Dämonentochter - Verlockende Angst - Jennifer L. Armentrout - E-Book
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Dämonentochter - Verlockende Angst E-Book

Jennifer L. Armentrout

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Beschreibung

Zwischen Göttern und Sterblichen gibt es die Eine, die kämpfen wird

Viel Zeit bleibt Alex nicht, um den Tod ihrer Mutter zu betrauern. Denn sie findet heraus, dass sie keine ganz normale Halbblütige ist, sondern gemeinsam mit einem Gott namens Seth eines Tages die Ordnung der Welt ändern kann. Nur ist Seth ein nerviger, und dabei doch attraktiver Zeitgenosse, der Alex‘ Gefühle ordentlich durcheinander bringt ...

Jennifer Armentrouts »Dämonentochter«-Reihe ist intensiv, dramatisch und voller Leidenschaft. Mörderische und mystische Romantasy für alle Fans von überzeugenden und fesselden Charakteren, einer faszinierenden Welt und Nervenkitzel pur!

Alle Bände der »Dämonentochter«-Reihe:
Verbotener Kuss (Band 1)
Verlockende Angst (Band 2)
Verführerische Nähe (Band 3)
Verwunschene Liebe (Band 4)
Verzaubertes Schicksal (Band 5)

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Seitenzahl: 609

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© Vania

DIEAUTORIN

Jennifer L. Armentrout hat es mit ihren Büchern bereits auf die Bestsellerliste von USA Today geschafft. Ihre Zeit verbringt sie mit Schreiben, Sport und Zombie-Filmen. Sie lebt mit ihrem Mann und zwei Hunden in West Virginia.

Von Jennifer L.Armentrout ist außerdem bei cbt erschienen:

Dämonentochter – Verbotener Kuss

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
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cbt ist der Jugendbuchverlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Gesetzt nach den Regeln der Rechtschreibreform © 2012 by Jennifer L. Armentrout Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Pure« bei Spencer Hill Press, Contoocook, USA © 2014 für die deutschsprachige Ausgabe cbt Verlag, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten Übersetzung: Dr. Barbara Röhl Lektorat: Friedel Wahren Covergestaltung: Caroline Liepins Covermotiv: Shutterstock.com MG · Herstellung: KW Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling ISBN: 978-3-641-10741-3V004 V003www.cbt-jugendbuch.de

Für meine Familie und für Loki

(Ja, ich widme dieses Buch einem Hund!)

1. Kapitel

Ich starrte an die Decke der Turnhalle, und kleine schwarze Punkte tanzten mir vor den Augen. Meine Güte, tat mir der Hintern weh! Kein Wunder, schließlich war ich schon ungefähr fünfzigmal darauf gelandet. Nur mein Gesicht brannte nicht vor Schmerz– es glühte aus einem ganz anderen Grund.

Mein Nahkampfunterricht lief nicht gut.

Diese Art von Handgemenge lag mir nicht gerade im Blut. Meine Muskeln protestierten spürbar, als ich mich von den Matten hochhievte und unseren Trainer ansah.

Trainer Romvi fuhr sich mit einer Hand durch das schüttere Haar und betrachtete die ganze Klasse mit angewiderter Miene. »Wenn er ein Daimon gewesen wäre, wären Sie jetzt tot. Haben Sie verstanden? Tot, nicht lebendig, Miss Andros.«

Als gäbe es noch eine andere Definition von tot, die ich nicht kannte. Ich biss die Zähne zusammen und brachte ein Nicken zustande.

Romvi warf mir einen weiteren vernichtenden Blick zu. »Kaum zu glauben, dass Sie überhaupt Äther in sich haben, Miss Andros. An Sie ist die Essenz der Götter verschwendet. So, wie Sie kämpfen, könnten Sie ebenso gut sterblich sein.«

Hatte ich nicht drei äthergierige Daimonen getötet? War das denn nichts wert?

»Angriffsstellung einnehmen. Achten Sie auf Muskelbewegungen! Sie wissen doch, wie das geht«, befahl er.

Ich wandte mich erneut Jackson Manos zu, dem größten Mädchenschwarm des Covenant und meinem aktuellen Gegner. Mit seiner olivfarbenen Haut und diesen dunklen, sexy Augen konnte er zu einer ziemlichen Ablenkung werden.

Jackson zwinkerte mir zu.

Mit zusammengekniffenen Augen sah ich ihn an. Während des Kampftrainings durften wir nicht miteinander reden. Trainer Romvi war der Meinung, das würde der Glaubwürdigkeit des Kampfs schaden. Aber echt, so toll Jackson auch aussah, er war nicht der Grund, warum ich seine Fersentritte und Spinkicks nicht abwehren konnte.

Der Grund für mein vollkommenes Versagen lehnte an der Wand des Trainingsraums. Welliges dunkles Haar fiel ihm in die Stirn und hing ihm in die metallisch grauen Augen. Mancher hätte gesagt, Aiden St. Delphi solle zum Friseur gehen, aber mir gefiel dieser lässige Look, den er in letzter Zeit bevorzugte.

Einen Moment später trafen sich unsere Blicke. Aiden nahm wieder die Haltung ein, die mir nur allzu vertraut war. Die muskulösen Arme vor der Brust verschränkt, stand er breitbeinig da. Gerade forderte er mich mit einem Blick auf, mich auf Jackson zu konzentrieren und nicht auf ihn.

In meinem Innern schien plötzlich eine Sprungfeder auf und ab zu hüpfen. Daran hatte ich mich inzwischen gewöhnt– dieses Gefühl entstand jedes Mal, wenn ich ihn sah. Und das lag nicht nur an der fast makellosen Rundung seiner Wangenknochen oder seinem Lächeln, das seine Grübchen zeigte. Oder an seinem unglaublich muskulösen Körper…

Einen Sekundenbruchteil, bevor es zu spät gewesen wäre, riss ich mich aus meinen Tagtraum. Mit einem brutal geführten Armschlag blockte ich Jacksons Knie und griff seine Kehle an. Jackson konterte mit Leichtigkeit. Wir umkreisten uns, teilten Schläge aus und wichen denen des anderen aus. Er trat zurück und ließ die Arme an den Seiten hängen. Ich sah meine Chance und ergriff sie, warf mich herum und zielte mit dem Knie auf seine Körpermitte. Jackson sprang zur Seite, aber nicht schnell genug. Ich traf ihn genau in der Magengrube.

Verblüffenderweise applaudierte Trainer Romvi. »Gut…«

»Oh, Mist!«, stöhnte Caleb Nicolo, mein bester Freund und Partner aller meiner Missetaten, der neben einer Studentengruppe an der Wand lehnte.

Die Vorschrift bei Verteidigungstritten verlangte, dass wir unseren Gegner entweder töten oder uns zurückziehen mussten, sobald wir Kontakt mit ihm hatten. Ich hatte nichts von beidem getan. Jackson krümmte sich über meinem Knie zusammen, ging zu Boden und riss mich mit. Wir fielen auf die Matte, und irgendwie– ich bezweifelte ernsthaft, dass es Zufall war– lag Jackson plötzlich auf mir. Sein Gewicht drückte mir den Kopf nach hinten, und ich bekam Atemnot.

Trainer Romvi schrie und verfiel in eine andere Sprache. Rumänisch vielleicht oder so etwas. Jedenfalls klang es verdächtig nach einem Fluch.

Jackson hob den Kopf, und durch sein schulterlanges Haar war sein Grinsen für die Klasse nicht zu sehen. »Ein Leben auf dem Rücken, was?«

»Das betrifft ja wohl eher deine Freundin. Runter!« Seit dem Vorfall, bei dem es so ausgesehen hatte, als hätte meine Mom die Eltern seiner Freundin ermordet, verstanden Jackson und ich uns nicht mehr gut. Dank der freundlichen Mithilfe meiner toten Daimonenmutter verstand ich mich auch mit den meisten anderen Studenten nicht mehr. Kein Wunder.

Ich errötete vor Verlegenheit, mühte mich auf die Füße und warf Aiden einen verstohlenen, schnellen Blick zu. Seine Miene mochte ausdruckslos wirken, doch ich wusste, dass er im Kopf schon eine Liste aller meiner Fehler erstellt und abgespeichert hatte. Aber er war nicht meine dringendste Sorge.

Trainer Romvi marschierte quer durch die Halle und blieb vor Jackson und mir stehen. »Das war ein Verstoß gegen alle Regeln! Man zieht sich entweder zurück oder schaltet den Gegner aus.«

Um mir sein Urteil unmissverständlich klarzumachen, stieß sein Arm nach vorn und traf mich gegen die Brust. Ich taumelte ein, zwei Schritte zurück und biss die Zähne zusammen. Jede Zelle meines Körpers schrie danach, mich auf gleiche Weise zu wehren.

»Man wartet nicht. Und Sie!« Romvi fuhr zu Jackson herum. »Haben Sie vor, zum Spaß auf Daimonen herumzuliegen? Lassen Sie mich gelegentlich wissen, wie Sie sich dabei fühlen!«

Jackson wurde rot, gab aber keine Antwort. In Romvis Unterricht war Widerrede nicht erlaubt.

»Und jetzt von den Matten– nicht Sie, Miss Andros!«

Ich blieb stehen und warf Caleb und Olivia einen hoffnungslosen Blick zu. Sie erwiderten ihn und ihre Mienen spiegelten meine Stimmung wider. Schicksalsergeben erwartete ich, was als Nächstes passieren würde, da sich Romvi in jeder Stunde wiederholte. Ich wandte mich zu dem Trainer um und rechnete damit, gnadenlos heruntergeputzt zu werden.

»Viele von Ihnen sind noch nicht bereit für den Abschluss.« Romvi schlenderte am Rand der Matte auf und ab. »Viele von Ihnen werden in der ersten Woche im Beruf sterben. Aber Sie, Miss Andros? Sie sind eine Peinlichkeit für den Covenant.«

Und Romvi war eine Peinlichkeit für das männliche Geschlecht, aber er hörte mein lautloses Zetern nicht.

Langsam umkreiste er mich. »Es schockiert mich, dass Sie Daimonen gegenübergetreten sind und trotzdem noch vor mir stehen. Einige finden vielleicht, dass Sie Potenzial besitzen, Miss Andros. Davon habe ich allerdings noch nichts gemerkt.«

Aus den Augenwinkeln nahm ich Aiden wahr. Er erstarrte und beobachtete uns mit gerunzelter Stirn. Auch er wusste, was nun kam, und hätte beim besten Willen nichts dagegen unternehmen können.

»Beweisen Sie mir, dass Sie hierhergehören«, sagte Romvi gerade. »Beweisen Sie mir, dass Sie sich den Wiedereintritt in den Covenant durch Leistung und nicht durch familiäre Verbindungen verdient haben.«

Trainer Romvi war ein noch schlimmerer Finger als die meisten anderen Trainer. Er gehörte zu den Reinblütern, die Wächter werden wollten, statt sich mit ererbtem Geld ein bequemes Dasein zu leisten. Reinblüter wie Aiden, die dieses Leben wählten, waren eine Seltenheit, aber da endeten schon die Gemeinsamkeiten der beiden. Romvi hatte mich vom ersten Unterrichtstag an gehasst, und ich schmeichelte mir, dass Aiden wohl ziemlich genau das Gegenteil für mich empfand.

Romvi griff an.

Für jemanden, der so alt war, bewegte Romvi sich jedenfalls schnell. Ich wich über die Matten zurück und versuchte mich an alles zu erinnern, was Aiden mir im Lauf des Sommers beigebracht hatte. Ruckartig fuhr Romvi herum, und sein Stiefelabsatz raste auf meine Magengrube zu. Ich schlug sein Bein weg und holte zu einem Boxhieb aus, der mir wirklich, wirklich ernst war, den er aber blockte. Immer weiter machten wir, tauschten Hiebe aus und steckten Hiebe ein. Er setzte mir allerdings stärker zu und drängte mich dabei ununterbrochen auf den Rand der Matte zu.

Mit jeder Drehung und jedem Tritt wurden Romvis Schläge brutaler. Mir kam es wirklich so vor, als würde ich gegen einen Daimon kämpfen, denn Romvi schien mich ernsthaft verletzen zu wollen. Ich hielt mich gut, bis ich am Rand der Matte mit dem Turnschuh abrutschte. Das war mein taktischer Fehler.

Ich ließ mich ablenken.

Romvi ergriff die Gelegenheit. Er packte mich am Pferdeschwanz und riss mich nach vorn. »Sie sollten sich weniger Gedanken um Ihre Eitelkeit machen«, erklärte er und stieß mich herum, bis ich der Tür den Rücken zukehrte. »Und schneiden Sie sich die Haare!«

Ich trat zu und traf Romvi in die Magengrube, aber das störte ihn gar nicht. Mit meinem eigenen Schwung– und seinem Griff an meinen Haaren– knallte er mich auf die Matte. Ich rollte mich im Fallen ab und war fast dankbar dafür, dass es vorbei war. Es machte mir sogar kaum etwas aus, dass er mich vor der ganzen Klasse verprügelt hatte. So lange, wie…

Romvi packte meinen Arm, zog ihn über meinen Kopf hoch und riss mich auf die Knie. »Hört mir zu, Halbblüter! Der Tod im Kampf ist nicht mehr euer schlimmster Albtraum.«

Ich riss die Augen auf. O nein. Nein, nein, nein. Er würde es doch nicht wagen…

Er schob den Ärmel meines Shirts so weit hoch, dass die Haut bis zum Ellbogen zu sehen war. »Das wird euch passieren. Seht euch gut und lange an, was passiert, wenn ihr versagt. Sie werden euch in Ungeheuer verwandeln.«

Meine Wangen glühten, und mein Kopf war irgendwie leer. Sonst gab ich mir wirklich allergrößte Mühe, die Narben vor meinen Klassenkameraden zu verstecken. Während er weitermachte und der Welt meine Bissmale zeigte, konzentrierte ich mich auf alles andere als die Gesichter der Studenten. Dabei fiel mein Blick auf seine raue, faltige Hand und glitt an seinem Arm voller Kampfnarben hinauf. Sein Hemdärmel war hochgerutscht und enthüllte eine Tätowierung, die eine nach unten weisende Fackel zeigte.

Ich hatte gar nicht gedacht, dass Trainer Romvi der Typ für Tattoos wäre.

Romvi ließ meinen Arm fallen und ich konnte den Ärmel wieder hinunterziehen. Hoffentlich wurde der Kerl bald von hungrigen Daimonen gefressen! Vielleicht sah ich wirklich aus wie eine narbenbedeckte Missgeburt, aber ich hatte verdammt noch mal nicht versagt, kein einziges Mal. Ich hatte den Daimon getötet, der letztlich für meinen Zustand verantwortlich war– meine Mutter.

»Keiner von euch ist so weit, Wächter zu werden und einem Halbblut-Daimon gegenüberzutreten, der genauso ausgebildet ist wie ihr.« Romvis Stimme erfüllte den ganzen Raum. »Ich rechne kaum damit, dass ich bei den meisten von euch morgen eine Verbesserung erkenne. Der Unterricht ist beendet.«

Ich kämpfte gegen die Versuchung an, Romvi wie ein Affe von hinten anzuspringen und ihm das Genick zu brechen. Damit hätte ich mir keine Fans gemacht, aber die abartige Befriedigung, die mir das bereitet hätte, schien es fast wert zu sein.

Auf dem Weg nach draußen stieß ich mit Jackson zusammen. »Dein Arm sieht aus wie ein Schachbrett. Das ist echt heiß.«

»Ja, dasselbe hat auch deine Freundin über deinen…«

Trainer Romvis Hand schoss auf mich zu und legte sich um mein Kinn. »Ihr Mundwerk, Miss Andros, könnte ebenfalls eine Verbesserung vertragen.«

»Aber Jackson…«

»Das ist mir egal.« Er ließ die Hand sinken und starrte wütend auf mich herunter. »Ich dulde in meinem Unterricht keine unanständigen Worte. Das ist meine letzte Warnung. Beim nächsten Mal finden Sie sich im Büro des Dekans wieder.«

Nicht möglich. Ich sah Romvi nach, bis er aus dem Raum marschiert war.

Caleb reichte Olivia ihre Sporttasche und kam auf mich zu. Seine Augen, die so blau waren wie ein klarer Himmel, leuchteten vor Mitgefühl. »Er ist ein Mistkerl, Alex.«

Verächtlich wedelte ich mit der Hand. Ich war mir nicht sicher, ob er von Romvi oder von Jackson redete. Für mich waren beide Mistkerle.

»Irgendwann demnächst wirst du durchdrehen und ihn umbringen.« Luke fuhr sich mit den Fingern durch die bronzefarbenen Locken.

»Welchen von beiden?«, fragte ich.

»Beide.« Grinsend klopfte Luke mir auf den Arm. »Ich hoffe bloß, dass ich hier bin und es erleben kann.«

»Da kann ich mich nur anschließen.« Olivia fasste Caleb am Arm. Sie taten so, als sei ihre Geste nichts Besonderes, aber ich wusste es besser. Immer wenn Olivia Caleb berührte– und das kam oft vor–, vergaß er seine Umgebung vollkommen und kriegte dieses blöde Grinsen.

Andererseits bekamen in ihrer Gesellschaft viele männliche Halbblüter diesen Gesichtsausdruck. Olivia war umwerfend. Die meisten Halbblüter beneideten sie um ihre karamellfarbene Haut. Und um ihre Garderobe. Ich hätte getötet, um ihre Klamotten in die Finger zu bekommen.

Ein Schatten fiel über unsere kleine Gruppe, und sie zerstreute sich rasch. Ich brauchte nicht aufzublicken, um zu wissen, dass es Aiden war. Nur er hatte eine so starke Ausstrahlung, dass fast jeder in die entgegengesetzte Richtung davonlief. Dahinter steckte Respekt, aber auch Angst.

»Man sieht sich!«, rief Caleb.

Ich nickte unbestimmt und starrte auf Aidens Schuhe. Es fiel mir schwer, ihn anzusehen, weil ich mich wegen Romvis kleiner Zurschaustellung schämte. Ich arbeitete hart, um mir Aidens Anerkennung zu verdienen und zu beweisen, dass ich das Potenzial besaß, an das er und Leon geglaubt hatten. An jenem Tag, als Marcus mich aus dem Covenant hatte werfen wollen.

Schon komisch, wie eine einzige Person dies innerhalb von Sekunden ruinieren konnte.

»Sieh mich an, Alex!«

Gegen meinen Willen gehorchte ich. Wenn er diesen Ton anschlug, konnte ich nicht anders. Als er vor mir stand, wirkte sein hochgewachsener, schlanker Körper angespannt. Momentan taten wir so, als hätte ich nicht versucht, meine Jungfräulichkeit an ihn zu verlieren. In jener Nacht, als ich herausgefunden hatte, dass ich ein zweiter Apollyon werden würde. Aiden schien damit bestens zurechtzukommen. Ich dagegen konnte nicht aufhören, wie besessen darüber nachzugrübeln.

»Du hast nicht versagt.«

Ich hob die Schultern. »Sieht aber so aus, oder?«

»Die Trainer sind bei dir strenger, weil du so viel Zeit verpasst hast und weil der Dekan dein Onkel ist. Was immer du tust, wird beobachtet. Man behält dich im Auge.«

»Und mein Stiefvater ist der Ratsminister. Ich kapier’s ja, Aiden. Komm, bringen wir es hinter uns.« Meine Stimme klang schärfer, als ich es wollte. Aber Aiden hatte schließlich gesehen, wie demütigend die Stunde für mich geendet hatte. Darüber brauchte ich mit ihm nicht zu diskutieren.

Aiden ergriff meinen Arm und zog den Ärmel meines Shirts hoch. Das hatte auf mich eine ganz andere Wirkung als bei Romvi. Etwas flatterte in meiner Brust, und ein warmer Schauer überlief meinen Körper. Reinblüter waren für uns Halbblüter tabu. Somit war das, was zwischen uns passiert war, genauso unmöglich, als hätte man dem Papst ans Knie gefasst oder Gandhi ein Roastbeef-Sandwich angeboten.

»Du solltest dich niemals für diese Narben schämen, Alex. Niemals.« Aiden ließ meinen Arm los und winkte mich in die Mitte des Raums. »Fangen wir an, damit du dich bald ausruhen kannst.«

Ich trabte hinter ihm her. »Und wann ruhst du dich aus? Hattest du nicht heute Nacht Patrouille?« Aiden arbeitete doppelt– er trainierte mich und erfüllte seine Pflichten als Wächter.

Aiden war etwas Besonderes. Er hatte sich entschieden, Wächter zu werden. Und er hatte beschlossen, mit mir zu arbeiten, damit ich meinen Rückstand den anderen Studenten gegenüber aufholen konnte. Beides hätte er nicht tun müssen. Er war Wächter geworden, weil er ein starkes Gerechtigkeitsbedürfnis besaß. Genau wie ich. Aber warum wollte er mir helfen? Ich schmeichelte mir gern mit der Vorstellung, dass er sich unwiderstehlich zu mir hingezogen fühlte. Mir ging es mit ihm jedenfalls so.

Er umkreiste mich und blieb stehen, um meine Arme auf mittlerer Höhe in Stellung zu bringen. »Du hältst die Arme falsch. Deswegen sind Jacksons Schläge ständig durchgekommen.«

»Wann ruhst du aus?«, beharrte ich.

»Mach dir um mich keine Gedanken!« Er ging in Angriffsposition und winkte mich mit einer Hand vorwärts. »Mach dir lieber Sorgen um dich selbst, Alex. Dieses Jahr wird hart für dich, und du trainierst das dreifache Pensum.«

»Ich hätte mehr Freizeit, wenn ich nicht mit Seth üben müsste.«

Aiden holte so schnell aus, dass ich den Schlag nur mit knapper Not blockierte. »Das haben wir doch schon durch, Alex.«

»Ich weiß.« Ich hielt seinen Hieb ab. Aiden und Seth trainierten abwechselnd mit mir und zusätzlich an jedem zweiten Wochenende. Es war, als teilten sie sich das Sorgerecht für mich. Allerdings hatte ich meine andere Hälfte heute noch nicht gesehen. Merkwürdig– sonst lungerte er immer in der Nähe herum.

»Alex.« Aiden gab die Angriffshaltung auf und betrachtete mich aufmerksam.

»Was?« Ich ließ die Arme sinken.

Er öffnete den Mund, schien seine Worte aber noch einmal zu bedenken. »In letzter Zeit siehst du müde aus. Bekommst du genug Schlaf?«

Ich spürte, wie meine Wangen rot anliefen. »Götter, sehe ich derart schlimm aus?«

Er holte tief Luft und atmete langsam wieder aus. Ein weicher Ausdruck breitete sich auf seinem Gesicht aus. »Du siehst überhaupt nicht schlimm aus, Alex. Es ist nur… du hast viel durchgemacht und wirkst müde.«

»Ich bin okay.«

Aiden legte mir eine Hand auf die Schulter. »Alex?«

Mein Herz reagierte auf seine Berührung und pochte wie wild. »Mir geht’s prima.«

»Das sagst du ständig.« Sein Blick huschte über mein Gesicht. »Immer sagst du das.«

»Ich sage es, weil mit mir alles in Ordnung ist!« Ich schlug nach seiner Hand, aber er legte mir auch die andere auf die Schulter und hielt mich fest. »Mit mir ist alles in Ordnung«, sagte ich noch einmal, aber viel leiser. »Ich bin okay. Alles bestens und hundertprozentig.«

Aiden öffnete den Mund, wahrscheinlich um etwas lächerlich Aufbauendes zu sagen, aber dann schwieg er doch. Er sah mich nur an und umfasste meine Schultern noch fester. Er wusste, dass ich log.

Es war nicht alles in Ordnung.

Albträume von diesen entsetzlichen Stunden in Gatlinburg ließen mich nachts nicht zur Ruhe kommen. Fast alle an der Schule hassten mich und waren überzeugt, dass ich der Grund für den Daimonenangriff in Lake Lure im Sommer gewesen war. Seths ständige Nachstellungen förderten dieses Misstrauen nur noch. Von allen Halbblütern wusste nur Caleb, dass ich vom Schicksal dazu bestimmt war, ein zweiter Apollyon zu werden– und dazu bestimmt, Seth als quasi übernatürliche Ladestation zu vervollständigen. Durch seine ständige Aufmerksamkeit machte ich mir keine Fans unter den weiblichen Halbblütern. Alle Mädchen wollten Seth, aber ich wollte ihn nur loswerden.

Aber wenn Aiden mich so ansah wie jetzt, vergaß ich die Welt. Aidens Miene verriet mir nicht viel, aber seine Augen… seine Augen sagten mir, dass es ihm mit dieser ganzen Farce von wegen Wir tun so, als wären wir nicht fastzusammengekommen auch nicht gut ging. Aiden dachte immer noch daran. Zum Teufel, er dachte auch in diesem Moment daran! Vielleicht stellte er sich vor, was passiert wäre, wenn Leon uns nicht unterbrochen hätte– vielleicht sogar so intensiv wie ich. Möglich, dass er wach lag und sich daran erinnerte, wie unsere Körper sich zusammen angefühlt hatten.

Ich weiß, dass es mir so ging.

Die Spannung stieg noch um einige Grade, und mein Körper wurde auf köstliche Art warm. Für solche Augenblicke lebte ich. Ich fragte mich, wie er wohl reagieren würde, wenn ich nach vorn träte und wir uns ganz nahe wären. Viel fehlte nicht mehr. Würde er glauben, dass ich nur Trost suchte? Denn trösten würde er mich– so war er nämlich. Aber würde er mich auch küssen, wenn ich den Kopf zurücklegte? Denn er sah aus, als wünsche er sich beides. Mich zu umarmen, mich zu küssen und alle möglichen wunderbaren, verbotenen Dinge zu tun.

Ich tat einen Schritt nach vorn.

Seine Hände, die auf meinen Schultern lagen, zuckten zurück, und seine Miene zeigte Unentschlossenheit. Ich glaube, eine Sekunde lang– eine einzige Sekunde– dachte er ernsthaft darüber nach. Dann streckte er die Hände flach aus wie eine Schranke, die mich zurückhalten sollte.

Hinter uns öffnete sich die Tür, und Aiden ließ die Hände sinken. Ich fuhr herum und hätte den Störer am liebsten ins Gesicht geschlagen. Fast hätte ich bekommen, was ich wollte.

Leons massige Gestalt in der typischen schwarzen Wächteruniform füllte den Türrahmen aus. »Tut mir leid für die Unterbrechung, aber es ist dringend.«

Leon hatte Aiden immer etwas Wichtiges mitzuteilen. Beim letzten Mal hatte er uns unterbrochen, kurz nachdem ich Aiden grünes Licht gegeben hatte.

Leon hatte das mieseste Timing der Welt.

Natürlich hatte seine letzte Unterbrechung einen ziemlich ernsten Grund gehabt. Man hatte Kain lebendig wiedergefunden. Kain war einmal ein halbblütiger Wächter gewesen und hatte Aiden bei meinem Training unterstützt. Ein Wochenendausflug ins nahe gelegene Lake Lure war für alle Beteiligten tödlich ausgegangen. Er hatte den Daimonenangriff überlebt. Als er an den Covenant zurückgekehrt war, da hatte er sich jedoch so verändert, wie wir es nicht für möglich gehalten hatten: Er war ein halbblütiger Daimon geworden.

Inzwischen war Kain tot, und ich war dabei gewesen, als er starb. Ich hatte Kain gemocht, und er fehlte mir, obwohl er einen Haufen Reinblüter getötet und mich quer durchs Zimmer geprügelt hatte. Denn das war nicht der Kain gewesen, den ich gekannt hatte. Genau wie Mom hatte er sich in eine grauenhafte Ausgabe jenes Menschen verwandelt, der er wirklich gewesen war.

Leon schob seine hünenhafte Gestalt voran und sah aus, als wolle er Werbung für Anabolika machen. »Es hat einen Daimonenangriff gegeben.«

Aiden erstarrte. »Wo?«

»Hier am Covenant.«

2. Kapitel

Das Training war offiziell abgesagt.

»Geh auf dein Zimmer, Alex, und bleib dort!«, forderte mich Aiden auf, bevor er den Trainingsraum verließ.

Stattdessen ging ich in die Cafeteria.

Auf keinen Fall würde ich in meinem Wohnheim herumsitzen, während ein Daimon Amok lief. Kurz hatte ich überlegt, den beiden zu folgen, aber meine Fähigkeit, mich lautlos zu bewegen wie ein Ninja, war suboptimal entwickelt.

Als ich den Innenhof überquerte, war der Himmel dunkel geworden und sah bedrohlich aus. Ich ging schneller, denn wenn der Himmel sich so veränderte, musste man aufpassen. Der September war hier Hurrikansaison. Andererseits konnte es auch einfach bedeuten, dass Seth sich irgendwo in der Nähe befand und verärgert war. Seine Launen hatten eine verblüffende Auswirkung auf das Wetter.

In der Cafeteria drängten sich alle mit aufgeregten Gesichtern zu Grüppchen zusammen. Ich schnappte mir einen Apfel und eine Limo und bemerkte, dass sich im Speiseraum kein einziges Reinblut aufhielt. Ich ließ mich auf den Platz neben Caleb fallen.

Mit leuchtenden Augen blickte er auf. »Hast du davon gehört?«

»Ja, ich habe mit Aiden trainiert. Da kam Leon und holte ihn.« Ich wandte mich an Olivia. »Weißt du Genaueres?«

»Ich habe nur gehört, dass eine der jüngeren Studentinnen– Melissa Callao– heute nicht zum Unterricht erschien. Ihre Freunde haben sich Sorgen gemacht und in ihrem Zimmer nachgesehen. Sie haben sie im Bett gefunden, bei offenem Fenster.«

Ich lehnte mich zurück und unterdrückte das ungute Gefühl, das in mir aufstieg. »Lebt sie?«

Olivia stach mit einer Gabel in ihre Pizza. Ihre reinblütige Mutter arbeitete eng mit dem Rat zusammen. Zum Glück für uns hielt sie ihre Tochter gut auf dem Laufenden. »Man hatte ihr praktisch das ganze Blut ausgesaugt, aber sie lebt. Ich habe keine Ahnung, warum ihre Mitbewohnerin nichts gemerkt hat oder warum sie nicht auch angegriffen wurde.«

»Wie zum Hades kann denn ein Daimon hier herumlaufen?« Düster und mit verwirrter Miene hob Luke eine Hand. »Wie sollte er an den Wachen vorbeikommen?«

»Dann muss es ein Halbblut gewesen sein«, erklärte Elena, die ein Stück weiter entfernt am Tisch saß. Mit ihrem kurzen Haar und den großen grünen Augen wirkte sie wie eine außerordentlich hochgewachsene Tinkerbell-Elfe.

Bis zu diesem Sommer hatten wir geglaubt, Halbblüter könnten nicht in Daimonen verwandelt werden. Ein Reinblut war bis zum Platzen mit Äther angefüllt, und ein Daimon würde wie ein psychotischer Drogensüchtiger an ihm kauen, nagen und ihn töten, um an diese Essenz heranzukommen. Sobald er ihm den Äther ausgesogen hatte, konnte der Daimon das Reinblut entweder sterben lassen oder in ein neues Mitglied der Daimonenhorde verwandeln. Niemand hatte gedacht, dass Halbblüter genug Äther in sich trügen, um auf die dunkle Seite überwechseln zu können. Für einen geduldigen Daimon, der stärker am Aufbau einer Armee interessiert war als an einer Mahlzeit, waren wir jedoch genauso gut zu gebrauchen wie ein Reinblut.

Was für ein Mist, dass wir nur in einem Punkt auf der gleichen Stufe mit den Reinblütern standen– bei der Aussicht auf ein Schicksal, das schlimmer war als der Tod!

»Umgedrehte Halbblüter verändern sich nicht wie die Reinblüter.« Olivia ließ die Gabel zwischen ihren langen Fingern wippen. »Und sie sind immun gegen Titan, stimmt’s?« Ihr Blick fiel auf mich.

Ich nickte. »Jepp, man muss ihnen den Kopf abschlagen. Eklig, ich weiß.« Oder Seth konnte seine speziellen Apollyon-Kräfte einsetzen. Er hatte Kain mit Akasha gegrillt– dem fünften und letzten Element–, und das hatte ihn erledigt.

Caleb rieb sich die Stelle am Arm, an der er gebissen worden war. Als unsere Blicke sich kreuzten, hörte er auf. Ich lächelte gezwungen.

»Wenn es ein Halbblut ist, könnte es jeder sein.« Luke lehnte sich zurück und verschränkte die Arme. »Ich meine, überlegt doch mal! Sie brauchen keine Elementarmagie, um zu verbergen, wie sie wirklich aussehen. Es könnte jeder sein.«

Wenn Reinblüter auf die Seite des Bösen überwechselten, konnten Halbblüter erkennen, wie sie waren– ich meine richtig. Mit leeren schwarzen Augenhöhlen, der bleichen Haut und Mündern voll rasiermesserscharfer Zähne gingen sie nicht gerade in der Menge unter. Halbblüter hatten die seltsame Eigenschaft, die Elementarmagie zu durchschauen, die reinblütige Daimonen einsetzten. Halbblut-Daimonen hingegen sahen nach ihrer Verwandlung noch genauso aus wie zuvor. Jedenfalls war das bei Kain so gewesen.

»Na ja, es müsste ein Halbblut sein, das von einem Daimon angegriffen wurde«, schaltete sich eine kehlige, rauchige Stimme ein. »Hmmm, ich frage mich, wer das wohl sein könnte? Solche Leute wachsen hier nicht gerade auf den Bäumen.«

Ich hob den Kopf und entdeckte Lea Samos und Jackson. Es war Mitte September, und dieses Mädchen war immer noch superbraun– und immer noch so schön, dass ich ihr am liebsten mit einer Plastikgabel ein Auge ausgestochen hätte. »Ja, das klingt logisch.« Ich verlieh meiner Stimme einen gleichmütigen Klang.

Die amethystblauen Augen richteten sich auf mich. »Wie viele Halbblüter kennen wir, die in letzter Zeit angegriffen wurden?«

Ich starrte sie an und fühlte mich hin- und hergerissen zwischen Ungläubigkeit und dem Drang, etwas nach ihr zu werfen. »Lass es bleiben, Lea! Ich habe heute keinen Bock, mir deinen Mist anzuhören.«

Sie verzog die vollen Lippen zu einem grausamen Lächeln. »Also, ich kenne zwei.«

Caleb schoss so schnell hoch, dass er seinen Stuhl umwarf. »Was willst du damit sagen, Lea?«

Zwei Wachposten, die an der Tür standen, traten vor und beobachteten die Szene mit Interesse. Olivia fasste nach Calebs Hand, doch er beachtete sie nicht. »Komm schon, Lea! Sprich’s aus!«

Sie warf ihre kupferrote Mähne über die Schulter. »Entspann dich, Caleb! Wie oft bist du gebissen worden? Zweimal? Dreimal? Um ein Halbblut umzudrehen, muss es viel öfter sein.« Sie bedachte mich mit einem langen Blick. »Stimmt doch, oder? Das habe ich von den Wachen gehört. Dass man Halbblüter langsam aussaugen muss, und dann gibt der Daimon ihnen den Todeskuss.«

Ich holte tief Luft. Lea und ich waren Feindinnen. Nach der Ermordung ihrer Eltern hatte sie mir eine Zeit lang irgendwie leidgetan, aber das schien Ewigkeiten her zu sein. »Ich bin kein Daimon, du Schlampe.«

Lea legte den Kopf schief. »Wenn es wie ein Daimon aussieht, dann…«

»Lea, geh und vernasch jemanden oder leg dich auf die Sonnenbank! Die Reihenfolge ist mir egal.« Caleb setzte sich wieder. »Niemand will sich deinen Müll anhören. Das ist überhaupt das Putzige an dir, Lea. Du bildest dir ein, alle hören auf dein Gequatsche. Dabei denken alle nur daran, wie leicht du auf den Rücken zu legen bist.«

»Oder dass die Trainer letzte Woche in deinem Zimmer eine Flasche von einem gewissen Trank gefunden haben«, setzte Olivia hinzu, und ihre Lippen verzogen sich zu einem schadenfrohen Lächeln. »Wusste gar nicht, dass du auf so irres Zeug stehst. Aber vielleicht kriegst du so die Jungs rum.«

Ich schnaubte verächtlich. Davon hatte ich noch nichts gehört. »Wow. Du setzt also Jungs unter Drogen, damit sie mit dir schlafen? Nett. Wahrscheinlich ist Jackson deswegen im Unterricht heute fast über mich hergefallen.«

Leas Wangen liefen mit einer komischen Mischung aus Braun und Rot an. »Du blöde Daimonenschlampe! Deinetwegen ist mein Vater tot! Du hättest…«

Mehrere Personen bewegten sich gleichzeitig. Olivia und Caleb sprangen über den Tisch und versuchten mich festzuhalten, aber ich konnte schnell sein, wenn ich wollte.

Ich dachte nicht nach, sondern warf ihr einfach meinen leuchtend roten Apfel ins Gesicht. Ein solcher Wurf von einem Halbblut macht einen Apfel zu einer ernst zu nehmenden Waffe. Er traf mit lautem Knacken.

Lea taumelte zurück und hielt sich das Gesicht. Blut von der gleichen Farbe wie ihre Nägel quoll zwischen ihren Fingern hervor. »Du hast mir die Nase gebrochen!«

Alle Besucher der Cafeteria verstummten. Sogar die trübsinnig dreinblickenden halbblütigen Dienstboten wischten nicht länger die Tische und sahen zu. Niemand schrie oder wirkte übermäßig verblüfft. Schließlich waren wir Halbblüter– ein Haufen, der zu Gewalttätigkeiten neigte. Die Diener waren meist so massiv mit Drogen zugedröhnt, dass sie sich wenig Gedanken darum machten.

Aber irgendwie hatte ich die Wachen vergessen, als ich auf Lea losgegangen war. Ich quietschte, als einer von ihnen einen Arm um meine Taille schlang und mich über den Tisch riss. Getränke wurden verschüttet, Essensreste fielen zu Boden und undefinierbare Fleischbrocken bekleckerten meine Sporthose.

»Aufhören, sofort!«

»Sie hat mir schon wieder die Nase gebrochen!« Lea nahm die Hände vom Gesicht. »Das können Sie ihr nicht durchgehen lassen!«

»Ach, halt den Mund! Das bringen die Ärzte schon wieder in Ordnung. Dein Gesicht besteht sowieso zur Hälfte aus Plastik.« Ich kämpfte gegen den Wachmann an, bis er mir den Arm so weit nach hinten verdrehte, dass meine Schulter bei jeder Bewegung stechend schmerzte.

»Sie wollte meinen Äther!« Mit blutüberströmter Hand deutete Lea auf mich. »Ihre Mutter hat meine Eltern umgebracht, und jetzt will sie mich töten.«

Ich lachte. »Ach, um…«

»Seien Sie still!«, zischte mir der Wachmann ins Ohr. »Halten Sie den Mund, sonst zwinge ich Sie dazu!«

Drohungen von halbblütigen Wachposten waren nicht auf die leichte Schulter zu nehmen. Ich beruhigte mich, während der andere Wachmann sich Lea schnappte. Mir dröhnte das Blut in den Ohren, und vor Wut atmete ich immer noch schwer, aber mir wurde klar, dass ich vielleicht ein klein wenig überreagiert hatte.

Und ich würde gewaltigen Ärger kriegen.

Dass Halbblüter sich untereinander schlugen, war nichts Besonderes. Die Aggression und kontrollierte Gewalt aus dem Training schwappte manchmal auch auf andere Orte wie die Cafeteria über. Wenn Halbblüter Schwierigkeiten bekamen, weil sie sich geprügelt hatten, wurden sie meist an einen der Trainer verwiesen, die für Disziplinarangelegenheiten zuständig waren.

Jedes Stockwerk im Wohnheim hatte einen anderen Verantwortlichen. Bei mir war es Trainerin Gaia Telis, ein ziemlich cooles Mädchen, das nicht übermäßig streng oder nervig war. Aber mich brachte man nicht zu Trainerin Telis. Fünf Minuten, nachdem ich Lea zum zweiten Mal die Nase gebrochen hatte, saß ich in Dekan Andros’ Büro.

Das war nur einer der vielen Nachteile des Umstands, dass mein Onkel Dekan war.

Während ich auf Marcus wartete, betrachtete ich die bunten Fische, die durch das Aquarium schossen, und fingerte am Zugband meiner Hose herum. Manchmal kam ich mir vor wie einer dieser Fische– eingesperrt zwischen unsichtbaren Wänden.

Als hinter mir die Türflügel aufschwangen, zuckte ich zusammen. Das würde jetzt verdammt unangenehm werden.

»Benachrichtigen Sie mich sofort, wenn Sie noch etwas anderes finden. Das wäre alles.« Marcus’ tiefe Stimme erfüllte den Raum. Die Wachposten flankierten seine Tür von außen wie griechische Kriegerstatuen. Dann knallte er die Tür zu.

Ich fuhr zusammen.

Marcus marschierte durch den Raum. Er war angezogen, als hätte er den größten Teil des Tages auf dem Golfplatz verbracht. Ich rechnete damit, dass er sich hinter seinen Schreibtisch setzte, wie es sich für einen Dekan gehört. Daher war ich ein wenig schockiert, als er unmittelbar vor mir stehen blieb und die Hände auf die Armlehnen meines Stuhls legte.

»Du hast bestimmt mitbekommen, was heute passiert ist.« Marcus’ Stimme klang sowohl kalt als auch äußerst kultiviert. Die meisten Reinblüter hörten sich so an– nobel und raffiniert. »Irgendwann letzte Nacht wurde ein Reinblut angegriffen.«

Ich rutschte auf meinem Stuhl so weit wie möglich zurück und konzentrierte mich auf das Aquarium. »Ja…«

»Sieh nicht weg, Alexandria!«

Ich sog an meiner Unterlippe und blickte ihm ins Gesicht. Seine Augenfarbe glich der meiner Mutter, bevor sie sich in einen Daimon verwandelt hatte– ein strahlendes Grün wie von glitzernden Smaragden. »Ja, ich habe davon gehört.«

»Dann verstehst du sicher, womit ich mich zurzeit beschäftige.« Marcus senkte den Kopf, bis wir auf Augenhöhe waren. »Ich habe einen Halbblut-Daimon auf meinem Campus, der Jagd auf meine Studenten macht.«

»Es ist also ein Halbblut, das umgedreht wurde?«

»Ich glaube, das weißt du bereits, Alexandria. Du bist vieles– impulsiv, unverantwortlich und ungezogen–, aber gewiss nicht dumm.«

Ich wollte lieber etwas über diesen halbblütigen Daimon hören als über meine Charaktermängel. »Wer war das Halbblut? Ihr habt den Daimon doch gefasst, oder?«

Marcus überhörte meine Frage. »Und nun werde ich aus einer Untersuchung herausgerissen, die über meine Laufbahn entscheidet. Alles nur deshalb, weil meine halbblütige Nichte in der Cafeteria einem Mädchen die Nase gebrochen hat– ausgerechnet mit einem Apfel.«

»Sie hat mir vorgeworfen, ein Daimon zu sein!«

»Und da ist es deine spontane Reaktion, ihr mit solcher Wucht einen Apfel ins Gesicht zu werfen, dass ein Knochen bricht?« Seine Stimme klang täuschend sanft. Marcus war Chuck Norris in einem hellrosa Polohemd. Ich hatte gelernt, ihn nicht zu unterschätzen.

»Sie sagte noch, meinetwegen seien ihre Eltern umgebracht worden.«

»Ich frage dich noch einmal: Aus diesem Grund hast du mit aller Kraft einen Apfel auf sie geworfen und ihr das Nasenbein gebrochen?«

Ich rutschte unbehaglich auf meinem Sitz herum. »Ja, schätze schon.«

Langsam stieß er die Luft aus. »Mehr hast du nicht zu sagen?«

Ich sah mich im Raum um, und mein Kopf war plötzlich leer. »Ich hätte nicht gedacht, dass der Apfel ihr die Nase bricht«, sagte ich, weil mir nichts anderes einfiel.

Er erhob sich von dem Stuhl und blickte von hoch oben auf mich herunter. »Von dir erwarte ich mehr. Nicht, weil du meine Nichte bist, Alexandria. Nicht einmal, weil du mehr Erfahrung mit Daimonen hast als alle anderen Studenten.«

Ich rieb mir die Stirn.

»Jeder beobachtet dich– jedenfalls jeder, der etwas zu sagen hat. Du wirst Seth eine nie dagewesene Macht schenken. Du kannst dir kein unangemessenes Benehmen leisten, Alexandria. Und Seth kann das auch nicht.«

Tief in meinem Innern fühlte ich mich gereizt. Mit achtzehn würde etwas, das Palingenesis hieß, mich überkommen wie eine übernatürliche Schnellpubertät. Ich würde erwachen, und meine Macht würde auf Seth übergehen. Keine Ahnung, was es mit dieser Macht auf sich hatte, aber er würde dadurch zum Göttermörder werden. Alle sorgten sich um Seth– aber wo blieb ich dabei? Was aus mir wurde, schien niemanden zu kümmern.

»Die Leute erwarten mehr von dir, Alexandria. Sie beobachten dich, weil sie wissen, was einmal aus dir werden wird.«

Da war ich anderer Meinung. Sie beobachteten mich und fürchteten, die Geschichte könnte sich wiederholen. Bei der einzigen anderen Gelegenheit, bei der zwei Apollyons in derselben Generation aufgetreten waren, hatte sich der erste gegen den Rat gewandt. Daraufhin waren beide Apollyons hingerichtet worden. Der Rat und die Götter hielten die gleichzeitige Existenz von zwei Apollyons für gefährlich. Deswegen hatte Mom mich vor drei Jahren vom Covenant genommen. Sie hatte mich beschützen wollen und mich unter den Sterblichen versteckt.

»Beim Rat kannst du dich nicht so benehmen. Du kannst nicht herumlaufen, Streit vom Zaun brechen und andere beschimpfen«, fuhr er fort. »Es gibt Regeln– die Regeln unserer Gesellschaft, die du zu befolgen hast. Der Rat wird nicht lange fackeln und dich in Knechtschaft werfen. Dann kommt es nicht mehr darauf an, mit wem du verwandt bist. Hast du verstanden?«

Langsam atmete ich aus, hob den Kopf und stellte fest, dass Marcus am Aquarium stand und mir den Rücken zukehrte. »Ja, ich habe verstanden.«

Er fuhr sich mit einer Hand über den Kopf. »Du wirst dein Wohnheim nur verlassen, um zum Unterricht, zum Training und zum Abendessen zu gehen– und zwar zur festgelegten Zeit. Das ist alles. Ab sofort hast du keine Freunde mehr.«

Ich betrachtete seinen Rücken. »Habe ich etwa Hausarrest?«

Über die Schulter warf er mir einen Blick zu. Seine Lippen wurden schmal. »Bis auf Weiteres. Und spar dir deine Widerworte. In dieser Sache kommst du nicht ungestraft davon.«

»Aber wie kannst du mich zu Hausarrest verdonnern?«

Marcus wandte sich langsam um. »Du hast einem Mädchen mit einem Apfel die Nase gebrochen.«

Plötzlich war mir die Lust auf Streit vergangen. Ich war wirklich gut davongekommen. Außerdem hatte Hausarrest nichts zu bedeuten. Schließlich hatte ich nicht gerade einen Terminkalender voller Verabredungen. »Okay, aber sagst du mir Bescheid, wenn ihr den Daimon gefunden habt?«

Er musterte mich noch einen Augenblick länger. »Nein. Wir haben den Daimon noch nicht gefunden.«

Ich umklammerte die Armlehnen des Stuhls. »Dann… läuft er noch frei herum?«

»Ja.« Marcus bedeutete mir mit einem Wink, ich solle aufstehen, und ich folgte ihm zur Tür. Er sprach einen der Wachposten an. »Clive, bringen Sie Miss Andros auf ihr Zimmer!«

Innerlich stöhnte ich auf. Clive gehörte zu den Wachen, die ich ernsthaft im Verdacht hatte, mit Lea herumzumachen. Irgendwie gelangte der Inhalt jedes einzelnen Gesprächs aus Marcus’ Büro zu Lea. In Anbetracht der Tatsache, dass Clive eine Vorliebe für junge Mädchen hatte, die falsche Prada-Schuhe trugen, war er der wahrscheinlichste Kandidat.

»Ja, Sir.« Clive verbeugte sich.

»Vergiss unser Gespräch nicht!«, sagte Marcus.

»Aber was ist mit…«

Marcus schloss die Tür.

An welchen Teil dieses Gesprächs sollte ich mich erinnern? Daran, dass ich eine Schande für ihn war, oder an den Umstand, dass ein Daimon frei herumlief? Clive packte mich am Arm, und seine Finger gruben sich schmerzhaft tief in meine Haut. Ich zuckte zusammen und wollte den Arm zurückziehen, aber er verstärkte den Druck. Die Daimonenmale fühlten sich immer noch merkwürdig empfindlich an.

»Das macht Ihnen Spaß, habe ich recht?« Ich biss die Zähne zusammen.

»Gut geraten.« Clive schob mich ins Treppenhaus. Die Reinblüter waren reich– ich meine, sie hatten mehr Geld, als man sich vorstellen konnte. Trotzdem gab es auf dem ganzen Campus keinen einzigen Aufzug.

»Du glaubst, du kannst dir alles erlauben, stimmt’s? Du bist die Nichte des Dekans, die Stieftochter des Ministers und der nächste Apollyon. Du bist etwas so verdammt Besonderes, nicht wahr?«

Gut möglich, dass ich ihn schlagen würde, aber mit der Faust statt mit einem Apfel. Ich riss den Arm los. »Ja, ich bin so verdammt besonders.«

»Aber denk daran, dass du immer noch ein Halbblut bist, Alex.«

»Und vergessen Sie nicht, dass ich trotzdem die Nichte des Dekans, die Stieftochter des Ministers und der nächste Apollyon bin.«

Clive trat so nahe an mich heran, dass sich unsere Nasen fast berührten. »Drohst du mir etwa?«

Auf keinen Fall würde ich einlenken. »Nein. Ich erinnere Sie nur daran, wie besonders ich wirklich bin.«

Er starrte mich einen Moment lang an und stieß dann ein kurzes, hartes Lachen aus. »Vielleicht haben wir ja alle Glück, und ein Daimon verspeist dich als Imbiss, während du allein zurück zu deinem Wohnheim gehst. Gute Nacht.«

Ich lachte, so laut ich konnte, und wurde damit belohnt, dass die Tür zuknallte. Während ich die Treppen hinuntereilte, vergaß ich Clive. Auf dem Campus ging ein Daimon um, und er hatte bereits ein reinblütiges Mädchen angegriffen und es fast umgebracht. Wer wusste schon, wie lange es dauern würde, bis der Halbblut-Daimon seine nächste Dosis brauchte? Mom hatte gesagt, ein Reinblut könne einen gewöhnlichen Daimon tagelang ernähren. Aber galt das auch für einen Halbblut-Daimon?

Davon hatte sie nichts erwähnt, aber sie hatte während meiner Gefangenschaft in Gatlinburg viel über ihre Pläne geredet, den Rat und die Reinblüter zu stürzen. Mom und Eric, die einzigen überlebenden Daimonen aus Gatlinburg, hatten Pläne geschmiedet, die Halbblüter zuerst umzudrehen und sie dann in die Covenants zurückzuschicken, um sie zu infiltrieren. Das klang, als sei die Verschwörung schon im Gang… oder war es möglich, dass der neue Angriff reiner Zufall gewesen war?

Also, das bezweifelte ich.

Meine Erfahrungen in Gatlinburg waren der einzige Grund dafür, dass ich die Novembersitzung des Rats besuchen würde. Inzwischen erschien mir meine Zeugenaussage allerdings völlig sinnlos.

Ich umrundete den zweiten Stock und hielt unvermittelt inne. Eine ungute Vorahnung lief mir das Rückgrat wie mit Eisfingern hinunter und weckte den unheimlichen Sinn, den wir Halbblüter in uns tragen. Ich warf einen Blick über die Schulter und rechnete fast damit, einen halbblütigen Serienkiller hinter mir zu entdecken… oder zumindest Clive, der mich die Treppe hinunterstoßen wollte.

Aber da war niemand.

Ich war darauf trainiert, auf den verrückten sechsten Sinn zu achten, der unsere Art auf alle möglichen verkorksten Situationen aufmerksam machte, und gestand mir ein, dass ich Clive vielleicht nicht hätte verärgern sollen. Schließlich lief bei uns ein Daimon frei herum. Ich nahm immer zwei Stufen auf einmal und riss die Tür zur Hauptebene auf.

Die Angst hielt mich noch immer umklammert, als hätte sich etwas um meine Finger gewickelt. Dass der lange Gang lediglich von flackernden Deckenröhren beleuchtet wurde, war auch nicht sonderlich hilfreich und trug zu der unheimlichen Atmosphäre bei. Wo steckten nur alle Trainer und Wachen? Es war grabesstill.

»Clive?« Ich blickte den leeren Flur entlang. »Wenn Sie mir einen Streich spielen, breche ich Ihnen die Nase, ernsthaft.«

Keine Antwort. Stille.

Die winzigen Härchen an meinem Körper stellten sich warnend auf. Vor mir warfen die Musenstatuen harte Schatten durch das Foyer. Während ich den Gang entlanglief, spähte ich auf der Suche nach möglichen Bedrohungen in jeden Winkel. Meine merkwürdig hallenden Schritte klangen so, als lache etwas über mich. Dann blieb ich wie angewurzelt stehen, und mir klappte die Kinnlade herunter. Das Foyer der Akademie hatte Zuwachs bekommen. Zumindest hatte ich noch nichts davon bemerkt, als ich zu Marcus’ Büro geführt worden war.

In der Mitte des Foyers standen drei neue Marmorstatuen. Die engelhaften schönen Frauen drängten sich dicht aneinander. Die Arme hatten sie vor dem Körper verschränkt, und ihre Schwingen erhoben sich hoch über den geneigten Köpfen.

O Götter!

Furien am Covenant.

Einstweilen waren sie noch nicht lebendig, aber ihr Auftauchen bewies, dass einige Götter höchst unzufrieden waren. Langsam umrundete ich die Figuren, als könnten sie sich jeden Moment gewaltsam aus ihren Hüllen befreien und mich in Stücke reißen. Ich stellte mir vor, wie sie warteten und die Klauen wetzten, die ihnen wachsen würden, wenn sie ihre wahre Gestalt annahmen.

Furien waren uralte, grauenhafte Göttinnen, die einst Jagd auf jene Menschen machten, die Untaten begangen hatten, aber ungestraft davongekommen waren. Heutzutage tauchten sie auf, wenn die Reinblüter insgesamt bedroht waren… oder die ganze Menschheit.

Etwas Schlimmes würde passieren oder war schon geschehen.

Ich riss den Blick von den heiteren Mienen der Statuen los und stieß die schweren Türflügel auf. Da legte sich eine Hand hart um meinen Arm. Erst keuchte ich vor Verblüffung, um gleich darauf laut zu kreischen. Ich beugte mich nach hinten, zog ein Bein an und setzte zu einem heftigen Tritt an. Einen Sekundenbruchteil bevor ich getroffen hätte, blickte ich nach oben.

»Mist!«, schrie ich.

Aiden blockte mein Knie und zog die Augenbrauen hoch. »Also, deine Reflexe werden entschieden besser.«

Mein Herz raste. Ich schloss die Augen. »O Götter! Du hast mir vielleicht einen Schreck eingejagt.«

»Das sehe ich.« Er ließ meinen Arm los und betrachtete meine Hose. »Dann stimmt es also.«

»Was stimmt?« Ich konnte meinen wilden Herzschlag immer noch nicht kontrollieren. Um Himmels willen– ich hatte gedacht, er sei ein Daimon, der mir gleich in den Arm beißen würde.

»Du hast dich mit Lea Samos gestritten und ihr das Nasenbein gebrochen.«

»Oh.« Ich richtete mich auf und zog einen Schmollmund. »Sie hat mich Daimonenschlampe…«

»Worte, Alex, nichts als Worte.« Aiden neigte den Kopf seitwärts. »Haben wir dieses Gespräch nicht schon einmal geführt?«

»Du kennst Lea kaum. Du weißt nicht, wie sie ist.«

»Kommt es darauf an, wie sie ist? Du kannst dich nicht mit jedem schlagen, der dich blöd anmacht. Wenn ich Menschen so gegenübertrete wie du, komme ich aus dem Kämpfen gar nicht mehr heraus.«

Ich verdrehte die Augen. »Aber die Leute reden nicht schlecht über dich, Aiden. Jeder respektiert dich. Du bist vollkommen. Dich halten die anderen nicht für einen Daimon. Jedenfalls steht da hinten im Foyer eine neue glückliche Familie in ihrem Grab.«

Er runzelte die Stirn.

»Im Foyer sind Furien aufgetaucht– als Statuen.«

Seufzend fuhr sich Aiden mit einer Hand über den Kopf. »Wir hatten befürchtet, dass so etwas passiert.«

»Im Covenant gibt es eine Sicherheitslücke, obwohl der Rat so etwas für unmöglich hält. Das gehörte damals, als vor Ewigkeiten der erste Covenant gegründet wurde, zur Übereinkunft mit den Göttern. Die Götter sehen darin den Beweis, dass der Rat das Daimonenproblem nicht in den Griff kriegt.«

Mein Magen krampfte sich zusammen. »Und was genau bedeutet das?«

Er zog eine Grimasse. »Es heißt, die Götter lassen die Furien los, wenn die Reinblüter ihrer Meinung nach die Kontrolle verloren haben. Und das möchte niemand. Die Furien greifen alles an, was sie als Bedrohung wahrnehmen. Daimon, Halbblut oder…«

»Apollyon?«, flüsterte ich, aber Aiden gab keine Antwort. Also lag ich richtig mit meiner Vermutung. Ich stöhnte auf. »Großartig. Na, hoffentlich kommt es nicht so weit.«

»Ganz deiner Meinung.«

Unbehaglich trat ich von einem Fuß auf den anderen. Mein Kopf konnte die neue Bedrohung noch gar nicht richtig verarbeiten. »Warum bist du eigentlich hier?«

Aiden warf mir einen finsteren und durchdringenden Blick zu. »Ich war auf dem Weg zu Marcus. Und wieso läufst du hier allein herum?«

»Clive sollte mich zurück zum Wohnheim begleiten, aber daraus ist irgendwie nichts geworden.«

Er hob die Brauen und seufzte. Mit einer Kopfbewegung wies er in die Richtung der Wohnheime und schob die Hände in die Taschen seiner dunklen Cargohose. »Komm, ich gehe mit dir. Du solltest nicht allein hier draußen sein.«

Ich löste mich von der Tür. »Weil auf dem Campus noch immer ein Daimon herumlungert? Und Furien, die jeden Moment angreifen können?«

Stirnrunzelnd sah er auf mich herab. »Ich weiß, dass deine schnippische Art nur aufgesetzt ist. Wahrscheinlich hast du deswegen einen Apfel als gefährliche Waffe benutzt. Gerade du solltest wissen, wie ernst die Lage ist.«

Sein Tadel trieb mir die Röte in die Wangen. Vor schlechtem Gewissen verknotete sich mein Magen förmlich. Ich betrachtete die Markierungen auf dem Boden. »Tut mir leid.«

»Ich bin nicht derjenige, bei dem du dich entschuldigen solltest.«

»Also, bei Lea entschuldige ich mich verdammt noch mal nicht. Das kannst du vergessen.«

Aiden schüttelte den Kopf. »Ich weiß, dass Leas Worte dich bestürzt haben. Ich kann… deine Reaktion sogar verstehen, aber du musst vorsichtig sein. Die Leute…«

»Ja, ich weiß. Die Leute beobachten mich. Bla, bla und nochmals bla.« Blinzelnd verfolgte ich die Schritte der patrouillierenden Wachposten. Es war die Zeit zwischen Dämmerung und Dunkelwerden, aber noch hatten die Lampen sich nicht eingeschaltet. Die größten Gebäude– Schule, Trainingsräume und Wohnheime– warfen dunkle Schatten. »Habt ihr eigentlich schon eine Ahnung, wo der Daimon stecken könnte?«

»Nein. Wir haben alles durchkämmt und suchen immer noch. Momentan kümmern wir uns vor allem um die Sicherheit der Studenten.«

Wir blieben am Fuß der Treppe zu meinem Wohnheim stehen. Die Veranda war leer, ein Zeichen dafür, dass sich alle unbehaglich fühlten. Sonst hingen hier immer Mädchen herum, die mit den Jungs ins Gespräch kommen wollten. »Hat Melissa den Daimon gesehen? Konnte sie ihn beschreiben?«

Aiden strich sich mit der Hand über die Stirn. »Derzeit kann sie sich kaum an den Angriff erinnern. Die Ärzte… nun ja, es liegt angeblich an dem Trauma, das sie erlitten hat. Ein Selbstschutz vermutlich.«

Ich wandte den Blick ab und war dankbar für die Dunkelheit ringsum. Warum konnte ich nicht vergessen, was in Gatlinburg passiert war? »Wahrscheinlich steckt noch mehr dahinter«, gab ich zu bedenken. »Sie ist ein Reinblut. Einer von uns wäre darauf trainiert, hätte auf Einzelheiten geachtet und möglichst viele Informationen gesammelt. Sie war das aber nicht. Sie ist einfach ein… normales Mädchen. Und wenn sie bei Nacht überfallen wurde, dann hielt sie den Angriff vielleicht für einen Albtraum. Ich kann mir kaum vorstellen, wie es sein muss, aufzuwachen und…« Ich unterbrach mich. Er sah mich merkwürdig an. »Was?«

»Ich glaube, du denkst in die richtige Richtung.«

Ich konnte das einfältige Lächeln nicht unterdrücken, das sich auf meinem Gesicht ausbreitete. »Ich bin eben großartig, ich weiß.«

Seine Lippen verzogen sich zu einem Schmunzeln. »Also, wie tief steckst du in der Tinte?«

»Im Wesentlichen habe ich Hausarrest, aber ich bin noch ganz gut davongekommen.« Ich lächelte noch immer wie bescheuert.

»Ja, allerdings.« Er wirkte erleichtert. »Halt dich aus allem heraus und schleich bitte nicht auf dem Gelände herum! Ich bezweifle, dass der Daimon noch hier ist, aber man weiß nie.«

Ich holte tief Luft und verschränkte die Arme vor der Brust. »Aiden?«

»Hmmm?«

Ich starrte auf Aidens Stiefel. Sie glänzten und waren überhaupt nicht verkratzt. »Es fängt an, stimmt’s?«

»Du sprichst von den Plänen, die deine Mutter erwähnte, oder?«

»Sie erzählte mir, was die Daimonen vorhätten. Und Eric ist noch da draußen. Was, wenn er dahintersteckt und…?«

»Alex.« Er beugte sich zu mir herab. Wir waren uns nahe, aber nicht so nahe wie im Trainingsraum. »Es kommt nicht auf Eric an. Wir sorgen dafür, dass so etwas nicht wieder passiert. Mach dir keine Sorgen!«

»Ich habe keine Angst.«

Aiden streckte die Hand aus und strich mir über die Finger. Die Berührung war kurz und trotzdem prickelte mein ganzer Körper. »Ich habe auch nicht behauptet, dass du Angst hast. Wenn überhaupt, dann bist du viel zu mutig.«

Unsere Blicke trafen sich. »Alles verändert sich gerade.«

»Es ist schon alles anders.«

Später an diesem Abend warf ich mich im Bett hin und her. Meine Gedanken wollten einfach nicht zur Ruhe kommen. Der Daimonenangriff, der Apfelanschlag, zickige Furien, die bevorstehende Ratssitzung und alles andere kreisten in einer riesigen, endlosen Wolke in meinem Kopf. Jedes Mal, wenn ich mich auf die andere Seite wälzte, ärgerte ich mich mehr über die Aussicht auf eine weitere schlaflose Nacht.

Die Schlafprobleme hatten ungefähr eine Woche nach meiner Rückkehr aus Gatlinburg begonnen. Ich schlief ein, und nach ungefähr einer Stunde schlich sich ein Albtraum ein. Meist tauchte Mom in diesen Albträumen auf. Manchmal durchlebte ich noch einmal den Kampf mit ihr in den Wäldern. Manchmal tötete ich sie, und dann wieder war ich allein mit Daniel, dem Daimon mit den allzu zutraulichen Händen.

Und manchmal hatte ich Träume, in denen ich in einen Daimon verwandelt werden wollte.

Ich drehte mich auf den Bauch und vergrub das Gesicht im Kissen, als ich ein seltsames Kribbeln in der Magengrube verspürte– ähnlich wie die Schmetterlinge, die ich vor dem ersten Kuss im Bauch hatte, nur viel stärker.

Ich schob mich hoch und sah mit zusammengekniffenen Augen auf die Uhr. Es war nach ein Uhr nachts, und ich fühlte mich hellwach. Und heiß war mir, richtig heiß. Vielleicht spielten die Thermostate ja wieder verrückt. Ich stand auf und öffnete das Fenster in der Nähe des Betts. Kühle, feuchte Seeluft schwappte herein und verschaffte mir ein wenig Erleichterung. Ich hatte nicht mehr das Gefühl, jeden Moment aus der Haut fahren zu müssen, aber ich glühte immer noch– am ganzen Körper. Ich fuhr mir mit den Händen über das Gesicht und spürte einen Schmerz, der mich an die Zeit mit Aiden erinnerte. Nicht an unsere Trainingsstunden, nein, an die Nacht, als man Kain gefunden hatte. An die Nacht, als ich nackt in Aidens Bett gelegen hatte.

Aber ich erinnerte mich nicht nur an das Körperliche. Ich erinnerte mich an Worte, die ich in Millionen von Jahren nicht vergessen würde– Du bist in mir, bist zu einem Teil von mir geworden. Noch nie, kein einziges Mal hatte jemand so etwas zu mir gesagt.

Seufzend blickte ich wieder auf die Uhr. Fünfzehn Minuten vergingen, dann zwanzig, schließlich eine halbe Stunde. Am Ende gab ich mich nicht mehr mit der Uhrzeit ab. Mein Herz pochte heftig, bis ich die Augen zukniff. Fast konnte ich Aiden sehen, die sanfte Berührung seiner Fingerspitzen spüren und die Worte wieder hören. Und dann, ohne Vorwarnung, war das prickelnde Gefühl verschwunden. Die kühle Luft, die durch das Fenster drang, fühlte sich plötzlich unangenehm an.

»Was zum Teufel…?« Ich ließ mich auf den Rücken fallen. »Hitzewallungen? Wieso das?«

Erst viel, viel später schlief ich ein.

3. Kapitel

Am nächsten Tag veränderte sich dann wirklich alles.

Olivia und ich teilten uns im Unterricht ein Mathebuch und versuchten uns über den Unterschied zwischen Sinus und Kosinus klar zu werden. Nachdem wir die meiste Zeit unseres Erwachsenenlebens mit dem Jagen und Töten von Daimonen verbringen würden, erschien es ziemlich sinnlos, Trigonometrie zu lernen. In Anbetracht dessen strengten wir uns nicht ernsthaft an.

Ich zeichnete ein Paar riesige Brüste auf den Rand über der Formel und schrieb Olivia dazu. Sofort strich sie ihren Namen durch und kritzelte Alex darüber.

Verächtlich schnaubte ich und blickte gerade noch rechtzeitig auf, um zu sehen, dass Mrs Kateris– ein Reinblut mit so vielen akademischen Titeln, dass sie in Yale hätte unterrichten können– sich umwandte und uns stirnrunzelnd musterte.

»Toll«, murmelte Olivia hinter vorgehaltener Hand. »Wenn sie jetzt das Buch nimmt und fragt, was wir da machen, sterbe ich. Ehrlich.«

Ich gähnte laut. »Meinetwegen.«

Mrs Kateris legte die Kreide weg und klatschte in die Hände. »Miss Andros und Miss Panagopoulos!« Sie unterbrach sich so lange, dass die ganze Klasse vor uns aufsah und sich zu uns umdrehte. »Würden Sie uns auch mitteilen, was…?«

»Es gefällt mir, wie sie deinen Familiennamen ausspricht«, flüsterte ich Olivia zu. In diesem Moment öffnete sich die Tür des Klassenraums, und ein kleines Geschwader von Wachleuten trat ein.

»Was zum Teufel…?« Olivia setzte sich auf.

Mrs Kateris trat zurück und strich sich den Rock glatt.

Die Wachleute verbeugten sich in ihre Richtung. So war es Brauch, wenn hochrangige Reinblüter angesprochen wurden, in unserer Welt also praktisch jeder. »Wir entschuldigen uns für die Unterbrechung Ihres Unterrichts, Missis Kateris«, sagte der erste Wachmann. Ich hätte ihn fast nicht wiedererkannt, aber es war der Posten von der Brücke, der mir über die Insel gefolgt war– Crede Linard. Er musste befördert worden sein.

Mrs Kateris schenkte ihm ein bemühtes Lächeln. »Keine Entschuldigung nötig. Wie können wir Ihnen behilflich sein?«

»Dekan Andros wünscht die Halbblüter zu sehen. Wir sind hier, um sie zu begleiten.«

Mit verwirrten, misstrauischen Mienen sahen wir Halbblüter uns in der Klasse um. Hatte es einen weiteren Angriff gegeben?

Mrs Kateris trat zurück und presste die Hände aneinander. Mit beeindruckend ausdrucksloser Miene stellte sich Wachmann Linard vor die Klasse. »Bitte folgen Sie uns!«

Olivia klappte das Lehrbuch zu und ihr wich die Farbe aus dem Gesicht. »Was ist los?«

Während ich mir meinen Rucksack schnappte, der auf dem Boden stand, dachte ich an die Furien. Heute Morgen hatten alle von ihnen geredet und gefunden, dass sie ziemlich cool aussahen. Niemand schien zu kapieren, welch große Bedeutung sie hatten. »Keine Ahnung.«

Mehrere Halbblüter wollten beim Verlassen des Klassenraums Fragen stellen, aber Wachmann Linard fertigte sie stirnrunzelnd ab. »Nicht reden!«

Das Gleiche passierte in den anderen Klassen. Türen wurden geöffnet, und Wachleute führten die Halbblüter im Gänsemarsch den Flur entlang. Auch von oben hörten wir die Schritte anderer Gruppen, die durch das Gebäude getrieben wurden. Ich warf einen Blick nach hinten und entdeckte Caleb und Luke.

Ich wandte mich wieder um und atmete flach. Es ging um eine ernste Angelegenheit, das war uns klar. Während wir uns weiter in Richtung Erdgeschoss bewegten, hing so viel Spannung in der Luft, dass mir die Haut juckte. Es dauerte lächerlich lange, bis alle die Treppe hinuntergestiegen waren. Wieder einmal hätte ich am liebsten erwähnt, dass der Covenant unbedingt Aufzüge brauchte.

Schließlich führte man uns durch das Foyer der Schule, vorbei an den Verwaltungsbüros und dann zum Zentrum des Covenant, dem Innencolosseum. Nur dort fanden wir alle Platz.

Sobald wir den Raum betreten hatten, der bei uns Studenten einfach nur Turnhalle hieß, befahl man uns, mit unserer Klasse zusammenzubleiben und uns zu setzen. Olivia und ich landeten in der dritten Reihe, Caleb und Luke dagegen weit hinten, mindestens in der elften, was ich ziemlich blöd fand. Ich hätte lieber neben Caleb gesessen, wenn die Bombe platzte, über die wir allerdings nicht das Geringste wussten. Olivia erging es offenbar genauso wie mir.