Das lügenhafte Leben der Erwachsenen - Elena Ferrante - E-Book
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Das lügenhafte Leben der Erwachsenen E-Book

Elena Ferrante

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Beschreibung

Giovannas hübsches Gesicht verändert sich. Es wird hässlich. Zumindest meint das Giovannas Vater. Er sagt, sie werde ihrer Tante immer ähnlicher, seiner verhassten Schwester Vittoria, die er immer von Giovanna fernhalten wollte. Giovanna ist am Boden zerstört – aber fühlt sich von dieser Tante plötzlich magisch angezogen. Und sie macht sich auf eine Suche, die ihrer aller Leben erschüttern wird.

Elena Ferrante hat ein Bravourstück geschaffen und einen traurigen und schönen Roman geschrieben: über die Heucheleien der Eltern, die Atemlosigkeiten und Verwirrungen der Jugendzeit und über das Drama des Erwachsenwerdens. Darüber, wie es ist, ein Mädchen zu sein und eine Frau zu werden.

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Elena Ferrante

Das lügenhafte Leben der Erwachsenen

Roman

Aus dem Italienischen von Karin Krieger

Suhrkamp

I

1

Zwei Jahre bevor mein Vater von zu Hause wegging, sagte er zu meiner Mutter, ich sei sehr hässlich. Der Satz wurde leise gesprochen, in der Wohnung, die sich meine Eltern, frisch verheiratet, im Rione Alto, oben in San Giacomo dei Capri, gekauft hatten. Alles – Neapels Orte, das blaue Licht des eisigen Februars, jene Worte – ist geblieben. Ich dagegen bin weggeglitten und gleite auch jetzt noch weg, in diese Zeilen hinein, die mir eine Geschichte geben wollen, während sie eigentlich nichts sind, nichts von mir, nichts, was wirklich begonnen oder wirklich einen Abschluss gefunden hätte: nichts als ein Knäuel, von dem niemand weiß, nicht einmal, wer dies hier gerade schreibt, ob es den passenden Faden einer Erzählung enthält oder nur ein verworrener Schmerz ohne Erlösung ist.

2

Ich habe meinen Vater sehr geliebt, er war immer ein freundlicher Mann. Seine feine Art passte gut zu seinem Körper, der so schlank war, dass seine Kleidung stets eine Nummer zu groß wirkte, das verlieh ihm in meinen Augen eine unnachahmliche Eleganz. Er hatte feine Gesichtszüge und nichts – weder die forschenden Augen mit den langen Wimpern noch die tadellos geformte Nase oder die vollen Lippen – beeinträchtigte ihre Harmonie. Er sprach immer fröhlich mit mir, egal wie seine oder meine Laune auch sein mochten, und er zog sich nie in sein Arbeitszimmer zurück – er arbeitete unentwegt –, ohne mir nicht wenigstens ein Lächeln entlockt zu haben. Besonders meine Haare gefielen ihm, aber ich könnte heute nicht mehr sagen, wann er angefangen hatte sie zu bewundern, vielleicht schon, als ich zwei oder drei war. Wir führten in meiner Kindheit gewiss Gespräche wie:

»Was für schöne Haare du hast, so fein und glänzend, kann ich die haben?«

»Nein, das sind meine.«

»Ach, sei doch nicht so.«

»Wenn du willst, kann ich sie dir borgen.«

»Großartig, und dann geb ich sie dir nicht zurück.«

»Du hast doch selber welche.«

»Die sind alle von dir.«

»Gar nicht, du lügst.«

»Sieh doch nach: Die waren einfach zu schön, da habe ich sie dir geklaut.«

Ich sah nach, doch nur zum Spaß, ich wusste ja, dass er sie mir niemals klauen würde. Und ich lachte, lachte viel, mit ihm hatte ich mehr Spaß als mit meiner Mutter. Er wollte immer etwas von mir haben, mal ein Ohr, mal die Nase, mal das Kinn, er sagte, sie seien so perfekt, dass er ohne sie nicht leben könne. Ich liebte diesen Ton, in einem fort bewies er mir, wie unentbehrlich ich für ihn war.

Natürlich war mein Vater nicht zu allen so. Manchmal, wenn ihn etwas sehr aufregte, neigte er zu geschliffenen Reden verbunden mit Gefühlsausbrüchen. Bei anderen Gelegenheiten war er kurzangebunden und beschränkte sich auf knappe, äußerst treffsichere Sätze, die so scharf waren, dass niemand mehr widersprach. Diese zwei Väter unterschieden sich erheblich von dem Vater, den ich liebte, ich hatte ihre Existenz mit sieben oder acht Jahren entdeckt, als ich ihn mit Freunden und Bekannten diskutieren hörte, die manchmal zu sehr hitzigen Versammlungen zu uns nach Hause kamen und über Probleme sprachen, von denen ich nichts verstand. Für gewöhnlich blieb ich bei meiner Mutter in der Küche und achtete nicht darauf, wie ein paar Meter weiter gestritten wurde. Aber manchmal, wenn meine Mutter zu tun hatte und sich ebenfalls in ihr Zimmer zurückzog, blieb ich allein im Flur, ich spielte oder las, meistens las ich wohl, denn auch mein Vater las sehr viel, genauso wie meine Mutter, und ich wollte gern so sein wie die beiden. Ich achtete nicht auf die Diskussionen und unterbrach mein Spiel oder die Lektüre nur, wenn es plötzlich still wurde und die fremden Stimmen meines Vaters erklangen. Von dem Augenblick an hatte er das Sagen, und ich wartete auf das Ende der Versammlung, um zu sehen, ob er wieder der Alte wurde, der mit den freundlichen, herzlichen Umgangsformen.

An dem Abend, als er jenen Satz sagte, hatte er gerade erfahren, dass es mit mir in der Schule nicht so gut lief. Das war neu. Seit der ersten Klasse war ich immer sehr gut gewesen, und erst in den letzten zwei Monaten hatte ich angefangen nachzulassen. Meinen Eltern lag viel an meinen schulischen Erfolgen, und vor allem meine Mutter machte sich bei den ersten schlechten Zensuren Sorgen.

»Was ist denn los?«

»Keine Ahnung.«

»Du musst lernen.«

»Ich lerne doch.«

»Und?«

»Manche Sachen merke ich mir und andere eben nicht.«

»Du musst so lange lernen, bis du dir alles merkst.«

Ich lernte, bis ich nicht mehr konnte, aber meine Leistungen blieben enttäuschend. Gerade an jenem Nachmittag war meine Mutter in der Schule gewesen und sehr ärgerlich zurückgekommen. Sie hatte mir keine Vorwürfe gemacht, meine Eltern machten mir nie Vorwürfe. Sie hatte nur gesagt: Am unzufriedensten ist deine Mathematiklehrerin, aber sie hat gesagt, mit etwas gutem Willen kannst du es schaffen. Dann war sie in die Küche gegangen, um das Abendbrot zu machen, und mein Vater war nach Hause gekommen. Von meinem Zimmer aus hörte ich nur, dass sie ihm kurz von den Klagen der Lehrer berichtete und zu meiner Rechtfertigung meine beginnende Pubertät ins Feld führte. Doch er unterbrach sie, und in einem Ton, den er mir gegenüber nie verwendete – noch dazu im Dialekt, der bei uns zu Hause tabu war –, entfuhr ihm das, was er garantiert nicht hatte laut sagen wollen:

»Mit Pubertät hat das nichts zu tun. Sie kommt nun ganz nach Vittoria.« Hätte er gewusst, dass ich ihn hörte, hätte er sicherlich nicht in dieser Art gesprochen, die ganz anders war als unsere gewohnte, fröhliche Unbeschwertheit. Die beiden glaubten, die Tür zu meinem Zimmer wäre geschlossen, ich schloss sie immer, ihnen war nicht klar, dass einer von ihnen sie offen gelassen hatte. So erfuhr ich mit zwölf Jahren aus dem Munde meines Vaters, der sich bemühte, leise zu sprechen, dass ich nun wie seine Schwester wurde, eine Frau, die – das hatte ich von ihm gehört, seit ich denken konnte – die Hässlichkeit und die Boshaftigkeit in Person war. An dieser Stelle könnte man mir entgegnen: Vielleicht übertreibst du da ein bisschen, dein Vater hat nie wörtlich gesagt: Giovanna ist hässlich. Stimmt, es war nicht seine Art, sich so brutal auszudrücken. Aber ich war in einer sehr instabilen Phase. Seit fast einem Jahr bekam ich meine Tage, meine Brüste waren viel zu auffällig, und ich schämte mich dafür; ich hatte Angst, schlecht zu riechen, wusch mich in einem fort, ging abends lustlos schlafen und stand morgens lustlos auf. Mein einziger Trost in dieser Zeit, meine einzige Gewissheit, war, dass mein Vater absolut alles an mir liebte. Daher war es, als er mich mit Tante Vittoria verglich, schlimmer, als wenn er gesagt hätte: Giovanna war mal schön, aber jetzt ist sie hässlich. Der Name Vittoria klang bei uns zu Hause wie der eines Monsters, das jeden besudelt und infiziert, der mit ihm in Berührung kommt. Ich wusste so gut wie nichts über sie, hatte sie nur selten gesehen, aber von diesen Gelegenheiten sind mir nur Ekel und Angst im Gedächtnis geblieben. Nicht Ekel und Angst, die sie persönlich in mir geweckt hätte, daran erinnere ich mich überhaupt nicht. Was mich erschreckte, waren der Ekel und die Angst, die sie in meinen Eltern auslöste. Mein Vater sprach schon immer in düsteren Tönen über seine Schwester, als praktizierte sie schändliche Riten, die sie und alle, die mit ihr zu tun hatten, beschmutzten. Meine Mutter dagegen erwähnte sie nie, sie versuchte sogar, die Ausbrüche meines Vaters abzuwürgen, als fürchtete sie, Tante Vittoria könne sie hören, egal wo sie war, und schnurstracks hinauf nach San Giacomo dei Capri kommen, obwohl es ein langer, steiler Weg war, und sie könnte absichtlich sämtliche Krankheiten aus den umliegenden Krankenhäusern mitschleppen, könnte bis zu uns hoch in den sechsten Stock stürzen, mit irren, schwarzblitzenden Augen die Wohnungseinrichtung zertrümmern und sie, meine Mutter, beim leisesten Protest ohrfeigen. Natürlich ahnte ich, dass hinter dieser Spannung eine Geschichte zugefügter und erlittener Kränkungen steckte, aber ich wusste damals wenig über unsere Familiengeschichten und sah in dieser schrecklichen Tante vor allem kein Familienmitglied. Sie war ein Schreckgespenst aus Kindertagen, eine dürre, besessene Gestalt, eine verlotterte Erscheinung, die in den Winkeln der Häuser lauert, wenn sich die Dunkelheit herabsenkt. Konnte es also sein, dass ich so unvermittelt entdecken musste, dass ich nach ihr kam? Ich? Ich, die ich mich bis zu jenem Augenblick für schön gehalten hatte und dank meines Vaters glaubte, es für immer zu bleiben? Ich, die durch seine ständige Anerkennung angenommen hatte, wunderbares Haar zu haben, ich, die so heißgeliebt sein wollte, wie er mich liebte und wie ich mich daran gewöhnt hatte, mich zu sehen, ich, die schon litt, wenn ich merkte, dass meine Eltern plötzlich unzufrieden mit mir waren, und der diese Unzufriedenheit zusetzte und alles verdarb? Ich wartete auf die Antwort meiner Mutter, aber ihre Reaktion war mir kein Trost. Obwohl sie die gesamte Verwandtschaft ihres Mannes hasste und ihre Schwägerin so widerlich fand, wie man eine Eidechse widerlich findet, die einem über das nackte Bein läuft, schrie sie ihn nicht an: Bist du verrückt geworden, meine Tochter und deine Schwester haben überhaupt nichts gemeinsam. Sie begnügte sich mit einem müden, äußerst knappen: Unsinn, nicht doch. Und ich, dort in meinem Zimmer, schloss schnell die Tür, um nicht noch mehr zu hören. Ich weinte lautlos vor mich hin und hörte erst auf, als mein Vater kam und verkündete – diesmal mit seiner guten Stimme –, dass das Abendessen fertig sei.

Ich setzte mich, nun wieder gefasst, zu ihnen in die Küche und musste mit dem Blick auf dem Teller eine Reihe von nützlichen Ratschlägen zur Verbesserung meiner schulischen Leistungen über mich ergehen lassen. Danach kehrte ich zurück in mein Zimmer und tat so, als würde ich lernen, während sie es sich vor dem Fernseher gemütlich machten. Ich spürte einen nicht enden wollenden Schmerz. Warum hatte mein Vater diesen Satz gesagt, und warum hatte meine Mutter ihm nicht vehement widersprochen? Lag es an beider Unzufriedenheit mit meinen schlechten Noten oder an einer Besorgnis, die mit der Schule nichts zu tun hatte und schon wer weiß wie lange währte? Und hatte er, besonders er, diese schlimmen Worte aus einem vorübergehenden Ärger über mich gesagt, oder hatte er es mit dem Scharfblick eines Menschen getan, der alles weiß und alles sieht, hatte er seit langem die Züge meiner ruinierten Zukunft erkannt, eines voranschreitenden Unheils, das ihn entmutigte und mit dem er nichts anfangen konnte? Ich war die ganze Nacht lang verzweifelt. Am Morgen kam ich zu der Einsicht, dass ich, wenn ich heil aus der Sache herauskommen wollte, losgehen und nachsehen musste, wie Tante Vittorias Gesicht tatsächlich war.

3

Es war ein schwieriges Unterfangen. In einer Stadt wie Neapel, bevölkert mit weit verzweigten Familien, die ihre Beziehungen trotz auch blutiger Konflikte doch nie endgültig abbrachen, lebte mein Vater in vollkommener Autonomie, ganz als hätte er gar keine Blutsverwandten, ganz als hätte er sich selbst gezeugt. Natürlich hatte ich oft mit den Eltern und dem Bruder meiner Mutter zu tun gehabt. Sie waren allesamt liebevolle Menschen, die mir viele Geschenke gemacht hatten, und unser Verhältnis zu ihnen war sehr eng und voller Freude gewesen, bis meine Großeltern starben – zuerst mein Großvater, dann, ein Jahr später, meine Großmutter: plötzliche Verluste, die mich erschüttert hatten, meine Mutter hatte geweint, wie wir Mädchen weinten, wenn wir uns wehgetan hatten –, und bis mein Onkel weggegangen war, um in weiter Ferne zu arbeiten. Über die Eltern meines Vaters wusste ich dagegen so gut wie nichts. Sie waren nur bei seltenen Anlässen – einer Hochzeit, einer Beerdigung – in meinem Leben aufgetaucht und jedes Mal in einem Klima so unechter Herzlichkeit, dass ich nichts daraus mitnahm als das Unbehagen, das solche Pflichtbesuche verursachen: Sag deinem Großvater guten Tag, gib der Tante einen Kuss. Für diese Verwandtschaft hatte ich mich also nie groß interessiert, auch deshalb nicht, weil meine Eltern nach diesen Treffen gereizt waren und sie einmütig wieder vergaßen, als wären sie in ein billiges Schauspiel geraten.

Die Verwandten meiner Mutter lebten überdies an einem konkreten Ort mit einem faszinierenden Namen, dem Museum – sie waren die Großeltern vom Museum –, während der Ort, an dem die Eltern meines Vaters wohnten, unbenannt blieb, namenlos. Ich wusste nur eines: Um sie zu besuchen, musste man nach unten, tief und tiefer bis zum tiefsten Grund von Neapel, und die Fahrt war so lang, dass ich jedes Mal den Eindruck hatte, wir und die Verwandtschaft meines Vaters lebten in zwei verschiedenen Städten. Was ich lange Zeit auch wirklich glaubte. Wir wohnten in der höchsten Gegend von Neapel, und egal, wohin wir wollten, immer mussten wir zwangsläufig nach unten. Mein Vater und meine Mutter gingen gern nur bis zum Vomero hinunter oder, und das schon mit einigem Unbehagen, bis zum Haus der Großeltern vom Museum. Freunde hatten sie vor allem in der Via Suarez, an der Piazza degli Artisti, in der Via Luca Giordano, in der Via Scarlatti und in der Via Cimarosa, Straßen, die ich gut kannte, weil auch viele meiner Schulkameraden dort wohnten. Außerdem führten sie alle zur Floridiana, einem Park, den ich liebte und in dem meine Mutter mich schon als Baby ausgefahren hatte, damit ich an die frische Luft und in die Sonne kam, und wo ich mit meinen zwei Freundinnen seit frühen Kindheitstagen, Angela und Ida, fröhliche Stunden verbracht hatte. Erst hinter diesen Ortsnamen, die alle die glückliche Färbung von Grünpflanzen, Meeresblicken, Gärten, Blumen, Spielen und gutem Benehmen hatten, begann der eigentliche Abstieg, der, den meine Eltern unangenehm fanden. Zur Arbeit, zum Einkaufen und zu den Projekten, Begegnungen und Diskussionen, die besonders meinem Vater wichtig waren, fuhren sie jeden Tag hinunter, meistens mit der Funicolare, bis nach Chiaia, bis nach Toledo, und von dort stießen sie weiter vor bis zur Piazza Plebiscito, bis zur Nationalbibliothek, bis nach Port'Alba und bis zur Via Ventaglieri und zur Via Foria und höchstens noch bis zur Piazza Carlo III., wo die Schule lag, an der meine Mutter unterrichtete. Auch diese Namen kannte ich gut – meine Eltern erwähnten sie ständig –, aber es kam nicht oft vor, dass sie mich mitnahmen, und vielleicht deshalb lösten sie nicht so ein Glücksgefühl bei mir aus. Außerhalb des Vomero gehörte mir die Stadt fast gar nicht, je mehr wir in die Ebene kamen, umso unbekannter wurde sie für mich. Da war es nur natürlich, dass die Orte, an denen die Verwandten meines Vaters wohnten, in meinen Augen die Merkmale noch wilder, unerforschter Welten hatten. Für mich besaßen sie nicht nur keine Namen, sondern ich hielt sie durch die Art, wie meine Eltern sie erwähnten, auch für schwer erreichbar. Immer, wenn wir dorthin mussten, wirkten meine Eltern, die normalerweise energisch und aufgeschlossen waren, besonders gestresst, besonders unruhig. Ich war damals noch klein, aber ihre Angespanntheit, ihre – immer gleiche – Verwandlung haben sich mir eingeprägt.

»André«, sagte meine Mutter mit ihrer müden Stimme. »Zieh dich um, wir müssen los.«

Doch er las und strich weiter in seinen Büchern herum, mit demselben Stift, mit dem er auch in ein Heft schrieb, das neben ihm lag.

»André, wir kommen zu spät, sie werden sich aufregen.«

»Bist du denn schon fertig?«

»Ich bin fertig.«

»Und die Kleine?«

»Die Kleine auch.«

Da ließ mein Vater Bücher und Hefte aufgeschlagen auf dem Schreibtisch liegen, zog ein frisches Hemd an und den guten Anzug. Aber er war schweigsam, angespannt, als ginge er im Kopf noch einmal die Sätze einer unvermeidlichen Rolle durch. Meine Mutter, die alles andere als fertig war, prüfte inzwischen unentwegt ihr Aussehen, meines und das meines Vaters, als wäre nur eine passende Garderobe die Gewähr dafür, dass wir alle drei heil nach Hause zurückkehren konnten. Kurz, es war offensichtlich, dass sie bei jeder dieser Gelegenheiten glaubten, sich vor Orten und Menschen schützen zu müssen, über die sie mir nichts erzählten, um mich nicht zu belasten. Trotzdem spürte ich ihre unnormale Ängstlichkeit, erkannte sie auch wieder, sie war schon immer da gewesen, war vielleicht die einzige beklemmende Erinnerung in einer glücklichen Kindheit. Was mich beunruhigte, waren Sätze wie der folgende, übrigens in einem Italienisch gesprochen, das – nun ja – irgendwie brüchig klang:

»Und bitte, wenn Vittoria was sagt, tu so, als hättest du es nicht gehört.«

»Also wenn sie sich wie eine Verrückte aufführt, soll ich den Mund halten?«

»Ja, denk an Giovanna.«

»Okay.«

»Sag nicht okay, wenn du es gar nicht so meinst. Das ist doch nicht zu viel verlangt. Wir bleiben eine halbe Stunde, dann fahren wir wieder.«

Ich weiß fast nichts mehr von diesen Besuchen. Stimmengewirr, Hitze, flüchtige Küsse auf die Stirn, Stimmen im Dialekt, ein schlechter Geruch, den alle wahrscheinlich aus Angst verströmten. Diese Atmosphäre hatte mich im Laufe der Jahre zu der Überzeugung gebracht, dass die Verwandten meines Vaters – grölende Gestalten von abstoßender Schlampigkeit, vor allem die Gestalt Tante Vittorias, der schwärzesten und schlampigsten – eine Gefahr waren, auch wenn schwer zu erkennen war, worin diese Gefahr bestand. War die Gegend, in der sie wohnten, unsicher? Waren die Großeltern, Onkel, Tanten, Cousins und Cousinen gefährlich oder nur Tante Vittoria? Die Einzigen, die Bescheid wussten, schienen meine Eltern zu sein, und nun, da ich unbedingt wissen wollte, wie meine Tante war, was für eine Sorte Mensch sie war, hätte ich mich an die beiden wenden müssen, um der Sache auf den Grund zu gehen. Aber selbst wenn ich sie zur Rede gestellt hätte, was hätte ich erfahren? Entweder hätten sie mich mit einer gutmütigen Ablehnung abgespeist – du willst deine Tante sehen, willst sie besuchen, wozu denn? – oder sie hätten alarmiert aufgehorcht und sich bemüht, sie nie wieder zu erwähnen. Daher überlegte ich mir, dass ich für den Anfang ein Foto von ihr suchen musste.

4

Ich nutzte die Gelegenheit, als meine Eltern eines Nachmittags nicht da waren, und stöberte in ihrem Schlafzimmerschrank, in dem meine Mutter die Fotoalben mit den wohlsortierten Bildern von sich, von meinem Vater und von mir aufbewahrte. Ich kannte diese Alben auswendig, ich hatte sie oft durchgeblättert. Sie dokumentierten vor allem die Beziehung meiner Eltern und meine fast dreizehn Lebensjahre. Und ich wusste bereits, dass die Verwandten meiner Mutter darin rätselhafterweise zuhauf vorkamen, die meines Vaters nur äußerst selten abgebildet waren und auf diesen wenigen Fotos Tante Vittoria überhaupt nicht zu sehen war. Aber ich erinnerte mich, dass irgendwo im Schrank noch eine alte Blechschachtel stand, in der bunt durcheinander Fotos von meinen Eltern aus der Zeit lagen, als sie sich noch nicht gekannt hatten. Da ich sie mir bisher kaum angesehen hatte und wenn, dann immer gemeinsam mit meiner Mutter, hoffte ich, dazwischen auch Bilder von meiner Tante zu finden.

Ich entdeckte die Schachtel hinten im Schrank, wollte aber zunächst noch einmal die Alben gründlich durchgehen, die die beiden als Verlobte zeigten, dann als mürrisches Brautpaar im Mittelpunkt einer Hochzeitsfeier mit wenigen Gästen, dann als immerglückliches Paar und schließlich mich, ihre Tochter, unverhältnismäßig oft fotografiert von der Geburt an bis heute. Besonders die Hochzeitsfotos schaute ich mir lange an. Mein Vater trug einen dunklen, deutlich zerknitterten Anzug und zog auf jeder Aufnahme ein finsteres Gesicht. Meine Mutter stand neben ihm, nicht im Brautkleid, sondern in einem cremefarbenen Kostüm, mit einem Schleier in derselben Farbe und einer vage ergriffenen Miene. Unter den gut dreißig Gästen waren, wie ich schon wusste, einige ihrer Freunde vom Vomero, mit denen sie noch immer Kontakt hatten, und die Verwandtschaft mütterlicherseits, die guten Großeltern vom Museum. Trotzdem sah ich wieder und wieder alles in der Hoffnung durch, auf eine Gestalt, und wenn auch nur im Hintergrund, zu stoßen, die mich vielleicht zu der Frau führte, an die ich keinerlei Erinnerung hatte. Nichts. Also widmete ich mich der Blechschachtel, die ich nach vielen Versuchen öffnen konnte.

Ich kippte ihren Inhalt aufs Bett, die Fotos waren alle schwarz-weiß. Die aus ihrer Jugendzeit waren sämtlich unsortiert: Die Bilder meiner fröhlichen Mutter, mit Schulkameraden, mit gleichaltrigen Freundinnen, am Meer, auf der Straße, hübsch und gut gekleidet, waren vermischt mit denen meines nachdenklichen Vaters, der immer allein war, nie im Urlaub, mit an den Knien ausgebeulten Hosen und mit Jacken, deren Ärmel zu kurz waren. Doch die Fotos aus ihrer Kindheit und ihrer frühen Jugend steckten ordentlich in zwei Umschlägen, einem für die Bilder aus der Familie meiner Mutter und einem für die aus der Familie meines Vaters. Unter diesen – sagte ich mir – musste ja zwangsläufig auch meine Tante sein, und ich schaute mir eines nach dem anderen an. Es waren nicht mehr als etwa zwanzig, und mich verstörte sofort, dass mein Vater, der auf den anderen Fotos als kleiner oder halbwüchsiger Junge zusammen mit seinen Eltern, mit Verwandten, die ich nie kennengelernt hatte, zu sehen war, sich auf drei, vier dieser Bilder überraschenderweise neben einem aufgemalten schwarzen Rechteck befand. Es fiel mir nicht schwer zu erkennen, dass dieses – peinlich genaue – Rechteck von ihm stammte, ein ebenso erbittertes wie heimliches Werk. Ich stellte ihn mir vor, wie er mit dem Lineal, das immer auf seinem Schreibtisch lag, ein Stückchen Foto in diese geometrische Figur einsperrte und dann sorgfältig mit dem Stift darüberfuhr, wobei er darauf achtete, nicht über den vorgegebenen Rand zu malen. Was für eine Geduldsarbeit, ich hatte keinen Zweifel: Diese Rechtecke sollten etwas auslöschen, und unter diesem Schwarz war Tante Vittoria.

Eine Weile war ich unschlüssig, was ich tun sollte. Dann fasste ich einen Entschluss, holte mir ein Messer aus der Küche und schabte behutsam ein winziges Stück von der Stelle ab, die mein Vater auf dem Foto übermalt hatte. Schnell sah ich, dass nur weißes Papier zum Vorschein kam. Ich wurde unruhig, hörte auf. Mir war klar, dass ich gegen den Willen meines Vaters handelte, und mich schreckten Aktionen ab, die seine Zuneigung zu mir beeinträchtigen konnten. Meine Unruhe wuchs, als ich ganz hinten im Umschlag das einzige Foto fand, auf dem er weder ein Kind noch ein Halbwüchsiger war, sondern ein junger Mann, der, wie ungewöhnlich für die Bilder aus der Zeit, als er meine Mutter noch nicht kannte, lächelte. Er war im Profil zu sehen, hatte einen fröhlichen Blick, regelmäßige, schneeweiße Zähne. Aber sein Lächeln, seine Fröhlichkeit gingen ins Leere. Neben sich hatte er gleich zwei dieser – peinlich genauen – Rechtecke, zwei Särge, in die er in einem Augenblick, der garantiert nichts von der Herzlichkeit auf diesem Foto gehabt hatte, die Gestalt seiner Schwester und die von wem auch immer gesperrt hatte.

Dieses Foto betrachtete ich lange. Mein Vater stand auf der Straße, er trug ein kurzärmliges, kariertes Hemd, es muss Sommer gewesen sein. Hinter ihm der Eingang eines Geschäfts, vom Ladenschild war nur –REI zu lesen, es gab auch ein Schaufenster, doch es war nicht zu erkennen, was darin ausgestellt war. Neben dem dunklen Fleck stand ein scharf umrissener, schneeweißer Pfosten. Und dann waren da noch die Schatten, lange Schatten, von denen einer offensichtlich der einer Frau war. Mein Vater hatte zwar verbissen die neben ihm stehenden Menschen ausgelöscht, ihre Spur auf dem Gehweg jedoch stehenlassen.

Wieder bemühte ich mich, das Schwarz des Rechtecks vorsichtig abzuschaben, hörte aber auf, als ich feststellte, dass auch diesmal nur Weiß zum Vorschein kam. Ich wartete ein, zwei Minuten, dann begann ich von neuem. Ich arbeitete mit leichter Hand, hörte meinen Atem in der Stille der Wohnung. Ich gab erst endgültig auf, als alles, was ich an der Stelle hervorkratzen konnte, wo einmal Vittorias Kopf gewesen sein musste, ein winziger Fleck war, von dem sich nicht sagen ließ, ob er ein Rest der Übermalung war oder ein wenig von ihren Lippen.

5

Ich räumte alles an seinen Platz zurück und behielt die drohende Ähnlichkeit mit der von meinem Vater ausgelöschten Schwester im Hinterkopf. Ich wurde immer unkonzentrierter, und, was mich erschreckte, meine Abneigung gegen die Schule wuchs. Dabei wünschte ich mir, wieder so gut zu werden, wie ich es bis vor wenigen Monaten gewesen war, meinen Eltern lag viel daran, und ich glaubte sogar, dass ich wieder schön und charakterstark werden könnte, wenn es mir gelang, erneut sehr gute Noten zu bekommen. Aber es gelang mir nicht, im Unterricht war ich nicht bei der Sache, und zu Hause verschwendete ich meine Zeit vor dem Spiegel. Mich im Spiegel zu betrachten, wurde sogar zu einer Manie. Ich wollte erkennen, ob meine Tante wirklich in meinem Körper aufschien, da ich aber nicht wusste, wie sie aussah, suchte ich sie in jedem meiner Körperteile, der eine Veränderung anzeigte. So wurden nun Merkmale wichtig, auf die ich bis vor Kurzem nicht geachtet hatte: die sehr dichten Brauen, die zu kleinen Augen mit ihrem lichtlosen Braun, die übermäßig hohe Stirn, die dünnen – und keineswegs schönen oder vielleicht nun nicht mehr schönen – Haare, die am Kopf klebten, die großen Ohren mit den schweren Ohrläppchen, die kurze Oberlippe mit dem widerlichen dunklen Flaum, die dicke Unterlippe, die Zähne, die noch wie Milchzähne aussahen, das spitze Kinn und die Nase, ach ja, die Nase, die sich plump zum Spiegel vorschob und lang und länger wurde, und wie dunkel waren die Löcher zwischen der Nasenscheidewand und den Nasenflügeln. Waren das schon Züge von Tante Vittorias Gesicht oder meine und nur meine? Musste ich damit rechnen, besser zu werden oder schlechter? Mein Körper; der lange Hals, scheinbar so hauchdünn wie ein Spinnfaden; die geraden, knochigen Schultern; der immer mehr anschwellende Busen mit den schwarzen Brustwarzen; die dürren Beine, die zu sehr in die Höhe schossen und mir fast bis zu den Achseln reichten; war das alles ich, oder waren das die Vorboten meiner Tante, war sie das in ihrer ganzen Schrecklichkeit?

Ich studierte mich, während ich gleichzeitig meine Eltern beobachtete. Was hatte ich für ein Glück, ich hätte keine besseren haben können. Sie sahen toll aus, und sie liebten sich seit ihrer Jugend. Das Wenige, was ich von ihrer Geschichte wusste, hatten sie mir erzählt, mein Vater mit der üblichen amüsierten Distanz, meine Mutter mit liebenswürdiger Rührung. Sie waren schon immer sehr aufeinander bezogen, so dass ihr Kinderwunsch, angesichts der Tatsache, dass sie blutjung geheiratet hatten, relativ spät kam. Ich wurde geboren, als meine Mutter dreißig war und mein Vater gut zweiunddreißig. Ich war unter tausend Ängsten gezeugt worden, die von ihr laut und von ihm leise geäußert wurden. Die Schwangerschaft war nicht leicht gewesen, die Entbindung – am 3. Juni 1979 – eine endlose Qual, meine ersten zwei Jahre der praktische Beweis dafür, dass beider Leben von dem Moment an, da ich auf der Welt war, kompliziert geworden war. Mein Vater, Lehrer für Geschichte und Philosophie am namhaftesten Gymnasium Neapels und ein in der Stadt ziemlich bekannter Intellektueller, beliebt bei seinen Schülern, denen er nicht nur die Vormittagsstunden, sondern auch ganze Nachmittage widmete, hatte wegen der Sorgen um die Zukunft notgedrungen begonnen, Privatstunden zu geben. Meine Mutter, die an einem Gymnasium an der Piazza Carlo III. Latein und Griechisch unterrichtete und zudem Liebesromane Korrektur las, war dagegen wegen der Sorgen um die Gegenwart mit meinem ständigen nächtlichen Geschrei, meinen Hautrötungen, die sich entzündeten, meinen Bauchschmerzen und heftigen Trotzanfällen durch eine lange Depression gegangen, war eine schlechte Lehrerin und eine sehr unkonzentrierte Korrektorin geworden. So viel zu den Scherereien, die ich machte, kaum dass ich geboren war. Aber dann wurde ich ein ruhiges, gehorsames Kind, und sie erholten sich langsam. Vorbei war die Phase, in der sie ihre Zeit damit verbrachten, mich unnötigerweise vor all dem Schlechten bewahren zu wollen, dem jeder Mensch ausgesetzt ist. Sie hatten ein neues Gleichgewicht gefunden, durch das die Arbeit meines Vaters und die kleinen Jobs meiner Mutter, gleich hinter der Liebe zu mir, wieder auf Platz zwei gerückt waren. Also, was soll ich sagen? Sie liebten mich, und ich liebte sie. Mein Vater war für mich ein außergewöhnlicher Mann, meine Mutter eine sehr freundliche Frau, und beide waren die einzigen klaren Gestalten in einer ansonsten wirren Welt.

Und ich war Teil dieser Verworrenheit. Manchmal stellte ich mir vor, dass in mir ein heftiger Kampf zwischen meinem Vater und seiner Schwester tobte, und ich wünschte mir, er möge gewinnen. Gewiss – überlegte ich –, Vittoria hatte zum Zeitpunkt meiner Geburt schon einmal die Oberhand gewonnen, denn für eine Weile war ich ein unerträgliches Kind gewesen; aber dann – dachte ich erleichtert – bin ich brav geworden, also ist es möglich, sie zu vertreiben. Auf diese Weise versuchte ich, mich zu beruhigen, und um mich stark zu fühlen, bemühte ich mich, meine Eltern in mir zu erkennen. Doch besonders abends, wenn ich mich vor dem Schlafengehen wieder einmal im Spiegel betrachtete, schien es mir, als hätte ich sie längst verloren. Mein Gesicht hätte die beiden auf das Schönste vereinen müssen, stattdessen kam ich nun ganz nach Vittoria. Mein Leben hätte glücklich sein müssen, stattdessen begann nun eine unglückliche Phase ohne die Freude, mich so zu fühlen, wie sie sich gefühlt hatten und noch fühlten.

6

Ich wollte herausfinden, ob meine besten Freundinnen, die Schwestern Angela und Ida, eine Verschlechterung an mir bemerkt hatten und ob besonders Angela, die so alt war wie ich (Ida war zwei Jahre jünger), sich nun ebenfalls zu ihrem Nachteil entwickelte. Ich brauchte einen Blick von außen, der mich bewertete, und auf die beiden, schien mir, war Verlass. Wir waren von Eltern großgezogen worden, die seit Jahrzehnten miteinander befreundet waren und die gleichen Ansichten hatten. Anders ausgedrückt, wir waren alle drei nicht getauft, kannten alle drei keine Gebete, waren alle drei frühzeitig über die Funktionsweise unseres Körpers aufgeklärt worden (Bilderbücher, didaktische Zeichentrickfilme), wussten alle drei, dass wir stolz darauf sein sollten, als Mädchen geboren zu sein, waren alle drei nicht mit sechs, sondern mit fünf eingeschult worden, benahmen uns alle drei stets umsichtig, hatten alle drei einen ganzen Katalog nützlicher Ratschläge zur Vermeidung der Fallen im Kopf, die es in Neapel und in der Welt gab, konnten uns alle drei jederzeit an unsere Eltern wenden, wenn wir etwas wissen wollten, lasen alle drei sehr viel und hegten schließlich alle drei eine vernünftige Verachtung für den Konsum und den Geschmack unserer Altersgenossinnen, auch wenn wir, gerade von unseren Erziehungsberechtigten dazu ermutigt, bestens Bescheid wussten über Musik, Filme, Fernsehprogramme, Sänger und Schauspieler und insgeheim berühmte Filmstars werden wollten mit unwiderstehlichen Liebhabern, mit denen wir uns langen Küssen und der Berührung unserer Geschlechtsorgane hingeben konnten. Gewiss, die Freundschaft zwischen Angela und mir war enger, Ida war die Kleine, doch sie konnte uns überraschen, las sogar mehr als wir und schrieb Gedichte und Geschichten. Daher gab es zwischen mir und den beiden, soweit ich mich erinnere, keine Unstimmigkeiten, und falls doch mal welche auftraten, konnten wir sie offen ansprechen und uns wieder vertragen. Ich befragte sie also einige Male vorsichtig in ihrer Eigenschaft als zuverlässige Zeugen. Aber sie sagten nichts Unangenehmes, im Gegenteil, sie zeigten mir, dass sie mich sehr gernhatten, und ich fand sie meinerseits immer hübscher. Sie waren wohlproportioniert, so zart gebaut, dass ich mich schon bei ihrem bloßen Anblick nach ihrer Wärme sehnte, sie umarmte und küsste, wie um mit ihnen zu verschmelzen. Doch eines Abends, an dem ich ziemlich niedergedrückt war, kamen sie mit ihren Eltern zum Essen zu uns hoch nach San Giacomo dei Capri, und die Dinge wurden komplizierter. Ich hatte schlechte Laune. Fühlte mich besonders fehl am Platz, lang, dünn und blass, plump bei jedem Wort oder jeder Bewegung und daher für jede Anspielung auf meine Kosten besonders empfänglich, auch wenn es gar keine gab. So fragte mich Ida auf meine Schuhe zeigend:

»Sind die neu?«

»Nein, die habe ich schon ewig.«

»Die kenne ich ja gar nicht.«

»Was stimmt denn nicht damit?«

»Alles in Ordnung.«

»Wenn sie dir jetzt auffallen, heißt das doch, dass jetzt was nicht damit stimmt.«

»Ach Quatsch.«

»Sind etwa meine Beine zu dürr?«

So ging das eine Weile weiter, sie beschwichtigten mich, und ich hakte nach, um zu sehen, ob sie ihre Beschwichtigungen ernst meinten oder ob sie hinter ihren guten Manieren den hässlichen Eindruck verbargen, den ich gemacht hatte. Meine Mutter mischte sich mit ihrem müden Ton ein: Giovanna, das reicht jetzt, deine Beine sind nicht dürr. Ich schämte mich, verstummte augenblicklich, während Costanza, die Mutter von Angela und Ida, bekräftigte: du hast wunderhübsche Fesseln, und Mariano, ihr Vater, lachend rief: Köstliche Schenkel, mit Kartoffeln im Ofen gebacken wären sie ein Genuss. Aber dabei beließ er es nicht, er zog mich weiter auf und riss ständig Witze, er war die Sorte Mensch, die glaubt, selbst eine Trauergemeinde aufheitern zu müssen.

»Was hat denn das Mädchen heute Abend?«

Ich schüttelte den Kopf, um klarzumachen, dass ich nichts hatte, und versuchte, ihn anzulächeln, schaffte es aber nicht, seine Art, witzig zu sein, ging mir auf die Nerven.

»Was für schöne Haare, was ist das, ein Besen aus Mohrenhirse?«

Wieder schüttelte ich den Kopf, und diesmal konnte ich meinen Ärger nicht verhehlen, er behandelte mich wie eine Sechsjährige.

»Das war ein Kompliment, meine Liebe: Mohrenhirse ist eine pummelige Pflanze, ein bisschen grün, ein bisschen rot, ein bisschen schwarz.«

Düster platzte ich heraus:

»Ich bin nicht pummelig und grün oder rot oder schwarz auch nicht.«

Er sah mich verblüfft an, lächelte und wandte sich an seine Töchter.

»Wie kommt es, dass Giovanna heute so mürrisch ist?«

Ich sagte noch düsterer:

»Ich bin nicht mürrisch.«

»Mürrisch ist kein Schimpfwort, es ist der Ausdruck eines Gemütszustandes. Weißt du, was er bedeutet?«

Ich schwieg. Wieder wandte er sich an die Mädchen und tat niedergeschlagen:

»Sie weiß es nicht. Ida sag du es ihr.«

Ida sagte widerwillig:

»Wenn du einen Schmollmund ziehst. Zu mir sagt er das auch.«

So einer war Mariano. Er und mein Vater kannten sich seit dem Studium, und da sie sich nie aus den Augen verloren hatten, gab es ihn schon immer in meinem Leben. Er war ein bisschen schwergewichtig, vollkommen kahl und hatte blaue Augen, und sein blasses, etwas aufgedunsenes Gesicht hatte mich schon als kleines Mädchen beeindruckt. Wenn er bei uns zu Hause auftauchte, und das kam häufig vor, dann um stundenlang mit seinem Freund zu sprechen, wobei er in jeden Satz eine harsche Unzufriedenheit legte, die mich nervte. Er lehrte Geschichte an der Universität und schrieb regelmäßig für eine angesehene neapolitanische Zeitschrift. Er und Papà diskutierten in einem fort, und obwohl wir drei Mädchen kaum etwas von dem verstanden, was sie sagten, waren wir doch mit der Vorstellung aufgewachsen, dass sie sich irgendeine sehr schwere Aufgabe gestellt hatten, die Wissen und Konzentration erforderte. Doch Mariano beschränkte sich nicht wie mein Vater darauf, Tag und Nacht über den Büchern zu sitzen, er schimpfte auch lauthals auf zahlreiche Feinde – Leute aus Neapel, aus Rom und aus anderen Städten –, die die zwei daran hindern wollten, ihre Arbeit anständig zu tun. Angela, Ida und ich waren immer auf der Seite unserer Eltern und gegen jeden, der ihnen schaden wollte, auch wenn wir gar nicht fähig waren, Stellung zu beziehen. Alles in allem interessierten uns an ihren ganzen Reden von klein auf nur die Schimpfwörter im Dialekt, mit denen Mariano über damals bekannte Leute herzog. Der Grund dafür war, dass es uns dreien – und besonders mir – verboten war, Kraftausdrücke zu verwenden und auch nur eine Silbe Neapolitanisch zu sprechen. Ein zweckloses Verbot. Unsere Eltern, die uns nie etwas verboten, waren selbst dann nachsichtig, wenn sie uns etwas verboten. So wiederholten wir zum Spaß leise die Namen und Vornamen von Marianos Feinden und fügten die unflätigen Beschimpfungen hinzu, die wir aufgeschnappt hatten. Aber während Angela und Ida den Wortschatz ihres Vaters nur lustig fanden, wurde ich den Eindruck nicht los, dass er außerdem boshaft war.

Lag da nicht immer auch etwas Gehässiges in seinen Witzen? Und nicht auch an diesem Abend? Ich war mürrisch, ich zog einen Schmollmund, ich war ein Besen aus Mohrenhirse? Hatte Mariano sich lediglich einen Spaß erlaubt, oder hatte er im Spaß brutal die Wahrheit gesagt? Wir setzten uns zu Tisch. Die Erwachsenen fingen ermüdende Gespräche über irgendwelche Freunde an, die einen Umzug nach Rom planten, wir langweilten uns schweigend und hofften, dass das Essen bald vorbei war und wir in meinem Zimmer verschwinden konnten. Die ganze Zeit hatte ich den Eindruck, dass mein Vater kein einziges Mal lachte und meine Mutter kaum lächelte, dass Mariano extrem viel lachte und Costanza, seine Frau, nicht zu viel, aber von Herzen lachte. Vielleicht konnten sich meine Eltern nicht so amüsieren wie die Eltern von Angela und Ida, weil ich ihnen Kummer gemacht hatte. Ihre Freunde waren zufrieden mit ihren Töchtern, während sie es mit mir nicht mehr waren. Ich war mürrisch, mürrisch, mürrisch, und mein bloßer Anblick hier bei Tisch verdarb ihnen jede Freude. Wie ernst meine Mutter war und wie schön und glücklich dagegen die Mutter von Angela und Ida. Jetzt schenkte mein Vater ihr Wein ein, sprach freundlich zurückhaltend mit ihr. Costanza unterrichtete Italienisch und Latein, ihre schwerreichen Eltern hatten ihr eine ausgezeichnete Erziehung ermöglicht. Sie war so kultiviert, dass meine Mutter sie manchmal genauestens beobachtete, um sie nachzuahmen, und ich tat es nahezu unbewusst auch. Wie war es möglich, dass diese Frau sich für einen Mann wie Mariano entschieden hatte? Der Glanz ihres Schmucks und die Farben ihrer Kleider, die stets perfekt saßen, blendeten mich. Gerade in der Nacht zuvor hatte ich von ihr geträumt, dass sie mir mit der Zungenspitze wie eine Katze liebevoll ein Ohr geleckt hatte. Dieser Traum hatte mir Trost gespendet, ein körperliches Wohlbefinden, das mir nach dem Erwachen für einige Stunden das Gefühl gegeben hatte, in Sicherheit zu sein.

Jetzt, neben ihr am Tisch, hoffte ich, dass ihre angenehme Ausstrahlung die Worte ihres Mannes aus meinem Kopf verbannte. Aber sie wirkten während des ganzen Abendessens weiter – meine Haare lassen mich aussehen wie einen Besen aus Mohrenhirse, ich ziehe ein mürrisches Gesicht – und verstärkten meine Gereiztheit. Ich schwankte zwischen dem Wunsch, mich zu amüsieren, indem ich Angela unflätige Bemerkungen ins Ohr flüsterte, und einem nicht nachlassenden Unbehagen. Kaum hatten wir den Nachtisch aufgegessen, überließen wir unsere Eltern ihrem Geplauder und zogen uns in mein Zimmer zurück. Dort fragte ich Ida ohne Umschweife:

»Habe ich ein mürrisches Gesicht? Was meint ihr, werde ich gerade hässlich?«

Sie sahen sich an und antworteten fast gleichzeitig:

»Aber nein.«

»Seid ehrlich.«

Ich merkte, dass sie zögerten, Angela fasste sich ein Herz:

»Ein kleines bisschen, aber nicht äußerlich.«

»Äußerlich bist du schön«, bestätigte Ida. »Bloß die Sorgen machen dich ein bisschen hässlich.«

Angela gab mir einen Kuss und sagte:

»Mir passiert das auch. Wenn ich mir Sorgen mache, werde ich hässlich, aber dann geht es vorbei.«

7

Der Zusammenhang von Sorgen und Hässlichkeit war mir ein unerwarteter Trost. Es gibt ein Hässlichwerden, das von Ängsten kommt – hatten Angela und Ida gesagt –, wenn die Ängste weg sind, wird man wieder schön. Das wollte ich gern glauben und gab mir alle Mühe, sorglose Tage zu verbringen. Aber mich zu heiterer Gelassenheit zu zwingen, funktionierte nicht, meine Gedanken wurden trübe, und meine Qual stellte sich wieder ein. In mir wuchs eine Feindseligkeit gegen alles, und sie ließ sich nur schwer hinter einer gespielten Gutmütigkeit verbergen. Schnell musste ich feststellen, dass meine Sorgen überhaupt nicht vergingen, vielleicht waren sie nicht einmal Sorgen, sondern schlechte Gefühle, die ich im Blut hatte.

Nicht dass Angela und Ida in diesem Punkt gelogen hätten, dazu waren sie nicht fähig, wir waren dazu erzogen worden, niemals zu lügen. Sie hatten mit dieser Verbindung von Hässlichkeit und Ängsten wahrscheinlich von sich und ihren eigenen Erfahrungen gesprochen und dabei Worte gebraucht, mit denen Mariano sie irgendwann einmal beruhigt hatte – in unseren Köpfen geisterten viele Gedanken umher, die wir von unseren Eltern aufgeschnappt hatten. Aber Angela und Ida waren nicht ich. Angela und Ida hatten in ihrer Familie keine Tante Vittoria, von der ihr Vater – ihr Vater – gesagt hätte, dass sie ganz nach ihr kamen. Schlagartig wurde mir eines Morgens in der Schule klar, dass ich nie wieder so sein würde, wie meine Eltern mich haben wollten, dass der grausame Mariano es bemerken würde, dass meine Freundinnen sich passendere Freundschaften suchen würden und dass ich allein zurückbleiben würde.

Ich war deprimiert, mein Unwohlsein wuchs in den folgenden Tagen wieder, das Einzige, was mir etwas Erleichterung verschaffte, war, mich ständig zwischen den Beinen zu reiben, um mich mit Lust zu betäuben. Aber wie beschämend war es, mich auf diese Weise zu vergessen, danach war ich noch unzufriedener als zuvor und manchmal auch angewidert. Ich hatte die Spiele mit Angela in sehr angenehmer Erinnerung, bei denen wir uns bei mir zu Hause, vor dem laufenden Fernseher, mit dem Gesicht zueinander aufs Sofa legten, unsere Beine miteinander verflochten und ohne Absprache, ohne feste Regeln, wortlos eine Puppe zwischen die Zwickel meines und ihres Unterhöschens schoben und uns schließlich daran rieben, uns unbefangen wanden, wobei wir die Puppe, die sehr lebendig und glücklich zu sein schien, fest an uns pressten. Das war früher, jetzt war die Lust für mich kein fröhliches Spiel mehr. Ich war danach völlig verschwitzt, fühlte mich zunehmend missraten. Daher packte mich wieder von Tag zu Tag mehr die Manie, mein Gesicht zu kontrollieren, und ich verbrachte meine Zeit noch verbissener vor dem Spiegel.

Das Ganze nahm eine überraschende Wendung. Die Betrachtung dessen, was mir fehlerhaft erschien, weckte in mir den Wunsch, mich darum zu kümmern. Ich studierte meine Gesichtszüge und dachte, während ich die Haut straffzog: Also, wenn meine Nase so wäre, meine Augen so, meine Ohren so, dann wäre ich perfekt. Es waren kleine Manipulationen, die mich melancholisch und weich stimmten. Du Ärmste, dachte ich, du kannst einem wirklich leidtun. Und in einer plötzlich aufwallenden Leidenschaft für mein eigenes Spiegelbild küsste ich mich einmal sogar auf den Mund, als ich deprimiert darüber nachdachte, dass mich keiner jemals küssen würde. So begann ich zu reagieren. Langsam gelangte ich von der Benommenheit, in der ich die Tage vor dem Spiegel verbracht hatte, zu dem Bedürfnis, mich zu reparieren, als wäre ich ein Stück aus hochwertigem Material, das durch einen ungeschickten Arbeiter beschädigt worden war. Ich war ich – egal, was für ein Ich das auch sein mochte –, und ich musste mich um dieses Gesicht, um diesen Körper, um diese Gedanken kümmern.

An einem Sonntagmorgen versuchte ich, mich mit der Schminke meiner Mutter schön zu machen. Aber als sie in mein Zimmer kam, sagte sie lachend: Du siehst aus, als wolltest du zum Karneval, das geht besser. Ich protestierte nicht, verteidigte mich nicht, sondern fragte sie so gefügig wie möglich:

»Bringst du mir bei, mich so zu schminken, wie du es tust?«

»Jedes Gesicht braucht seine eigene Schminke.«

»Ich will so sein wie du.«

Sie freute sich darüber, machte mir ein paar Komplimente und begann mich sehr sorgfältig zu schminken. Wir verlebten herrliche Stunden, alberten herum, lachten. Für gewöhnlich war sie ruhig, sehr beherrscht, aber mit mir zusammen – nur mit mir zusammen – wurde sie gern wieder zu einem Kind.

Irgendwann tauchte mein Vater mit seinen Zeitungen auf, sah uns bei diesem fröhlichen Spiel und freute sich.

»Wie hübsch ihr seid«, sagte er.

»Wirklich?«, fragte ich.

»Absolut, noch nie habe ich so bildschöne Frauen gesehen.«

Damit zog er sich in sein Zimmer zurück, sonntags las er immer Zeitung, und dann arbeitete er. Als meine Mutter und ich wieder allein waren, fragte sie mich, als hätte dieses kurze Hereinschauen den Anstoß dazu gegeben, mit ihrer immer etwas müden Stimme, die aber weder Ärger noch Besorgnis zu kennen schien:

»Wieso hast du dir denn die Schachtel mit den Fotos angesehen?«

Schweigen. Sie hatte also bemerkt, dass ich in ihren Sachen gewühlt hatte. Sie hatte bemerkt, dass ich versucht hatte, die schwarze Übermalung abzukratzen. Wie lange wusste sie es schon? Ich konnte die Tränen nicht zurückhalten, obwohl ich es nach Kräften versuchte. Mamma, sagte ich schluchzend, ich wollte, ich meinte, ich dachte –, doch ich konnte nichts von dem herausbringen, was ich gewollt, gemeint, gedacht hatte. Ich verhaspelte mich, die Tränen liefen mir übers Gesicht, während es ihr nicht gelang, mich zu beruhigen, ja, ich schluchzte nur noch mehr, als sie mit verständnisvollem Lächeln leichthin ein paar Sätze sagte – du musst doch nicht weinen, du brauchst mich oder Papà doch nur zu fragen, und überhaupt kannst du dir die Fotos ansehen, sooft du willst, warum weinst du denn, alles halb so schlimm. Am Ende nahm sie meine Hände und fragte ruhig:

»Was hast du denn gesucht? Ein Bild von Tante Vittoria?«

8

Da begriff ich, dass meine Eltern wussten, dass ich ihre Worte mit angehört hatte. Sie hatten vermutlich lange darüber gesprochen, hatten vielleicht auch ihre Freunde um Rat gefragt. Bestimmt hatte es meinem Vater sehr leidgetan, und mit großer Wahrscheinlichkeit hatte er meine Mutter vorgeschickt, um mich davon zu überzeugen, dass der Satz, den ich aufgeschnappt hatte, anders gemeint war als der, der mich verletzt hatte. Garantiert war es so, die Stimme meiner Mutter war sehr gut geeignet, wenn es ums Ausbügeln ging. Sie wurde nie wütend, nicht einmal ärgerlich. Wenn Costanza sie, zum Beispiel, wegen der vielen Zeit aufzog, die sie damit vergeudete, den Unterricht vorzubereiten, die Druckfahnen alberner Romane zu korrigieren und manchmal ganze Seiten davon umzuschreiben, antwortete sie stets leise und mit einer Klarheit ohne Groll. Und selbst wenn sie sagte: Costanza, du bist steinreich, du kannst machen, was du willst, aber ich muss ackern für mein Geld, gelang es ihr, das mit wenigen, sanften Worten zu tun, ohne eine spürbare Bitterkeit. Wer konnte also besser als sie diesen Fehler wiedergutmachen? Als ich mich beruhigt hatte, sagte sie in ihrem typischen Tonfall: Wir haben dich lieb, was sie noch ein paar Mal wiederholte. Dann begann sie ein Gespräch, wie sie es bis dahin noch nie mit mir geführt hatte. Sie sagte, sowohl sie als auch mein Vater hätten viele Opfer gebracht, um das zu werden, was sie seien. Sagte leise: Ich kann mich nicht beklagen, meine Eltern haben mir gegeben, was sie konnten, du weißt ja, wie freundlich und liebevoll sie waren, diese Wohnung haben wir damals mit ihrer Hilfe gekauft. Aber die Kindheit deines Vaters und seine Jugend waren wirklich hart, weil er überhaupt nichts hatte, er musste einen Berg mit bloßen Händen und Füßen erklimmen, und es ist noch nicht vorbei, es ist nie vorbei, immer gibt es einen Sturm, der dich wieder hinunterfegt, und dann fängst du wieder von vorn an. Schließlich kam sie auf Vittoria zu sprechen und eröffnete mir, dass, um im Klartext zu reden, sie der Sturm sei, der meinen Vater vom Berg hinunterfegen wolle.

»Sie?«

»Ja. Die Schwester deines Vaters ist eine neidische Person. Neidisch nicht so, wie jeder es mal ist, sondern neidisch auf eine besonders hässliche Art.«

»Was hat sie denn gemacht?«

»Alles mögliche. Aber vor allem wollte sie nie akzeptieren, dass dein Vater Erfolg gehabt hat.«

»Was heißt das?«

»Erfolg im Leben. Sein Engagement in der Schule und an der Universität. Seine Intelligenz. Alles, was er sich aufgebaut hat. Sein Diplom. Seine Arbeit, unsere Heirat, die Dinge, die er studiert, die Hochachtung, die er genießt, die Freunde, die wir haben, du.«

»Ich auch?«

»Ja. Es gibt nichts und niemanden, der für Vittoria nicht so etwas wie eine persönliche Beleidigung wäre. Aber am meisten beleidigt fühlt sie sich durch die Existenz deines Vaters.«

»Was arbeitet sie?«

»Sie ist Putzfrau, was sonst, nach der fünften Klasse hat sie mit der Schule aufgehört. Nicht dass es schlimm ist, als Putzfrau zu arbeiten, du weißt ja, wie tüchtig die Frau ist, die Costanza im Haushalt hilft. Das Problem ist, dass sie auch dafür ihrem Bruder die Schuld gibt.«

»Warum denn?«

»Es gibt kein Warum. Vor allem nicht, wenn man bedenkt, dass dein Vater sie sogar gerettet hat. Sie hätte sich noch viel mehr ruinieren können. Hatte sich in einen verliebt, der verheiratet war und drei Kinder hatte, in einen Verbrecher. Tja, da hat sich dein Vater als der große Bruder eben eingemischt. Aber auch das kam auf die Liste der Dinge, die sie ihm nie verziehen hat.«

»Vielleicht hätte Papà sich um seine eigenen Angelegenheiten kümmern sollen.«

»Niemand darf sich nur um seine eigenen Angelegenheiten kümmern, wenn ein anderer in Schwierigkeiten steckt.«

»Ja.«

»Aber sogar ihr zu helfen, ist immer schwierig gewesen, sie hat es uns nur mit Schlechtem vergolten.«

»Wünscht Tante Vittoria sich Papàs Tod?«

»Schlimm, das zu sagen, aber so ist es.«

»Gibt es denn keine Möglichkeit, Frieden zu schließen?«

»Nein. Für eine Versöhnung müsste dein Vater nach Meinung von Tante Vittoria so mittelmäßig werden wie alle Leute, die sie kennt. Aber weil das nicht geht, hat sie die Familie gegen uns aufgebracht. Ihretwegen hatten wir nach dem Tod der Großeltern zu keinem der Verwandten mehr so richtig Kontakt.«

Meine Antworten waren jedes Mal belanglos, meine wenigen Bemerkungen vorsichtig oder einsilbig. Aber währenddessen dachte ich angewidert: Ich gerate jetzt also ganz nach einem Menschen, der meinem Vater den Tod wünscht und meiner Familie den Ruin, und wieder kamen mir die Tränen. Meine Mutter bemerkte es und wollte mich trösten. Sie umarmte mich, flüsterte: Kein Grund, traurig zu sein, verstehst du jetzt, was dein Vater mit diesem Satz meinte? Mit gesenktem Blick schüttelte ich energisch den Kopf. Da erklärte sie mir leise und in einem unversehens amüsierten Ton: Für uns ist Tante Vittoria längst kein Mensch mehr, sondern nur noch eine Redensart. Stell dir vor, manchmal, wenn dein Vater unausstehlich ist, schreie ich ihn zum Spaß an: Pass bloß auf, André, jetzt kommst du ganz nach Vittoria. Sie schüttelte mich zärtlich und bekräftigte: Dieser Satz ist witzig gemeint.

Ich brummte finster:

»Das glaube ich nicht, Mamma, so habt ihr noch nie gesprochen.«

»Vielleicht nicht in deiner Gegenwart, aber unter uns schon. Der Satz ist wie eine rote Ampel, wir benutzen ihn, um zu sagen: Achtung, wie schnell kann alles verlorengehen, was wir uns für unser Leben gewünscht haben.«

»Ich auch?«

»Nein, Unsinn, du gehst uns niemals verloren. Du bist für uns der wichtigste Mensch auf der Welt, wir wünschen uns für dein Leben alles nur mögliche Glück. Darum bestehen Papà und ich auch so darauf, dass du gut lernst. Im Moment hast du einen kleinen Durchhänger, aber das geht vorbei. Du wirst sehen, es wartet noch viel Schönes auf dich.«

Ich zog die Nase hoch, meine Mutter wollte sie mir mit dem Taschentuch putzen, als wäre ich noch ein kleines Kind, und vielleicht war ich das auch, aber ich entzog mich, ich sagte:

»Und wenn ich nicht mehr lernen will?«

»Dann bleibst du unwissend.«

»Na und?«

»Unwissenheit ist ein Hindernis. Aber du hast ja schon wieder angefangen zu lernen, nicht? Die eigene Intelligenz nicht zu entwickeln, wäre ein Jammer.«

Ich rief:

»Ich will nicht intelligent sein, Mamma, ich will so toll aussehen wie ihr.«

»Du wirst noch viel besser aussehen.«

»Nein, nicht wenn ich nach Tante Vittoria komme.«

»Du bist ganz anders als sie, das wird nicht passieren.«

»Wie kannst du so was sagen? Mit wem kann ich mich denn vergleichen, um zu sehen, ob das gerade passiert oder nicht?«

»Mit mir, ich werde immer da sein.«

»Das reicht nicht.«

»Und was schlägst du vor?«

Beinahe flüsternd sagte ich:

»Ich muss meine Tante treffen.«

Sie schwieg einen Augenblick, dann sagte sie:

»Darüber musst du mit deinem Vater sprechen.«

9

Ich nahm ihre Worte nicht ernst. Für mich war es selbstverständlich, dass zuallererst sie mit ihm darüber reden würde und dass mein Vater schon am folgenden Tag mit der Stimme, die ich am liebsten hatte, zu mir sagen würde: »Da wären wir, stets zu Diensten, wenn die kleine Königin entschieden hat, dass wir zu Tante Vittoria müssen, wird dieser ihr armer Vater, wenn auch mit der Schlinge um den Hals, sie begleiten.« Er würde seine Schwester anrufen, um ein Treffen zu vereinbaren, oder vielleicht würde er meine Mutter bitten, es zu tun; er befasste sich nie persönlich mit Dingen, die ihn ärgerten, langweilten oder schmerzten. Dann würde er mich mit dem Auto zu ihr bringen.

Aber so kam es nicht. Es vergingen Stunden, Tage, und mein Vater ließ sich kaum blicken, immer hektisch, immer hin- und hergerissen zwischen der Schule, irgendeiner Nachhilfe und einem schwierigen Aufsatz, den er zusammen mit Mariano schrieb. Er ging morgens aus dem Haus und kam abends wieder, in jenen Tagen regnete es unaufhörlich, ich hatte Angst, er könnte sich erkälten, Fieber bekommen und müsste dann wer weiß wie lange das Bett hüten. Wie kann es sein – dachte ich –, dass ein so feiner, zarter Mann sein Leben lang gegen Tante Vittorias Bosheit gekämpft hat? Noch unwahrscheinlicher erschien es mir, dass er den verheirateten Verbrecher und Vater dreier Kinder, der vorgehabt hatte, seine Schwester zu ruinieren, zur Rede gestellt und rausgeworfen haben sollte. Ich fragte Angela:

»Wenn Ida sich in einen Verbrecher verlieben würde, der verheiratet ist und drei Kinder hat, was würdest du als ihre große Schwester dann tun?«

Angela antwortete, ohne zu zögern:

»Ich würde es Papà sagen.«

Doch Ida gefiel diese Antwort nicht, sie sagte zu ihrer Schwester:

»Du bist eine Petze, und Papà hat gesagt, eine Petze ist das Schlimmste, was es gibt.«

Angela erwiderte gekränkt:

»Ich bin keine Petze, ich würde es nur zu deinem Besten tun.«

Vorsichtig mischte ich mich ein, sagte zu Ida:

»Also wenn Angela sich in einen Verbrecher verliebt, der verheiratet ist und drei Kinder hat, würdest du es deinem Vater nicht erzählen?«

Ida, die eifrige Romanleserin, dachte nach:

»Ich würde es ihm nur erzählen, wenn der Verbrecher hässlich und boshaft wäre.«

Na bitte, dachte ich, Hässlichkeit und Bosheit wiegen schwerer als alles andere. Und an einem Nachmittag, als mein Vater zu einer Versammlung gegangen war, versuchte ich es erneut bei meiner Mutter:

»Du hast gesagt, wir besuchen Tante Vittoria.«

»Ich habe gesagt, du sollst mit deinem Vater darüber reden.«

»Ich dachte, das machst du.«

»Er hat zurzeit viel um die Ohren.«

»Wir beide könnten sie doch besuchen.«

»Es ist besser, wenn er sich darum kümmert. Außerdem ist das Schuljahr fast um, du musst lernen.«

»Ihr wollt mich gar nicht zu ihr lassen. Ihr habt längst entschieden, dass ihr es nicht macht.«

Meine Mutter schlug den Ton an, den sie bis vor wenigen Jahren benutzt hatte, wenn sie ihre Ruhe haben wollte und mir ein Spiel schmackhaft machen wollte, das ich allein spielen konnte.

»Pass auf: Kennst du die Via Miraglia?«

»Nein.«

»Und die Via della Stadera?«

»Nein.«

»Und den Pianto?«

»Nein.«

»Und Poggioreale?«

»Nein.«

»Und die Piazza Nazionale?«

»Nein.«

»Und Arenaccia?«

»Nein.«

»Und das ganze Gebiet, das Zona Industriale genannt wird?«

»Nein, Mamma, nein.«

»Tja, dann musst du noch viel lernen, das ist deine Heimatstadt. Ich gebe dir einen Stadtplan, und wenn du deine Schulaufgaben fertig hast, kannst du dir den Weg einprägen. Wenn es für dich so furchtbar wichtig ist, Tante Vittoria zu besuchen, kannst du da bei Gelegenheit auch allein hingehen.«

Der letzte Satz irritierte mich, verletzte mich wohl auch. Meine Eltern ließen mich nicht einmal zweihundert Meter von unserem Haus entfernt Brot holen. Und wenn ich zu Angela und Ida wollte, brachte mich mein Vater oder öfter noch meine Mutter mit dem Auto zum Haus von Mariano und Costanza, und später holten sie mich wieder ab. Jetzt wollten sie mich plötzlich in eine mir fremde Gegend schicken, wohin sie selbst nur ungern gingen? Nein, nein, sie hatten nur mein Gejammer satt, hielten für unwichtig, was für mich dringend notwendig war, kurz, sie nahmen mich nicht ernst. Vielleicht zersprang in diesem Moment etwas in mir, und vielleicht war das das Ende meiner Kindheit. Jedenfalls fühlte ich mich wie ein Gefäß, dessen Inhalt durch einen winzigen Riss unmerklich herausrieselte. Und ich hatte keinen Zweifel, meine Mutter hatte sich schon mit meinem Vater abgesprochen und fing mit seiner Zustimmung an, mich von ihnen abzulösen und die beiden auch von mir, um mir begreiflich zu machen, dass ich mit meinen Dummheiten und meinen Launen allein klarkommen musste. Mit ihrem ebenso müden wie freundlichen Ton hatte sie mir praktisch soeben gesagt: Du bist eine Nervensäge geworden, du machst mir das Leben schwer, du lernst nicht, von den Lehrern kommen Klagen, und du liegst uns ständig mit Tante Vittoria in den Ohren, meine Güte, Giovanna, wie oft soll ich dir noch sagen, dass dieser Satz von deinem Vater liebevoll gemeint war, es reicht jetzt, geh mit deinem Stadtplan spielen und fall mir nicht länger auf den Wecker.

Ob die Dinge wirklich so lagen oder nicht, dies war jedenfalls meine erste Verlusterfahrung. Ich spürte die schmerzhafte Leere, die sich auftut, wenn uns etwas, von dem wir glauben, dass nichts uns davon trennen kann, plötzlich weggenommen wird. Ich schwieg. Und da sie hinzufügte: bitte mach die Tür zu, verließ ich das Zimmer.

Wie betäubt blieb ich eine Weile vor der geschlossenen Tür stehen, darauf wartend, dass sie mir den Stadtplan wirklich gab. Das geschah nicht, und so zog ich mich, fast auf Zehenspitzen, zum Lernen in mein Zimmer zurück. Aber natürlich schlug ich kein Buch auf, mein Kopf begann bis dahin unvorstellbare Pläne zu schmieden, ganz als würde man sie in eine Tastatur hämmern. Nicht nötig, dass meine Mutter mir den Stadtplan gibt, ich werde ihn mir selbst nehmen, werde ihn studieren und zu Fuß zu Tante Vittoria gehen. Tagelang, monatelang werde ich wandern. Wie verlockend dieser Gedanke war. Sonne, Hitze, Regen, Wind, Kälte, und ich unterwegs, unter tausend Gefahren unterwegs, bis ich meiner Zukunft in Gestalt einer hässlichen, boshaften Frau begegnete. Das wollte ich tun. Viele der unbekannten Straßennamen, die meine Mutter aufgezählt hatte, hatte ich mir gemerkt, ich konnte wenigstens einen davon sofort heraussuchen. Vor allem der Pianto schwirrte mir im Kopf herum, das musste ein sehr trauriger Ort sein, meine Tante wohnte demnach in einer Gegend, wo man Kummer hatte oder sich gegenseitig wehtat. Ein Leidensweg, eine Treppe, Büsche voller Dornen, die die Beine zerkratzten, streunende, dreckige Hunde mit riesigen, geifernden Mäulern. Vor allem diesen Ort wollte ich auf dem Stadtplan suchen, und ich ging in den Flur, wo das Telefon stand. Ich versuchte, den Plan, der zwischen den wuchtigen Telefonbüchern klemmte, herauszuziehen. Dabei entdeckte ich oben auf dem Stapel das Adressbuch mit allen Nummern, die meine Eltern brauchten. Wie hatte ich das vergessen können. Wahrscheinlich stand auch Tante Vittorias Nummer darin und, falls ja, warum dann erst darauf warten, dass meine Eltern sie anriefen? Das konnte ich selbst tun. Ich nahm das Verzeichnis, suchte unter dem Buchstaben V, fand aber keine Vittoria. Dann überlegte ich: Sie hat meinen Nachnamen und den meines Vaters, Trada. Ich schlug sofort unter T nach, und da war sie: Trada, Vittoria. Die etwas verblasste Schrift war die meines Vaters, sie stand dort zwischen vielen anderen wie eine Fremde.

Mein Herz klopfte, ich jubelte, hatte das Gefühl, am Anfang eines Geheimgangs zu stehen, der mich ohne weitere Hindernisse zu ihr bringen würde. Ich dachte: Ich rufe sie an. Jetzt gleich. Ich sage: Ich bin deine Nichte Giovanna, ich muss dich treffen. Vielleicht würde sie mich abholen. Wir würden einen Tag ausmachen, eine Uhrzeit, und uns hier vor dem Haus treffen oder unten an der Piazza Vanvitelli. Ich sah nach, ob die Tür zum Zimmer meiner Mutter geschlossen war, ging zum Telefon zurück, hob den Hörer ab. Aber gerade als ich die letzte Ziffer gewählt hatte und der Freiton erklang, bekam ich es mit der Angst zu tun. Das hier war nach den Fotos, wenn man es recht bedachte, meine erste konkrete Initiative. Was tue ich hier. Ich muss Bescheid sagen, wenn nicht meiner Mutter, so meinem Vater, einer von beiden muss mir seine Erlaubnis geben. Vorsicht, Vorsicht, Vorsicht. Doch ich hatte zu lange gezögert, eine kräftige Stimme wie die der Raucher, die zu den endlosen Versammlungen zu uns nach Hause kamen, sagte: Hallo. Sie sagte es so energisch, so grob und mit einem so aggressiven neapolitanischen Akzent, dass dieses eine Wort genügte, um mich in Angst und Schrecken zu versetzen, ich legte auf. Gerade noch rechtzeitig. Ich hörte, wie sich der Schlüssel im Schloss drehte, mein Vater war nach Hause gekommen.

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