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Beschreibung

Die eigene Zeit als Kolonialmacht sei im Vergleich mit Ländern wie Frankreich oder Großbritannien kurz und relativ unproblematisch gewesen: So sah man es hierzulande lange. Doch das war ein Irrtum. Heute steht die deutsche koloniale Vergangenheit zu Recht im Zentrum kontrovers geführter Debatten über das koloniale Erbe in einer globalen Welt. Dieses Buch beleuchtet mit dem Auswärtigen Amt einen zentralen Akteur des deutschen Kolonialismus und spannt den Bogen vom Deutschen Kaiserreich bis weit ins 20. Jahrhundert hinein. Dabei richtet sich der Blick nicht nur auf Deutschland, sondern auch in die betroffenen Gesellschaften Afrikas, Asiens und Ozeaniens. Mit dem Versailler Vertrag von 1919 endete die formale deutsche Kolonialherrschaft. Doch koloniales Denken lebte in der Mitte der deutschen Ge sellschaft fort – so auch im Auswärtigen Amt, dem eine Mitverantwortung für Gewalt und Verbrechen in den deutschen Kolonien zukommt. Die Folgen seines Handelns sind noch bis in unsere Gegenwart spürbar. In der Zeit der NS-Diktatur verbanden sich nationalkonservative, monarchistische und antirepublikanische Haltungen im Auswärtigen Amt mit den expansionistischen und rassistischen Zielen des Nationalsozialismus. Ab 1949 prägten Indifferenz und Ignoranz, Passivität und Relativierung die bundesdeutsche Politik gegenüber den ehemaligen Kolonien im globalen Süden. Heute ist das Amt maßgeblich an Verhandlungen über Restitution und Wiedergutmachung beteiligt. Zudem wird es von einer diverser gewordenen deutschen Gesellschaft mit Fragen zur kolonialen Vergangenheit konfrontiert. Aus Gründen der historischen Gerechtigkeit, aber auch angesichts einer veränderten Weltlage muss sich das Amt seiner eigenen Kolonialgeschichte stellen.

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Carlos Alberto Haas Lars Lehmann Brigitte Reinwald David Simo (Hrsg.)

DASAUSWÄRTIGE AMT UND DIEKOLONIEN

GESCHICHTE ERINNERUNG ERBE

C.H.Beck

Zum Buch

Mit ihrer Studie zur NS-Geschichte des Auswärtige Amtes haben Eckart Conze, Norbert Frei und andere große Aufmerksamkeit erzielt. Der vorliegende Band widmet sich nun dem Amt als einem zentralen Akteur im deutschen Kolonialismus und reagiert damit auf die neue Dringlichkeit, die der Beschäftigung mit Deutschlands kolonialer Vergangenheit heute zukommt — aus Gründen der historischen Gerechtigkeit, aber auch angesichts einer veränderten Weltlage.

Kaum eine heute noch bestehende Institution war für die deutsche Kolonialgeschichte bis 1918/19 so wichtig wie das Auswärtige Amt. Und auch heute ist es entscheidend daran beteiligt, nach einem angemessenen Umgang mit der kolonialen Vergangenheit zu suchen. Vor diesem Hintergrund analysiert dieser Band die Rolle des Auswärtigen Amtes in der deutschen Kolonialgeschichte und ordnet sie in die weiter gefassten sozialen, kulturellen und politischen Kontexte ein. Dabei greift er weit in das 20. Jahrhundert aus und behandelt auch die Zeit der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus sowie die ersten Jahrzehnte nach 1945. Die Autorinnen und Autoren widmen sich nicht nur Deutschland, sondern nehmen auch die betroffenen Gesellschaften Afrikas, Asiens und Ozeaniens in den Blick. Auf diese Weise leisten sie einen wichtigen Beitrag zur kontrovers geführten Debatte über das koloniale Erbe in einer globalen Welt.

Vita

Carlos Haas war von 2013 bis 2020 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Zeitgeschichte München-Berlin und ist seit April 2020 Akademischer Rat a. Z. am Historischen Seminar der LMU München.

Lars Lehmann ist Wissenschaftlicher Koordinator des Schelling-Forums der Bayerischen Akademie der Wissenschaften an der Universität Würzburg.

Brigitte Reinwald ist Professorin für die Geschichte Afrikas am Historischen Seminar der Leibniz Universität Hannover.

David Simo ist emeritierter Professor für German Studies an der Université de Yaoundé 1 in Kamerun. Er ist Reimar-Lüst-Preisträger der Alexander von Humboldt-Stiftung und der Fritz Thyssen Stiftung.

Inhaltsverzeichnis

Abbildungen in Farbe

Das Auswärtige Amt und die Kolonien Geschichte – Erinnerung – Erbe (Carlos Alberto Haas, Lars Lehmann, Brigitte Reinwald, David Simo)

In welchem Verhältnis standen und stehen koloniale Praktiken und koloniale Deutungsmuster auf der einen Seite, «normale» Außenpolitik auf der anderen?

Was verstanden Angehörige des Auswärtigen Amts unter «Kolonialismus» und «kolonialer Herrschaft»?

In welchem Verhältnis standen das Auswärtige Amt und weitere außenpolitische Akteure?

Historische Eckdaten

Überlegungen zu Inhalt und Ausrichtung des Themenbands

I: DIE DIREKTE KOLONIALHERRSCHAFT

Den «Platz an der Sonne» verwalten. Die Kolonialabteilung des Auswärtigen Amts und das Reichskolonialamt (Martin Kröger)

Die Anfänge der deutschen Kolonialpolitik im Deutschen Kaiserreich

Die Berliner Konferenz

Der Weg zur Gründung der Kolonialabteilung

Der Aufbau der Kolonialabteilung

Von der Kolonialabteilung zum Reichskolonialamt

«Schutz», «Protektorat», «Kolonie». Das Auswärtige Amt und die Entwicklung des deutschen Kolonialrechts (Jakob Zollmann)

Einleitung: Schutz, Protektorate und die europäische Expansion

Deutsche Forderungen nach Schutz in Afrika: Ein «Schutzgebiet» für Adolf Lüderitz?

Die völkerrechtlichen Auseinandersetzungen zwischen dem Deutschen Reich und Großbritannien

Formalen Kolonialismus vermeiden. Frühe deutsche Verwaltungspläne für Afrika und die Südsee

Die staatsrechtlichen Grundlagen der deutschen Kolonialverwaltung – das Schutzgebietsgesetz (1886) und seine Novellen

Schluss: Kolonialrecht als Recht im Ungefähren

Das Auswärtige Amt und die Frage der Verantwortung für die koloniale Gewalt in Deutsch-Ostafrika (1884–1907) (Tanja Bührer)

Die Berliner Afrika-Konferenz 1884/85 und die internationale Regulierung kolonialer Gewalt

Bismarck, das Auswärtige Amt und die Verweigerung der Übernahme von Verantwortung für koloniale Gewalt

Militärische Gewaltentgrenzung und politische Kontrollbestrebungen

Die Kolonialabteilung im Auswärtigen Amt und die Eroberungs- und Widerstandskriege (1890–1906)

Fazit

Missing Link. Die Kolonialabteilung und die Kriege in Deutsch-Südwestafrika (1904–1909) (Matthias Häussler)

Eine schwache Institution

Das «System Leutwein»

Die Hinwendung zum Vernichtungskrieg

Die Militärdiktatur Trothas

Der Zivilgouverneur Lindequist

Epilog

Auswirkungen der deutschen Kolonialherrschaft in Togo, 1884–1914: Vom preußischen Drill zu einer gesellschaftlichen Erziehungsform (Kokou Azamede)

Die Etablierung der kolonialen Ordnung und die «Polizeitruppe»

Heutige Erinnerungen an die kolonialzeitliche militärische Ausbildung in Togo

Wirkung des militärischen Drills auf die Erziehungspraxis

Arbeit und Disziplin

Schluss

Ausführende des imperialen Expansionswillens. Die Rolle des Auswärtigen Amts bei der Besetzung von Tsingtau (Yixu Lü)

Von der Neutralität zur Interventionsbereitschaft

Wie Tsingtau zum favorisierten Standort der Flottenstation wurde

Die Entscheidung zur militärischen Besetzung von Tsingtau

Schlussbetrachtungen

Vermitteln, verweigern und «mehr von der Welt sehen»: Samoaner in der Kolonialverwaltung Deutsch-Samoas (Holger Droessler)

Samoa und die Imperien

Samoanische Krieger

Zwischen den Welten: Die Abenteuer von Charles T. Taylor

Taio Tolo und der Kampf für die Gleichheit der Samoaner

Ausblick

Die europäische Aushandlung des kolonialen Dispositivs und Versuche der Afrikanerinnen und Afrikaner, damit umzugehen (David Simo)

Die Berliner Kongo-Konferenz

Etappen der Grundlegung der Topoi und Skripte des kolonialen Dispositivs in den ersten imperialistischen Wellen

Der Wiener Kongress als Neuordnung Europas und Bestimmung seines Platzes in der Welt

Das Wissen als Grundlage der geopolitischen Macht

Die Kongo-Konferenz als diplomatische Neuordnung der Welt

Die Einheimischen und die neue europäische mentale Kartographie

Erste Versuche des Umgangs mit dem neuen, nicht durchblickten Dispositiv

Die neu etablierte Raumkonstellation und die Mobilität der Individuen

Schlussbetrachtung

II: KOLONIALISMUS OHNE KOLONIEN

Zwischen Kolonialrevisionismus und Mandatspolitik. Das Auswärtige Amt und die koloniale Frage in der Weimarer Republik (Gabriele Metzler)

Die Rahmenbedingungen der Weimarer Außenpolitik

Die normative Kraft des Faktischen: Der Verlust der Kolonien im Ersten Weltkrieg

Der Versailler Vertrag

Koloniale Lobby und Auswärtiges Amt

Der Übergang ins Mandatssystem

Auf der Suche nach einer kolonialen Strategie

Antikolonialismus oder Kooperation?

Reparationen

Wirtschaftliche Betätigung und Rückkehr der Kolonialdeutschen

Die Republik als Mandatsmacht?

Eine Frage der Ehre

Die Strategie der Ära Stresemann: Informal Empire und Mandatspolitik

Zuständigkeit für koloniale Fragen

«Den kolonialen Willen aufrechterhalten»

Dawes-Plan und Locarno: Wiederhergestellte Ehre

Im Völkerbund

Fragen des Beitritts

In der Mandatskommission

Neuer Anlauf zu Chartered Companies?

Kolonialpolitik in der Weltwirtschaftskrise

Wirtschaftliche Argumente

Antikolonialismus als Feind

Ein Bündnis mit den revisionistischen Staaten?

Fazit

Kolonialpolitik und Kolonialismus im Nationalsozialismus (Johannes Hürter)

Carl Peters (1941) – ein nationalsozialistischer Kolonialfilm

Der Kolonialismus in Politik und Gesellschaft

Rassismus, Kolonialismus, Ostexpansion

Das Auswärtige Amt im Spannungsfeld zwischen kolonialen Kontinuitäten und europäischen Transformationsprozessen in den 1950er Jahren (Stefan Seefelder)

Die wirtschaftlichen Grundlagen der westeuropäischen Nachkriegsordnung

Die Situation zu Beginn der 1950er Jahre

Außenpolitische Perspektiven und Kolonialismus in den 1950er Jahren – Entwicklungspolitik als Außenpolitik

Kolonialrevisionismus privat: Kontinuitäten und Akteure

Fazit

Die Politik der Enthaltung. Die Bundesrepublik Deutschland im Dekolonisationsprozess Ost-Timors von 1974/75 bis 1982 (Pai-Li Liu)

Bundesdeutsche Außenpolitik in der postkolonialen Welt der 1970er Jahre

Ost-Timor als Prüfstein

Propagandakampagne und Diplomatie der Gerüchte in der Ost-Timor-Frage 1974/75

Bürgerkrieg in Ost-Timor und die militärische Intervention Indonesiens

Dilemma zwischen realpolitischen Interessen und moralischem Anspruch auf Selbstbestimmungsrecht

Neutralität, Stimmenthaltung und das Schweigen

Fazit

«… größte Zurückhaltung geboten» – Das Auswärtige Amt in den Restitutionsdebatten der 1970er und 1980er Jahre (Lars Lehmann)

Einleitung

Die deutschen Akteure in der internationalen Restitutionsdebatte

Das Auswärtige Amt und die Leih- und Rückgabeersuchen der 1970er Jahre

Das Auswärtige Amt, Herbert Ganslmayr und die UNESCO

Die Gründung des zwischenstaatlichen Komitees zur Förderung der Rückgabe illegal erworbener Kulturgüter

Die Politik größtmöglicher Zurückhaltung

Fazit

Forscher, Diplomaten und «nichtintegrierte Indianer»: Stelen aus Guatemala im Berliner Humboldt Forum (Carlos Alberto Haas)

Der Weg der Stelen von Santa Lucía Cotzumalguapa nach Berlin

Plantagenbesitzer und der Zugriff auf die Vergangenheit

Deutsche und Europäer in Guatemala: Kolonialer Blick und die Produktion von Wissen

Kulturelles Erbe, indigene Identitäten und Außenpolitik

Die Monumente in der neuen Mesoamerika-Ausstellung des Ethnologischen Museums

Von Cotzumalhuapa lernen?

Koloniale Hinterlassenschaften aus dem Ersten Weltkrieg von General Paul Emil von Lettow-Vorbeck im National Museum and House of Culture in Dar es Salaam (Flower Manase Msuya)

Das Sammlungskonzept im King George V Memorial Museum

Der Weg der Objekte von Lettow-Vorbeck ins King George V Memorial Museum

Die Ausstellung der Kolonialobjekte von Lettow-Vorbeck im National Museum and House of Culture seit 2011

Besucherkommentare und kritische Reflexion der Geschichte des Ersten Weltkriegs in der Museumsausstellung

Fazit

Kolonialdenkmäler und -relikte: Ein belastendes Erbe des deutschen Kolonialismus (Adjaï Paulin Oloukpona-Yinnon)

Der gewaltsame Beginn deutscher Kolonialpolitik

Mit Waffengewalt eroberte «Schutzgebiete»

Kolonialpolitik als Weltmachtpolitik: Von verbaler Gewalt zu kolonialem Genozid

Postkoloniale Gewalt: Die Denkmalsturzaktionen in Deutschland als «Bumerang-Effekt» kolonialer Gewalt

Zwischen Verehrung und Verachtung: Das Schicksal der Kolonialdenkmäler in postkolonialer Zeit

Die immanente Gewalt eines Kolonialdenkmals

Von Kolonialdenkmälern zu Kolonialrelikten

Gegen Pauschalisierung

Das Humboldt Forum: ein neuer «kolonialer Auftrag»?

Das Auswärtige Amt und die Kolonien in der longue durée des 19. und 20. Jahrhunderts (Brigitte Reinwald)

Debattenlage I – zwischenstaatliche und transnationale Perspektiven

Debattenlage II – Auseinandersetzungen mit dem deutschen Kolonialismus: Geschichte und Erinnerung

Paradigmen und Perspektiven kolonialgeschichtlicher Forschungen

Ungleichzeitigkeit und transimperiale Transferprozesse

Akteurskonstellationen, Geschichtspolitik und Erinnerungskultur

Anhang

Anmerkungen

Das Auswärtige Amt und die Kolonien. Geschichte – Erinnerungen – Erbe (Haas, Lehmann, Reinwald, Simo)

Den «Platz an der Sonne» verwalten. Die Kolonialabteilung des Auswärtigen Amts und das Reichskolonialamt (Kröger)

«Schutz», «Protektorat», «Kolonie». Das Auswärtige Amt und die Entwicklung des deutschen Kolonialrechts (Zollmann)

Das Auswärtige Amt und die Frage der Verantwortung für die koloniale Gewalt in Deutsch-Ostafrika (1884–1907) (Bührer)

Missing Link. Die Kolonialabteilung und die Kriege in Deutsch-Südwestafrika (1904–1909) (Häussler)

Auswirkungen der deutschen Kolonialherrschaft in Togo, 1884–1914: Vom preußischen Drill zu einer gesellschaftlichen Erziehungsform (Azamede)

Ausführende des imperialen Expansionswillens. Die Rolle des Auswärtigen Amtes bei der Besetzung von Tsingtau (Lü)

Vermitteln, verweigern und «mehr von der Welt sehen»: Samoaner in der Kolonialverwaltung Deutsch-Samoas (Droessler)

Die europäische Aushandlung des kolonialen Dispositivs und Versuche der Afrikanerinnen und Afrikaner, damit umzugehen (Simo)

Zwischen Kolonialrevisionismus und Mandatspolitik. Das Auswärtige Amt und die koloniale Frage in der Weimarer Republik (Metzler)

Kolonialpolitik und Kolonialismus im Nationalsozialismus (Hürter)

Das Auswärtige Amt im Spannungsfeld zwischen kolonialen Kontinuitäten und europäischen Transformationsprozessen in den 1950er Jahren (Seefelder)

Die Politik der Enthaltung. Die Bundesrepublik Deutschland im Dekolonisationsprozess Ost-Timors von 1974/75 bis 1982 (Liu)

«… größte Zurückhaltung geboten» – Das Auswärtige Amt in den Restitutionsdebatten der 1970er und 1980er Jahre (Lehmann)

Forscher, Diplomaten und «nichtintegrierte Indianer»: Stelen aus Guatemala im Berliner Humboldt Forum (Haas)

Koloniale Hinterlassenschaften aus dem Ersten Weltkrieg von General Paul Emil von Lettow-Vorbeck im National Museum and House of Culture in Dar es Salaam (Manase Msuya)

Kolonialdenkmäler und -relikte: Ein belastendes Erbe des deutschen Kolonialismus (Oloukpona-Yinnon)

Das Auswärtige Amt und die Kolonien in der longue durée des 19. und 20. Jahrhunderts (Reinwald)

Abkürzungsverzeichnis

Autorinnen und Autoren

Bildnachweis

Ortsregister

Personenregister

Abbildungen in Farbe

Karte der ehemaligen deutschen Kolonien, der kolonialen Bestrebungen und der preußisch-brandenburgischen Kolonien vor 1721, entworfen im Jahr 2022 vom Historischen Dienst des Auswärtigen Amtes. → S. 16f.

Ansicht des Ausstellungsbereichs «Mesoamerika. Ballspiel, Pyramiden, Götter» des Ethnologischen Museums im Humboldt Forum, Berlin. → S. 386

Das erste Museumsgebäude des King George V Memorial Museum – National Museum of Tanzania. → S. 422

Ein verschmiertes Bismarck-Denkmal in Hamburg-Altona. → S. 436

«Das steinerne Schandmal»: Ein gestürztes Carl-Peters-Denkmal auf der Insel Helgoland. → S. 449

Das Auswärtige Amt und die Kolonien Geschichte – Erinnerung – Erbe

Carlos Alberto Haas, Lars Lehmann, Brigitte Reinwald, David Simo

Die Aufarbeitung der deutschen Kolonialgeschichte verändert die Koordinaten bundesrepublikanischer Erinnerungskultur. Eine kritische Beschäftigung mit der Kolonialzeit und ihren Folgen ist neben die Auseinandersetzung mit dem «Dritten Reich», dem Zweiten Weltkrieg und dem Holocaust getreten. Der Blick auf die deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts gestaltet sich neu. Vertreterinnen und Vertreter aus Politik, Kultur, Wissenschaft und Zivilgesellschaft streiten über einen angemessenen Umgang mit dem deutschen Kolonialismus: Handelt es sich hierbei um einen Wendepunkt im Geschichtsverständnis oder eher um eine Weitung? Im vorliegenden Band geht es nicht darum, den mühsam gewachsenen geschichtspolitischen Konsens über die besondere Verantwortung für die deutschen Verbrechen der NS-Zeit in Frage zu stellen. Die Herausforderung besteht vielmehr darin, das historische Bewusstsein zu erweitern und zu überlegen, wie heute verantwortungsvoll mit der deutschen Kolonialzeit umzugehen ist – auch und gerade vor dem Hintergrund der nationalsozialistischen Vergangenheit. Es sollte möglich sein, verschiedene Gewalt- und Verbrechenskomplexe in ihrem jeweiligen historischen Kontext nebeneinander stehen zu lassen, zumal sich der Schmerz der Opfer nicht aufwiegen lässt: «Leiden kennt keine Richterskala».[1]

Eng mit diesen Überlegungen verbunden ist die Frage, wie die vielfältige bundesrepublikanische Gesellschaft des 21. Jahrhunderts ihr Verhältnis zu den Menschen in den ehemaligen Kolonien und im globalen Süden gestalten will. Für eine solche Positionierung ist das kritische Wissen um die historischen Bezüge essentiell. Selbstverständlich ist die Diskussion auch außerhalb Deutschlands von großer Tragweite. Die Gesellschaften in den ehemaligen deutschen Kolonien, das heißt im heutigen Ghana, in Togo, in Kamerun, in Namibia, in Burundi, Ruanda und Tansania, in Papua-Neuguinea, in Nauru und auf den Marshallinseln sowie im Osten Chinas führen eigene Diskurse über den Umgang mit der kolonialen Vergangenheit. Erinnerungskulturelle und geschichtspolitische Fragen nehmen materielle Dimensionen an, wenn es um Entschädigungszahlungen oder die Restitution geraubter Kulturgüter geht. Entsprechende Forderungen an die Bundesrepublik sind dabei mehr als nüchterne Interessenpolitik. In ihnen spiegelt sich vielmehr die Auseinandersetzung afrikanischer und ozeanischer Gesellschaften mit den langfristigen und tiefgreifenden Folgen der gewaltvollen europäischen Kolonialherrschaft für ihre eigene Identität, Geschichte und Kultur. Für diese Auseinandersetzung ist die Frage zentral, unter welchen Vorzeichen diese Gesellschaften ihre Beziehungen zu Deutschland (und anderen vormaligen Kolonialmächten) überhaupt ausgestalten können und wollen. Daher gilt es, die Kolonialherrschaft gemeinsam mit den Gesellschaften der ehemaligen Kolonien aufzuarbeiten, möglichst ohne nach wie vor bestehende Ungleichheiten zu reproduzieren.

Seit dem Ende des Kaiserreichs hat der deutsche Nationalstaat zahlreiche Transformationen erfahren. Gleichwohl gibt es strukturelle und insbesondere institutionelle Kontinuitäten, die bis in unsere Gegenwart reichen. Das deutsche Außenministerium ist hierfür ein besonders eindrückliches Beispiel. Das Auswärtige Amt war mit seiner Kolonialabteilung bzw. dem daraus hervorgegangenen Reichskolonialamt bis 1918/19 ein wichtiger Akteur des deutschen Kolonialismus. Über die Zeit der Weimarer Republik und der NS-Diktatur hinweg hat sich das Amt bis in die Berliner Republik des 21. Jahrhunderts erhalten.

Umso verwunderlicher ist es, dass das Auswärtige Amt in der aktuellen erinnerungskulturellen und geschichtspolitischen Debatte durchaus als Akteur in Erscheinung tritt, gleichzeitig aber seine Verantwortung und seine historische Rolle im deutschen Kolonialismus kaum thematisiert werden. Wenn die Frage der nationalen Verantwortung überhaupt zur Sprache kommt, wird sie häufig auf einzelne historische Personen verengt, insbesondere auf Reichskanzler Otto von Bismarck oder Kaiser Wilhelm II.

Aus der geschichtswissenschaftlichen Binnenperspektive betrachtet, mag dies daran liegen, dass der Fokus auf das Auswärtige Amt einen mehr oder weniger fest vorgegebenen nationalen Rahmen aufspannt. Ein solches Setting steht scheinbar im Widerspruch zu aktuellen historiografischen Themenschwerpunkten, insbesondere der Globalgeschichte und der transnationalen Geschichte. Darüber hinaus haben vermutlich auch bestimmte Diskursmechanismen zur bisherigen Vernachlässigung dieses zentralen Akteurs geführt – die Organisationsgeschichte eines Ministeriums eignet sich auf den ersten Blick eher weniger für plakative Zuspitzungen. Allerdings erschließen sich staatliche politische Praktiken und damit korrelierende Denkmuster, die sich im deutschen Kolonialismus artikulierten, vor allem durch die Analyse konkreter Akteure. Die Verwaltungselite im Auswärtigen Amt ist eine solche Akteursgruppe. Der vorliegende Sammelband wirft daher Schlaglichter auf historische Konstellationen, in denen sich die Rolle des Auswärtigen Amts im Kolonialismus exemplarisch greifen lässt. Welche Verantwortung kommt dem Amt nun eigentlich zu?

Das Auswärtige Amt hat aufgrund seines aktiven, allzu oft jedoch vor allem reaktiven Verhaltens eine Mitverantwortung für Gewalt und Verbrechen in den deutschen Kolonien sowie für die langfristigen Folgen kolonialer Herrschaft, die bis in unsere Gegenwart spürbar sind. Das Amt stürzte sich unvorbereitet in das koloniale Projekt und stützte sich dabei vor allem auf einen mentalen Rahmen, der sich bereits vor der formalen Kolonialzeit entwickelt und aktualisiert hatte, nicht zuletzt während der Verhandlungen mit anderen europäischen Partnern. Eine klar strukturierte Verwaltungspraxis scheiterte häufig bereits am Gegensatz zwischen der Planung in der Metropole und deren konkreter Umsetzung in der kolonialen Peripherie. Das Auswärtige Amt bediente sich kolonialer Denkmuster, Kategorien und Handlungsmodelle, jedoch fehlten Erfahrung, Wissen über die realen Verhältnisse und Routinen bei der Ausübung kolonialer Herrschaft. Die hieraus resultierenden Fehleinschätzungen und Fehlurteile begünstigten und verstärkten Unmenschlichkeit und Brutalität in den Kolonien.

Die Angehörigen des Auswärtigen Amts dachten und handelten in den Kategorien von Superiorität und Inferiorität. Aufgrund ihrer Herkunft, Kultur und Geschichte sahen sie sich den Menschen im globalen Süden überlegen. Hierin waren sie weiten Teilen der deutschen Gesellschaft und anderen europäischen Gesellschaften ähnlich.

Bis in die jüngere Vergangenheit hat sich das Auswärtige Amt seiner Verantwortung für den deutschen Kolonialismus nicht gestellt. Was waren die Gründe? Mit dem Versailler Vertrag von 1919 endete die formale deutsche Kolonialherrschaft. Doch koloniales Denken lebte lange Zeit in der Mitte der deutschen Gesellschaft fort – so auch im Auswärtigen Amt. Der Revisionismus in der Weimarer Republik bezog sich nicht nur auf die verlorenen Staatsgebiete des Deutschen Reiches in Europa, sondern speiste sich vorrangig aus der Nichtakzeptanz des «Verlusts» der Kolonien in Afrika, Asien und Ozeanien. Dieser vermeintlich unverschuldete Verlust an Weltgeltung wog umso schwerer, als andere europäische Mächte weiterhin Kolonien beherrschten. In der Zeit der NS-Diktatur und des Zweiten Weltkriegs verbanden sich nationalkonservative, monarchistische und antirepublikanische Haltungen im Auswärtigen Amt mit den expansionistischen und rassistischen Ideologemen des Nationalsozialismus.

Indifferenz und Ignoranz, Passivität und Relativierung prägten die bundesdeutsche Außenpolitik der Nachkriegszeit gegenüber den ehemaligen Kolonien und Regionen des globalen Südens. Die Bundesrepublik verortete sich im westlichen Bündnis, ein gutes Verhältnis zu den USA und den Partnern in der EG hatte außenpolitische Priorität. Grundsätzlich war die stärkere Einbindung Deutschlands in weltregionale Zusammenhänge ab den 1970er Jahren vom Lagerdenken des Kalten Krieges geprägt. Ein ernsthaftes Interesse für die komplexen Realitäten der Weltregionen im globalen Süden gab es vor diesem Hintergrund nicht. Wenn es bei der Imagination und Konstruktion des Westbündnisses doch einmal um den globalen Süden ging, betonte die Bundesrepublik die vermeintliche eigene koloniale Unbelastetheit.

Heute ist das Amt ein Protagonist in den Auseinandersetzungen über die koloniale Vergangenheit. Mit seinen diplomatischen Beziehungen zu den ehemaligen Kolonien bzw. allgemein zu Ländern des globalen Südens ist es maßgeblich an Verhandlungen über Restitution und Wiedergutmachung beteiligt. Zudem konfrontiert die diversifizierte deutsche Gesellschaft der Gegenwart das Amt mit kritischen Fragen zur kolonialen Vergangenheit.

Der vorliegende Themenband bleibt nicht bei der Analyse der direkten deutschen Kolonialherrschaft stehen, sondern fasst den Begriff «Kolonialismus» weiter.

Erstens versteht der Band den Kolonialismus als außenpolitische Praxis, die in der Zeit des Deutschen Kaiserreichs zur Errichtung von Kolonien in Afrika, Ozeanien und Asien führte. Es geht um die Akteure in der Berliner Zentrale und in der kolonialen Peripherie, um Sozialstruktur, Handlungsrahmen und Erwartungshorizonte. Dabei werden weiter gefasste wirtschaftliche, gesellschaftliche und religiöse Diskurse und Handlungsmotive punktuell in die Untersuchungen einbezogen.

Zweitens richtet sich der Blick auf koloniale Denkmuster, die auch vor bzw. nach der eigentlichen Kolonialherrschaft das Verhältnis der Deutschen zu Regionen des globalen Südens geprägt haben. Für die Zeit von den 1870er Jahren bis in die 1970er Jahre stellt sich die Frage, wie sich das Denken in kolonialen Kategorien manifestierte, inwieweit es sich mit anderen Deutungsmustern verknüpfte und wann es sich in außenpolitische Praktiken umsetzte.

Drittens geht es um die umkämpfte Geschichtspolitik und Erinnerungskultur. Vor etwa zwei Dekaden setzte eine vorrangig zivilgesellschaftlich informierte Debatte um den kritischen und verantwortungsvollen Umgang mit dem deutschen Kolonialismus und seinem problematischen Erbe ein. Dabei geht es häufig um das Verhältnis des deutschen Kolonialismus zur bundesrepublikanischen Gegenwart und aktuellen Phänomenen wie Rassismus oder Xenophobie. Das Auswärtige Amt ist mit dieser Debatte und den dahinterstehenden zivilgesellschaftlichen Bewegungen in all ihren unterschiedlichen Formen konfrontiert.

Im Folgenden soll der Versuch unternommen werden, drei grundlegende Fragen zu benennen, die den gesamten Band durchziehen.

In welchem Verhältnis standen und stehen koloniale Praktiken und koloniale Deutungsmuster auf der einen Seite, «normale» Außenpolitik auf der anderen?

Es liegt in der Natur der Sache, dass ein Außenministerium die jeweiligen politischen Vorgaben in außenpolitische Praxis umsetzt, die politischen, wirtschaftlichen, sozialen und auch kulturellen Interessen des eigenen Landes wahrt und sich um die eigenen Staatsbürgerinnen und Staatsbürger im Ausland kümmert. Im deutschen Fall hätten sich die Vorzeichen, unter denen die Umsetzung solcher Vorgaben erfolgte, vom ausgehenden 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart kaum stärker verändern können: Es ist eine Sache, ein Kolonialreich überhaupt erst zu schaffen und den Status als Großmacht (auch) durch koloniale Herrschaft zu sichern bzw. auszudehnen, wie dies im Kaiserreich geschah. Etwas völlig anderes ist es, nach dem Zweiten Weltkrieg eine Demokratie außenpolitisch zu vertreten – unter den Vorzeichen von Westbindung, Kaltem Krieg und europäischer Integration sowie eines immer wichtiger werdenden Menschenrechtsdiskurses und der Frage nach globaler Gerechtigkeit gerade mit Blick auf die Länder des globalen Südens. Klar scheinen die Brüche von 1918/19 und 1949/51, ebenso diejenigen von 1933, 1939 und 1945.

Fragt man jedoch nach dem Einfluss kolonialer Denkmuster auf außenpolitische Leitlinien bzw. nach entsprechenden Residuen, können sich diese Zäsuren leicht relativieren. Doch wie weit genau reicht diese Relativierung? Inwiefern sind der außenpolitischen Arbeit nach 1945 koloniale Denkmuster von vornherein eingeschrieben gewesen? Inwiefern lässt sich das Denken in den Kategorien von Superiorität und Inferiorität, lassen sich rassistische Stereotype und die Annahme eines vermeintlich «natürlich gegebenen» Entwicklungsunterschieds, aus denen sich ja letztlich das «Recht» ableitet, andere zu beherrschen und auf andere herabzuschauen, überhaupt von der Arbeit des Auswärtigen Amtes trennen? Und wie verbinden sich die zeitgenössisch vorherrschenden Meinungen, Anschauungen, Ideologien mit kolonialen Denkmustern? Waren diese Denkmuster nicht für lange Zeit der Kitt, die dem Amt und seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern über die einschneidenden Zäsuren der deutschen Geschichte hinweghalfen und Anpassung ermöglicht haben? Sind sie womöglich gar so etwas wie die DNA des Auswärtigen Amts gewesen, die selbstverständlich immer untrennbar mit den allgemeinen politisch-gesellschaftlichen Kontexten verwoben war und ist?

Sicher ist Vorsicht vor allzu großem und pauschalisierendem moralischem Impetus geboten. Die Hypothese eignet sich jedoch als Gegengewicht zu einem weiteren, mindestens ebenso verführerischen Narrativ, welches die Geschichte des Auswärtigen Amts als Aufklärungsgeschichte einer Institution deutet, die sich nach mehr als 150 Jahren aus eigener Kraft aus den ideologisch-politischen Kontexten ihrer Gründungsepoche bzw. der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus befreit hat. Hinter dieses Narrativ ist mindestens ein ebenso großes Fragezeichen zu setzen wie hinter die Hypothese von den kolonialen Denkmustern als der DNA des Amtes.

Was verstanden Angehörige des Auswärtigen Amts unter «Kolonialismus» und «kolonialer Herrschaft»?

Das Auswärtige Amt war und ist ein Spiegel gesellschaftlicher Vorstellungen, allgemein verbreitete Denkmuster fanden sich auch unter seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern – die Haltung zum Kolonialismus und der Kolonialzeit stellt selbstverständlich keine Ausnahme dar. Die tiefe Überzeugung, zur Herrschaft über andere berufen zu sein, lässt sich in der Kolonialzeit ebenso häufig finden wie die spätere Rechtfertigung, der Kolonialismus sei zum Besten der Kolonisierten gewesen. Weit in die Zeit der Bundesrepublik hinein war die Ansicht verbreitet, die deutsche Kolonialzeit sei historisch zu vernachlässigen – nur kurz habe sie gedauert, nur wenige Kolonien seien überhaupt errichtet worden, und die kolonialen Herrschaftspraktiken der Deutschen seien weit weniger grausam gewesen als die der Briten, der Franzosen oder anderer europäischer Kolonialmächte. Eine solch verkürzte Deutung verwundert und verstört aus heutiger Perspektive, zumal angesichts kolonialer Gewaltexzesse wie des Genozids an OvaHerero und (Oorlam-)Nama in Deutsch-Südwestafrika, der blutigen Niederschlagung der Maji-Maji-Widerstandsbewegung in Deutsch-Ostafrika oder des «Boxeraufstands» in China.

Aus dieser Diskrepanz erschließt sich die Brisanz der Frage, wie die Akteur:innen des Auswärtigen Amts seine Rolle im Zusammenhang mit dem Kolonialismus bewerteten. Wann und wie änderten sich diese Bewertungen und Haltungen, und weshalb? Welches Selbstbild artikulierte sich hierbei implizit oder explizit? Wie verorteten sich deutsche Beamte und Funktionsträger in der Welt, wie interagierten sie mit den Menschen und Regionen außerhalb Deutschlands, insbesondere im globalen Süden? Wie verbanden sich die verschiedenen Lesarten des Phänomens «Kolonialismus» mit den jeweiligen außenpolitischen Deutungsmustern? In welchem Verhältnis standen individuelle Positionierungen und allgemeine außenpolitische Vorgaben? Inwiefern wurden historisch gewachsene Strukturen hinterfragt und möglicherweise sogar aufgebrochen? Liegt hier möglicherweise einer der Gründe dafür, weshalb sich das Auswärtige Amt über tiefe historische Zäsuren hinweg als so anpassungsfähig erweist? Wie war es umgekehrt um die Sicht der kolonialisierten Menschen und ihrer Nachfahren auf die Träger deutscher Herrschaft und deutscher Macht bestellt?

Der Fragenkomplex schließt den Bogen zur Gegenwart. Der deutsche Kolonialismus ist seit einiger Zeit zum Gegenstand hitziger und zum Teil sehr polemisch geführter Debatten geworden. Auch innerhalb des Auswärtigen Amts wird die Rolle der eigenen Institution bzw. die Verantwortung Deutschlands als ehemalige Kolonialmacht zunehmend thematisiert. Dabei geht es häufig zunächst darum, grundlegendes Wissen zur Verfügung zu stellen. In diesem Zusammenhang ist im Juli 2022 voranstehende Landkarte entstanden, auf der die Kolonien aus der Zeit des Kaiserreichs, frühere brandenburgisch-preußische Kolonien sowie «erfolglose» Kolonialisierungsversuche eingezeichnet sind.

Abb. 1:  Karte der ehemaligen deutschen Kolonien, der kolonialen Bestrebungen und der preußisch-brandenburgischen Kolonien vor 1721, entworfen im Jahr 2022 vom Historischen Dienst des Auswärtigen Amts.

In welchem Verhältnis standen das Auswärtige Amt und weitere außenpolitische Akteure?

Das Auswärtige Amt war selbstverständlich nicht der alleinige Treiber des deutschen Kolonialismus und ebenso wenig der einzige außenpolitische Akteur. Gerade der Blick auf die kolonialen Ambitionen und die koloniale Politik des Kaiserreichs bzw. den Umgang mit dem kolonialen Erbe kann helfen, zumindest punktuell die außenpolitische Bedeutung des Amtes näher zu bestimmen. Zu berücksichtigen sind etwa andere Ministerien (Wirtschaft, Entwicklung, Inneres), Unternehmen, Wirtschaftsverbände, Museen und Stiftungen. Diese agierten entweder selbst kolonial- bzw. außenpolitisch oder wirkten über Interessenverbände auf die Haltung des Auswärtigen Amts ein. Was prägte diese anderen Akteure, und inwieweit beeinflussten sie das Denken und Handeln des Auswärtigen Amts? Welche Handlungsspielräume boten sich für das Auswärtige Amt auf gewissen Feldern überhaupt? Ein Beispiel ist der Umgang mit Restitutionsforderungen, die zwar häufig im Auswärtigen Amt eingingen, jedoch gleich eine ganze Reihe mitverantwortlicher Akteure wie Museen und Kultusministerien auf den Plan riefen. Ein zweites Beispiel wäre die «Politik der Zurückhaltung», die außenpolitische Praktiken nach 1951 prägte.

Unterschiedlichste übergeordnete politische Vorgaben prägten im 19. und 20. Jahrhundert die Handlungsspielräume des Auswärtigen Amts, angefangen bei den Vorgaben Kaiser Wilhelms II., der Bestrebungen nach einer Vergrößerung des Kolonialreichs vorantrieb, über Reichsregierung und Reichstag in der Weimarer Republik, die verschiedenen außenpolitischen Akteure des NS-Regimes, später der Bundesregierung, bis hin zur Europäischen Gemeinschaft bzw. zur Europäischen Union und NATO.

Historische Eckdaten

Einzelne Beiträge dieses Bandes werfen Schlaglichter auf das Auswärtige Amt in sehr unterschiedlichen historischen Konstellationen. Sie ordnen sich somit ein in eine umfassendere Geschichte dieser Institution vom 19. bis ins 21. Jahrhundert. Mit der Gründung des Norddeutschen Bundes im Jahr 1867 und des Deutschen Reiches 1871 ergab sich die Notwendigkeit einer nationalen außenpolitischen Vertretung.[2] Am 4. Januar 1870 wurde aus dem Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten des Königreichs Preußen das «Auswärtige Amt des Norddeutschen Bundes», am 10. Mai 1871 das «Auswärtige Amt des Deutschen Reiches». Bis zum Ende des Kaiserreichs 1918 erfüllte es die Doppelfunktion als Bundesorgan und preußisches Ministerium. Die Bezeichnung «Amt» verdeutlicht, dass es sich nicht um ein Reichsministerium, sondern um eine Reichsbehörde unter Leitung eines Staatssekretärs handelte, die unmittelbar dem Reichskanzler unterstand. Einen Außenminister gab es nicht. Zunächst bestand das Amt aus den zwei Abteilungen für politische Fragen und Finanzen (Abteilung I) sowie für Handelspolitik, Recht und Konsularwesen (Abteilung II), 1885 kam Abteilung III hinzu, die ab dann für Rechtsfragen zuständig war. Die einzelnen Abteilungen erfuhren im Laufe der Zeit weitere Untergliederungen.[3] Die Anzahl des Personals im Auswärtigen Amt war während des Kaiserreichs recht überschaubar; von 1871 bis 1914 arbeiteten nicht mehr als 1000 Personen in Berlin bzw. in den diplomatischen Vertretungen im Ausland. Vor Beginn des Ersten Weltkriegs gab es deutsche Botschaften nur in London, Paris, St. Petersburg, Wien, Rom (Königreich Italien), Konstantinopel, Madrid, Washington und Tokio. Gesandte, Ministerresidenten und Geschäftsträger vertraten das Deutsche Reich in weltweit 33 Gesandtschaften (wobei Mehrfachakkreditierungen üblich waren), weiterhin gab es 33 Generalkonsulate und rund 100 Berufskonsulate.[4]

Nach der Entlassung Otto von Bismarcks 1890 wurde die Kolonialabteilung geschaffen (Abteilung IV), die direkt dem (neuen) Reichskanzler unterstellt war. Die außenpolitische Neuausrichtung des Kaiserreichs nach dem Herrschaftsantritt Wilhelms II. im Jahr 1888 fand hierin sichtbaren Ausdruck, auch wenn die deutsche Kolonialpolitik bereits zuvor begonnen hatte. Seit März 1894 stand ein Kolonialdirektor der Kolonialabteilung vor, die für Verwaltung, Finanzen und Personalwesen der Kolonien zuständig war, ab 1898 führte die Abteilung auch das Kommando über die Schutztruppen. Der Kolonialdirektor musste die Kolonialpolitik im Reichstag vertreten. Nur wenn es um direkte außenpolitische Beziehungen der Kolonien zu anderen Mächten ging, hatte er Rücksprache mit dem Staatssekretär des Auswärtigen zu halten. Nicht zuletzt wegen wachsender innenpolitischer Kritik, die sich vor allem an den ausufernden Kosten entzündete, wurde die Abteilung 1907 zum eigenständigen Reichskolonialamt und war somit nicht mehr Teil des Auswärtigen Amts, auch wenn sich Struktur und Verantwortungsbereich ansonsten nicht geändert hatten.

In der Weimarer Republik bestand das Kolonialamt zunächst als Reichskolonialministerium fort, hatte aber vor allem die Aufgabe, die Abwicklung der Kolonien durchzuführen. 1924 wurde es wieder dem Auswärtigen Amt angegliedert. Das Auswärtige Amt wurde bereits 1919 zum Reichsministerium, das entsprechend einem eigenen Reichsminister unterstand, nicht mehr dem Reichskanzler. Dennoch behielt das Ministerium die Bezeichnung «Auswärtiges Amt» bei und stellte sich so in die Tradition des Kaiserreiches. Abgesehen hiervon bildete sich ab 1920 im Zuge der Reformen Edmund Schülers, nach dem Krieg Leiter der Personal- und Verwaltungsabteilung, eine moderne Behördenstruktur heraus.[5] Deren wichtigstes Merkmal war die Gliederung nach Ländern und Regionen, nicht mehr nach Sachthemen, auch wenn es mit den Abteilungen für Personal und Verwaltung (Abteilung I), Recht (Abteilung VIII), Deutschtum im Ausland und Kultur (Abteilung IX) und Außenhandel (Abteilung X) weiterhin Einheiten gab, die Querschnittsthemen behandelten.[6]

Die Karrierewege innerhalb des Amtes wurden ebenfalls umstrukturiert, die bisherige Unterteilung in einen diplomatischen und einen konsularischen Dienst entfiel. Die bis dahin sehr starke soziale Homogenität der Amtsangehörigen konnte dadurch jedoch nur bedingt aufgebrochen werden – eine vergleichbare Dominanz des Adels fand sich in keinem anderen Reichsamt bzw. Ministerium. Über die Zäsur von 1918/19 hinweg blieb das Auswärtige Amt von starken Kontinuitäten gekennzeichnet, was sich an der sozialen Zusammensetzung seiner Mitarbeiter ebenso gut erkennen lässt wie an der fortwährenden Exklusion bestimmter Bevölkerungsgruppen. Obwohl als Staatsbürger formal gleichgestellt, fanden sich sowohl im Kaiserreich als auch in der Weimarer Republik kaum Juden im Auswärtigen Amt.

Der Machtübernahme der Nationalsozialisten im Januar 1933 stand eine Mehrheit der Diplomaten zunächst mit einer gehörigen Portion Standesdünkel und dem Glauben gegenüber, es handele sich nur um eine kurze Episode. Schnell jedoch arrangierten sich viele mit dem NS-Regime und wirkten letztlich an der Errichtung der Diktatur mit, hierin anderen traditionellen Eliten sehr ähnlich. Antirepublikanismus und Nationalismus, vor allem aber revisionistische außenpolitische Vorstellungen, die das Deutsche Reich politisch, wirtschaftlich und militärisch wieder aufgewertet sehen wollten, bildeten eine mehr als ausreichende Schnittmenge mit der Agenda der neuen Machthaber. Hinzu kam eine Personalpolitik, die konsequent auf eine nationalsozialistische Durchdringung des Amtes abzielte und zumindest in Teilen erfolgreich war, auch wenn nach wie vor «alte» Karrierebeamte im Amt tätig waren.

1936 wurde die Abteilungsstruktur der Schüler’schen Reform zugunsten der früheren Gliederung nach Sachthemen aufgegeben. Schon am 20. März 1933 wurde das Referat D/Deutschland, Innerdeutsche Angelegenheiten, das von 1920 bis 1931 bestanden hatte, wiedererrichtet. Als sogenanntes «Judenreferat», zuständig für Ausbürgerung und Emigrationsfragen, die sich aus der antijüdischen Gesetzgebung ergaben, steht es symbolhaft für die Verstrickungen des Auswärtigen Amts in die Verbrechen des NS-Regimes.[7] Allerdings hat die Debatte um die Studie Das Amt und die Vergangenheit, die 2010 von einer Unabhängigen Historikerkommission vorgelegt wurde, gezeigt, wie wichtig es ist, zu differenzieren.[8] So können Verantwortung und Schuld des Auswärtigen Amts nicht ausschließlich anhand seiner Rolle im Holocaust bemessen werden (wobei außer Zweifel steht, dass Mitarbeiter des Amtes in diesem Zusammenhang Schuld auf sich geladen haben).[9] Kriegsverbrechen des nationalsozialistischen Deutschland wie etwa die Ermordung der sowjetischen Kriegsgefangenen oder der Genozid an Sinti und Roma sind hier ebenso zu berücksichtigen wie die «klassische» außenpolitische Arbeit während des Krieges, insbesondere die Aufrechterhaltung der Kriegskoalition mit Italien, Japan, Finnland, Ungarn, Bulgarien und Rumänien.[10] Und trotz aller Homogenisierungsbestrebungen nach 1933 ist es problematisch, die Angehörigen des Auswärtigen Amts undifferenziert als eine festgefügte Gruppierung zu verstehen – eine Erkenntnis, die es freilich nicht nur für die NS-Zeit zu beachten gilt.

Nach Kriegsende und der Entstehung der beiden deutschen Staaten im Jahr 1949 gründete die DDR-Führung als erstes ein eigenes Außenministerium, das de facto jedoch stets dem ZK-Sekretär für Internationale Verbindungen nachgeordnet blieb.[11] Mit der Wahl des Namens «Ministerium für Auswärtige Angelegenheit» (MfAA) signalisierte der neue Staat einen klaren Bruch mit der Tradition. Diese Entscheidung stand ganz im Einklang mit der späteren Strategie, sich von der Bundesrepublik rhetorisch abzugrenzen und den «Weststaat» als Hort des Faschismus darzustellen, dessen Regierungsinstitutionen von Kontinuitäten zum NS-Regime geprägt seien. Wasser auf die Mühlen dieser Argumentation war die Neugründung des Außenministeriums in der Bundesrepublik im Jahr 1951 unter Verwendung der historischen Bezeichnung «Auswärtiges Amt». Bis die volle außenpolitische Souveränität der Bundesrepublik 1955 wiederhergestellt war, leitete Bundeskanzler Konrad Adenauer das Amt. Unter den nachfolgenden Außenministern blieb die Abteilungsstruktur, die sich während der Weimarer Republik herausgebildet hatte, im Kern erhalten: Zentralabteilung, zwei Politische Abteilungen, Wirtschaftsabteilung, Rechtsabteilung, Abteilung für auswärtige Kulturpolitik und Protokollabteilung. Auch an der Unterteilung der diplomatischen Laufbahnen in den mittleren, gehobenen und höheren Dienst änderte sich grundsätzlich nichts. Die Zahl der Botschaften stieg in den 1960er und 1970er Jahren jedoch stetig an, außerdem wurden die «klassischen» Abteilungen über die Jahrzehnte ergänzt. Zu Beginn der 1990er Jahre zählte das Ministerium über 8000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Berliner Zentrale und im Ausland, im Jahr 2022 beschäftigte es 12.346 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter (einschließlich der Ortskräfte).

Die bereits erwähnte Studie über das Auswärtige Amt und den Nationalsozialismus markierte den Anfang der Behörden- oder Aufarbeitungsforschung, die sich in der Folge mit Bundesministerien, nachgeordneten Bundesbehörden oder dem Bundeskanzleramt, aber auch mit Institutionen auf Länderebene, mit Landesparlamenten, Landesministerien usw. befasste und nach personellen und mentalen Kontinuitäten zwischen der NS-Zeit und der Bundesrepublik bzw. der DDR fragte. Freilich erweisen sich erinnerungskulturelle Schwerpunktsetzungen nicht immer unmittelbar kongruent mit der wissenschaftlichen Auseinandersetzung um die Geschichte des Auswärtigen Amtes, sondern gehen ihr mitunter sowohl weltregional als auch zeitlich voran. Momentan scheint es, als habe die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit ihre Hochphase überschritten, auch wenn das keineswegs bedeutet, dass sie abgeschlossen ist. Es dürfte sich um mehr als eine Koinzidenz handeln, dass sich in jüngerer Zeit die öffentliche Debatte dem Kaiserreich und dem deutschen Kolonialismus zuwendet.

Überlegungen zu Inhalt und Ausrichtung des Themenbands

Der vorgelegte Band versteht sich als ein erster Beitrag zur Geschichte des Auswärtigen Amts im Kolonialismus und will weitere Diskussionen anregen. Er ist bewusst vielstimmig angelegt und führt verschiedene Perspektiven und methodische Zugänge zusammen. Die Beiträge laden ein zu einer weiterführenden wissenschaftlichen Auseinandersetzung, etwa mit der Rolle des Auswärtigen Amts im Ersten Weltkrieg, mit der bundesdeutschen Außenpolitik während der deutschen Teilung oder grundsätzlich mit weiteren Akteuren des deutschen Kolonialismus.

Aus der Entscheidung, das Auswärtige Amt und seine Angehörigen in den Mittelpunkt der Studie zu stellen, ergeben sich multiple Dilemmata. Kolonialismus ist ein Phänomen, das nur in seinen transimperialen Bezügen zu verstehen ist. Generell ist ein in erster Linie nationaler Zugriff in der Geschichtswissenschaft legitimierungsbedürftig geworden – völlig zu Recht. Nun ist aber das Auswärtige Amt als deutsches Bundesorgan eine national konnotierte Institution. Die Autorinnen und Autoren dieses Bandes beziehen transimperiale und transnationale Querverbindungen konsequent in ihre Analysen mit ein, auch wenn diese nicht im Vordergrund des Themenbandes stehen.

Die epistemologischen Voraussetzungen der Studie hängen eng mit der geschichtspolitischen und erinnerungskulturellen Bedeutung des Themas zusammen. Es wäre in hohem Maße problematisch, wenn im vorliegenden Band nur Autorinnen und Autoren aus Deutschland vertreten wären. Weshalb Perspektiven aus den Gesellschaften in den ehemaligen Kolonien unverzichtbar sind, leuchtet unmittelbar ein. Doch das Schlagwort vom Dialog auf Augenhöhe beschreibt nur unzureichend die Herausforderungen, die sich aus dem Anspruch ergeben, keine historisch gewachsenen Ungleichheiten zu reproduzieren. Die Autorinnen und Autoren aus Afrika und Asien bewegen sich in einem Forschungsumfeld, dessen politische und materielle Vorbedingungen sich erheblich von denen in Deutschland und Europa unterscheiden. Und obwohl das Auswärtige Amt, die deutsche Kolonialzeit bzw. der Umgang damit die Bezugspunkte aller Beiträge sind, knüpfen die Autorinnen und Autoren an zum Teil sehr weit auseinanderliegende Diskurse an.

Die Autorinnen und Autoren dieses Bandes, der sich der Thematisierung und Problematisierung historischer Sachverhalte widmet, sind sich sowohl der gebotenen Differenzierung von Quellen- und Forschungssprache als auch des Impakts von Begriffen und Bezeichnungen bewusst, deren Erwähnung auf heutige Leserinnen und Leser herabwürdigend und beleidigend wirken kann. In Anbetracht dessen sei hier der Hinweis vorausgeschickt, dass die archivalischen Beschreibungen in den Beiträgen von Dritten übernommen wurden und somit Produkt ihrer Zeit und daher selbst wieder Quelle von historischer Erkenntnis sind. Diese diffamierenden und rassistischen Begriffe durch neutralere Varianten zu ersetzen, käme einer Manipulation von Quellen gleich. Gleiches gilt für nicht-geschlechtergerechte Bezeichnungen und Begriffe. Die am vorliegenden Band beteiligten Personen distanzieren sich ausdrücklich von der aktiven Verwendung rassistischer und diffamierender Terminologien in der Gegenwartssprache.

Die Idee für den vorliegenden Band geht ursprünglich auf die Diplomats of Colour zurück, eine Mitarbeiter:innenvertretung innerhalb des Auswärtigen Amts. Deren Engagement hat mittlerweile verschiedene Früchte getragen. Erwähnt sei das Stipendienprogramm des Deutschen Akademischen Austauschdienstes «German Colonial Rule», das seit 2022 junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus den ehemaligen Kolonien fördert, die zur Geschichte des deutschen Kolonialismus forschen. Unser besonderer Dank gilt den Diplomats of Colour Aron Mir Haschemi, Anja Fallah und Marcel-Baptist Humuza für die vertrauensvolle und unkomplizierte Zusammenarbeit.

Das Auswärtige Amt hat den vorliegenden Sammelband finanziert, ohne auf die konzeptionelle und inhaltliche Gestaltung Einfluss zu nehmen. Wir danken Harald Herrmann und Peter Kettner aus der Abteilung für Kultur und Gesellschaft des Amts, die die konkrete Umsetzung des Projekts in angenehmer Weise und sehr professionell unterstützt haben. Dem Institut für Zeitgeschichte München–Berlin, insbesondere dessen Direktor Andreas Wirsching, dem Leiter des Bereichs Publikationen Günther Opitz sowie den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in der Institutsverwaltung, gebührt ebenfalls unsere Dankbarkeit für die stets anregende und reibungslose Kooperation. Zu guter Letzt bedanken wir uns bei Daniel Bussenius für sein beindruckend akribisches Lektorat sowie bei Sebastian Ullrich von C.H.Beck für die stets erfreuliche und produktive Zusammenarbeit.

I

DIE DIREKTE KOLONIALHERRSCHAFT

Den «Platz an der Sonne» verwalten. Die Kolonialabteilung des Auswärtigen Amts und das Reichskolonialamt

Martin Kröger

Zweifellos wäre es für das Deutsche Reich nicht möglich gewesen, sich aus dem «Jagdrennen ins Unbekannte»[1] herauszuhalten. So hat der französische Staatsmann Jules Ferry den Wettstreit der europäischen Nationen um die koloniale Zerteilung Afrikas genannt. Kaum war der Erdteil auch nur teilweise erforscht, hatten ihn bis 1902 fünf europäische Mächte nahezu ganz unter sich aufgeteilt: 26 Millionen Quadratkilometer, 110 Millionen neue Untertanen in 30 Kolonien und Protektoraten. Der deutsche Reichskanzler Otto von Bismarck beklagte später den «Kolonialschwindel»[2], auf den er sich dennoch bereitwillig eingelassen hatte. Dabei wäre alles andere eigentlich viel erstaunlicher gewesen.

Trotzdem hat sich die deutsche Geschichtswissenschaft immer wieder mit der Frage herumgequält, warum Bismarck 1884 beim «Scramble for Africa»[3] schließlich doch mitdrängelte, sich nicht heraushielt, obwohl er keineswegs mit einem wirtschaftlichen Erfolg von Kolonien rechnete. Die Historiker haben für die kolonialpolitische Wende des Reichskanzlers mindestens vier Motivstränge gesehen und diese je nach eigenem Blickwinkel unterschiedlich gewichtet.[4] Am schwächsten ist sicher das Argument, Bismarck sei an einer kolonialpolitischen Konfrontation mit Großbritannien gelegen gewesen, um den deutschen Thronfolger Prinz Friedrich Wilhelm und dessen Frau Victoria, eine Tochter der britischen Königin, in ihren politischen Ambitionen zu treffen. Der zweite Beweggrund war ökonomischer und sozialpolitischer Natur. Für eine in unversöhnliche Lager gespaltene Gesellschaft habe der Kolonialerwerb ein Mittel zur sozialen Integration dargestellt: globale wirtschaftliche Möglichkeiten für die drängenden hanseatischen Kaufleute, Beruhigung der anwachsenden kolonialpolitischen pressure groups (etwa der Deutsche Kolonialverein, später Deutsche Kolonialgesellschaft, der Centralverein für Handelsgeographie und Förderung deutscher Interessen im Auslande, der Westdeutsche Verein für Colonisation und Export, aber auch bereits Kapitalgesellschaften wie die Deutsch-Ostafrikanische Gesellschaft) und neue Siedlungschancen im eigenen Machtbereich für die, die sonst anderswohin auswandern würden. Thomas Nipperdey verkürzte das ironisch zur «Herrschaftssicherung durch eine große imperialistische Manipulation».[5] Das leitet über zu dem innenpolitischen Motiv, dass sich mit dem Kolonialthema Wahlen gewinnen ließen. Bismarck selbst legte hier die Fährte, Friedrich Holstein gibt ihn mit den Worten wieder: «Die ganze Kolonialgeschichte ist ja Schwindel, aber wir brauchen sie für die Wahlen.»[6] Tatsächlich wurde im Reichstagswahlkampf 1884 versucht, mit dem kolonialen Argument das Regierungslager zu stärken und die Opposition zu schwächen. Es war eine Fehlprognose! Bleibt die Außenpolitik als vierter Antrieb der kolonialen Wende.

Die Anfänge der deutschen Kolonialpolitik im Deutschen Kaiserreich

Im Verlauf des 19. Jahrhunderts hatte sich das «Internationale System» in einer ganz besonderen Weise entwickelt. Es war ein übernationaler, durch intensiven Kontakt untereinander geförderter Bezugsrahmen einer kleinen Zahl von Staaten, die sich ihm zugehörig betrachteten und die sich gegenseitig mehrheitlich akzeptierten. Dazu gehörten die europäischen Großmächte Russland und Großbritannien, Deutschland, Österreich-Ungarn und Frankreich, mit einigem Abstand Italien, spätestens seit der Jahrhundertwende auch die USA und Japan. Dieses Mächtesystem war vor allem durch seinen agonalen Charakter gekennzeichnet. In der Konkurrenz untereinander wurden formelle Herrschaften über hinzugewonnene Territorien als Prestigezuwachs empfunden. Das Moment des Prestiges spielte eine gewichtige Rolle bei der Rivalität der Nationen im imperialistischen Wettlauf. Man kann so weit gehen, die imperialistische Expansion als Reflex eines erweiterten Nationalismus mit dem Ziel der Statusvermehrung des eigenen Staatsverbands zu begreifen.[7] Hierunter fielen dann diejenigen, die im Wettlauf um die besten Plätze unter der Sonne nicht zu kurz kommen wollten (das Deutsche Reich), oder diejenigen, die eine europäische Randständigkeit durch fernen Besitz zu sublimieren suchten (Italien), außerdem diejenigen, die mit kolonialem Besitz verlorene Größe restaurieren wollten (Frankreich). Die Perzeption des objektiv oder nur potentiell von anderen Mächten Erreichten oder vermeintlich Angestrebten führte dann oft zu eigenem präventiven Vorgehen; ein imperialistischer Schub folgte dem vorhergehenden. Dieser Wettlauf wirkte zurück in Form von Spannungen zwischen den beteiligten Mächten in Europa selbst, dies umso häufiger und heftiger, je mehr von der Welt bereits verteilt war. Und verteilt wurde in den 1880er Jahren schnell: so etwa 1881 Tunesien; 1882 Ägypten, Dahomey und Französisch-Kongo; 1883 Französisch-Sudan (heute Mali); 1884 Basutoland, Deutsch-Südwestafrika, Kamerun und Togo; 1885 Belgisch-Kongo, Betschuanaland, Deutsch-Ostafrika, Eritrea und Madagaskar; 1886 die Komoren und Nigeria; 1887 Britisch-Somaliland; 1888 Französisch-Guinea; 1889 die Elfenbeinküste, Französisch- und Italienisch-Somaliland sowie Njassaland. Hier hatte sich das Deutsche Reich nicht heraushalten wollen.

Noch 1881 hatte Bismarck vor dem Reichstag verkündet, während seiner Regierungszeit keine Kolonialpolitik betreiben zu wollen. Das koloniale Engagement Deutschlands sollte dann kein Selbstzweck sein, sondern ein politisches Instrument in der Rivalität der europäischen Mächte miteinander. In diesem Wettbewerb beanspruchte Bismarck die deutsche Gleichberechtigung in jeder Hinsicht. Als die Regierung in London die Bitte um Schutz für den Bremer Kaufmann Adolf Lüderitz in Südwestafrika mit einem pauschalen Vorbehalt für weite Teile der afrikanischen Küste beantwortete, eskalierte Bismarck die Angelegenheit. Im Dezember 1883 ließ er seinen Botschafter in London fragen, worauf die britische Regierung ihren Rechtsanspruch stütze.

Jetzt schlug die Stunde Heinrich von Kusserows. Eine Denkschrift, die er Bismarck im April 1884 vorlegte, steht am Anfang der Kolonialpolitik im Auswärtigen Amt.

Kusserow wurde 1836 in Köln geboren, sein Vater war preußischer Offizier, seine Mutter eine Tochter des Bankiers Oppenheim.[8] Nach dem Jurastudium trat er 1860 in den preußischen Auswärtigen Dienst ein. Die Abschlussarbeiten seiner Ausbildung als Diplomat widmete er 1863 der Nederlandsche Handel Maatschappij und der Freiheit der Flussschifffahrt.[9] Schon in diese beiden Texte spielten kolonialwirtschaftliche Gesichtspunkte hinein. Während der 1860er Jahre war er an den preußischen Vertretungen in Den Haag, Turin, Paris, Washington und London tätig. 1871 bis 1874 gehörte er dem Reichstag an, wo er sich für eine Kriegsmarine einsetzte. Kusserow gehörte gleich mehreren kolonialpolitischen Interessenvereinen an und war Bank- und Kaufmannskreisen verwandtschaftlich eng verbunden. Sein Schwager war Adolph von Hansemann, der Inhaber der Berliner Disconto-Gesellschaft. Nach seinem Ausscheiden aus dem Reichstag kehrte Kusserow ins Auswärtige Amt zurück. Die Behörde in der Berliner Wilhelmstraße 76 war überschaubar, sie beschäftigte Mitte der 1880er Jahre nur sehr wenige Personen in entscheidungstragender Funktion. Kusserow war einer von zehn Vortragenden Räten in der II. Abteilung, wo er die Handelsbeziehungen zu allen außereuropäischen Ländern und die Angelegenheiten der deutschen und fremden Kriegsmarinen bearbeitete. Eine spezielle Zuständigkeit für Kolonialpolitik gab es im Auswärtigen Amt damals noch nicht; jedoch galt Heinrich von Kusserow als Kolonialenthusiast. 1880 befürwortete er die sogenannte Samoavorlage, die der Disconto-Gesellschaft eine Reichsgarantie für die Übernahme des im Südseehandel gescheiterten Hamburger Kaufmanns Godeffroy sichern sollte.[10] Das Vorhaben scheiterte im Reichstag, was Bismarcks Zurückhaltung in kolonialen Fragen mit erklären mochte. Kusserow war danach zeitweise in der Politischen Abteilung des Auswärtigen Amts beschäftigt, doch soll sich Bismarck unzufrieden gezeigt haben. Als die britische Regierung die Anfrage des deutschen Botschafters nach den Grundlagen der britischen Ansprüche in Südwestafrika demonstrativ ignorierte, brachte das Kusserow eher unerwartet in eine Schlüsselposition.[11]

In einem ausführlichen Memorandum legte er dar, welche Erwerbungen Lüderitz an der südwestafrikanischen Küste gemacht hatte. Die Briten sähen die Bewohner dort als «Savages, deren Land von irgend einer civilisirten Macht annektirt werden könne». Hier notierte Bismarck zwar: «also auch von uns», aber genau das scheint er zu diesem Zeitpunkt nicht gewollt zu haben. Denn der Erwartung, das Reich könne seinen Besitz gegen eine mögliche britische Annexion schützen, trat der Kanzler entgegen: «dazu müßten wir entweder Besitz ergreifen, oder Lüderitz als Suzerän anerkennen». Hier nun gab Kusserow ihm ein neues Argument an die Hand, indem er daran erinnerte, «daß nur die effektive Okkupation und faktisch ausgeübte Souveränität Anspruch auf Anerkennung begründe». Dieses Prinzip sollte ein Jahr später bei der Berliner Afrika-Konferenz festgeschrieben werden. In Kusserows Schriftsatz begründete es einstweilen nur die grundsätzliche Möglichkeit, dort in Afrika gefahrlos und berechtigt aktiv sein zu können, wo die Briten bislang keine solche effektive Herrschaft ausübten. Das war sicher der Fall «in unabhängigen, aber staatlich noch nicht organisirten Gebieten, deren Absorbirung durch dritte Mächte gegen unser Interesse wäre». Kusserow schlug nun vor, mit dem «Häuptling von Bethanien» einen Vertrag zu schließen, der diesem die Unabhängigkeit gegenüber dritten Mächten garantiere. Lüderitz sollte einen Schutzbrief erhalten, der ihm die Ausbeutung des Gebiets zusichere. Die Briten hatten mit einer solchen «Royal Charter» erst kurz zuvor erfolgreich in Nordborneo operiert. Das Verfahren werde das Reich nur ein Kriegsschiff und einen Konsul vor Ort kosten. Außerdem könne es für andere interessierte deutsche Gesellschaften an anderen Orten in Afrika oder der Südsee genutzt werden.[12]

Dass Bismarck sich überzeugen ließ, bedeutet nun nicht, dass sein kolonialpolitischer Kurswechsel allein von Kusserows Vorschlägen bewirkt worden wäre. Der Referent in der Handelsabteilung und die «von ihm repräsentierten wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Kräfte»[13] wollten Kolonien und dafür Kolonialpolitik machen, der Reichskanzler wollte Außenpolitik machen und nahm dafür Kolonialpolitik und Kolonien in Kauf. Diesem Zweck allein diente das Aufblähen der Lüderitz-Konzession im April 1884 zur Angra-Pequena-Affäre[14] mit England im Mai. Im Juni nahm Bismarck Anstoß an einem englisch-portugiesischen Kolonialvertrag vom 24. Februar 1884 und verlangte eine internationale Konferenz über die Kongo-Frage. Im Juli proklamierte er Togo und Kamerun als deutsche Schutzgebiete gegen den anhaltenden englischen Widerstand. Im August endete eine Konferenz in London über die Schulden des britischen Protektorats in Ägypten wegen der deutschen Haltung ergebnislos. Im Oktober kam Bismarck den Franzosen bei deren kolonialen Bestrebungen am Niger entgegen.[15]

Mit seiner Denkschrift hatte Kusserow ganz ohne Zweifel Einfluss genommen, nicht jedoch die deutsche Kolonialpolitik initiiert oder ausschließlich bestimmt. Die Initiative behielt stets der Reichskanzler, zumal er von seinem Referenten nicht allzu viel hielt. Den Staatssekretär im Auswärtigen Amt wies er an: «Bei der Bedeutung, welche die Kolonialsachen für unsere Beziehungen zu fremden Mächten gegenwärtig gewinnen, bitte ich Ew. Exzellenz das Dezernat des Herrn von Kusserow mit besonderer Sorgfalt zu kontrollieren und demselben keine Art von persönlichem Spielraum für politische Entschließungen gestatten zu wollen.»[16] Dennoch zeigt das Memorandum die Möglichkeiten des einzelnen Beamten und verweist darauf, wie sich eine Behörde ein neues Politikfeld erschließen kann, bevor es andere tun. Schließlich hätte man die Kolonien bei einem anderen Reichsamt, der Marine oder gleich bei einer eigenen Institution ansiedeln können, tat es aber im Auswärtigen Amt. Insofern steht die Denkschrift für den Beginn der Kolonialpolitik dort. Bald folgte eine erste Mammutaufgabe für das Amt in dessen neuem Zuständigkeitsbereich: die Ausrichtung einer großen internationalen Konferenz über die kolonialen Fragen in Afrika, insbesondere über die Verhältnisse in der Privatkolonie Leopolds II. entlang des Kongoflusses.[17]

Die Berliner Konferenz

Der König der Belgier hatte sein Prestigebedürfnis und wirtschaftliches Interesse am Kongobecken bislang geschickt hinter der Fassade einer internationalen Gesellschaft verborgen. Trotzdem hatte er Rivalitäten geweckt: Frankreich, Großbritannien und Portugal meldeten ebenfalls Interesse am Kongo an. Eine Konferenz in Berlin sollte den Konflikt lösen und dem europäischen Wettlauf um Kolonien Regeln geben. Eingeladen waren Belgien, Dänemark, Frankreich, Großbritannien, Italien, die Niederlande, Österreich-Ungarn, Portugal, Russland, Schweden, Spanien, das Osmanische Reich und die Vereinigten Staaten. Die Konferenz fand ab dem 15. November 1884 im Kongresssaal des Reichskanzlerpalais in der Wilhelmstraße 77 statt. In ihre Vorbereitung und die Durchführung war Kusserow involviert.[18] Er nahm neben dem Reichskanzler, dem Staatssekretär und dem Unterstaatssekretär an den Sitzungen teil, ergriff hier und da auch das Wort als Sachverständiger.[19] Das bestätigt die Einschätzung Friedrich Holsteins, dass er der «Dezernent für Colonial-Angelegenheiten» war.[20]

Die Ergebnisse der Konferenz wurden in einer am 26. Februar 1885 unterzeichneten Generalakte zusammengefasst.[21] Die Akte beschrieb das Seegebiet vor der Kongomündung, das Kongobecken und das östlich davon gelegene Gebiet, für welches fortan Handelsfreiheit galt. Sie untersagte den Sklavenhandel im Kongobecken, verpflichtete die Vertragsparteien zur Achtung der Neutralität des Kongobeckens und enthielt auf dem Grundsatz der Schifffahrtsfreiheit beruhende Kongo- und Nigerschifffahrtsakten.

Die beteiligten Mächte nahmen sich das Recht, afrikanisches Küstengebiet in Besitz zu nehmen. Protektorate sollten den Signatarstaaten angemeldet werden, um diesen die Gelegenheit zu geben, eigene Forderungen zu stellen. Als Kennzeichen gerechtfertigter kolonialer Ansprüche legte die Konferenz den Grundsatz effektiver Herrschaft fest. Erst der Nachweis, Recht, Handels- und Durchreisefreiheit nach allgemein anerkannten Maßstäben auch tatsächlich sichern zu können, sollte fortan den Kolonialbesitz gegenüber konkurrierenden Mächten legitimieren. Damit war die grundsätzliche Zulässigkeit kolonialer Ansprüche eines jeden Staates festgeschrieben. Gleichzeitig waren Eigentumsrechte an die ausgeübte Autorität gebunden. Symbolische Akte, etwa das Flaggenhissen an zwei entfernten Küstenpunkten, genügten nicht mehr, vielmehr musste eine substantielle herrschaftssichernde Infrastruktur hinzutreten. Hieraus ergab sich nun zwingend die Notwendigkeit, koloniale Grenzen auf diplomatischem Weg gemeinsam mit den Konkurrenten auszuhandeln.

Es ging während der Konferenz also nicht eigentlich um die territoriale Ausdehnung europäischer Staaten, sondern um den Versuch, die bereits erwarteten Folgen des Wettlaufs um Kolonien präventiv an Normen zu binden. Tatsächlich blieben die kolonialen Grenzen Sache bilateraler Übereinkünfte der betroffenen Mächte. Solche Absprachen setzten verstärkt erst nach der Berliner Konferenz ein. Und zwar nicht als Folge dieser Konferenz, sondern als Form des Konfliktverhaltens der europäischen Großmächte.

Eine der wichtigen Voraussetzungen dafür, dass es in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gelang, internationale Krisen zu deeskalieren, war die Möglichkeit, Differenzen in einem Bereich an anderer Stelle auszugleichen, zu kompensieren. Es galt im Mächtesystem als selbstverständlich, dass territoriale oder ökonomische Zugewinne einer Großmacht Kompensationsansprüche der anderen Großmächte auslösten. Dieses Kompensationsprinzip funktionierte, weil es im kolonialen Raum, der als nicht gleichberechtigt, als ungleichwertig, angesehen wurde, hierfür scheinbar unbegrenzte territoriale Manövriermasse gab. So bekamen die kolonialen Grenzen ihre Gestalt im Zuge diplomatischen Gebens und Nehmens auf europäischer Ebene. Die Regierungen überließen die Detailarbeit zumeist sogenannten Joint Commissions aus mittleren Beamten der jeweiligen Kolonial- und Außenministerien. Die dabei Handelnden hatten von den ethnischen oder topographischen Gegebenheiten vor Ort fast nie größere Kenntnis. Woran also orientierten sie sich bei der Grenzziehung? Theoretisch gab es vier Kriterien, Grenzen festzusetzen:

Der Konsens indigener Autoritäten. Als der amerikanische Vertreter Kasson während der Berliner Konferenz ein Verfahren forderte, das die willentliche Zustimmung der Einheimischen voraussetzte, wischte der deutsche Konferenzsekretär Clemens Busch dies als nicht zur Tagesordnung gehörig vom Tisch. Hier zeigte sich das Superioritätsdenken der Europäer, die Afrikaner nicht als gleichberechtigte Vertragspartner akzeptieren zu wollen. Mehr als eine nur scheinbare Rechtsverbindlichkeit ließ sich also durch Verträge mit einheimischen Herrschern für die europäische Ebene nicht erreichen.

Die Übernahme vorhandener Grenzen. Festumrissene Grenzen, die den europäischen Vorstellungen entsprochen hätten, gab es jedoch in Afrika nicht. Dass es dort andere Staats- und Gesellschaftsvorstellungen gab, die starre territoriale Grenzen nicht beinhalteten, war den an der Konferenz beteiligten Politikern und Diplomaten völlig fremd.

Topographische Grenzen. In einem noch weitgehend unerforschten Kontinent waren Grenzen kaum an markanten Punkten, etwa Wasserscheiden oder Flüssen festzumachen. So sollte nach einer deutsch-britischen Absprache aus dem Jahre 1885 ein Fluss die Grenze zwischen Nigeria und Kamerun sein. Tatsächlich wurde die Grenze noch vier weitere Male neu verhandelt, bloß um am Ende doch auszusehen, als sei sie mit dem Lineal gezogen worden.

Künstliche Bezugssysteme. Als das eindeutigste Mittel, Grenzen aufzustellen, blieb die geometrische Konstruktion der Längen- und Breitengrade. Zumindest durfte man sich von ihnen einen großen Grad von Objektivität versprechen. Und um europäische Konflikte auszuräumen, waren künstliche Linien allemal besser als gar keine Linien.

Die Vertreter Afrikas wurden zu alldem nicht gefragt. Für sie hatten die Berliner Konferenz und die anschließenden Grenzziehungen gravierende Konsequenzen. Ethnien befanden sich plötzlich beidseits kolonialer Grenzen, alte Handels- und traditionelle Migrationswege wurden unterbrochen. Und die Folgen sind bis heute wirksam. Im Deutschen Reich hingegen wurde die Konferenz damals als wichtiger diplomatischer Erfolg gewertet. Dem Auswärtigen Amt brachte sie die Bestätigung der kolonialpolitischen Zuständigkeit.

Der Weg zur Gründung der Kolonialabteilung

Heinrich von Kusserow, in Kolonialsachen schon lange unentbehrlich,[22] wurde schon vor dem Ende der Berliner Konferenz zum ersten Kolonialreferenten ernannt.[23] Ein Geschäftsverteilungsplan der Politischen Abteilung wies ihm folgende Arbeitsbereiche zu: «1. Der Politische und parlamentarische Theil der Kolonialangelegenheiten, mit Einschluß der Organisation der überseeischen Schutzgebiete. 2. Entsendung Deutscher Kriegsschiffe zum Schutze der Deutschen Interessen im Auslande.»[24] Die Zuständigkeit des Auswärtigen Amts für die Kolonialpolitik war damit festgeschrieben, zugleich auch deren Zusammenspiel und Wechselwirkung mit der Kriegsmarine. Nur sollte Heinrich von Kusserow nicht lange Freude daran haben. Angeblich hat Bismarck über ihn gesagt: «Ein fleißiger Mann, und der was weiß. Aber nicht eine Nacht schliefe ich ruhig, wenn er Gesandter, selbst nur in Lissabon wäre.»[25] Tatsächlich versetzte er Kusserow nach nur vier Monaten auf den vollständig unbedeutenden innerdeutschen Posten eines preußischen Gesandten bei den Hansestädten und machte Richard Krauel[26] zum Kolonialreferenten.

Der 1848 in Lübeck geborene Sohn eines Richters hatte in seiner Heimatstadt als Rechtsanwalt und Notar gearbeitet, bevor er 1873 in den konsularischen Dienst einberufen wurde. Er verbrachte mehr als zehn Jahre fast ausschließlich in China und Australien. Hier hatte er das Deutsche Reich als Generalkonsul in Sydney vertreten, bis er 1884 ins Auswärtige Amt versetzt wurde. Im Frühjahr 1885 entsandte man ihn als Delegierten zu einer Konferenz nach London, wo die deutsch-britischen Differenzen in der Frage von Kolonien im Südpazifik nach kolonialistischen Maßstäben geordnet werden sollten. Der erfolgreiche Abschluss eines Vertrags, mit dem der Nordosten Neuguineas deutsche Kolonie wurde, mag die Auswahl Krauels als Kolonialreferent erklären. Vielleicht lag es auch in der Absicht Bismarcks, ein Signal an die kolonialbegeisterten Kaufmanns- und Verbandskreise zu senden, wenn er einen Lobbyisten wie Kusserow durch einen dort nicht vernetzten Diplomaten austauschte. Holstein beschrieb seinen Kollegen Krauel als «gescheiten aber ehrgeizigen Streber».[27] Das musste dieser wohl auch sein, denn er bekam reichlich Arbeit auf seinen Schreibtisch. Der Zuwachs an kolonialem Besitz drückte sich im Auswärtigen Amt durch eine Zunahme des amtlichen Schriftverkehrs aus. Das lässt sich an den zeitgenössischen Registraturjournalen ablesen. Durch die Übernahme der «Kolonialsachen politischer Natur» nahm die Zahl der Eingänge in der Politischen Abteilung um die Hälfte zu (1884: 8153, 1885: 12.288). Das setzte sich in den nächsten Jahren kontinuierlich fort (1889: 20.298).[28] Für den Anteil der Kolonialsachen daran waren «ein vortragender Rat, ein ständiger Hilfsarbeiter und mehrere Expedienten» zuständig.[29]

Dass Krauel und seine Mitarbeiter, ja die Politische Abteilung insgesamt, mit der Kolonialverwaltung überfordert seien oder das Auswärtige Amt überhaupt der falsche Ort für diesen Teil der Politik sein könnte, ließ Bismarck im Sommer 1889 über Änderungen nachdenken. Die ungeliebten Kolonien machten mehr Arbeit als eine Behörde bewältigen konnte, gleichzeitig entstanden Probleme, die es ohne sie nicht gegeben hätte. Seinem Mitarbeiter Arthur von Brauer gestand der 74-jährige Reichskanzler ein: «Meine Kräfte reichen nicht mehr hin, um mit diesen Detailschwierigkeiten zu kämpfen, die mich mehr Zeit kosten als die ganze europäische Politik. Die zwei Konsuln in Sansibar und Samoa machen mir mehr Arbeit als alle Botschafter zusammen.» Eine Kolonialabteilung im Auswärtigen Amt nütze ihm nichts.[30] Er hatte eine eigene Behörde vor Augen, «von der Marine geleitet, wie in Frankreich, oder kaufmännisch von den Hanseaten».[31] Bismarck verband die organisatorische Frage zugleich mit seinem Verbleiben im Amt, was unter dem jungen Kaiser Wilhelm II. ohnedies in Frage stand. Dem Staatssekretär des Innern, Karl Heinrich von Boetticher, schrieb er:

«Ich werde mich an den Geschäften des Auswärtigen Amtes, solange ich überhaupt im Dienste bleibe, niemals in dem Maße desinteressieren können, wie dies in Bezug auf die Kolonial-Verhältnisse, soweit sie unsere Beziehungen zu den fremden Mächten nicht berühren also im Grunde innere Geschäfte sind, an sich möglich und natürlich wäre. Ich habe deshalb das Bedürfniß, die Kolonial-Geschäfte, soweit sie eben nicht der auswärtigen Politik angehören, von dem Geschäfts-Gebiete des Auswärtigen Amts zu trennen.»

Bismarck beabsichtigte demnach, die Kolonialpolitik, die beim Auswärtigen Amt in seiner Verantwortung geblieben wäre, von der eigentlichen Verwaltung der Kolonien zu trennen. Letztere schien ihm beim Reichsamt des Innern, beim Preußischen Handelsministerium, beim «Staate Hamburg» oder in einem selbständigen «Reichsamt für Kolonien und Handel» besser aufgehoben.[32]

Boetticher, um seine Meinung gebeten, antwortete, «daß unter den gegebenen Möglichkeiten die Errichtung eines besonderen Kolonialamtes sich vorzugsweise empfiehlt. Gerade in den ersten Stadien der Entwickelung unserer Kolonien scheint mir sehr viel darauf anzukommen, daß die Leitung eine möglichst intensive ist, daß sie mit Verständniß und Interesse sowie unter dem Bewußtsein eigener persönlicher Verantwortlichkeit geführt wird.» Boetticher hatte über viele Jahre in der preußischen Staatsverwaltung die Karriereleiter erklommen und kannte die Fallstricke einer Behördengründung:

«Eine Gefahr liegt freilich in der Errichtung eines besonderen Kolonialamtes. Dieselbe liegt in der Expansivkraft einer jeden neuen Behörde. Indessen wird gegenüber der Neigung, das Thätigkeitsfeld zu erweitern, eines Theiles die Einwirkung des Reichskanzlers, sodann aber die Stellung, welche der Bundesrath und der Reichstag zu den Kolonialfragen einnehmen, ein ausreichendes Correktiv sein.»[33]

Waren für Bismarck Fragen der Arbeitsbelastung, ein wenig auch der Verantwortlichkeit und zuletzt noch der Finanzierung (vielleicht durch den Hamburger Senat?) ausschlaggebend, so stellte Boetticher die Funktionalität der neuen Institution und deshalb eine hohe Eigenverantwortlichkeit für deren zukünftige Leitung ins Zentrum.

Die interne Diskussion fand wenige Wochen später ihren Weg in die Presse. Die Ausschnittsammlung[34] in Krauels Akten beginnt mit einem Artikel aus der Weser-Zeitung vom 4. August 1889: «Man ist sich in den Kreisen der Regierung ebenso klar wie im Berliner gebildeten Publikum, daß es mit der Colonialpolitik nicht so geht, wie es gehen sollte und daß der gegenwärtige Zustand nicht fortdauern kann, ohne dem Reiche mit der Zeit ernstliche Schwierigkeiten zu machen.» Der Autor forderte eine zusätzliche Abteilung im Auswärtigen Amt, kritisierte aber das bisherige Juristenmonopol. Vielmehr sollte es dort «specielle Fachkenntnisse, welche in Beamtenkreisen nicht vorhanden sind», geben. Gegen den Vorwurf beamteten Unverstands nahm die Nationalzeitung am nächsten Tag das Auswärtige Amt in Schutz. Dem Berliner Tageblatt vom 7. August war «die Schaffung eines Kolonialamtes nur eine Frage der Zeit». Die bisherige «Art der Bearbeitung der colonialen Angelegenheiten», so die Magdeburger Zeitung vom gleichen Tag, sei eben «nur ein Nothbehelf» gewesen: «Die Errichtung einer besonderen Abtheilung für Colonialsachen wird die Anstellung neuer Kräfte nothwendig machen, und es ist zu erwarten, daß hierbei auf praktische Erfahrungen in den überseeischen Gebieten Gewicht gelegt wird.» Auch die Kölnische Zeitung bemängelte am 9. August die «haltlosen provisorischen Zustände», ein zukünftiges Kolonialamt solle sich um die Verwaltung in Übersee kümmern und könne sich dafür «auf eine kleine Freiwilligentruppe stützen, welche dem Organismus der Marine oder des Reichsheeres angehören würde». Dafür veranschlagte eine Meldung der Berliner Börsenzeitung vom 9. August «50–60.000 Mark», wogegen im Reichstag kein Widerstand zu erwarten sei. Die Frankfurter Zeitung vom 10. August ging mit den «Kolonialfanatikern» ins Gericht. Deren Wunsch nach einem unabhängigen Kolonialamt, dessen Einrichtung und Befugnisse noch «ziemlich unklar sind», sei als Kritik am mangelnden kolonialpolitischen Eifer des Reichskanzlers zu verstehen, in dem sie «ihren wahren Feind erblicken». Offenbar rechneten die Befürworter einer offensiveren Kolonialpolitik damit, dass Bismarck in naher Zukunft abgelöst werde. Das Blatt hielt dagegen, dass sich der Reichskanzler kaum ein Kolonialamt «gefallen lassen würde, daß seiner äußeren Politik Steine in den Weg wälzen könnte». Es werde daher wohl nur eine «kolonialpolitische Abtheilung im Auswärtigen Amt gebildet werden», was den Apparat vergrößere, Kompetenzen und Leitung jedoch unberührt ließe. Auch die Weser-Zeitung mutmaßte kritisch, dass es den «Colonialenthusiasten» tatsächlich darum gehe, mit einer eigenständigen Kolonialbehörde leichter «ihren chimärischen Plänen […] auf Kosten des deutschen Steuerzahlers» nachgehen zu können (13. August). Dem stehe entgegen, dass auch in Zukunft mit den gleichen Leuten, namentlich dem Geheimrat Krauel, gerechnet werden müsse. Das vermeldete am 8. September die Magdeburger Zeitung als ausgemacht: Der neuen Abteilung im Auswärtigen Amt werde Krauel als Direktor vorstehen: «Im übrigen würde an den Ressortverhältnissen nichts geändert werden.»

Am 22. November 1889 debattierte der Reichstag den Haushaltsentwurf des Auswärtigen Amts mit den finanziellen Forderungen für die neue Kolonialabteilung.[35] Die beantragten Mittel von rund 30.000 Mark für drei zusätzliche Beamte waren bescheiden und eigentlich unstrittig. Dennoch entspann sich eine kolonialpolitische Generaldebatte, die von den katholischen Missionen über die Hamburger Kaufmannsgesellschaften bis zur Plantagenwirtschaft und dem Alkoholexport nahezu alles thematisierte, was vom Auswärtigen Amt sicherlich so nicht geplant gewesen war. Das Misstrauen der Abgeordneten war durch eine mehr als ungeschickte Formulierung im Haushaltsantrag geweckt worden, wo es hieß, es werde «sich zunächst darum handeln, sämmtliche im Auswärtigen Amt vorkommenden Angelegenheiten kolonialer Natur in einer Abtheilung zu vereinigen und deren Loslösung vom Auswärtigen Amt anzubahnen».[36] Zudem stellte der Staatssekretär des Auswärtigen Amts Herbert von Bismarck weitere Forderungen in den nächsten Jahren in Aussicht, weil sich die tatsächlichen Notwendigkeiten erst in der Zukunft erweisen würden.[37]

Ludwig Windthorst vom Zentrum eröffnete die Aussprache. Nach seiner Meinung bedeutete es eine «Befestigung» der Kolonialpolitik durch den Reichstag, wenn im Auswärtigen Amt eine eigene Abteilung geschaffen würde. Er fragte sich, ob die bisherigen Resultate von der Art seien, dass «wir durch die Schaffung eines Kolonialamts eine noch weitere Entwicklung derselben herbeiführen wollen». Die Kolonien hätten nur Lasten, kaum Nutzen gebracht.[