Das kleine Cottage am Leuchtturm - Ali McNamara - E-Book

Das kleine Cottage am Leuchtturm E-Book

Ali McNamara

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Beschreibung

Sandybridge ist ein malerisches englisches Küstenstädtchen. Ein Leuchtturm überblickt den Ort, die Möwen kreischen, und Salz liegt in der Luft. Doch Grace Harper wollte immer fort in die weite Welt. Sie ist viel gereist, hat sich verliebt und wieder entliebt und eine kleine Tochter bekommen. Als ihr Vater stirbt, kehrt sie zurück in ihren Heimatort am Meer. Charlie, ihr bester Freund aus Kindheitstagen, lässt sie den Sommer über im kleinen Cottage am Leuchtturm wohnen. Und während ihre Tochter aufblüht und die Menschen von früher ihr Herz berühren, muss Grace sich fragen, ob der Schlüssel zum Glück nicht schon immer in Sandybridge lag …

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Buch

Sandybridge ist ein malerisches englisches Küsten­städtchen: Ein Leuchtturm überblickt den Ort, Salz liegt in der Luft, die Möwen kreischen, während Touristen die beschaulichen Teesalons und den Antiquitätenladen der Harpers besuchen. Doch Grace Harper hat es hinaus in die Welt gezogen, fort von Sandybridge in ein abenteuerliches Leben. Sie ist viel gereist, ihre geheimnisvolle alte Remington-Schreibmaschine, in der mehr steckt, als man ahnt, immer im Gepäck. Sie hat sich verliebt und wieder entliebt und eine kleine Tochter bekommen. Als ihr Vater stirbt, muss Grace wohl oder übel in ihren Heimatort am Meer zurückkehren. Im kleinen Cottage am Leuchtturm, mit dem Grace seit ihrer Kindheit eine besondere Verbindung hat, findet sie für den Sommer eine Unterkunft. Und als Begegnungen mit alten Freunden neue Chancen eröffnen und ihre Tochter aufblüht, muss Grace sich fragen, ob das Glück nicht vielleicht doch in Sandybridge zu finden ist.

Weitere Informationen zu Ali McNamara

sowie zu lieferbaren Titeln der Autorin

finden Sie am Ende des Buches.

Ali McNamara

Das kleine Cottage am Leuchtturm

Roman

Aus dem Englischen von Sina Hoffmann

Die englische Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel »Letters from Lighthouse Cottage« bei Sphere, an imprint of Little, Brown Group London. Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Deutsche Erstveröffentlichung Juni 2019 Copyright © der Originalausgabe 2016 by Ali McNamara Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2019 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München[ Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München Umschlagmotiv: Briefumschlag, Fotorahmen: FinePic®, München Leuchtturm: © Jill Battaglia / Trevillion Images Hauptmotiv, Tisch mit Postkarte: © Sandra Cunningham / Trevillion Images Redaktion: Lisa Caroline Wolf MR · Herstellung: ik Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck ISBN: 978-3-641-20420-4V002 www.goldmann-verlag.de Besuchen Sie den Goldmann Verlag im Netz

Für Scamp, Sam und Jake.Verstorben, aber unvergessen.

Liebe Leserin, lieber Leser,

das Leben ist oft nicht einfach.

Immer wieder wird unser Alltag von Grund auf umgekrempelt. Einige dieser Veränderungen empfinden wir als gut, andere als schlecht.

Wäre es nicht viel leichter, wenn wir jemanden hätten, der uns auf unserem Weg begleitet und bei allem ein wenig nachhilft? Der uns auf die richtige Abzweigung lenkt und uns Ratschläge gibt, wenn wir sie brauchen, der auf uns achtet und uns beschützt?

Jeder von uns hat so jemanden an seiner Seite. Wir müssen nur die Augen öffnen und ihn finden.

Dies hier ist die Geschichte darüber, was passiert, wenn diese Hilfe auf sehr ungewöhnliche Art und Weise zu uns gelangt …

Sommer 2016

Heute ist Sandybridge Hall glücklich. Das weiß ich genau.

Im Haus und den Anlagen rundherum wimmelt es von Besuchern, die diesen wunderschönen Julitag in vollen Zügen genießen. Ich bin überrascht, dass wir so viele Menschen von den Stränden weglocken konnten – immerhin ist Sandybridge seit dem viktorianischen Zeitalter ein beliebtes Seebad. Doch das Herrenhaus, das sich nicht weit vom Zentrum der kleinen Stadt befindet, beweist in diesen Tagen, dass es in Sachen Beliebtheit durchaus mit dem Strand mithalten kann.

Mein Blick wandert an dem Haus im Tudorstil hinauf; seine goldgelben Backsteine glänzen im Licht der warmen Sonnenstrahlen. Sandybridge Hall ist mir immer schon am glücklichsten vorgekommen, wenn es Gäste empfangen konnte. Wenn Menschen durch die wunderschön gepflegten Gärten spazieren und die liebevoll restaurierten Innenräume bewundern, glänzen die Sprossenfenster, die die dicken Steinwände säumen, ein wenig heller, und die vielen Flure und möblierten Zimmer strahlen eine warme, einladende Atmosphäre aus.

Sandybridge Hall und seine riesigen Parks sind dafür gemacht, dass die Menschen sich daran erfreuen können, und die Menschen kommen im Gegenzug jedes Jahr zu Tausenden zu Besuch hierher.

»Grace, da bist du ja!« Iris, meine junge Assistentin, läuft mir über das akkurat geschnittene Gras entgegen. »Ich habe hier Unterlagen, die du unterschreiben musst!«

»Danke, Iris«, erwidere ich, als sie mich erreicht hat. »Tut mir leid, dass ich dich im Büro alleingelassen habe, aber ich musste mal an die frische Luft. Am liebsten sehe ich mir das Haus an, wenn hier so viel Betrieb herrscht wie jetzt. Dann sieht es am schönsten aus.«

»Na, heute haben wir tatsächlich ziemlich viel zu tun.« Iris blickt sich um, während ich schnell meine Unterschrift auf die Papiere kritzele, die sie mir gereicht hat. »Wobei … eigentlich herrscht hier schon die ganze Woche lang so ein Andrang.«

»Das ist wunderbar.« Ich gebe ihr die Unterlagen zurück. »Dieses Haus hat in der Vergangenheit viel zu lange leer gestanden. Ich freue mich unglaublich, dass hier so viel los ist.«

»Dank unseres ruhmreichen Wohltäters«, stellt Iris fest und zwinkert mir zu.

»Das stimmt«, nicke ich und denke liebevoll an ihn.

»Oh, da fällt mir ein …« Iris fischt in der Tasche ihrer Latzhose. »Danny hat eben versucht, dich zu erreichen. Er hat im Büro angerufen, weil du dich angeblich weigerst, hier ranzugehen«, stellt sie fest, zieht die Augenbrauen hoch und reicht mir mein Telefon. »Du hast es auf deinem Schreibtisch liegen lassen.«

»Tut mir leid«, antworte ich und nehme es entgegen. »Das passiert mir oft.«

»Das habe ich gemerkt.« Iris zieht die Nase kraus, wobei ihr kleiner goldener Nasenstecker zuckt. »Ich habe keine Ahnung, wie du das immer schaffst, es liegen zu lassen. Mein Smartphone ist wie mein rechter Arm.«

»Weil du noch jung bist«, erwidere ich grinsend. »Man könnte es dir auch an die Hand festtackern, so oft, wie du aufs Display guckst. Aber du musst auch bedenken, dass die einzigen Telefone, die wir damals hatten, als ich so alt war wie du jetzt, an der Wand hingen, und nicht an uns. Die konnte man nicht einfach irgendwohin mitnehmen!«

»Sag doch so was nicht!« Theatralisch fasst sich Iris an die Stirn. »Das ist ja kaum zu ertragen!«

»Und selbst als wir endlich Handys bekommen haben, konnte man damit ausschließlich telefonieren, und sie nicht etwa wie heute als kleine Computer benutzen!« Mir macht es Spaß, Iris, die für ihre kleinen technischen Spielereien lebt, ein wenig aufzuziehen.

»Als Nächstes willst du mir bestimmt erzählen, dass du einen dieser riesigen, beigen, kastenförmigen Computer im Haus hattest«, fährt Iris fort. »Die habe ich im Museum gesehen. Hast du damit Pac-Man und Space Invaders gespielt? Nein, warte mal!« Sie winkt ab. »Jede Wette, dass du nicht mal so einen hattest – wahrscheinlich hast du deine Hausaufgaben auf einer Schreibmaschine getippt!«

Mit einem Schlag zieht sich mein Magen zusammen. Iris ist der Wahrheit ein wenig zu nahe gekommen und hat dabei unwissentlich einen wunden Punkt getroffen – der besonders heute sehr schmerzt.

»Noch mehr Besucher!«, verkünde ich und bin erleichtert über die Ablenkung, als zwei riesige Reisebusse langsam die großen schwarzen Tore von Sandybridge Hall passieren und die Schottereinfahrt vor uns hinaufrollen.

»Ja, ein Schulausflug«, erklärt Iris und rümpft schon wieder die Nase. »Teenager. Ich bezweifle, dass sich viele von ihnen für die Geschichte des Hauses interessieren werden. Wahrscheinlich sind sie nur hier, weil sie dafür schulfrei bekommen haben.«

»Dagegen ist nichts einzuwenden«, entgegne ich und erinnere mich an einen meiner eigenen Schulausflüge. »Man weiß nie. Vielleicht entdecken sie heute etwas, das ihr Interesse für Geschichte weckt.«

»Glaubst du wirklich?« Iris verzieht das Gesicht.

Ich schüttele den Kopf. »Wahrscheinlich nicht. Als ich in ihrem Alter war, haben mich einzig und allein die Jungs interessiert und die Frage, wie ich schnellstmöglich aus Sandybridge rauskomme.«

»Ernsthaft?«, fragt Iris und scheint aufrichtig überrascht zu sein. »Und ich dachte schon, dass du der Schulstreber schlechthin gewesen bist und den ganzen Tag lang die Nase in die Bücher gesteckt hast.«

Ich muss lachen. »Nein, definitiv nicht. Als Schülerin habe ich Geschichte gehasst. Erst als ich fünfzehn war, hat sich das geändert.«

»Oh, was ist dir denn mit fünfzehn passiert?«, hakt Iris nach. Offensichtlich habe ich ihr Interesse geweckt.

»Lange Geschichte. Ich werde sie dir irgendwann einmal erzählen. Wir sollten jetzt wohl besser wieder zurück ins Büro gehen – Arbeit ist schließlich genug da. Außerdem muss ich gleich noch mal weg.«

»Ach?«, fragt Iris verwundert, als wir uns in Richtung des Herrenhauses aufmachen. »Ich habe gar nichts im Kalender stehen.«

»Ein wichtiges Meeting«, erkläre ich kurz, ohne es weiter auszuführen. »Ich werde eine Weile fort sein.«

Iris akzeptiert es schulterzuckend, und schweigend gehen wir über den Schotterweg dorthin, wo die zwei Reisebusse ihre Passagiere abgesetzt haben.

Ein junger Lehrer kämpft verzweifelt damit, sich bei seinen Schülern durchzusetzen, von denen die meisten nicht das kleinste bisschen Notiz von dem nehmen, was er gerade sagt. Im Vorbeigehen höre ich, wie ein besonders lautes Mädchen verkündet: »Ich hasse Geschichte!« Und sofort bin ich in Gedanken im Sommer 1986 …

TEIL 1

Juni 1986

1.

»Grace!«, ruft mich meine Mutter aus dem Nebenzimmer. »Kannst du mal kurz herkommen und mir mit den Sachen hier helfen, bitte? Ich habe dich jetzt schon zum zweiten Mal gerufen.«

Ich seufze und reiße mich von den Bildern an der Wand los. Fotos von Orten, an denen ich noch nie gewesen bin – im Gegensatz zu der Person, die mir von ihnen entgegenblickt und die Zeit dort offenbar sehr genossen hat. Die Frau auf den Fotos ist mir zwar ebenso fremd wie die Orte selbst, doch in der verrückten Welt, in der ich mit meinen Eltern lebe, durchsuche ich gerade ihr Hab und Gut in der Hoffnung, darunter etwas Wertvolles zu finden.

»Okay, ich bin hier«, erkläre ich meiner Mutter, als ich in der Tür zum Wohnzimmer auftauche, das sie gerade ausräumt und entrümpelt.

»Das wurde aber auch Zeit. Jetzt hilf mir bitte dabei, diese Kisten hier in den Transporter zu laden, ja? Und, Grace …?«

»Ja?«

»Hör mit diesen Tagträumereien auf! Die sind ja schön und gut, aber jetzt ist ganz bestimmt nicht der geeignete Zeitpunkt dafür! Wir müssen zusehen, dass wir fertig werden!«

»Ja, Mum«, murmele ich, während ich schon anfange, die Pappkartons voller Gerümpel und Krimskrams in unseren verbeulten hellblauen Transporter zu tragen.

Harpers Antiquitäten und Sammlerstücke

steht dort in weißer Schnörkelschrift auf der Seite geschrieben.

An- und Verkauf – Wertgutachten – Entrümpelungen

4 Lobster Pot Alley, Sandybridge, Norfolk

02163 492445

Das ist an Wochenenden normalerweise mein Schicksal: Entweder muss ich Mum und Dad dabei helfen, in ihrem kleinen Antiquitätenladen die Kunden zu bedienen, oder ich unterstütze sie wie heute bei einer Hausentrümpelung, durch die sie an den Großteil ihrer Verkaufsbestände kommen. Gelegentlich besuchen wir auch Versteigerungen, die ein wenig interessanter sind, doch sehr viel spannender wird es leider nicht. Manchmal – aber wirklich nur manchmal – bin ich ziemlich froh, wenn Montag ist und mir die Schule eine Entschuldigung liefert, um mich nicht mehr um das alte Gerümpel kümmern zu müssen.

Doch das verkauft sich erstaunlich gut. Immer wieder bin ich überrascht, wie viele Kunden zu Mum und Dad in den Laden kommen und ganz begierig sind, den aussortierten Kram anderer Leute zu kaufen – egal, ob das nun Schnäppchenjäger aus dem Dorf sind oder Touristen, die Sandybridge nur besuchen, um einen Tag am Meer zu verbringen. Was aber auch ganz gut so ist. Denn meine Eltern wären nicht glücklich, wenn sie ständig ihre Filofax-Kalender an die Brust pressen und am Aktienmarkt handeln würden. Nein, meine Eltern sind so meilenweit davon entfernt, sich auf die knallig-bunten Achtziger einzulassen, wie ich davon, die Welt zu bereisen. Mum und Dad ziehen es eindeutig vor, in der Vergangenheit zu leben, und daran wird sich so schnell auch nichts ändern.

»Kann ich jetzt gehen?«, frage ich meine Mutter, als wir den, wie ich hoffe, letzten Karton in den hinteren Teil des Transporters laden.

»Wo willst du denn hin?« Meine Mutter dreht sich um und starrt mich fragend an.

Es gibt keinen Grund, mir das jetzt unter die Nase zu reiben, denke ich – nur, weil ich nicht gerade zu den Ausgehfreudigsten von Sandybridge gehöre. Eigentlich sogar von ganz Norfolk, möglicherweise sogar von der ganzen Welt! Niemand macht weniger »teenagertypische« Sachen als ich – da bin ich mir ziemlich sicher. Ich bin fünfzehn, und das Aufregendste, was mir je passiert ist, ist, fast dabei erwischt worden zu sein, wie ich die Schule geschwänzt habe – mal ganz abgesehen davon, dass mir niemand geglaubt hat, dass ich blaumache. Die Lehrerin, die mich gesehen hat, als ich in den Laden an der Ecke gehüpft bin, um mir das Just Seventeen-Magazin zu kaufen (tatsächlich war es sogar außerdem auch noch eine Cosmo, aber die habe ich unter der anderen Zeitung versteckt), hat gleich angenommen, dass ich krank sei, wenn ich mal einen Tag nicht zur Schule gehe, und mir eine Rolle Halsbonbons und eine Paracetamol aus ihrer Tasche angeboten.

Meine Beziehungen zum anderen Geschlecht sind so gut wie nicht vorhanden. Die meiste Aufmerksamkeit, die mir je von einem Jungen zuteilwurde, kam von Will Granger, der versucht hat, mein welliges Haar in Brand zu setzen, indem er es heimlich über einen angezündeten Bunsenbrenner hielt, als wir im Chemieunterricht dazu gezwungen worden waren, bei einem Experiment zusammenzuarbeiten.

Während also alle anderen Teenager in Sandybridge offenbar ununterbrochen ausgehen und Party machen, über die Stränge schlagen und die Geduld ihrer Eltern auf die Probe stellen, habe ich kaum je den Kinderwagen verlassen, vom Kinderzimmer ganz zu schweigen.

»Ich habe doch erzählt, dass ich gleich mit ein paar Leuten Fußball gucken will«, erkläre ich Mum stolz. Dies ist eine sehr lockere Interpretation davon, wie es sich eigentlich zugetragen hat. Besagte »Leute« sind nicht wirklich meine Freunde, aber ich war Freitagmorgen gerade zufällig im Klassenzimmer und habe auf den Lehrer gewartet, als sich die »Coolen« gerade verabredet und alle rundum eingeladen haben; so bin ich da irgendwie reingerutscht. Das passiert nicht wirklich oft, und ich bin fest entschlossen, das Beste daraus zu machen – selbst wenn es bedeutet, dass ich neunzig Minuten lang dabei zusehen muss, wie ein paar überbezahlte Männer einen Ball übers Feld treten und sich in Darbietungen, die einer Primadonna würdig wären, zu Boden fallen lassen.

»Seit wann interessierst du dich denn für Fußball?«, fragt Mum, in deren Stimme ein Hauch von Überraschung mitschwingt.

»Es ist schließlich die Weltmeisterschaft, oder? Wie kann man sich nicht dafür interessieren? Es wird doch über nichts anderes geredet!«

Mum sieht mich an und kneift die Augen zusammen, bevor sie dann entschieden die Hände in die Taschen ihrer blauen Latzhose steckt.

Ihren Argwohn pariere ich mit einem unschuldigen Blick.

»Na ja, ich denke, es ist gut, dass du mal rausgehst«, gibt sie schließlich nach. »Bei wem siehst du dir das Fußballspiel denn an?«

»Bei Duncan Braithwaite«, murmele ich und hoffe, dass Mum mich nicht gehört hat.

Erschrocken reißt sie jedoch die Augen weit auf. »Duncan Braithwaite? Ich weiß nicht, ob ich will, dass du dich mit Typen wie ihm abgibst, Grace. Mir ist zu Ohren gekommen, dass er ein ganz schöner Unruhestifter ist.«

»Mum, ich bin ja nicht alleine da; die gesamte Clique ist bei ihm. Es ist also alles gut.«

Mum mustert mich unsicher, nickt dann aber. »Wenn du das möchtest, dann geht das für mich in Ordnung. Aber versprich mir, dass du vorsichtig bist, Grace. Fünfzehn ist ein schwieriges Alter, insbesondere, wenn Jungs mit im Spiel sind. Ich erinnere mich, als ich fünfzehn war, da …«

»Mum!«, protestiere ich.

»Tut mir leid, Süße. Du weißt, dass ich mir Sorgen um dich mache; du bist mein kleines Mädchen, mein einziges Kind. Da darf ich doch wohl ein bisschen beunruhigt sein, oder etwa nicht?«

Ich nicke. »Aber nur ein bisschen!«

Sie grinst. »Na gut. Ich glaube, da steht noch ein Karton im Cottage, und das war’s dann. Den Rest komme ich morgen holen, wenn dein Dad Zeit hat, mir dabei zu helfen, die schweren Möbel rauszutragen. Ich frage mich, wie er sich wohl bei der Versteigerung unten in Fakenham geschlagen hat? Ich wünschte, ich hätte hinfahren können, aber die Familie wollte das hier so schnell wie möglich erledigt haben. Habe ich dir eigentlich erzählt, dass sich Mabel ausdrücklich gewünscht hat, dass wir das Haus entrümpeln?«, erklärt Mum mir voller Stolz nun schon zum dritten Mal.

»Ja, Mum, das hast du. Aber ist es nicht ein wenig seltsam, dass jemand selbst bestimmt, wer nach seinem Tod das Haus leerräumen soll?«

»Ich schätze, manche Leute mögen es eben, wenn alles organisiert ist. Sie schien irgendwie zu spüren, dass das Ende naht, obwohl sie sich bester Gesundheit erfreut hat, als wir uns das letzte Mal unterhalten haben. Das finde ich viel seltsamer.« Mum wendet den Blick von dem kleinen Cottage ab, das wir gerade entrümpelt haben, und blickt zu dem imposanten Leuchtturm hinauf, der direkt daneben aufragt. »Wie schade, dass es keinen richtigen Leuchtturmwärter mehr geben wird, der hier auch lebt«, stellt sie fest und lässt den Blick liebevoll an dem hohen Zylinder aus weißen Backsteinen hochwandern. Von dort, wo wir stehen, scheint der Leuchtturm bis in den Himmel hinaufzuragen, wo er zwischen den Wolken verschwindet. »Seit sie den neuen an der Küste gebaut haben, ist unser kleiner Leuchtturm hier nutzlos und daher aufgegeben worden. Mabel war die letzte Wärterin, die hier im Lighthouse Cottage gewohnt hat.«

»Alles muss weitergehen, Mum«, sage ich. »Fortschritt bedeutet eben Veränderung.«

»Ich weiß, aber an Veränderungen habe ich mich noch nie sonderlich gut gewöhnen können. Vielleicht ist das der Grund, warum dein Dad und ich mit Antiquitäten handeln – damit wir uns noch ein wenig länger an der Vergangenheit festklammern können, nicht wahr?« Sie lächelt mich an, bevor sie sich dann vom Leuchtturm abwendet und zu dem riesigen Herrenhaus im Tudorstil blickt, das sich hoch oben auf dem Hügel hinter uns befindet. »Weißt du eigentlich, dass auch das Herrenhaus zum Verkauf steht?«, fragt Mum mit einem Hauch von Bedauern in der Stimme. »Die Besitzer können es sich nicht mehr leisten, es weiter zu unterhalten, deswegen sind sie gezwungen, es zu verkaufen und wegzuziehen. Das ist wirklich traurig; früher haben die Besitzer des Herrenhauses fast alles in Sandybridge besessen – die Häuser, die Läden, sogar den Leuchtturm« – sie deutet auf das Gebäude neben uns –, »aber mit den Jahren mussten sie Stück für Stück ihren Besitz verkaufen. Bis das Haus das Einzige war, was sie noch besaßen, und jetzt muss selbst das dran glauben.« Mum schüttelt den Kopf. »Ich bin ja durchaus für den Fortschritt, Grace, aber wenn dieser zu Lasten der historischen Vergangenheit unseres herrlichen Landes geht, dann verzichte ich gerne darauf.«

Ich schaue zu Sandybridge Hall hinter uns hinauf. Der Name passt gut dazu; selbst an diesem bewölkten Junitag lassen die hübschen goldgelben und terracottafarbenen Backsteine das Haus warm und einladend aussehen, wie es dort aufragt und am Ende einer langen, von Bäumen gesäumten Auffahrt von seinem Wassergraben umringt wird.

»Ich wette, du würdest bestimmt gern reingehen, Mum, und dir all die antiken Möbel und Gemälde ansehen. Das wäre eine Haushaltsauflösung ganz nach deinem Geschmack!«

»Oh nein, das wird nicht passieren. Die Einrichtung von Sandybridge Hall ist viel zu kostbar, um einfach entrümpelt zu werden«, widerspricht Mum. »Einige der Gemälde sind von großer geschichtlicher Bedeutung, und einzelne Möbelstücke stammen tatsächlich aus dem sechzehnten Jahrhundert. Es geht sogar das Gerücht, dass es einen Federkiel gibt, mit dem Maria Stuart einen Brief geschrieben hat, als sie das Herrenhaus besuchte.«

»Oh …«, nicke ich und lasse meinen Blick wieder zu Sandybridge Hall wandern. Nichts davon interessiert mich auch nur im Geringsten.

»Jedenfalls habe ich jetzt keine Zeit, um mich darum zu kümmern.« Mum reibt sich mit dem Handrücken über die Stirn, woraufhin ein paar blonde Strähnen unter dem Schal herausfallen, den sie sich umgebunden hat, um ihr Haar vor dem vielen Staub zu schützen. »Ich habe genügend eigene Schätze, die ich durcharbeiten muss, wenn ich das alles hier nach Hause geschafft habe. Mabel hatte einige hübsche Stücke – diese Haushaltsauflösung lohnt sich mal wirklich für uns.« Sie steigt in den Transporter. »Grace, sei so lieb und hol den letzten Karton aus dem Cottage, während ich die hier einräume, ja?«

»Klar«, erwidere ich und freue mich, endlich nicht mehr über alte Sachen reden zu müssen. Geschichte und die Bewahrung der Vergangenheit sind definitiv Mums Lieblingsthemen, deswegen bin ich immer erleichtert, wenn sie von diesem Thema ablässt, bevor sie richtig in Fahrt kommt.

Ich durchquere das Törchen im weißen Lattenzaun, der den kleinen Garten des Cottages säumt, öffne die hölzerne Tür und betrete das Haus, um den letzten Karton zu suchen. Doch dort, wo ich ihn erwartet habe, nämlich im Wohnzimmer, wo wir alle anderen vollen Kartons gestapelt hatten, ist er nicht. Deswegen laufe ich noch einmal durch alle Räume, um ihn zu suchen.

In der alten Küche finde ich nichts; hier sind nur leere Holzschränke, von deren Türen die Farbe abblättert, sowie ein Ofen, der ebenfalls aussieht, als habe er schon einmal bessere Zeiten erlebt. Der Flur ist zu klein, als dass sich dort noch ein Karton verbergen könnte, weshalb ich schnell die Treppe hinauflaufe, die ein wenig versteckt im Flur hinter einem Vorhang liegt, und mich oben umschaue. Aber auch in den drei kleinen Schlafzimmern dort ist nichts, abgesehen von ein paar Möbeln, die Dad später abholen wird. Auch das Bad ist leer – mit Ausnahme einer alten weißen, frei stehenden Badewanne, einer altmodischen Toilette und eines Waschbeckens. Also gehe ich wieder nach unten, um einen letzten Blick ins Wohnzimmer zu werfen, falls ich dort etwas übersehen haben sollte. Doch hier entdecke ich lediglich einen Kamin mit einem schmiedeeisernen Gitter davor, der sich am anderen Ende des Zimmers befindet, sowie einige von Mabels alten Möbeln.

Das hier könnte ein ziemlich gemütliches kleines Cottage werden, wenn es jemand kaufen und hübsch herrichten würde, denke ich, während ich weitersuche. Wahrscheinlich wird es aber eher an jemanden verkauft, der es renoviert, um es dann an die vielen Urlauber zu vermieten, die neuerdings Sandybridge geradezu überschwemmen. Seitdem die Stadt vor ein paar Jahren generalüberholt und Geld in die Strandpromenade und die Spazierwege gesteckt wurde, hat dies nicht nur neue Unternehmen angelockt, sondern auch die Besucher. Damit hat sich Sandybridge als Badeort wieder neu etabliert und erfreut sich fast so großer Beliebtheit wie zu viktorianischen Zeiten.

»Was sich hier wohl verbergen mag?«, frage ich, als ich die Klinke einer kleinen Tür hinunterdrücke, die mir zuvor am Ende des Flurs, nahe der Eingangstür, gar nicht aufgefallen ist. »Da ist er ja!«, rufe ich, als ich mich in einem winzigen Zimmerchen wiederfinde, das die alten Leuchtturmwärter bestimmt als Büro genutzt haben. Hier stehen Bücherregale, die jetzt allerdings schon ausgeräumt sind, sowie ein abgenutzter Schreibtisch, den Mum und Dad ganz sicher restaurieren und in neuem Glanz erstrahlen lassen werden, um ihn dann weiterzuverkaufen. Doch das, wofür ich mich in diesem Moment interessiere, steht mitten auf dem Schreibtisch: der noch fehlende Karton.

Sofort gehe ich hinüber und versuche, ihn hochzuheben.

Du meine Güte! Schnell setze ich den Karton wieder ab, als ich merke, wie schwer er ist. Was hat Mum denn da bloß reingepackt? Ich ziehe eine der Laschen oben zurück und werfe einen Blick hinein.

Oh, nur eine Schreibmaschine, stelle ich fest. Doch es handelt sich um eine jener wirklich alten, schwarzen Schreibmaschinen mit langen, runden Tasten. Kein Wunder, dass der Karton so schwer ist. Diese Maschinen sind für die Ewigkeit gemacht worden. Ich will gerade den Deckel wieder schließen und den Karton hochheben, als mir ein vollgetipptes Blatt Papier auffällt, das noch um die schwarze Schreibwalze gewickelt ist. Ich greife in den Karton und ziehe das Blatt aus der Walze heraus, damit ich es lesen kann.

Liebe Grace,

herzlichen Glückwunsch, dass du mich gefunden hast. Ich wusste, dass du diejenige sein würdest.

Bitte nimm Remy (so möchte sie genannt werden) mit zu dir nach Hause und kümmere dich gut um sie. Die Schreibmaschine wird dir in Zukunft eine große Hilfe sein, wie sie es in der Vergangenheit schon für so viele Menschen gewesen ist.

Ich muss dich jedoch warnen. Es gibt ein paar Regeln, an die du dich halten musst, wenn du Remy besitzt:

Du kannst keine Briefe auf Remy schreiben, nur Briefe lesen.

Die Ratschläge, die Remy dir gibt, können dich in deinen Bemühungen lediglich anleiten; sie kann dir keine detaillierten Informationen liefern. Daten und Namen zum Beispiel sind verboten.

Du hast stets die Wahl, ihren Rat zu ignorieren! Dazu kann es durchaus kommen. Aber denk daran: Die Schreibmaschine hat immer nur dein Bestes im Sinn.

Wenn die Zeit gekommen ist, Remy an einen neuen Besitzer weiterzugeben, wirst du eine Anweisung erhalten, wie dies geschehen soll.

Viel Glück.

Alles Liebe,

ich

»Was um alles in der Welt …?«, stottere ich, während ich den Brief ein weiteres Mal überfliege. Remy? Warum sollte man einer Schreibmaschine einen Namen geben? Mal abgesehen davon, warum man sie ausgerechnet Remy nennen sollte? Ich schaue in den Karton. Als mein Blick auf den Schriftzug des Herstellers fällt, der in einer kunstvollen goldenen Schrift oben auf der Maschine zu erkennen ist, verstehe ich es. Es handelt sich um eine Remington. Aber dennoch … wie seltsam. Und warum ist der Brief an mich gerichtet? Ich schüttele den Kopf. Ich wusste gar nicht, dass die gute alte Mabel ein wenig verrückt war! Und was schreibt sie da? Wie soll eine Schreibmaschine mir Ratschläge erteilen? Und warum hat Mabel sich überhaupt hingesetzt und einen Brief an mich getippt? Vielleicht wusste sie, dass ich Mum beim Ausräumen helfe.

»Grace!«, höre ich meine Mutter im Flur rufen. »Ich habe den letzten Karton gefunden! Lass uns gehen!«

Aber …? Argwöhnisch mustere ich den Karton, der vor mir auf dem Schreibtisch steht, bevor ich schnell den Brief wieder hineinstopfe, den Deckel schließe und es dann mit viel Mühe schaffe, ihn aus dem Büro nach draußen zum Transporter zu tragen.

»Was hast du denn da?«, fragt mich meine Mutter, als ich ihn mühsam hinten zu den anderen in den Transporter hieve. »Ich dachte, wir hätten jetzt alles?«

»Den hier habe ich im Büro gefunden, es ist eine Schreibmaschine.«

Mum wirft einen Blick hinein und rümpft dann die Nase. »So schön diese alten Dinger auch sind – ich würde sagen, dass die Maschine hier gut vierzig oder fünfzig Jahre alt ist –, aber wir können sie nicht verkaufen. Die Leute interessieren sich neuerdings nur noch für Computer – du weißt schon, Amstrads, Commodores, so was alles.«

Das weiß ich; in der Schule gibt es seit Kurzem einen neu eingerichteten Computerraum. Es heißt sogar, dass wir bald einen Sinclair ZX Spectrum bekommen. Ein wenig sprachlos macht mich allerdings, dass Mum nicht nur über Computer Bescheid weiß, sondern auch die führenden Marken kennt.

»Was soll ich dann damit machen? Immerhin ist die Schreibmaschine jetzt im Transporter.«

»Möchtest du sie gern behalten?«, fragt mich Mum. »Eines Tages könnte sie vielleicht einmal viel wert sein. Betrachte sie als Dank dafür, dass du mir geholfen hast.«

»Solange ich trotzdem noch mein Gehalt bekomme, wäre das prima. Ich denke, dass sie immer noch funktioniert. Vielleicht kann ich einen Teil meiner Hausaufgaben darauf tippen.«

»Natürlich bekommst du sie nicht anstelle deines Gehalts!« Mum legt mir ihren Arm um die Schultern und drückt mich fest. »Du weißt, wie sehr Dad und ich deine Hilfe zu schätzen wissen, Grace, oder? Ohne dich könnten wir dieses Geschäft gar nicht führen.« Sie gibt mir einen Kuss auf die Stirn. »Du bist ein liebes, artiges Kind, das bist du immer schon gewesen.«

Nicht, dass ich nicht auch mal anderes versucht hätte, denke ich, erlaube aber Mum ihre Bemerkung, ohne großen Wirbel darum zu machen.

»Na komm, dann wollen wir den Kram mal in den Laden fahren«, beschließt Mum, lässt mich los und läuft zur Fahrerseite des Transporters. »Dann kannst du dich für deine Party heute Abend fertig machen.«

»Das ist keine Party«, widerspreche ich ihr. »Ich gehe nur zu einem Kumpel Fußball gucken.«

»Ja, ja«, erwidert Mum, als sie auf den Fahrersitz klettert. »Aber man weiß ja nie, wen man da trifft, Party hin oder her …«

2.

Als wir im Laden ankommen, helfe ich erst wie immer dabei, die Kartons aus dem Transporter zu laden, und warte dann kurz draußen, während Mum sich bei Doris, unserer Teilzeit-Aushilfe, erkundigt, was am Nachmittag so los gewesen ist und ob wir etwas verkauft haben. Im Laden verbringe ich nie mehr Zeit als absolut notwendig. Der ganze alte Kram interessiert mich nicht; viel spannender als die Vergangenheit ist doch die Zukunft. Obwohl der Laden ganz süß ist, wenn man so etwas mag, nehme ich an; als das lokale Zeitungsblatt mal einen Bericht über uns gebracht hat, sind wir als »idyllisch und heimelig« beschrieben worden. Doch mit fünfzehn sind »idyllisch und heimelig« nicht so ganz mein Ding. Während Mum also drinnen ist, treibe ich mich vor der Ladentür herum; einer dieser neuen Schokoladenriegel, ein Wispa, leistet mir dabei Gesellschaft.

Als Mum alles mit Doris besprochen hat, steigen wir in den Transporter und fahren nach Hause. Dort hilft Mum mir dabei, die schwere schwarze Schreibmaschine in mein Zimmer hochzutragen, wo ich sie oben auf meine Kommode setze – nachdem ich eine Menge überflüssigen Krimskrams, der noch darauflag, auf den Boden geschoben habe. Mum zuckt nicht einmal mit der Wimper; obwohl sie überaus ordentlich ist, was unser kleines viktorianisches Reihenhaus angeht, darf ich in meinem Zimmer so hausen, wie ich das will, und dafür bin ich ihr unendlich dankbar.

Nachdem Mum gegangen ist, mache ich es mir eine Weile auf meinem Bett gemütlich, unter den Postern von Zurück in die Zukunft und Breakfast Club, die ich im örtlichen Kino abgestaubt habe, und denen von a-ha. Leider können mir weder Michael J. Fox noch Morten Harket einen Tipp geben, was ich heute Abend anziehen soll. Mum habe ich zwar erklärt, dass es keine Party ist, und das entspricht auch der Wahrheit, aber es ist trotzdem wichtig, dass ich gut aussehe. Danny Lucas wird wahrscheinlich da sein, denn er ist mit Duncan befreundet, und auch wenn ich mich dagegen wehre, ich fahre ziemlich auf Danny ab.

Dabei will ich das gar nicht. Danny ist überhaupt nicht mein Typ, wenn ich denn so was überhaupt habe. Er ist in keinem einzigen meiner Kurse; ich bin in allen Fächern in den besten, während er eher in den schwächeren Kursen ist. Mit Ausnahme vom Sportunterricht sehe ich ihn in der Schule kaum; und ausgerechnet dort bekommt Danny mich zu meinem großen Entsetzen regelmäßig in meiner absolut schlechtesten Verfassung zu sehen – knallroter Kopf, völlig außer Atem, das lange, straßenköterbraune dünne Haar wirr abstehend, während ich versuche, mit den sportlichen Mädels Schritt zu halten, die alles scheinbar mühelos hinbekommen. Doch wenn ich ihn sehe, dann sprudelt es in meinem Bauch wie in einer Mineralwasserflasche, und mein Mund wird staubtrocken. Falls Danny dann mal in meine Richtung guckt, färben sich meine Wangen in ein dunkleres Rot als Schumis Ferrari.

Heute Abend bietet sich mir also die große Chance. Zwar weiß ich nicht so genau, was ich tun soll, da Danny mich wahrscheinlich ohnehin nicht beachten wird, doch mir würde es schon reichen, wenn er mir mit seinen süßen Lippen einmal zulächelt. Oder mir so zuzwinkert wie den Mädels, die vor ihm herumstolzieren und andauernd kichern – und natürlich so viel sportlicher sind als ich.

Nachdem ich geduscht habe und wieder in meinem Zimmer bin, um mich umzuziehen, fällt mir plötzlich etwas ins Auge – ein frisch getipptes weißes Blatt Papier, das um die Schreibmaschinenwalze herumgewickelt ist.

»Aber wie … also, ich meine, warum …«, stottere ich, höre auf, meine Haare trocken zu rubbeln, und laufe zur Kommode hinüber. Bevor ich überhaupt die Chance habe, das Blatt aus der Schreibmaschine herauszuziehen, fällt mein Blick auf die erste Zeile:

Liebe Gracie,

Wie bitte?

Schnell ziehe ich den Rest des Papiers aus der Walze und fange an zu lesen.

Liebe Gracie,

du kommst gar nicht auf den Gedanken, dass du das sein könntest, oder?

Im Augenblick kennt dich noch jeder als Grace.

Doch sehr bald schon wirst du jemandem begegnen, der dich Gracie nennt – und das wird dir sehr gefallen. Schätze diesen Menschen, da er derjenige ist, der dich glücklich machen und der immer für dich da sein wird, egal, was auch passiert.

Alles Liebe,

ich

Dreimal lese ich den Brief noch.

Wie ist das passiert? Wie kann eine Schreibmaschine etwas tippen, ohne dass jemand im Zimmer ist?

Dann fällt es mir wie Schuppen von den Augen. »Mum!«, rufe ich die Treppe hinunter. »Warst du in meinem Zimmer?«

Keine Antwort. Ich lasse das Handtuch fallen, schlüpfe in meinen Morgenmantel und renne die Treppe hinunter.

»Mum!«

Als ich in die Küche komme, entdecke ich eine Nachricht auf dem Esstisch.

Bin kurz einkaufen, Milch holen. Gleich wieder da. Küsschen, Mum

Komisch … Ich haste die Treppe wieder hoch, nehme das Blatt zur Hand und lese es noch einmal. Was soll das? Und warum werde ich darauf »Gracie« genannt? Das ist doch verrückt, Schreibmaschinen können nicht von allein schreiben! Wenn der erste Brief von Mabel getippt worden ist, von wem stammt dann der zweite?

Ich schüttele den Kopf. Für so etwas habe ich jetzt wirklich keine Zeit. Ganz gleich, wie merkwürdig das ist, ich muss mich umziehen! Also werfe ich das Blatt Papier auf meinen Nachttisch, direkt auf den Walkman, und suche mir ein Outfit aus, bei dem ich sicher sein kann, dass es Danny Lucas gefällt.

Entlang der ausgedehnten Uferpromenade von Sandybridge haben sich viele Souvenirläden angesiedelt, die alle im Grunde das Gleiche verkaufen: Postkarten von Sandybridge in allen möglichen Formen, Kitsch aus Porzellan, Plastikeimer und Schäufelchen sowie leuchtend bunte Windmühlen für Kinder, die sich in der abendlichen Brise ratternd drehen. Es gibt eine Spielhalle, reihenweise Bed & Breakfasts, die immer belegt zu sein scheinen, sowie zwei Cafés – von denen eines derzeit geschlossen ist. Doch im Vorbeigehen entdecke ich ein Schild im Fenster, auf dem steht, »Unter neuer Leitung – Wiedereröffnung in Kürze«. Wir haben eine sehr gute Fish & Chips-Bude, vor der sich eine lange Warteschlange hungriger Gäste gebildet hat, die sich durch die Tür nach draußen bis auf den Gehweg windet; als mir der Pommesgeruch in die Nase steigt, will ich mich fast mit einreihen.

Nein, Grace, ermahne ich mich streng. Schließlich habe ich vor, irgendwann noch mal in diese Jeans in Größe zwölf hineinzupassen. Und immerhin hatte ich heute Nachmittag schon einen Schokoriegel.

Ich bin permanent um mein Gewicht besorgt, wie die meisten Mädchen in meiner Klasse; zumindest gehe ich davon aus, wenn ich mitbekomme, worüber sie sich unterhalten. Ich bin zwar nicht wirklich dick, allerdings doch ein wenig zu rundlich, um wirklich glücklich mit mir zu sein. Deshalb kämpfe ich andauernd gegen meinen natürlichen Drang an, mich meinem geliebten Essen hinzugeben. Mit knurrendem Magen laufe ich an der Imbissbude vorbei und steuere auf Duncan Braithwaites Haus zu. Um mich von meinem Hunger abzulenken, denke ich über Sandybridge nach und frage mich, warum Leute wohl herkommen, um hier ihre Ferien zu verbringen, wo es doch so viele spannendere Orte auf der Welt gibt. Zugegeben, wir haben zwei hübsche Strände; zum einen den Sandstrand, der ein wenig außerhalb des Dorfes beim Leuchtturm liegt. Um dort hinzugelangen, muss man eine kleine Brücke überqueren (deswegen auch der Name der Stadt). Und dann gibt es noch den zweiten, den ich gerade betrachte, an dem die Betonpromenade entlangläuft und der vollständig mit grauen, weißen und braunen Kieselsteinen bedeckt ist.

Ein so reger Urlaubsbetrieb hat hier allerdings nicht immer geherrscht. Vor der Sanierung sind wir ein ruhiges, kleines Küstenstädtchen gewesen, das vielleicht ein wenig heruntergekommen war, auf gewisse Art und Weise aber doch ganz charmant gewirkt hat. Jetzt sind wir das, was einschlägige Reisedokumentationen im Fernsehen als einen »kleinen, belebten Badeort« bezeichnen würden.

Wenn ich alt genug bin, werde ich von hier fortgehen und mir die Welt ansehen – das sage ich mir jedes Mal, wenn ich an der Uferpromenade entlanglaufe und auf den niemals enden wollenden Horizont hinausblicke, wo der Himmel auf das Meer trifft. Obwohl viele Menschen von dem Charme meines Heimatstädtchens angezogen werden, kommt es für mich im Leben nicht infrage, hier an der nördlichen Küste Norfolks hängen zu bleiben und für immer und ewig aufs Meer hinaus zu starren, wie es einige der älteren Bewohner von Sandybridge ihr ganzes Leben lang getan haben. Die Welt ist groß, und es gibt so viele außergewöhnliche, interessante und aufregende Dinge, die ich allesamt sehen und erleben möchte.

Aber was kann es Außergewöhnlicheres geben als die Schreibmaschine, die ich heute aus Mabels Haus mitgenommen habe?

Als ich um die Ecke von Wendell Close biege, wo Duncan wohnt, entdecke ich einen Jungen, der die gleiche Richtung einschlägt wie ich. Er trägt eine schmal geschnittene schwarze Jeans, eine passende Jeansjacke und ein rot-schwarz-kariertes Hemd. Alles so weit in Ordnung; schwarze Jeans haben die meisten Jungs gerade an, und bei jeder anderen Gelegenheit hätte ich nichts dagegen einzuwenden. Nur, dass der Junge zu meinem Entsetzen exakt das Gleiche trägt wie ich! Der einzige Unterschied ist, dass ich statt der Hose einen kurzen schwarzen Jeansrock mit einer blickdichten Strumpfhose trage, und statt der Adidas-Schuhe flache schwarze Lackballerinas.

Ich will gerade in die entgegengesetzte Richtung abbiegen und überlege fieberhaft, ob ich noch genügend Zeit habe, um vor dem Anpfiff nach Hause zu laufen und mich umzuziehen, als mir der Junge etwas über die Straße hinweg zuruft.

»Hi! Bist du auch auf dem Weg zu Duncan, um Fußball zu gucken?«

Ich habe keine andere Wahl und muss antworten.

»Ja, du auch?« Du Depp, Grace! Innerlich zucke ich zusammen. Natürlich ist er das, sonst hätte er dich doch wohl nicht gefragt.

»Ja«, erwidert er und lächelt mich nervös an. »Weißt du, zu welchem Haus wir müssen? Ich bin neu hier.«

Ich überquere die Straße und komme zu ihm. »Es ist nicht mehr weit, hier um die Ecke. Ich zeige es dir, wenn du magst?«

»Danke, das ist nett«, erwidert der Junge und sieht mich an, während wir ein wenig verlegen nebeneinander in die Richtung laufen, in die ich gedeutet habe. »Übrigens: Schön, dich kennenzulernen«, fährt er fort und hält mir seine Hand hin, bevor er dann mit absolutem Entsetzen auf die Hand starrt, als hätte er sich gerade die dümmste Aktion aller Zeiten geleistet.

Da ich seine Unbeholfenheit gut nachfühlen kann, packe ich schnell seine Hand und schüttele sie.

Dankbar lächelt er mich an, bevor ihm meine Kleidung auffällt. »Schönes Outfit!«

»Ähm … danke. Ebenso.«

»Nicht wahr, mein Zwilling?«, grinst er. »Was ein Glück. Beinahe hätte ich ein Fußballshirt angezogen, aber das kam mir dann doch etwas übertrieben vor.«

»Du magst also Fußball?« Oh, du meine Güte, Grace – gibt es noch dümmere Fragen? Natürlich muss er Fußball mögen, wenn er schon ein Shirt hat!

»Eigentlich nicht, erst dachte ich, mein Bruder kann mir eins borgen, aber dann wollte ich doch nicht. Unter uns gesagt, ich hasse Fußball, aber so kann ich wenigstens ein paar Leute kennenlernen.«

Also geht es ihm ähnlich wie mir. »Bist du gerade erst nach Sandybridge gezogen?« Ich glaube nämlich nicht, dass ich ihn hier schon einmal gesehen habe.

»Ja, vor etwas mehr als einer Woche. Meine Eltern übernehmen das Café.«

»Ich habe schon gesehen, dass da gearbeitet wird. Und es scheint sehr schön zu werden, wenn es fertig ist.«

»Ja, ich habe mich breitschlagen lassen zu helfen. Das mache ich immer. Familienunternehmen.«

»Das kenne ich – meiner Familie gehört der Antiquitätenladen in der Lobster Pot Alley.«

»Ah, okay, ich glaube, den hab ich noch nicht entdeckt. Ich muss dringend mal vorbeikommen und mir alles anschauen.«

»Oh, da ist nichts Besonderes. In Sandybridge gibt es viel bessere Sachen zu sehen.«

»Ernsthaft?« Er sieht mich an und zieht die rotbraunen Augenbrauen hoch.

»Nee«, sage ich. »Hier ist’s megalangweilig.«

»Wie gut dann, dass ich dich getroffen habe!« Sein sommersprossiges Gesicht wird ein wenig rot, bevor er dann auf seine Fußspitzen starrt.

»Oh, sieh mal, wir sind da!«, rufe ich, um seine und meine Verlegenheit zu überspielen, als wir draußen vor Duncan Braithwaites Haus ankommen und die kurze Einfahrt zu der Doppelhaushälfte hinaufgehen. Ich klingele, und gemeinsam warten wir verlegen vor der Haustür.

Schließlich öffnet uns Duncan Braithwaite die Tür; er trägt ein England-Shirt mit »Lineker« auf dem Rücken. »Oh, hey … ähm … Grace«, begrüßt er mich und hat Mühe, sich an meinen Namen zu erinnern. »Ich wusste gar nicht, dass du kommst. Und du hast auch noch einen Freund mitgebracht?«

»Nein, wir haben uns gerade auf dem Weg hierher kennengelernt, nicht wahr … Oh, tut mir leid – ich weiß nicht einmal deinen Namen.«

»Charlie«, stellt sich mein Begleiter vor, dem das gar nichts auszumachen scheint. »Charlie Parker.«

3.

»Na gut, Charlie und Grace, dann kommt mal rein!«, ruft Duncan und reißt die Tür weit auf. »Anstoß ist erst später, aber solange gibt es genug Alkohol in der Küche!« Er mustert uns erwartungsvoll.

Mist, ich habe überhaupt nicht daran gedacht, etwas mitzubringen!

Doch Charlie lässt einen Rucksack von seiner Schulter gleiten. »Bier!«, verkündet er und hält die Dosen hoch.

»Guter Mann!«, ruft Duncan und klopft ihm anerkennend auf den Rücken. »Da entlang!«

Gemeinsam wandern wir in die Küche und bahnen uns einen Weg durch die anderen, die sich bereits in der Küche tummeln. »Woher hast du das Bier?«, frage ich Charlie und wundere mich, wie er es geschafft hat, an Alkohol zu kommen.

»Mein Bruder hat es für mich besorgt«, flüstert er mir zu. »Er ist achtzehn.«

Charlie stellt seine Bierdosen auf die Küchentheke zu den anderen Flaschen, bevor er dann eine aus der Plastikverpackung schält und sie mir anbietet.

Ich zögere.

»Schon okay«, flüstert er wieder. »Ich mag’s auch nicht besonders.« Er stellt die Dose wieder zurück und schaut sich um. »Fanta?«, fragt er mich, als er ein paar Dosen findet, versteckt hinter den Alkoholflaschen, auf die sich alle anderen stürzen.

Dankbar nicke ich ihm zu und nehme eine Dose.

Charlie greift ebenfalls nach einer, und zusammen drehen wir uns um und stehen etwas verloren zwischen den anderen herum, die in kleinen Grüppchen beisammenstehen. Sie scheinen gar nicht bemerkt zu haben, dass wir hier sind, und lachen, quatschen und kippen gierig ein Bier nach dem anderen hinunter.

»Schaust du denn gern Fußball?«, fragt mich Charlie und zieht am Aufreißring seiner Fanta. »Oder bist du nur hier, um einfach ein paar Leute zu treffen – so wie ich?«

»Letzteres«, erkläre ich und öffne ebenfalls meine Fantadose. »Eigentlich kann ich Fußball nicht ausstehen! Aber verrat das bitte niemandem, ja?«

Charlie grinst. »Nee, dein Geheimnis ist bei mir sicher. Wenn du dich also schon nicht für Fußball interessierst, was magst du dann?«, fragt er, als eines der coolen Mädchen aus meiner Klasse an uns vorbeigreift, um sich noch ein Bier zu nehmen.

»Na so was, Grace«, sagt sie zu meiner großen Überraschung, als sie sich eine Dose geangelt hat. »Nettes Shirt.«

»Danke, Lucy«, erwidere ich und will mit ihr weiterreden, doch Lucy ist längst schon wieder zu ihrer Clique zurückgekehrt.

»Tut mir leid … was hast du gefragt?«, hake ich nach und drehe mich wieder zu Charlie um, nachdem mein flüchtiger Moment als eines der »angesagten« Mädels schon wieder vorüber ist. »Ach so, ja: Was ich mag?«

Charlie nickt.

»Ähm … Ich gehe gern ins Kino. Die Straße rauf in Cromer gibt es eines, manchmal fahre ich mit dem Bus dorthin.«

»Was noch?«

Angestrengt denke ich nach: Was mache ich sonst noch gern?

»Das war’s eigentlich«, erwidere ich entschuldigend. »Den Großteil meiner Freizeit verbringe ich damit, meinen Eltern im Laden zu helfen. Natürlich höre ich noch gern Musik, aber macht das nicht jeder in unserem Alter?«

»Nein, ich nicht«, entgegnet Charlie nüchtern. »Musik ist überhaupt nicht mein Fall.«

»Tatsache?« Seine Ehrlichkeit erstaunt mich. Jeder andere in unserem Alter versucht sich an das anzupassen, was alle anderen toll finden, ob man selbst es nun mag oder nicht. »Wofür interessierst du dich denn dann?«

»Für die Natur«, erwidert Charlie und überrascht mich erneut. »Für echte, wirkliche Sachen, die leben und atmen, nicht dieser künstlich hergestellte Quatsch, bei dem irgendwer für uns entschieden hat, dass er uns gefallen soll.«

Einen Augenblick lang starre ich ihn sprachlos an. Charlie ist ein wenig kleiner als ich, sodass ich seine dicken rotbraunen Haarbüschel sehen kann, in deren Mitte sich oben auf dem Kopf ein Wirbel befindet.

»Was meinst du damit?«, frage ich und werde mir plötzlich bewusst, dass ich ein wenig zu lange sein Haar angestarrt habe.

»Du musst doch wissen, was ich mit Natur meine? Pflanzen, Tiere, die Art und Weise, wie alles wächst. Ich bin ganz aufgeregt, dass wir jetzt am Meer wohnen und ich die Lebewesen hier untersuchen kann. Das wird spitze!«

Ich habe noch nie jemanden getroffen, der noch seltsamer ist als ich. Aber auf Charlie trifft das voll und ganz zu. Er ist nicht cool, und das weiß er auch, aber es lässt ihn völlig kalt. Das tut ziemlich gut.

»Es ist schön, dass du dich so darüber freust, in Sandybridge zu leben. Ich kann gar nicht abwarten, hier endlich rauszukommen.«

»Warum?«

»Ich möchte um die Welt reisen, viel erleben.«

»Nett.« Charlie nickt gedankenverloren. »Fährst du denn nächste Woche bei dem Ausflug nach Norwich mit? Das ist zwar auch nicht die Welt, aber immerhin würdest du einen Tag lang aus Sandybridge rauskommen.«

Ich rümpfe die Nase. »Nee, das wird vom Jugendclub organisiert, und der wird von der Kirche geleitet, es wird also nur jede Menge heiligen Kram und Denkmäler zu sehen geben.«

»Nicht unbedingt. Es könnte auch ganz nett werden.«

»Du fährst da also mit?«

»Vielleicht. Ich habe mich mal dafür angemeldet …«

»Na, dann viel Glück! Mich werden keine zehn Pferde am Samstagmorgen in einen Bus nach Norwich bekommen, um mir alten Kram anzusehen – davon habe ich schon genug hier in Sandybridge.«

Charlie grinst. »Wahrscheinlich. Aber ich dachte, du willst hier mal raus?«

»Ja klar, aber doch schon gern ein wenig weiter weg – da habe ich spannendere Orte im Visier.«

»Cool.« Charlie nickt. »Was hast du denn vor, wenn du mit der Schule fertig bist? Denn wenn du eine Weltreise machen willst, musst du entweder ordentlich was verdienen oder einen Job haben, bei dem du viel reisen musst.«

Komischerweise habe ich bei all meinen Tagträumen nie darüber nachgedacht, wie ich das Ganze überhaupt finanzieren will.

Ich komme mir gerade ziemlich naiv vor.

»Ich habe mich noch nicht entschieden«, sage ich schnell. »Das kommt auf meine Abschlussprüfungen im nächsten Jahr an.«

»Wie findest du es, dass wir die Letzten sind, die O-levels und CSEs absolvieren?«, fragt mich Charlie und wechselt zu meiner großen Erleichterung das Thema. »Wie nennen sie jetzt die neuen Schulabschlüsse?«

»GCSEs«, antworte ich. »Es heißt, dass es viel einfacher wird, einen Abschluss zu bekommen. Das ist so was von unfair.«

»So ist das Leben, Gracie, so ist das Leben.«

»Ich heiße Grace«, erkläre ich ihm. Dann halte ich jedoch inne. Moment mal – ist das nicht das, was in dem Brief stand? Dass mich jemand Gracie nennen wird? Misstrauisch beäuge ich Charlie.

»Was denn?«, fragt er mich. »Ein kleiner Versprecher, das ist alles.«

»Nein, nein, das meine ich nicht. Es ist nur …« Oje, wie soll ich das nur erklären? »Mir wurde eben gesagt, dass mich heute jemand Gracie nennen würde.«

»Und du hättest nicht gedacht, dass ich derjenige bin – richtig?«

Ich hätte nicht gedacht, dass es überhaupt jemand tun würde. Ganz zu schweigen von einem Rotschopf namens Charlie, den ich nicht einmal kenne.

»Ich wusste nicht, wer es sein würde.«

»Aber es gefällt dir nicht, so genannt zu werden?«

Ich zucke mit den Schultern. »Es hat mich nur noch nie jemand Gracie genannt.«

»So heißt du also – Gracie?«, ertönt eine tiefe, sexy Stimme links neben mir. »Ich habe mich immer schon gefragt, wie du wohl heißt.«

Als ich mich umdrehe, steht Danny Lucas hinter mir und nimmt sich eine Pepsidose von der Theke.

»Ich … ich …«, stottere ich. Reiß dich zusammen, Grace, das ist deine große Chance! »Ja, ich meine, natürlich heiße ich Gracie, du hast recht!« Wenn Danny Lucas »Gracie« sagt, klingt es wie der perfekteste Name aller Zeiten.

Aus dem Nachbarzimmer erklingt der Ruf: »Gleich ist Anstoß!«, und die meisten Küchenbesetzer ziehen allmählich Richtung Wohnzimmer weiter.

»Wir sollten rübergehen!«, erklärt Danny und lächelt mich an. »Was glaubst du, wie das Spiel ausgehen wird, Gracie?«

»Ähm …« Oh Gott, ich weiß absolut gar nichts über Fußball. Dann erinnere ich mich an Duncans T-Shirt. »Ich denke, Lineker wird ein Tor schießen«, erwidere ich und gebe mir Mühe, sehr sachkundig zu klingen.

»Und sich damit den goldenen Schuh holen?, Ja, da könntest du recht haben.«

»Die haben goldene Fußballschuhe?«, frage ich dümmlich. Mir kommt es vor, als hätte ich gar keine Kontrolle darüber, was mein Mund da plappert. Ich weiß einzig und allein, dass Danny Lucas gerade mit mir spricht, und das fühlt sich fantastisch an! »Ist das nicht ein bisschen zu teuer?«

In Dannys hinreißender Miene leuchtet ein noch viel hinreißenderes Lächeln auf. »Und witzig ist sie auch noch! Wie kommt es, dass wir uns vorher nie begegnet sind, Gracie?«

»Ich … ich weiß es nicht.«

»Willst du mitkommen und beim Spiel neben mir sitzen?«, fragt Danny, als müsse ich erst darüber nachdenken.

»Ja, bitte …« Ich grinse dämlich, bevor ich mich dann plötzlich wieder an Charlie erinnere und zu ihm hinüberschaue.

»Oh, ihr zwei seid zusammen?«, fragt Danny überrascht. »Sorry, das wusste ich nicht.«

»Nein!«, blaffe ich und sehe schon, wie mir die Chance, auf die ich so, so lange gewartet habe, mit jedem Wort weiter schwindet. »Ich meine, wir sind zusammen hergekommen, aber wir sind nicht … du weißt schon?«

»Hey, ich will hier niemandem auf den Schlips treten.« Danny lächelt und geht zur Tür. »Wir sehen uns später noch. Ich kann ja nicht das wichtigste Spiel Englands seit Jahren verpassen, oder?«, ruft er uns zu, als er durch die Küchentür verschwindet und ich ihm schließlich einsam und verlassen hinterherschaue.

»Du magst ihn, oder?«, fragt Charlie unschuldig.

»Nein …« Ich drehe mich zu ihm um. »Na ja, schon … irgendwie.« Ich seufze. »Ist es so offensichtlich?«

Charlie grinst. »Nur ein bisschen. Komm schon, Gracie – wie du jetzt bestimmt sehr gern genannt wirst. Dann wollen wir mal dieses Fußballspiel mit den anderen über uns ergehen lassen. Wir wollen doch nicht als unsozial abgestempelt werden. Sonst hätte es keinen Sinn, dass wir beide heute Abend hergekommen sind.«

Charlie und ich setzen uns hin und gucken das Fußballspiel an. Ich versuche so zu tun, als sei ich total interessiert; ich rufe, feuere an und stöhne, wenn es die anderen tun. Aber es ist doch schon sehr anstrengend, dieses Theater mehr als neunzig Minuten aufrechtzuerhalten.

Alle guten Plätze sind bereits besetzt, als Charlie und ich ins Wohnzimmer von Duncans Eltern kommen, weshalb wir uns schließlich zu zweit auf einen gigantischen Doppel-Sitzsack quetschen müssen, der – wie alle Sitzsäcke – zwar extrem bequem aussieht, aber wenn man versucht, mit einem Hauch von Eleganz in einem der Dinger zu sitzen, kann man sie komplett vergessen. Und noch viel schwieriger ist es, mit einem Rest von Würde daraus auch wieder rauszuklettern.

Als Maradona – oder Madonna, wie ich für die längste Zeit des Spiels gedacht habe – anscheinend mit der Hand statt dem Fuß den Ball ins Tor befördert, brechen in Duncans Wohnzimmer tumultartige Zustände aus, inklusive vieler höhnischer Beschimpfungen für den Schiri. Doch als er nur wenige Minuten später schon wieder ein Tor schießt, ertönt neidisches Gemurmel von »erster Klasse« und »Genie«, was mich schon ein wenig verwundert, milde gesagt.

Den Rest des Spiels verbringe ich damit, Danny Lucas immer dann verstohlen einen Blick zuzuwerfen, wenn er ins Spiel vertieft ist.

Gott, was ist der süß! Seine leuchtend blauen Augen blitzen intensiv, wenn er sich auf das Geschehen im Fernseher konzentriert, und sein Blick tanzt jedes Mal vor Freude, wenn England eine gute Aktion spielt.

Als Gary Lineker gegen Ende des Spiels ein Tor schießt, bricht Jubel aus, alle springen schreiend durch die Gegend und umarmen sich. Charlie und ich brauchen so lange, bis wir aus dem Sitzsack hochgekommen sind, dass alle Umarmungen vorbei sind, als wir endlich aufrecht stehen. Darum sehen wir uns verlegen an und klatschen uns tröstend ab.

Alle nehmen wieder Platz, und wo zuvor Verzweiflung geherrscht hat, verbreitet sich nun Hoffnung, als wir alle England anfeuern, noch einmal das Tor zu treffen. Sogar Charlie und ich werden von dem bewegten Spiel mitgerissen. Traurigerweise soll es jedoch nicht sein. Argentinien gewinnt 2:1, und England unterliegt ein weiteres Mal.

Duncan steht auf und stellt den TV-Experten niedergeschlagen den Saft ab, die jeden einzelnen Moment der vergangenen neunzig Minuten haarklein diskutieren – insbesondere Maradonas Handtor, das sie sich aus allen nur möglichen Perspektiven anschauen wollen.

»Na ja, das war’s dann«, seufzt Duncan und greift nach der riesengroßen Englandfahne, die während des Spiels über dem Kamin gehangen hat, um sie nun abzunehmen. »Sind wir mal wieder die Verlierer.«

Die anderen nicken traurig.

Was ist mit den Jungs bloß los, frage ich mich. Das war doch nur ein Spiel!

Obwohl es immer noch genug Alkohol gibt, um sich zu betrinken, kommt die Party nicht mehr richtig in Gang, da alle in Gruppen beisammenstehen und das Spiel analysieren, besonders natürlich die Entscheidung des Schiedsrichters zum Handtor.

»Fröhliche Runde, oder?«, kommentiert Charlie die Stimmung, als wir wieder in der Küche stehen – genau dort, wo wir zuvor schon gestanden haben – und die anderen beobachten.

»Ja. Man sollte meinen, jemand sei gestorben, und nicht, dass man ein Fußballspiel verloren hat!«

»Jede Wette, dass die Hälfte der Leute hier das überhaupt nicht interessiert«, erwidert Charlie wissend. »Die tun nur so trübsinnig, um dazuzugehören.«

Ich lächele ihn an.

»Was denn?«, fragt er und sieht mich an.

»Ziemlich ätzend«, stelle ich fest, »wenn Leute das machen, oder? Haben die keine eigene Meinung?«

Charlie lässt den Blick durch den Raum schweifen, als müsse er darüber nachdenken.

»Weißt du was? Ich glaube, die haben tatsächlich keine!«

Ich grinse; allmählich mag ich Charlie richtig gern. Er ist so anders als alle anderen, die ich je kennengelernt habe.

»Wie es aussieht, hast du wohl recht gehabt, Gracie.« Die sexy Stimme von Danny Lucas ertönt neben mir, weshalb ich auf dem Absatz herumwirbele.

»R-Recht? Womit?«, stottere ich und habe Mühe, zusammenhängende Sätze zu bilden.

»Damit, dass Lineker trifft und den Goldenen Schuh verliehen bekommt! Kluges Mädchen!«

»Oh, äh, ja. Das hatte ich gesagt, oder?«

»Na ja, technisch gesehen hat Danny den Goldenen Schuh ins Spiel gebracht«, höre ich Charlie hinter mir murmeln. »Du dachtest eher, er hat ihn am Fuß.«

Ich ziehe es vor, Charlie zu ignorieren. Es gibt gerade wichtigere Sachen, über die ich nachdenken muss, wie zum Beispiel Danny Lucas’ verdammt gut aussehendes Gesicht direkt vor mir. Diese blauen Augen, die auf mich gerichtet sind, diese perfekten Lippen, die gerade irgendwelche Worte formen …

Oh, was sagt er? Irgendwas von einem Ausflug?

»Ich fahre mit«, höre ich Charlie neben mir, »aber Gracie nicht.«

»Das … das habe ich nie gesagt.« Ich lächele Danny an. »Ich habe nur gesagt, dass ich darüber nachdenke mitzufahren.«

»Meld dich an«, beharrt Danny. »Die Ausflüge vom Jugendclub sind immer super.«

»Na, dann werde ich mich auf jeden Fall anmelden.«

Und genau in diesem Augenblick hat sich der ganze Abend gelohnt, als Danny mir sein perfektestes Lächeln schenkt.

»Großartig, Gracie. Wir sehen uns nächsten Samstag!«

»Ja, auf jeden Fall«, flöte ich und schaue wie hypnotisiert zu, als er wieder zu seiner Clique zurückkehrt.

Und ausnahmsweise macht es mir nichts aus, mich dort am Rande aufzuhalten, als ich mich wieder zu Charlie umdrehe.

Charlie sieht mich an und schüttelt den Kopf. »Großartige Gracie … ich weiß nicht …« Er grinst mich breit an. »Eher naive Gracie, wenn du mich fragst.«

Aber ich frage ihn nicht. Danny Lucas hat mich endlich wahrgenommen. Er hat mich Gracie genannt, wie es mir die Schreibmaschine für einen ganz besonderen Menschen prophezeit hat.

Danny Lucas wird in meinem Leben eine wichtige Rolle spielen, da bin ich mir ganz sicher.

4.

Als ich am nächsten Morgen aufwache, erwartet mich ein weiterer Brief in der Schreibmaschine.

Zuerst fällt er mir gar nicht auf, doch als meine Augen sich allmählich an das Licht gewöhnen, das an jenem strahlend schönen Sommermorgen durch meine dünnen Vorhänge fällt, bemerke ich, dass das weiße Blatt Papier, das ich in die Walze hineingeschraubt habe, bevor ich letzte Nacht zu Bett gegangen bin – in der Hoffnung, dass wieder etwas geschehen wird –, mit der altmodischen schwarzen Schrift bedeckt ist.

Ich springe aus dem Bett und eile zur Kommode. Vorsichtig ziehe ich das Blatt aus der Walze heraus und lese:

Liebe Grace,

herzlichen Glückwunsch, du hast ihn getroffen, deinen persönlichen Mr Right! Ich will nicht besserwisserisch klingen, aber ich habe dir ja gesagt, dass es so kommen wird! Er hat dich Gracie genannt, und es hat dir gefallen.

Ich freue mich sehr, dass du dich für den Ausflug am kommenden Wochenende entschieden hast, da dieser Tag in vielerlei Hinsicht so wichtig für deine Zukunft sein wird. Ich wünschte, ich könnte dir sagen, warum, aber wie du weißt, ist das leider nicht möglich.

Doch vertrau mir einfach, dass alles, was passiert, nur zu deinem Besten geschieht!

Alles Liebe,

ich