer Kindheit: Wer ist zuerst zu Hause? Einer musste die Treppen hochrennen, der andere fuhr mit dem Aufzug, der damals noch störungsfrei funktionierte.

«Bist du nicht! Wir sind ja nicht gleichzeitig gestartet», erwidere ich patzig und ärgere mich sofort über meine unüberlegte Antwort. Phillip hasst es, zu verlieren. Keine gute Voraussetzung, wo ich ihn doch anpumpen will. Also lenke ich schnell ein und halte ihm die Hand zum Einschlagen hin. «Aber theoretisch hast du natürlich wolkenkratzerhoch gewonnen!»

Während er einschlägt, huscht ein freches Siegerlächeln über sein Gesicht. «Meine Rede!»

Phillip ist vier Jahre jünger und aus einem völlig anderen Holz geschnitzt. Nicht nur mental. Auch äußerlich. Die hellblauen Augen, die sanften Gesichtszüge und die Grübchen hat er von Mama geerbt. Die strohblonden Haare sind von meinem Vater. Der raspelkurze Bürstenschnitt im Kampfpiloten-Look ist von Udo Walz.

Ich finde ja, mit längeren Haaren würde er gut in eine dieser Boygroups passen und Mädchenherzen zum Schmelzen bringen. Aber das hört Phillip natürlich gar nicht gerne, denn er will ein echter Kerl sein. Ein Macho, der sich mit knallharten Muskeln immer den ersten Platz erboxt.

Ich dagegen bin meiner verstorbenen Großmutter wie aus dem Gesicht geschnitten. Fotos aus ihrer Jugendzeit beweisen das. Die gleichen wilden Kräusellocken, helle Haut, siebzehn Sommersprossen auf der Nase und hohe Wangenknochen. Dazu eine eher sehnige Figur – und ewig müde. Meine Großmutter schlief genauso gern wie ich.

«Na, Schwesterherz. Heute schon Erleuchtung gefunden?», scherzt Phillip.

«Und du, schon den ersten Fehlstart hinter dir?», flachse ich zurück, wohl wissend, dass mein Bruder der Beste in der Fliegerschule ist, wo er sich zum Piloten ausbilden lässt. Als wir uns beim letzten Familienessen hier trafen, erzählte er ganz aufgeregt von seinem ersten Simulationsflug. Die teure Ausbildung ist übrigens auch der Grund, warum er wieder bei Mama wohnt.

Erstaunlicherweise bleiben Phillips übliche Angebereien heute aber aus. Schweigend erhebt er sich und verkündet, Mama behilflich sein zu wollen. Was ist denn plötzlich los?, frage ich mich. Er hilft doch normalerweise nicht freiwillig.

«Hab ich was Falsches gesagt?», erkundige ich mich vorsichtig und folge ihm.

«Falsches Thema», zischt er ungehalten, als wir die Küche betreten.

«Seid so gut und streitet euch woanders», bittet uns Mama leicht ungehalten. «Ich muss unter der Woche schon genug Auseinandersetzungen zwischen Ehepaaren schlichten. Am Sonntag möchte ich absolute Ruhe.»

«’tschuldigung», murmeln wir gleichzeitig und helfen beim Auftragen der Speisen.

Es gibt gebratene Seezungen mit neuen Kartöffelchen und zerlassener Butter. Dazu ein Gläschen eisgekühlten Chardonnay. Einträchtig nehmen wir wenig später an dem rötlichen Marmortisch in der Loggia Platz. Die Tafel ist wie jeden Sonntag mit dem guten Rosenthalgeschirr, dem Silberbesteck sowie den schönen Kristallgläsern von Großmutter gedeckt.

Als wir auf unseren angestammten Plätzen sitzen, kann Mama ihre Neugier nicht länger beherrschen. «Worum ging es denn vorhin?»

Sonntag oder nicht: Therapieren liegt ihr einfach im Blut.

Phillip wirft mir einen strengen Blick zu. Ich zucke wortlos die Schultern, falte gelassen meine Leinenserviette auseinander und hoffe, das Thema schweigend beenden zu können. Tief durchatmen und ruhig bleiben, sage ich stumm mein Mantra auf. Ich habe keine Ahnung, warum er so aufgebracht ist.

Für Mama ist das Thema aber noch nicht vom Tisch. «Phillip!?», fordert sie ihn auf. «Was gibt es für ein Problem?»

«Aaach», antwortet er zögerlich und greift nach der Platte mit dem Fisch. «Nelly hat einen bescheuerten Witz über Fehlstarts gemacht.»

«Entschuldige bitte, das war ein Scherz. Woher soll ich wissen, dass du zur Mimose geworden bist?»

Mit hochgezogenen Augenbrauen beobachtet Mama, wie ich mir reichlich Butter über die Kartoffeln auf meinen Teller kippe.

«Das ist ungezogen, Antonella», ermahnt sie mich, als sei ich drei Jahre alt. «Entschuldige dich.»

Unsicher blicke ich sie an. Spricht sie gerade von meinen Tischmanieren oder von Phillip?

«’tschuldigung», brummle ich mit der entsprechenden Büßermiene und stelle das Buttertöpfchen ab.

«Ein Fehlstart im Flugsimulator ist zwar absolut kein Weltuntergang», erklärt sie streng, «aber dennoch eine unangenehme Sache. Da ist es nur verständlich, dass Phillip deshalb etwas verschnupft ist.»

«Auweia. Du hast tatsächlich den ersten Startversuch verpatzt?» Mir fällt beinahe die Gabel aus der Hand. «Musst du deinen Traum vom Piloten jetzt begraben und bist deshalb so mies drauf?»