Das Mädchen aus der 1. Reihe - Jana Crämer - E-Book
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Das Mädchen aus der 1. Reihe E-Book

Jana Crämer

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Beschreibung

Ihr Spiegelbild – eine einzige Problemzone. Lea kann ihre Sorgen nur vergessen, wenn sie mit ihrer besten Freundin Jule auf den Konzerten ihrer Lieblingsband in der 1. Reihe steht. Dann kann sie das Leben für einen Abend unbeschwert genießen. Lea fällt aus allen Wolken, als sich Ben, der attraktive Sänger der Band, ausgerechnet für sie interessiert. Die beiden entwickeln eine tiefe Freundschaft und Lea erfährt, dass auch Ben eine Maske trägt, die er nur bei ihr ablegen kann. Für ihren Mut in der Kommunikation wurde Jana Crämer mit dem SignsAward18 ausgezeichnet. Ihr Roman über Psychofuck, Konzerte, Mobbing, Freundschaft und Tabuthemen ist erstmals als unzensierte Ausgabe erhältlich.

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Seitenzahl: 462

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Jana Crämer

Das Mädchen aus der 1. Reihe

Unzensiert

Roman

Die Autorin

Jana Crämer © Eckard Albrecht

»Hey, ich bin Jana und ich bin essgestört«, stellt sich Jana Crämer, die noch vor wenigen Jahren über 180 Kilo gewogen hat, den Lesern ihres Blogs vor. Heute, mit etwa 100 Kilogramm weniger, spricht sie – auch in ihrem Podcast Schweigen ändert nichts –schonungslos offen über ihre Essstörung und wird von zahlreichen Medien auf ihrem Weg begleitet (u.a. RTL, SAT.1, VOX, ZDF). Über 20.000 Fans folgen Jana Crämer auf ihren Social-Media-Kanälen und ihrem Blog Endlich ich.

Für ihren Mut in der Kommunikation wurde die Wahl-Berlinerin mit dem SignsAward18, dem Oscar der Kommunikationsbranche, geehrt und gilt als eine der authentischsten Botschafterinnen für Bodypositivity.

In über 50 Konzert-Lesungen pro Jahr an Schulen lässt Jana Crämer ihre Geschichte mit der Musik ihres besten Freundes BATOMAE, der den Soundtrack zu ihrem Debüt-Roman Das Mädchen aus der 1. Reihe geschrieben hat, verschmelzen. Ärzte, Psychologen und zahlreiche Betriebskrankenkassen unterstützen das Projekt, und so sind bereits jetzt Veranstaltungen für die kommenden Jahre geplant.

»Ich stehe auf Konzerten vorn,weil hinten alles voll ist.«

Intro

»Nicht mal eine Viertelstunde, um uns für den Gig fertig zu machen«, geht es mir durch den Kopf, während ich Jule die Treppen runter nach unten folge. Trotzdem – als Allererstes musste jetzt dieses Hintergrundbild verschwinden, bevor sie es sah und mich zur Rede stellte.

Mit einem »Ich beeil mich!« schließe ich die Tür hinter mir und muss beim Blick aufs Display unweigerlich lächeln. Das sieht echt nach allem, aber nicht nach einem harmlosen Selfie mit meinem Lieblingssänger aus. Jule würde mich umbringen. Drei Klicks, dann ist es verschwunden. Ich drücke die Spülung, ziehe schnell das frische Shirt über, nehme meine Tasche und gehe rüber zum großen Spiegel.

»Gleich ist es kaputt«, sagt Jule in mahnendem Ton, als ich versuche, mein Shirt mit beiden Händen in die Breite zu dehnen. Wie konnte das denn sein? Ich hatte es doch erst vor ein paar Wochen gekauft und da saß es noch mehr als locker. Jetzt zeichnete sich unter dem schwarzen Stoff deutlich mein viel zu dicker Hintern ab. Ein paar Zentimeter sind aber noch drin, bevor die Nähte reißen, das spüre ich. Jule greift nach meinen Händen und zieht sie mit einem scharfen »Lass das jetzt!« unterm Saum hervor. Entnervt gebe ich nach und gucke frustriert mein Spiegelbild an. Die hat gut reden.

Aber Jule darf das. Jule ist, seit wir uns am ersten Schultag in der fünften Klasse nebeneinandergesetzt haben, meine beste Freundin und das genaue Gegenteil von mir. Gott, wie sehr ich sie um ihre perfekte Figur beneide. Um ihre Beine, die bis zum Himmel reichen, ihre superschlanke Taille und den knackigen Hintern, der in der engen, verwaschenen Bluejeans besonders gut zur Geltung kommt.

»Jetzt hör doch endlich mal auf, so auf deinen Hintern zu gucken, man sieht ihn unter dem Shirt doch gar nicht«, versichert mir Jule und strahlt mich mit ihren großen, grünblauen Augen an, bindet ihre sommerblonden, schulterlangen Haare zu einem lockeren Pferdeschwanz und beginnt sich zu schminken.

Ich ziehe eine Schnute und schaue resigniert in den großen Spiegel über der Waschbeckenzeile. Das kalte Licht lässt mich aschfahl und irgendwie krank aussehen. Warum nehmen die in den Toiletten an Raststätten eigentlich überall so kaltes Licht? Bestimmt wollen die, dass man sich hässlich fühlt und vor lauter Frust oben noch mal schnell bei den Süßigkeiten zugreift. Bei mir geht der Plan auf jeden Fall auf. Das Shirt ist eh zu eng, dann ist es jetzt auch egal, wenn ich noch ’ne Schokolade mitnehme.

Oh Mann, wie oft wir schon an Autobahnraststätten gehalten haben, um uns auf der Damentoilette für den Abend zu stylen. Inzwischen ist es uns auch völlig egal, wenn uns andere Frauen abschätzig von oben bis unten mustern und genervt die Augen verdrehen, weil die ganze Schminke ums Waschbecken verteilt liegt.

Ich knete meine braunen Locken kopfüber noch einmal mit etwas Wasser, fixiere alles mit Haarspray und schmeiße den Kopf zurück. Schon besser. Jetzt noch schnell ein bisschen Wimperntusche und meinen Lieblingslippenstift, zartes Rot und ein bisschen Glanz, aber auf keinen Fall zu auffällig – fertig. Auf meinen Hintern gucke ich einfach nicht mehr. Beim Gig stehen wir gleich eh in der 1. Reihe, da herrscht so ein Gedränge, dass niemand drauf achten wird, und nach dem Konzert ziehe ich einfach meine lange Weste drüber.

»Bist du so weit?«, reißt mich Jule aus meinen Gedanken. Mit einem »Yepp, wir können los« räume ich noch schnell meine Sachen zusammen und folge ihr schmunzelnd nach oben. Doch, irgendwie hatten unsere Stopps an den Raststätten schon ein bisschen was von einer Vorher-Nachher-Show. So war es fast jedes Wochenende, seit wir die Jungs kennengelernt haben.

Der angesagteste Club der Stadt

Wir waren beide nie die typischen Discogänger und sind auch nie mit Jungs ausgegangen. Wir waren am Wochenende am liebsten zu Hause auf der Couch, haben uns zu zweit einen gemütlichen Netflix-Abend gemacht und ’ne Jumbopizza für vier Personen bestellt. Jule hat für eine Person gegessen und ich für die übrigen drei. Das war, bis wir 18 waren, ein perfekter Abend für uns.

Wir hatten zwar überhaupt keine Lust, haben uns dann aber doch von den Mädels aus der Stufe überreden lassen, mit in den Club zu gehen. »Irgendwie werden wir den Abend schon rumkriegen. Zur Not tust du einfach so, als hättest du Migräne, und wir verdrücken uns«, hatte ich zu Jule gesagt, ohne zu ahnen, dass dieser Abend alles verändern würde.

Da standen wir also, im riesigen, bitterkalten Eingangsbereich zum Babylon, dem angesagtesten Club der Stadt. Direkt vor uns eine breite, endlos lange Treppe aus hellem Marmor, die Wände komplett verspiegelt und mit pompösen Kronleuchtern an der hohen Decke. Wir – mit den viel zu stark geschminkten und laut kichernden Mädels, die nur allzu sehr darauf bedacht waren, gesehen zu werden. Oh je, wie anstrengend, das konnte ja was werden.

Plötzlich wurde das Getuschel lauter. Eine Gruppe von jungen Frauen näherte sich und zog binnen Sekunden alle Aufmerksamkeit auf sich. Groß und megaschlank, mit bunten Haarteilen und knallengen Hotpants, absolute Paradiesvögel und völlig überdreht. Ja, die passten wirklich perfekt hierher. Aber Hotpants bei dieser Kälte? Wir hatten Ende Februar, und auch wenn die Straßen frei waren, lagen überall an den Seiten noch die gefrorenen Schneeberge. Eine von ihnen rempelte mich im Vorbeidrängeln ganz leicht an, entschuldigte sich aber gleich überschwänglich bei mir. Krass, mit dieser beeindruckend tiefen Stimme sollte sie mal über eine Karriere bei ’ner Hotline nachdenken.

Ich wusste nicht, ob ich vor Kälte oder Aufregung zitterte, aber es wäre nicht schlecht gewesen, wenn meine Jacke zumindest noch so gut gepasst hätte, dass ich sie hätte zumachen können. Jule verdrehte genervt die Augen. Der Grund war Jasmin aus unserer Stufe. Sie zog gerade ihren eh schon tiefen Ausschnitt noch ein ganzes Stück weiter nach unten, bevor sie an dem Türsteher vorbeiging.

Türsteher!? Hätte ich das gewusst, wäre ich direkt zu Hause geblieben. Wie demütigend, wenn ich gleich an der langen Schlange zurück zum Auto musste. Alle Mädels um mich herum trugen kurze Röcke, einige mit High Heels, einige mit kniehohen Stiefeln. Ja, der Unterschied zwischen mir und den anderen war deutlich zu sehen.

Wie gerne wollte ich auch mal so etwas anziehen, etwas Aufregendes, etwas Aufreizendes. Stattdessen trug ich eine schwarze, weit geschnittene Stoffhose und ein schlabbriges, bis über den Hintern reichendes Lagenshirt, um meine Figur zu kaschieren. Mein Herz klopfte wie verrückt. Warum hatte ich mich nur drauf eingelassen, mitzugehen? Was hatte ich denn geglaubt? Dass ich für einen Abend eine von ihnen sein konnte? Wohl kaum.

»Darf ich bitte einen Blick in Ihre Tasche werfen?«, fragte mich der junge Mann an der Tür überraschend freundlich.

»Ähm, ja, natürlich«, entgegnete ich etwas verwirrt, da ich in Gedanken schon wieder zu Hause auf der Couch saß. Mit meiner Jumbopizza.

»Vielen Dank, alles okay. Einen schönen Abend wünsche ich«, sagte er, jetzt sichtlich amüsiert, dass ich rot angelaufen war. Das passierte mir ständig. Ich konnte nichts dagegen machen, immer wenn ich unsicher oder aufgeregt war, leuchtete ich wie eine Tomate. Superpeinlich. Nervös strich ich mir eine Haarsträhne hinters Ohr und beeilte mich, wieder zu den anderen zu kommen, die schon kichernd und glucksend die lange Treppe hinaufstiegen.

Jule wartete auf mich. Sie passte perfekt hierhin, in dieses elegante Ambiente, wo sie die Blicke der Männer auf sich zog – in ihrem engen Rock und der leichten Bluse, die ihre schlanke Figur umspielte. Ich fühlte mich einfach nur fehl am Platz – wie so oft.

Oben angekommen, bogen wir links in einen großen, indirekt beleuchteten Raum. Es roch sehr angenehm nach schwerem Holz, neuem Leder und süßen Cocktails. In der Mitte war eine leere Tanzfläche und dahinter ein schwerer grüner Vorhang. Über der Tanzfläche sammelte sich Nebel in einem gläsernen Dachgewölbe, das wie eine Kuppel aussah. Mit grünem Laser wurden dort zarte Wellen und schimmernde Punkte hineinprojiziert, was mich an tanzende Polarlichter erinnerte.

Leise Musik erfüllte den Raum, dass man sich gut hätte unterhalten können, aber Jasmin und ihre Mädels waren eh nicht mehr bei uns, also kein Grund für gezwungenen Small Talk. Keine Ahnung, wohin die auf einmal verschwunden waren. Es war mir aber, ehrlich gesagt, auch egal. Hauptsache, Jule ließ mich nicht allein.

Gerade lief Sting mit Fields of gold, eines meiner absoluten Lieblingslieder, und mit dem Klang seiner weichen, beruhigenden Stimme wurde auch ich langsam ruhiger.

Die beiden Theken an den langen Wänden waren aus edlem, dunklem Holz und mit grün schimmerndem Glas verkleidet, das von hinten indirekt beleuchtet wurde, und die Tischgruppen um uns herum wurden von Bäumen, die mit cremefarbenen und mintgrünen Lampions geschmückt waren, aufgelockert. Wow, dass es hier drin so schön war, hatte ich so nicht erwartet.

»Ich geh uns was zu trinken holen, möchtest du ’ne Cola light?«, fragte Jule, die nicht weniger beeindruckt aussah als ich.

Ich nickte und deutete auf einen Tisch am Rand. »Yepp, ich warte dort auf dich.«

So saß ich eine ganze Weile da und beobachtete einfach nur die Leute. Die meisten waren in unserem Alter, standen in kleinen Grüppchen zusammen, lachten ausgelassen und stießen mit ihren Sektgläsern an. Nur auf der Tanzfläche war es noch vollkommen leer, vermutlich wollten sich alle erst mal mit Getränken versorgen. Aber wo blieb Jule denn so lange?

Ich blickte mehrmals den Tresen entlang, als ich schon sah, wie sie sich mit zwei Gläsern zwischen einer Gruppe von jungen Männern durchschlängelte. Die Typen johlten auf und stellten sich so dicht zusammen, dass sie von ihnen umschlossen war. »Na, Baby, wie wär’s mit uns? Nicht so schüchtern, Kleine!« Einer versuchte noch, ihr auf den Hintern zu hauen, aber da war sie schon zwei Schritte weiter. »Was für Idioten«, ging es mir durch den Kopf, und gleichzeitig wünschte ich mir, dass ich mal so viel Beachtung bekommen würde. Mir wurde in solchen Situationen nur missmutig Platz gemacht, wenn überhaupt. Meist nahm ich eh einen Weg, wo ich niemanden bitten musste, wegen mir zur Seite zu gehen.

»Was für Spinner«, lachte Jule, reichte mir mein Glas rüber, setzte sich und schlug ihre schlanken Beine elegant übereinander. Ich schaute an mir herunter. Hm, elegant war irgendwie anders. Für Jule schien das alles hier absolut selbstverständlich zu sein, von mir erforderte es höchste Konzentration. Ich war echt nicht für die Öffentlichkeit gemacht.

»Worauf trinken wir?«, fragte sie lächelnd, eine perfekt gezupfte Augenbraue nach oben gezogen.

»Darauf, dass wir diesen Abend schnell hinter uns bringen und es uns nächstes Wochenende …«

»… mit der neuen Staffel von Pretty Little Liars auf der Couch gemütlich machen!«, beendete sie meinen Satz, und wir stießen an. Was für eine absurde Situation. Wir saßen hier im angesagtesten Club der Stadt, hatten noch die ganze Nacht vor uns und wollten bereits jetzt viel lieber nach Hause.

Ein gewisser Hang zum Masochismus

Plötzlich wurde das Gemurmel und Gerede um uns herum leiser, und ich schaute zu dem sich öffnenden Vorhang. Dahinter war eine Bühne mit wuchtigen Boxentürmen links und rechts. Vier junge Männer in schwarzen Hosen und weißen Hemden nahmen ihre Plätze an Schlagzeug, Keyboard, Bass und Gitarre ein. Auf der Tanzfläche wurde es binnen Sekunden brechend voll, und als der Sänger, groß und schlank, die Bühne betrat, klatschte und jubelte das Publikum, als hätten alle nur auf diesen Moment gewartet.

Er trug, anders als seine Bandkollegen, keinen Schlips. Er war irgendwie lässiger mit seinem Dreitagebart und den verwuschelten, dunklen Haaren. Er schaute nicht ins Publikum. Er ging auf direktem Weg zur Mitte der Bühne und stellte in aller Ruhe den Mikroständer auf die richtige Höhe ein. Die Band begann das endlos lange Intro von Hotel California zu spielen, und ich nahm den Flyer, der auf unserem kleinen Tisch lag: »Heute Abend: Top-40-Cover im Atelier«. Ich dachte gerade darüber nach, dass ich es ziemlich merkwürdig fand, dass für eine einfache Coverband so ein Alarm gemacht wurde, als seine Stimme den Raum erfüllte und mich gnadenlos umwarf. Sofort waren meine Augen wieder bei ihm.

Er saß nun auf einem Barhocker, ein Bein angewinkelt, mit dem Fuß auf dem Steg, den anderen hatte er auf dem Tellerstativ des Mikroständers. Die eine Hand oben am Mikro, die andere versetzt etwas tiefer. Seine Augen waren geschlossen, er war völlig in dem Lied versunken und ich in seiner unglaublichen Stimme.

Sie klang wie die wohlige Wärme eines prasselnden Kaminfeuers, aus dem lodernde, kleine Funken sprühten. Unbezähmbar und doch irgendwie angenehm vertraut.

»We are all just prisoners here of our own device.« Er beugte sich weiter vor, war mit seinem Mund ganz nah am Mikrofon und schien völlig in dem, was er da gerade schuf, aufzugehen. Seine Stimme verschmolz zu einem Duett mit der Gitarre – er war eins mit der Musik. »You can check out anytime you like, but you can never leave.« Er lockte noch den letzten Tropfen Gefühl aus der Zeile, bevor er schließlich verstummte.

Für einen Moment herrschte absolute Stille, dann brach tosender Applaus los. Jule, ich, die Gäste um uns herum, es gab kein Halten mehr. Der ganze Raum war jetzt so brechend voll, dass sich die Menschen sogar in den breiten Eingangstüren drängten. Während des ganzen Songs hatte der Sänger seine Augen geschlossen, nun drehte er sich zu seinem Gitarristen und zuckte auf charmante Art verlegen mit den Schultern. Als wollte er zum Ausdruck bringen, dass er gar nicht verstand, warum wir alle so aus dem Häuschen waren.

Er stand auf, stellte seinen Barhocker beiseite, strich sich durch die zerzausten Haare und begrüßte das Publikum mit einem freundlichen »Guten Abend. Schön, dass ihr hier seid, das wird eine lange Nacht!«. Das Publikum jubelte, und die Band legte mit dem nächsten Song los. Ayo Technology von Milow. »When she’s ready to ride, I’ll be ready to roll – I’ll be in this bitch till the club close.«

Mir war bis jetzt nie aufgefallen, dass es in dem kompletten Lied nur um Sex ging, aber so wie er die Textzeilen mit seiner rauchigen Stimme liebkoste, die Adlibs hauchte, fast stöhnte, hätte ich Englisch gar nicht als viertes Abifach haben müssen, um zu verstehen, worum es ging. Wenn es sich wirklich so anfühlte, dann musste es wohl großartig sein.

»Let’s get it poppin’ shorty – We can switch positions – From the couch to the counters of my kitchen.« Wie er so da oben stand, ich konnte meine Augen nicht von ihm abwenden.

Er verlagerte sein Gewicht von einem Bein aufs andere, sodass sich seine Hüfte im Takt geschmeidig vor und zurück bewegte, immer und immer wieder. Wie es wohl wäre, wenn jemand von mir besessen wäre? Wenn sich jemand vorstellen würde, all diese Dinge mit mir zu tun? Wenn sich jemand danach sehnen würde, mich anzufassen? Ich spürte plötzlich ein angenehmes Kribbeln und schloss die Augen. Es fühlte sich aufregend an, und mir wurde mit einem Mal ganz warm, als mich das laute Klatschen und Jubeln unsanft aus meinen Fantasien riss. Ich schüttelte den Kopf, um die Gedanken zu verscheuchen, und nahm einen großen Schluck von meiner Cola light. Ja, die Abkühlung tat unheimlich gut.

»Kommt ihr mit tanzen?« Jasmin hatte sich bis zu uns durchgequetscht und schaute uns auffordernd an. Jule und ich brauchten uns nicht mal anzusehen, um gleichzeitig »Nö, wir bleiben noch hier« zu antworten. Jasmin blickte auf die Bühne, dann zu mir, skeptisch auf die Bühne und wieder zu mir. »Okay, der Typ ist echt heiß, aber seit wann interessiert dich das? Na ja, ich geh wieder zu den anderen. Himmel du ihn mal ruhig weiter an, und vergiss bloß nicht, dir noch ein Autogramm von ihm zu holen.« Mit einem spöttischen Lachen verschwand sie wieder zwischen den Menschen.

Was ’ne blöde Kuh, ging es mir durch den Kopf. Ja, stimmte schon, ich hatte noch nie einen Freund. Was zugegeben in meinem Alter, kurz vorm Abitur, nicht die Regel war. Aber das hieß ja nicht, dass ich nicht auch mal jemanden interessant finden konnte. Und ihn aus der Ferne anzuschmachten, war doch schließlich nicht verboten.

Natürlich hatte ich mal Freunde, aber eher beste Freunde, Kumpels halt. Gut, vielleicht war ich in den einen oder anderen auch mal ein bisschen verknallt, aber ich habe mir nie etwas anmerken lassen. Ich habe mir die Schwärmereien angehört, bei Liebeskummer getröstet und die Kupplerin gespielt. Ja, was das anging, hatte ich schon immer einen gewissen Hang zum Masochismus. Es schien etwas Wahres an dem Spruch zu sein, dass man sich erst selbst lieben musste, um von anderen geliebt zu werden. Oder eher, um dies zulassen zu können.

Nicht unbedingt eine Glanzleistung von mir, aber sobald sich jemand in mich verliebte, brach ich den Kontakt ab. Von jetzt auf gleich. Ich konnte es einfach nicht ertragen. Gefühle machten mir irgendwie schreckliche Angst. Sie waren unkontrollierbar, und wenn sie einfach so kamen, konnten sie ja sicherlich auch einfach so wieder verschwinden. Nee, nee – wenn ich es gar nicht erst beginnen ließ, konnte es auch niemand anderes beenden.

Aber hier konnte mir ja nichts passieren. Ich saß hier unten, und der hübsche Sänger stand da oben. Und bei den vielen Gesichtern sah er mich ja noch nicht mal. Und selbst wenn, wie arrogant war es eigentlich, mir überhaupt solche Gedanken zu machen? Jemand wie er würde sich doch niemals für jemanden wie mich interessieren.

Jule stand auf, nahm mir das Glas aus der Hand und versuchte mich auf die Tanzfläche zu ziehen. Zumindest auf das kleine Fleckchen, das vor unserem Tisch noch frei war. Ich lehnte mich dagegen, denn eigentlich war ich ganz froh, dass ich auf dem Barhocker sitzen konnte, schließlich hatte es lange genug gedauert, mich wenigstens halbwegs unauffällig draufzusetzen, und unter dem Tisch sah man meine Beine nicht.

Gut, mein Oberkörper war nun wirklich nicht das, was man schlank nennen konnte, aber doch zwei bis drei Kleidergrößen schmaler als der Rest. Sitzend machte ich also eindeutig eine deutlich bessere Figur als stehend. Und tanzend erinnerte ich dann doch eher an eine Schwabbellawine.

Jule legte den Kopf schief und zog die Stirn kraus, denn natürlich kannte sie den Grund meiner Tanzverweigerung. Na gut, wenn wir schon mal da waren, konnte ich auch mit Jule tanzen. Ich checkte kurz die Lage. Die Leute standen so dicht, dass niemand freie Sicht auf meine größten Problemzonen hatte. Perfekt! Das beruhigte mich, und ich fing an, mich sachte im Takt der Musik zu bewegen. Die Musik glitt über mich hinweg wie Klang gewordene Schwerelosigkeit, wie ein Windhauch. Ich fühlte mich mit einem Mal unglaublich leicht. Ich schloss die Augen und ließ mich einfach in die Musik fallen. Ich machte mir über nichts Gedanken. Nicht über mich und nicht darüber, was die anderen vielleicht über mich dachten. Ich war ganz bei mir.

»Oh nein, bitte nicht aufhören!«, ging es mir durch den Kopf, als ich den Sänger auf einmal »Wir machen jetzt eine kurze Pause, trinken zusammen was an der Bar und sehen uns gleich wieder hier« sagen hörte. Er gab dem Barkeeper ein Zeichen, und sofort ertönte leise Musik aus den Boxen, die in den mit Lichtern geschmückten Bäumen um uns herum hingen.

Es dauerte nur wenige Momente, bis sich das Publikum zerstreute. Einige strömten zu den großen Türen, die in die anderen Räume führten, andere gingen zu den Theken, um sich weiter mit Getränken zu versorgen, und eine Gruppe Mädels machte sich auf den Weg zu der Treppe rechts neben der Bühne.

Ausschnitte wurden tiefer gezogen, die eh schon kurzen Röcke noch ein Stückchen weiter hochgeschoben, sodass der Ansatz der halterlosen Strümpfe zu sehen war, und der Lippenstift aufgefrischt. Mir kam die Textzeile »Fliegen Motten in das Licht, genau wie du und ich« von Nena in den Kopf, und ich musste grinsen. Jule warf mir einen fragenden Blick zu, und ich nickte Richtung Bühnenaufgang, wo der Sänger gerade die Treppe herunterkam. Wirklich weit kam er nicht. Die fünf redeten alle gleichzeitig auf ihn ein, und jede versuchte verführerischer als die anderen zu sein.

Er lächelte und strich sich die Haare aus dem Gesicht, hob dann aber doch höflich abwehrend die Hände und ging weiter zur Bar. Die Mädels ignorierten völlig, dass er ihnen gerade einen Korb gegeben hatte, und folgten ihm. Am Tresen ging das Theater weiter. Dicht gedrängt standen sie nun um ihn herum und gönnten ihm nicht mal seine Pause. Eine Schwarzhaarige mit Pulp-Fiction-Frisur spielte sogar lasziv mit der Zungenspitze an dem schwarzen Strohhalm in ihrem bunten Cocktailglas.

»Sag mal, ist das nicht Caro aus unserer Stufe?«, fragte mich Jule fassungslos.

Ich schaute genauer hin. Und ob! Auf jeden Fall war das Caro. Sie war im letzten Schuljahr hängen geblieben und seitdem bei uns im Abschlussjahrgang. Ich hatte zwar keinen Kurs mit ihr und auch noch nie länger mit ihr gesprochen, hatte sie aber schon öfter mit Jasmin gesehen.

Die Blonde neben ihr, mit den halterlosen Strümpfen und den knallroten Lack-High-Heels, zog die typische Kleine-Mädchen-Nummer ab, große Kulleraugen und ein unschuldiger Schmollmund, dabei wickelte sie verführerisch eine Haarsträhne um ihren Zeigefinger.

Der Sänger unterhielt sich, von den Mädels absolut unbeeindruckt, angeregt mit dem Barkeeper. Am Tisch neben uns standen seine Jungs aus der Band und beobachteten, genau wie wir, amüsiert das Spektakel. »Oh Mann, wenn die wüssten …«

»… wäre es vor unserer Bühne nicht halb so voll«, beendete ein Bandkollege den Satz des Drummers, und alle lachten. »Moment! Wenn sie was über ihn wüssten? Dass er eine Frau und zwei Kinder zu Hause hat? Dass er jeden Abend eine andere mit ins Hotel nimmt? Oder dass er im Bett auf so abgefahrene Sachen steht, dass Shades of Grey dagegen ein Kinderbuch ist?«, schoss es mir durch den Kopf, als Jasmin und die anderen zurück an unseren Tisch kamen.

Im Schlepptau hatten sie ausgerechnet die Typen, die Jule eben so plump an der Theke angemacht hatten. »Wir wollen mit den Boys hier noch in einen anderen Club. Seid ihr dabei?«, kicherte Jasmin, während ihr ein widerlich schleimiger Typ, der wie eine ganze Parfümerie stank, den Hals küsste und an ihrem Ohr knabberte.

»Nein, geht ihr mal allein, wir sehen uns Montag in der Schule«, sagte Jule und bemühte sich, nicht laut loszuhusten. Der Typ stank aber auch einfach nur bestialisch. »Wir bleiben noch und hören uns die Band weiter an. Die sind echt gut!«

Wir verabschiedeten uns und guckten den Mädels hinterher, als vom Nachbartisch »Vielen Dank, das hört man gern« kam und der Gitarrist uns zuprostete. Jule lächelte und hob ebenfalls ihr Glas.

Ich fragte Jule, ob ich sie kurz allein lassen könnte, da ich dringend aufs Klo musste. »Klar, ich bewache unseren Tisch vor den Groupies«, flachste Jule und grinste mich breit an. Auf dem Weg zu den Toiletten war ich vollkommen in Gedanken. Was für eine unglaublich schöne Stimme, ich hätte dem Sänger ewig zuhören können. Okay, ich geb’s ja zu: Ich hätte ihn auch ewig weiter anschmachten können. Dass er sich seiner Wirkung auf Frauen so bewusst war und sie eiskalt ignorierte, machte ihn in meinen Augen nur noch attraktiver.

Ich reihte mich in die Schlange ein, die zum Glück nicht besonders lang war. Direkt vor mir standen zwei von den Frauen, die sich beim Einlass an uns vorbeigedrängt hatten. Wahnsinn, die waren wirklich locker zwei bis drei Köpfe größer als ich. So betrachtet, war ich also gar nicht zu dick, sondern einfach nur 50, okay, 60 Zentimeter zu klein.

Ich habe eine Wassermelone getragen

Wow, das war eher ein Wellnessbereich als eine Damentoilette! Der Boden aus dunklem Marmor, die Wände aus hellem Sandstein, in der Mitte ein großer, rechteckiger Waschtisch aus dunklem Holz mit zwölf Wasserhähnen aus Messing, sechs auf der einen Seite, sechs gegenüberliegend auf der anderen. Daneben schwarze und beige kleine Handtücher, sauber und ordentlich gestapelt. Der Raum war in warmes Licht getaucht, und es roch durch diese kleinen Rituals-Duftgläser mit den Holzstäbchen, die auf einer kleinen Anrichte vor der Spiegelwand aufgereiht standen, angenehm frisch.

Ich stand mitten im Raum, als plötzlich eine Kabinentür aufging und mir der attraktive Sänger direkt gegenüberstand. Er war gerade dabei, sich die Hose zuzuknöpfen. Während er mich von oben bis unten musterte, spielte ein verdutztes Schmunzeln um seine Mundwinkel. Er legte den Kopf schief, zog eine Augenbraue nach oben und sagte amüsiert: »Na, du hast dich aber in der Tür geirrt!« Bei diesen Worten erreichte das Lächeln nun auch seine stahlblauen Augen. Ich war wie versteinert und starrte ihn einfach nur an.

In diesem Moment öffnete sich eine weitere Toilettentür und eine von den großen Frauen … große Frau? Von wegen! Geschminkt, mit bunten Extensions, in Frauenklamotten und High Heels, aber definitiv ein Mann. Oh Gott, ich wäre am liebsten im Erdboden versunken, was für eine unglaublich peinliche Situation. Ich lief tiefrot an und konnte nur noch ein »Tut mir leid. Entschuldigung!« stammeln, bevor ich das Weite suchte.

Ich zog an der Tür, nichts rührte sich. Konnte sich nicht bitte sofort die Erde vor mir auftun? So eine Blamage, das konnte auch echt nur mir passieren. Ich zog fester und fester, als der Sänger plötzlich dicht neben mir stand. Sein unverschämt verführerischer Duft stieg mir in die Nase, als er mit einem Mal seine Hand auf meine legte. Es durchzuckte mich wie ein Stromschlag, und mein einziger Gedanke war, dass er hoffentlich nicht merkte, wie schwitzig meine Hände waren. Er drückte die Tür auf und sagte leise: »Siehst du, so geht’s.«

Seine Stimme klang freundlich, irgendwie belustigt, was natürlich kein Wunder war, denn ich machte mich hier gerade zum Vollhorst. Dass ich beim Rausstürmen nicht noch auf allen vieren landete, war echt ein Wunder. Was für ein peinlicher Abgang.

Vor der Bühne war es schon wieder brechend voll, und die Musiker nahmen bereits ihre Plätze an den Instrumenten ein, um das nächste Set zu eröffnen. Schnell Jule Bescheid sagen, bevor der Sänger auf die Bühne kam, dann unsere Jacken holen und abhauen – das war der Plan. Mit »Willkommen zur zweiten Runde, habt ihr irgendwelche Musikwünsche?« begrüßte er das Publikum, und beim Klang seiner Stimme zuckte ich zusammen.

Ich war zu langsam gewesen. Noch mehr erschrak ich nur eine Sekunde später, als plötzlich hinter uns eine Frauenstimme »If I were a boy von Beyoncé!« rief. Musste die denn ausgerechnet genau hinter mir stehen? Der Sänger schmunzelte und suchte meinen Blick. Wieder lief ich knallrot an, konnte aber nicht wegschauen. »Wie darf ich das verstehen?«, lachte er und strich sich die widerspenstigen Haare aus dem Gesicht. »Sicher, es mag praktisch sein, mal für einen Tag das Geschlecht zu tauschen. Als Mann müsstet ihr zum Beispiel nicht so lange an der Toilette anstehen«, sagte er und zwinkerte mir zu, »aber so hoch wie Beyoncé zu singen, will ich weder mir noch euch zumuten. Hat jemand einen anderen Wunsch, vielleicht von einem männlichen Interpreten?« Das Publikum lachte.

Nicht weit von mir entfernt stand Caro und warf mir einen bösen Blick zu. Ich lächelte sie trotzdem freundlich an, schließlich kannten wir uns ja, wenn auch nur vom Sehen, aber das ignorierte sie völlig. Was hatte sie denn? Hatte ich ihr irgendwas getan, dass sie nicht gut auf mich zu sprechen war?

»Hier geht doch irgendwas vor, von dem ich nichts weiß. Dich darf man auch nicht mal fünf Minuten alleine lassen! Was ist hier im Busch?«, neckte mich Jule und hielt mir auffordernd ihr Ohr hin.

Ich erzählte ihr, was mir auf der Toilette passiert war und dass ich mich am liebsten in Luft aufgelöst hätte, doch ihre einzige Reaktion war: »Und, Maus, warst du dann noch auf der Toilette?« Sie hatte diese unglaubliche Gabe, Dinge, die mich verzweifeln ließen, endlos zum Grübeln brachten, oder Situationen, die mir unsagbar peinlich waren, einfach wegzulächeln. Ich schüttelte den Kopf, denn das hatte ich bei der Aufregung tatsächlich völlig vergessen. »In der nächsten Pause gehen wir zusammen aufs Klo. Es hat schon seinen Sinn, dass Mädchen immer zu zweit gehen«, flachste sie, und schon tanzten wir wieder inmitten der anderen Gäste.

Als die Bedienung unseren Tisch abräumte, bestellte ich noch eine Cola für Jule und eine Cola light für mich, dann mussten wir uns nicht wieder bis zur Theke durchkämpfen. Da hörte ich ein: »Bist du so nett und bestellst mir ein Helles mit?« Moment! Sprach da jemand mit mir? Verdutzt drehte ich mich um. Tatsächlich, die Stimme kam von der Bühne. Der Sänger schaute mich auffordernd an und wiederholte: »Ja, genau, bestellst du mir bitte ein Helles?«

Als ich es gerade für die Bedienung wiederholen wollte, lächelte sie mich nur an und sagte: »Und ein Helles, geht klar.« Wieder spürte ich, dass mir die Röte ins Gesicht stieg. Das war wirklich nicht mein Tag, absolut nicht mein Tag. Ich strich mir eine widerspenstige Haarsträhne hinters Ohr, nahm meine Getränkekarte wieder entgegen und zuppelte an meinem Shirt, damit es lockerer fiel. Jule flüsterte mir ein »Da geht noch was!« ins Ohr, bevor sie sich wieder ins Getümmel stürzte und mich hinter sich herzog. Widerstand zwecklos, jetzt wurde getanzt.

Die Band spielte einen Chart-Hit nach dem anderen, und das Publikum sang lauthals mit. Ich kannte alle Songs aus dem Radio, aber live und mit seiner Stimme gefielen sie mir noch viel besser. Als ich mich das nächste Mal zu unserem Tisch drehte, standen dort unsere Getränke, sein großes Bier und daneben eine grinsende Jule. Mist, warum hatte die Kellnerin es ihm denn nicht einfach rüber zur Bühne gebracht? Ich schob das Bier in Jules Richtung, in der Hoffnung, dass sie es ihm brachte, aber sie schüttelte nur kichernd den Kopf. »Von wegen, das ist euer Ding – los, bring’s ihm, er wird dich schon nicht fressen.«

Ich nahm das Bierglas, atmete dreimal tief durch und machte mich auf den Weg zur Bühne.

Obwohl die Leute wirklich ganz dicht gedrängt standen, machten sie mir umgehend Platz, lächelten mich freundlich an, und es war, als öffnete sich vor mir eine Schneise bis zur Bühne. Ich fühlte mich mit einem Mal irgendwie wichtig. Ich hatte eine Mission. Die Mission, ihm sein Bier zu bringen. Na gut, es war zwar nur eine sehr kleine Mission, aber immerhin.

Je näher ich der Bühne kam, desto mehr verließ mich der Mut. Tief durchatmen und jetzt bitte nicht rot anlaufen, nicht wieder rot werden, sagte ich mir immer wieder wie ein Mantra vor. Geholfen hat’s natürlich nicht.

»Du stehst nicht so gerne im Mittelpunkt, was?« Da waren sie wieder, diese stahlblauen Augen mit den kleinen Lachfältchen und das Grübchen am Kinn. Er war in die Hocke gegangen, hatte sich zu mir hinuntergebeugt und sprach so leise, dass ihn niemand sonst hören konnte. Ich biss mir auf die Unterlippe und senkte den Kopf, konnte meinen Blick aber nicht von seinen unfassbar blauen Augen abwenden. Wie war das mit der Kleine-Mädchen-Nummer?

»Ne, nicht so unbedingt«, sagte ich leise, als seine Hand meine berührte und er mir das Bierglas abnahm. Die Berührung durchzuckte mich wieder wie ein Schlag, mein ganzer Körper schien zu beben, und mein Herz raste. So etwas hatte ich noch nie gespürt, es fühlte sich unglaublich an. »Los, sag irgendwas Schlaues, irgendwas Witziges!«, ging es mir durch den Kopf, aber da herrschte völlige Leere. Mir fiel die Szene aus Dirty Dancing ein, in der Baby »Ich habe eine Wassermelone getragen« sagt. Also hielt ich den Mund, lächelte verlegen, drehte mich um und ging schnell wieder zurück in die sichere Zone, als ich noch ein lautes »Danke dir!« hörte. Oh Mann, der Kerl wollte mich wohl echt fertigmachen, so viel Aufmerksamkeit war ich nicht gewohnt. Konnte er nicht einfach weitersingen?

»Ha-ha, er mag dich«, begrüßte mich Jule breit grinsend, als ich zurück an unseren Tisch kam, und hielt mir meine Cola light hin.

Ich schaute sie mit meinem überzeugendsten Halt-sofort-den-Mund-Gesicht an und nahm einen großen Schluck. So viele verwirrende Gedanken und Gefühle. Obwohl er mich nur eine Sekunde berührt hatte, spürte ich immer noch seine Hand auf meiner und dieses angenehme Kribbeln. Ich strich über die Stelle und ging die Situation wieder und wieder im Kopf durch. Was für Augen, was für ein sinnlicher Mund, mit diesem hinreißenden Lächeln. Ich konnte nichts dagegen machen, ein Honigkuchenpferd war depressiv im Vergleich zu mir.

Was war denn auf einmal mit mir los? Ganz normal war das nicht – oder war vielleicht genau das eben doch normal? Einen Tisch weiter stand wieder Caro. Hatte sie mich eben nur missgünstig angesehen, sprang mir nun blanker Hass entgegen, und sie machte auch kein Geheimnis draus. Sie musterte mich von oben bis unten, schnaubte verächtlich und schaute mich so angewidert an, als ob ich etwas Ekliges wäre, in das sie gerade hineingetreten war. Am liebsten wäre ich zu ihr rüber gegangen, hätte mich vor ihr aufgebaut und sie mit fester, ruhiger Stimme gefragt, was genau ihr Problem war. Strotzend vor Selbstbewusstsein hätte ich in ihr verdutztes Gesicht geschaut, bis sie den Blick gesenkt hätte. Für so einen Auftritt musste man nur leider auch die nötige Portion Selbstbewusstsein haben. Schade. So vermied ich also einfach jeden weiteren Augenkontakt und stellte mich etwas weiter weg von ihr. Das war zwar nicht ganz so eindrucksvoll, aber schien mir in dem Moment die deutlich bessere Alternative.

Der restliche Abend verging wie im Flug, wir tanzten, bis uns die Füße wehtaten, sangen unfassbar laut und schrecklich schief auch die Songtexte mit, die wir nicht kannten, und immer wieder wanderten meine Augen zu ihm – vorzugsweise in den Momenten, in denen er es nicht bemerkte. Nur hin und wieder kreuzten sich unsere Blicke, und ich hatte das Gefühl, dass er sich freute, mich noch im Publikum zu sehen. Er nickte mir jedes Mal leicht zu oder legte den Kopf ein klein wenig schief. Aber vielleicht bildete ich mir das auch einfach nur ein.

Als der Abend zu Ende war, die Band ihre Instrumente abbaute und die Gäste langsam ihre letzten Drinks austranken, überlegte ich tatsächlich hin und her, ob wir noch so lange an unserem Tisch stehen bleiben sollten, bis er fertig war und wieder die Treppe rechts neben der Bühne herunterkommen würde. Dann musste er gezwungenermaßen direkt an unserem Tisch vorbei.

Aber was erwartete ich? Dass er sich zu uns stellte, um sich mit uns zu unterhalten? Worüber hätten wir sprechen sollen? Über den peinlichen Vorfall auf der Toilette? Außerdem standen am Tisch neben uns schon wieder die Mädels, die ihm bereits in der Pause aufgelauert hatten, und meine besondere Freundin hatte mich bestens im Blick.

Nein, es war wohl besser, wenn wir den Abend jetzt einfach beendeten und nach Hause fuhren. Wie immer, wenn ich alle Eventualitäten schon mal im Kopf durchging, bevor überhaupt der erste Schritt gemacht war, kaute ich auf meiner Unterlippe, als Jule mich mit einem »Wollen wir auch gehen, oder möchtest du hier in Ruhe weiter vor dich hin träumen?« in die Wirklichkeit zurückholte. Ich zog eine Schnute, trank den letzten Schluck aus, zuppelte an meinem Shirt, dann gingen wir Richtung Foyer. Aus dem Augenwinkel konnte ich noch sehen, wie er die Bühnentreppe herunterkam und sich die Mädels tatsächlich wieder direkt auf ihn stürzten. Puh, gut, dass wir nicht gewartet hatten.

Auf dem Heimweg hielten Jule und ich noch kurz bei McDonald’s, um einen McFlurry zu essen. Den leckeren mit Oreo-Stückchen und Karamell-Soße. Jule lebte, genau wie ich, noch zu Hause und hatte im Gegensatz zu mir einen Führerschein. Ihre Eltern konnten es sich leisten, ihr so ein teures Auto zum Geburtstag zu schenken. Meine Eltern hätten mir mit Sicherheit auch ermöglicht, den Führerschein zu machen, aber irgendwie hatte es sich bis jetzt nicht ergeben, und da Jule fuhr, wenn wir dann doch mal irgendwohin wollten, war es auch nie notwendig gewesen. Ich konnte mich also gut davor drücken.

Zu Hause angekommen, führte mich mein erster Weg direkt in die Küche. Ein kleiner Nach-Mitternachts-Snack konnte ja nicht schaden, und ab dem nächsten Tag fing ich dann an abzunehmen. Wirklich. Wie oft hatte ich mir das eigentlich schon vorgenommen? Aber jetzt war ja alles anders, jetzt hatte ich ja einen echten Anreiz. Einen Anreiz mit blauen Augen und einem umwerfenden Lächeln. Beim nächsten Discobesuch wäre es also damit vorbei, dass ich ständig mein Shirt in die Breite ziehen musste. Jetzt war Schlemmen aber noch einmal erlaubt. Es war auch wirklich das letzte Mal.

So nahm ich mir eine große Tafel Schokolade, die Tüte Weingummi und den Rest von der Pizza Margherita, die noch im Kühlschrank stand, mit auf mein Zimmer. Und mit dem festen Vorsatz, dass ich ja am nächsten Tag anfing, gesünder zu essen, schmeckte es gleich doppelt so gut. Kalte Pizza, es gab kaum was Besseres. Als ich gegen halb vier in meinem Bett lag, war ich immer noch total aufgedreht und überwältigt von den Eindrücken.

Wie konnte jemand mit so einer unverwechselbaren, so außergewöhnlichen Stimme, der dazu noch umwerfend aussah, bei einer gewöhnlichen Coverband singen? Der gehörte doch auf ganz andere, viel größere Bühnen. Mir ging wieder und wieder die Szene auf der Männertoilette durch den Kopf, die jetzt, mit einem gewissen Abstand, gar nicht mehr so unglaublich peinlich war. Gut, ein bisschen blöd war es schon, aber ich hatte echt übertrieben, da einfach rauszustürmen. Wenn man es genau nahm, war das noch viel peinlicher, als sich in der Tür zu irren.

Na ja, jetzt war es eh zu spät, es gibt keine zweite Chance für einen ersten Eindruck. So lächerlich konnte er meinen Auftritt auch gar nicht gefunden haben, sonst hätte er mich nicht gebeten, ihm das Bier zu bestellen. Noch dazu vor all den Leuten. Ein Bier, das übrigens ich bezahlt hatte. Ich hatte ihn also quasi auf ein Bier eingeladen. Obwohl mein Bauch durch die langsam im Magen aufquellende Pizza unangenehm spannte, ließ mich dieser Gedanke schmunzeln, und so schlief ich glücklich ein. Ich träumte von stahlblauen Augen, widerspenstigen Haaren, großen Bühnen, kühlen Biergläsern und eifersüchtigen Mädels, die gerne mit mir getauscht hätten.

Wer kümmert sich ums Essen?

Am nächsten Morgen riss mich das Klingeln meines Handys unsanft aus den Träumen. »Na, du Schlafmütze, wolltest du mich nicht anrufen, wenn du aufgestanden bist?«, hörte ich Jule in gespielt vorwurfsvollem Ton. Sie klang schon wieder wie das blühende Leben. Bestimmt war sie gerade vom Kirchenbesuch mit ihren Eltern zurück.

»Guten Morgen! Ja, schon, aber ich bin doch noch gar nicht aufgestanden«, antwortete ich mit belegter Stimme, während ich mir die Augen rieb.

»Guten Morgen? Lea, wir haben halb zwölf.« Ich konnte förmlich sehen, wie Jule eine Augenbraue nach oben zog. Was? War es wirklich schon so spät? Ich schaute mich schlaftrunken in meinem Zimmer um. Tatsächlich, draußen war es schon hell. Die Sonne schien auf meinen Schreibtisch, auf dem die vielen dicken Bücher und Ordner zur Vorbereitung aufs Abi lagen. Daneben mein Lernplan und To-do-Listen. Endlich wieder Sonne, ich liebte es, wenn sich die Sonnenstrahlen ganz langsam durch den kalten Nebel kämpften und die Welt mal für einen kurzen Moment den Atem anhielt. Das gibt’s nur im Winter.

»Hallo!? Lea? Bist du etwa wieder eingeschlafen?«, kam es aus dem Handy, und ich zuckte erschrocken zusammen.

»Quatsch! Ich bin hellwach«, war meine wohl nicht ganz so überzeugende Antwort, denn ich versuchte dabei erfolglos, ein Gähnen zu unterdrücken.

»Ja, ja, gib’s ruhig zu, die Gedanken an den hübschen Sänger haben dich nicht schlafen lassen«, lachte Jule. »Ich hab mich mal auf der Homepage von Joyning, das ist nämlich die Band zu deinem Sänger, umgesehen.« Ihr war deutlich anzuhören, wie sehr sie es gerade genoss, mich aufzuziehen: »Der Mann deiner schlaflosen Nächte heißt übrigens Ben und der Gitarrist Tobi. Und jetzt pass auf, nun kommt das Beste: In zwei Wochen spielen sie auf einem Frühlingsmarkt, und zwar ganz bei uns in der Nähe.«

Jule war völlig aus dem Häuschen und ich auf einen Schlag hellwach. Ben. Was für ein schöner Name. Sofort kamen mir wieder seine blauen Augen mit den kleinen Lachfältchen in den Sinn. Aber Moment, wer war dieser Tobi, von dem Jule sprach? Stimmt, der Gitarrist mit den blonden Locken hatte uns zugeprostet, als er am Tisch neben uns stand, aber mir war gar nicht aufgefallen, dass Jule ihn nett fand. »Aha, der Gitarrist heißt also Tobi«, wiederholte ich schmunzelnd.

»Komm, lass uns da an dem Freitag bitte hinfahren. Wir könnten schon nachmittags los, gehen noch ein bisschen bummeln, abends was essen, und um acht Uhr spielen sie dann auf dem Rathausplatz.« Ich hatte Jule noch nie so begeistert erlebt, ihre Stimme überschlug sich ja geradezu vor Vorfreude.

»Oh ja, das machen wir. Wir zwei machen uns einen richtig schönen Tag«, stimmte ich mit in ihre Euphorie ein, und noch während ich das sagte, wanderte mein Blick rüber zum Kleiderschrank. Zu meinem Kleiderschrank voll Nichts-Anzuziehen.

Die nächste Woche verlief schleppend langsam. Die Schultage zogen sich endlos hin, an den Nachmittagen lernte ich erst fürs Abi und verbrachte dann den Rest des Tages vor dem Fernseher. Die Planungstreffen mit unserem Abi-Komitee waren da eine schöne Abwechslung. Dieses Mal wollten wir die Aufgaben verteilen, und ich freute mich tierisch drauf. Organisieren, vorbereiten, Pläne erstellen, da war ich völlig in meinem Element. Ich liebte es, To-do-Listen und Zeitpläne zu erstellen. Noch mehr liebte ich nur, die Deadlines einzuhalten und dann Häkchen an die einzelnen Punkte zu setzen. Diese Kontrolle gab mir einen regelrechten Kick.

Jasmin, die Jule und mich seit dem Abend im Babylon schnitt, war die Vorsitzende unseres Komitees. Ich konnte es nur schwer ertragen, wenn etwas unausgesprochen blieb, und wollte sie eigentlich schon längst drauf angesprochen haben, hatte sie bislang aber nie irgendwo allein erwischt. Vielleicht ergab sich ja nun eine Gelegenheit. Da saßen wir nun in unseren Reihen, und Jasmin stand, wie jedes Mal, vorne neben einem Flipchart, das fast so groß wie sie selbst war. Sie gefiel sich sichtlich in der Chefinnenrolle, hielt wie immer einen langen Monolog zur Eröffnung der Sitzung und kringelte in der endlos langen Aufgaben-Liste die noch offenen Punkte mit einem fetten roten Marker ein. Gerade so, als ob sie sich dadurch schneller erledigen würden.

Wie konnte jemand nur so darauf abfahren, im Mittelpunkt zu stehen? »Du stehst nicht gerne im Mittelpunkt, was?«, kamen mir wieder Bens Worte in den Sinn. Das passierte mir ständig. Die entferntesten Zusammenhänge erinnerten mich an ihn, und ich spulte die Situation wieder und wieder vor meinem inneren Auge ab. Nur war ich in meinem Kopfkino schlank und glücklich. Ach ja, und schlagfertig. Warum fielen mir die besten Antworten nur immer erst Tage später ein?

»Wer kümmert sich ums Essen?«, fragte Jasmin, nachdem sie diesen Punkt besonders dick eingekringelt hatte.

»Lass das doch Lea machen! Oder nein, lieber doch nicht, sonst ist das Büfett schon leer geräumt, bevor wir da sind«, kam es verächtlich aus der Reihe hinter mir, und alle bis auf Jule lachten. Caro. Wo kam die denn auf einmal her?

Jule drehte sich mit einem Ruck, dass sogar ich mich erschrak, nach hinten, beugte sich zu Caro und herrschte sie an: »Du gehörst weder zum Komitee, noch hat dich hier irgendjemand nach deiner Meinung gefragt. Sieh du erst mal zu, dass du deinen Abschluss packst, danach kannst du dir Gedanken über den Abi-Ball machen – oder eben auch nicht!« Puh, das war Jule in Bestform.

Während ich noch darüber nachdachte, ob mir überhaupt etwas einfiel, was ich darauf erwidern konnte, hatte sie mal wieder ganz deutlich gemacht, dass man sich mit ihr besser nicht anlegen sollte. Einen Schlagabtausch mit ihr konnte man einfach nur verlieren. Es überraschte mich immer wieder, dass sie, wenn es drauf ankam, selbst die kleinste Schwachstelle des Gegenübers gezielt ausnutzte, denn es war eigentlich überhaupt nicht ihre Art, jemanden vorzuführen.

Jule war sonst eher eine Ruhige. Sie fiel nie durch irgendwelchen Stress oder Ärger mit jemandem auf, und jeder wollte mit ihr befreundet sein. Eigentlich war sie immer entspannt und freundlich, aber wenn sich jemand über mich lustig machte, wurde sie zur Löwin und verteidigte mich, dann stellte sich ihr besser niemand in den Weg. Da es leider recht häufig passierte, war sie da ziemlich gut in Übung.

Caro nahm wütend ihre Tasche und knallte heftig die Tür hinter sich zu, als sie hastig den Raum verließ. Ich fühlte mich so elend, dass ich am liebsten auch gegangen wäre, aber draußen war jetzt eine wütende Caro, da blieb ich doch lieber hier bei Jule.

Ihr Spruch hatte mich echt getroffen, und dass alle mit ihr über mich gelacht hatten, tat einfach nur schrecklich weh. Jule wandte sich an die Übrigen im Raum und sagte mit gefährlich ruhiger Stimme: »Können wir uns dann jetzt wieder den Vorbereitungen zuwenden, oder möchte sich noch jemand Caro anschließen?« Absolute Stille. Aus dem Augenwinkel sah ich, dass die meisten den Blick gesenkt hatten.

Drei Türen, vier Schubladen voll Nichts-Anzuziehen

»Ich wünsche Ihnen ein gutes Wochenende, genießen Sie die freien Tage«, beendete Herr Häcker unsere Englischstunde, und ich war heilfroh, dass auch diese grauenvolle Woche endlich rum war. Seit Caro mich vor einer Woche so mies angegangen war, hatte ich schon beim Gedanken daran, die Leute aus meiner Stufe wiederzusehen, solche Bauchschmerzen, dass ich beim Frühstück keinen Bissen hinunterbekam. Und in der Schule hatte ich mich auch nicht getraut, vor den anderen etwas zu essen. Jetzt wusste ich ja genau, was sie von mir hielten. »Iss doch noch mehr, damit du noch fetter wirst«, hatte mir zwar niemand ins Gesicht gesagt, aber ich war mir sicher, dass sie genau das über mich dachten.

Wenn ich durch den Flur ging und die anderen zusammenstanden, hatte ich immer das Gefühl, dass sie hinter meinem Rücken über mich tuschelten. Kam ich in einen Raum, verstummten die Gespräche und es wurden nur noch vielsagende Blicke ausgetauscht. Dieses peinliche Schweigen machte mich wahnsinnig, wahnsinnig traurig. Den ganzen Tag lag mir ein schwerer Stein im Magen, und die letzten Schulstunden konnte ich mich kaum noch konzentrieren, weil mir vor Hunger schon ganz schlecht war. Auf dem Nachhauseweg machte ich dann meist schon bei der Tankstelle halt, um mir was Süßes zu kaufen. Fünf Schokoriegel reichten für den Heimweg. Zu Hause angekommen, nahm ich mir gierig immer besonders große Portionen und mindestens zwei Mal nach. So lange, bis das Völlegefühl endlich die dunklen Gedanken vertrieb.

Ich wusste natürlich genau, dass mein Essverhalten nicht gesund war und ich davon eher zu- als abnehmen würde, aber nach meinem Abi würde alles besser werden. Ich musste nur noch dieses halbe Jahr durchhalten. Ein halbes Jahr, dann konnte ich mit all dem abschließen und völlig neu anfangen, dann musste ich die aus meiner Stufe nie wieder sehen. Dann war ich frei.

Ich atmete mehrmals tief durch, aber der Kloß in meinem Hals wollte nicht verschwinden. Herr Häcker, der als Letzter mit mir im Raum war, schaute mich fragend an. Vermutlich dachte er, ich würde Wehen veratmen, den richtigen Bauchumfang hatte ich ja fast. Während ich aufstand und vor ihm die Klasse verließ, sagte ich mir immer wieder lautlos: »Nur noch dieses halbe Jahr, das schaffst du!«

»Wochenende!«, durchfuhr es mich wie ein Blitz. Wir wollten doch zu dem Auftritt von Ben beim Stadtfest gehen. »War das echt schon heute Abend?« Da Jule unheimlich ehrgeizig war, nutzte sie im Moment jede freie Minute, um den Kopf in die Bücher zu stecken, sodass wir gar nicht mehr drüber gesprochen hatten. Ich war wirklich nicht faul, aber sie war an Zielstrebigkeit echt nicht zu überbieten. Sie wollte Jura studieren und brauchte dafür den besten Abschluss.

Jule war immer wie eine große Schwester für mich, die ich bewunderte, ja, zu der ich aufschaute. Nicht nur, weil ich sie außergewöhnlich hübsch fand, sondern auch, weil sie der liebenswerteste Mensch war, den ich mir vorstellen konnte. Bei ihr konnte ich einfach ich sein, musste mich nicht verstellen, mich für nichts schämen und ihr auch nie etwas vormachen.

Jule hatte – mal wieder im völligen Gegensatz zu mir – nicht nur eine ganz genaue Vorstellung von ihrer Zukunft, sie hatte auch das Selbstvertrauen, dass sie ihre Ziele erreichen würde. »Nur weil es mir niemand zutraut, heißt es noch lange nicht, dass ich es nicht kann« war immer ihr Motto, und genau das strahlte sie auch aus. Vielleicht traute ihr auch genau wegen dieser Selbstsicherheit jeder einfach alles zu.

Ich machte mir immer viel zu viele Sorgen, aber statt sich von meiner Angst anstecken zu lassen, lachte sie meine Bedenken einfach weg: »Wer sollte mich denn davon abhalten? Im Weg stehen kann man sich schließlich nur selbst.«

Sie wusste genau, wo sie studieren, was für Fächer sie belegen und wie sie wohnen würde. Auch, dass wir später, wenn wir alt und schrumpelig waren, zusammen unseren Lebensabend in einer WG irgendwo am Strand verbringen würden, war für sie sonnenklar. »Freundschaft ist die wahrste und ehrlichste Beziehung von allen«, sagte sie immer. Ja, sie hatte wirklich große Pläne für uns.

Aber jetzt brauchte ich erst mal einen Plan, wie ich diesen Frühlingsmarkt überstand, denn mir war so rein gar nicht nach Ausgehen zumute. Lieber wollte ich zu Hause bleiben, mir die Decke über den Kopf ziehen und mir Gedanken machen. Aber das konnte ich Jule nicht antun, und auch wenn ich zwar nicht unbedingt wollte, dass Ben mich sah – ich wollte ihn natürlich schon wiedersehen.

Eine Stunde später stand ich ziemlich verzweifelt vor meinem Kleiderschrank. Sonst war ich nie der Typ, der groß drauf achtete, ob die Hose gut saß oder ob das Shirt nicht vielleicht doch schon etwas zu ausgeleiert war. Der einzige Grund, etwas nicht mehr anzuziehen, war die Tatsache, dass die Hose nicht mehr zuging oder das Shirt zu sehr überm Hintern spannte.

Ich streifte durch die Bügel und blieb an der schwarzen Stoffhose und dem schönen Lagenshirt hängen. Diese Kombi hatte ich mir vor einiger Zeit für schickere Anlässe gekauft und fühlte mich darin auch ganz wohl. Nur war ein Stadtfest wohl kaum etwas, wo man in so einem Outfit auftauchte, und außerdem hatte Ben mich genau darin ja kennengelernt, wenn man es überhaupt als kennenlernen bezeichnen konnte.

Es half alles nichts, also nahm ich meine sämtlichen Jeans aus dem Schrank, breitete sie auf dem Bett aus und probierte eine nach der anderen an. Die saßen alle so knalleng, dass mein Bauch nach oben gequetscht wurde und ich wirklich als schwanger durchgehen konnte. Vielleicht fünfter Monat? Ich hatte echt verdammt viel zugenommen. Die Hose, die ich die letzten Tage in der Schule getragen hatte, passte zwar, denn der Jeansstoff gab immer noch ein bisschen nach, aber ich konnte ja nicht schon wieder dieselbe Hose anziehen. Und wenn ich sie jetzt noch express waschen und dann trocknen würde, wäre sie auch wieder zu eng.

Ich erinnerte mich, dass eine Freundin von meiner Mutter ihr vor einiger Zeit eine Jeans für mich gegeben hatte, die mir damals noch viel zu groß war. Ich war total empört, wie sie denn glauben konnte, dass mir diese viel zu große Hose passen könnte, aber jetzt hatte ich keine andere Wahl. Auf der einen Seite hoffte ich, dass sie mir nicht passte, auf der anderen Seite brauchte ich jetzt irgendeine Hose, die vernünftig saß, ohne mir die Luft abzuquetschen.

Augen zu und durch. An den Oberschenkeln saß sie schon mal, jetzt noch den Reißverschluss hoch und den Knopf zu. Sie passte wie angegossen, nicht zu eng, aber leider auch nicht mehr zu weit.

»Hi Maus, komme um 17 Uhr. Freu mich auf unseren Abend. Kuss Jule«, blinkte die Nachricht auf meinem Handy auf. Ich hatte noch fast eine Stunde. Das reichte, um noch zu duschen. Ich stand noch im Badezimmer vorm Spiegel und war gerade dabei, meine Wimpern zu tuschen, als Jule um Punkt 17 Uhr an der Tür klingelte.

»Du siehst ja toll aus!«, begrüßte sie mich und nahm mich so fest in die Arme, als hätten wir uns eine Ewigkeit nicht gesehen. Sie duftete nach All about Eve, ihrem Lieblingsparfum, das sie immer dann trug, wenn irgendwas Besonderes anstand. Sie freute sich anscheinend wirklich sehr, den Gitarristen wiederzusehen, und in mir kroch ein komisches Gefühl hoch. Wir hatten doch uns, war ihr das plötzlich nicht mehr genug? Wir wollten doch alt und schrumpelig auf unserer Veranda sitzen. Das hatte sie gesagt. Ihre Worte. Was würde denn aus unseren Plänen, wenn jetzt dieser Tobi plötzlich eine Rolle spielte?

Jule schob mich ein Stück von sich weg, um mich von oben bis unten anzuschauen, und lächelte. Warum guckte sie mich jetzt so an? Sie war es doch, die, wie immer, absolut umwerfend aussah. Sie hatte eine Bluejeans an, dazu schwarze Chucks und einen schwarzen, eng geschnittenen Pullover aus ganz leichtem Stoff, der ihren schwarzen BH ansatzweise erahnen ließ. Darüber eine schwarze, kurze Jacke. Die Haare waren zu einem lockeren Zopf zusammengebunden, sodass ihr nur wenige Strähnen ins Gesicht fielen.

Wie konnte jemand in so dezenter Kleidung nur so umwerfend aussehen? Wenn ich schlank war, würde ich genau so einen Stil tragen wollen. Keine tiefen Dekolletés, keine bunten Printshirts, die »Hallo, guck mich an« schrien. Ganz klassisch. Bluejeans und schwarze Shirts aus hochwertigen Stoffen, die durch schlichte Eleganz bestachen. Dazu schwarze Schuhe, vielleicht mit einem kleinen Absatz, damit ich mich etwas größer mogeln konnte. Ich liebte dieses Bild von mir, und allein der Gedanke an mein besseres Ich brachte mich schon dazu, mich besser zu fühlen.

Da dies aber noch in weiter Zukunft lag, war es zwar auch eine blaue Jeans mit schwarzem Shirt, aber von schlichter Eleganz konnte ich da nicht wirklich was sehen. Deshalb sah ich an mir herunter, zog eine Schnute und sagte: »Na ja, geht so.«

Jule machte ihr typisches Jetzt-hörst-du-mir-mal-zu-Gesicht und betonte, wie schön ich geschminkt sei, wie toll meine langen Wimpern zur Geltung kämen und wie sehr sie mich um meine braunen Naturlocken beneidete. Gut, da hatte sie recht, meine Haare waren mir wirklich gelungen.

Die Locken hatte ich von meinem Vater, das war unverkennbar. Sonst hatte ich optisch nicht viel von ihm. Er war, ganz im Gegensatz zu mir, sehr groß und bis auf seinen Bierbauch auch sehr schlank. Bier! Sofort bekam ich weiche Knie. Gleich würde ich Ben wiedersehen. Ob er sich noch daran erinnern konnte, dass ich ihm sein Bier gebracht hatte? Oder ob er sich bei meinem Anblick nur an die peinliche Aktion auf der Herrentoilette erinnern würde? Vielleicht hatte er mich auch schon gar nicht mehr auf dem Schirm. Mir kamen wieder die Worte seiner Bandkollegen in den Sinn, und ich fragte mich, was dieses Geheimnis war, von dem sie gesprochen hatten. Aua! Ich hatte mir bei dem Gedanken an ihn ein wenig zu fest auf die Unterlippe gebissen, und schon war ich wieder im Hier und Jetzt.

Jule saß im Wohnzimmersessel, die Beine elegant übereinandergeschlagen, und hatte sich, um mich aufzuziehen, ein Buch genommen, von dem sie jetzt oberlehrerhaft aufschaute. Ich lächelte verlegen, denn natürlich wusste sie genau, an wen ich dachte. »Können wir los, du Tagträumerin?«, schmunzelte Jule und legte den neuen Fitzek zurück auf den Couchtisch. Jetzt ging es los, auf zum Frühlingsmarkt.

Hektische rote Flecken