Das Meer in deinem Namen - Patricia Koelle - E-Book
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Das Meer in deinem Namen E-Book

Patricia Koelle

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Beschreibung

LASSEN SIE SICH DIESES BUCH AUF DER SEELE ZERGEHEN! Ein Buch wie warmer Sand am Meer. Wie das Rauschen der Wellen im Ohr. Wie Sonne auf unserer Haut. Niemand redet darüber, wie Carlys Eltern ums Leben kamen. Der Tod ist für sie ebenso tabu wie alles, was mit dem Meer zusammenhängt. Da bekommt sie ein Angebot. Sie soll ein altes Reetdachhaus an der Ostsee ausräumen und für den Verkauf vorbereiten. Vier Sommerwochen hat sie dafür Zeit. Für Carly die Chance, sich ihrer Angst vor dem Meer zu stellen und Abstand von ihrer unmöglichen Liebe zu gewinnen. Doch schon bald fühlt sie sich der Frau, die in dem Haus gewohnt hat und der sie sehr ähnlich sieht, seltsam nahe…

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Patricia Koelle

Das Meer in deinem Namen

Roman

FISCHER E-Books

Inhalt

WidmungPrologCarly1 Der Professor und die Weißen Zwerge2 Alte Töne und wer die Welt drehtOma Jules Seelensaft3 Post, Abschied und das himmlische Katzenauge4 Einbruch mit Rose5 Eine Frage zum FrühstückAbrahams Rosenblütenmarmelade6 Notizen am Spiegel7 Lebendige SpurenHenny8 Die SchiffeCarly9 GesprächeHenny10 Das Haus und die TräumeCarly11 Hennys GewürzeHenny12 Der erste PreisCarly13 Nach der Geisterstunde14 Kellerschätze15 Tee und Fledermäuse16 GeheimnisseHenny17 Im DunkelnOma Matildas MarmorkuchenCarly18 Die Westentaschenharke19 Ein toller HechtJakobs gegrillter Hecht20 Schritte auf der BrückeDaniels Sanddornmarmelade21 Licht auf dem Wasser22 Käufer und NachbarnHenny23 Muscheln und MeinungenCarly24 Gelb25 Holzweg26 FlömerRalphs LieblingsfischbrötchenHenny27 Hennys FrageCarly28 Flieg, Fischchen!Henny29 Der WahrheitswindCarly30 Suchen und Finden31 SommerträumlikörHennys Sommerträumbowle32 Thores NeuigkeitenHenny33 Die KranicheCarly34 Aus Erde geboren35 Was der Kormoran hörte36 Überraschendes37 Ein Abend im Frühherbst38 Vom WindMyras Sanddornmuffins (ca. 12 Stück)39 Vermächtnisse40 Zwei Briefe41 Eine Rose aus BerlinMyras BernsteintalerEpilogLeseprobePrologFlorida, USA,1 TirynDanksagung

Für alle, die nicht mehr hier sind.

Und für alle, die jemanden vermissen.

Prolog

Carly starrte auf das kleine Schiff in ihrer Hand. Es war das persönlichste Geschenk, das Thore ihr je gemacht hatte. Als der Bus in eine Kurve fuhr, ließ ein Sonnenstrahl den Rumpf honiggolden aufleuchten. Er war aus Bernstein. Die Segel aber, die sich in einem lautlosen Wind blähten, waren aus Silber. Sie spiegelten das Licht und warfen Funken an die schmutzige Buswand.

Der Bus bewegte sich auf der Landstraße vorwärts wie ein Tropfen, der einen Faden herunter-, aber bestimmt nicht wieder hinaufläuft. Die Straße zerschnitt Carlys Leben in zwei Teile. Hinter ihr blieben ihre Freunde zurück und ihre große, aussichtslose Liebe. Vor ihr lag ein unbekanntes Ziel am Meer. Um es zu erreichen, musste sie nicht nur ein uraltes Tabu brechen, sondern obendrein Tante Alissa anlügen, die ihr ein Leben lang Vater und Mutter gewesen war.

Das Schiff war schuld daran, dass sie hier war, wo sie nicht sein durfte. Schuld daran, dass sie Thores Bitte und endlich ihrer eigenen, verbotenen Sehnsucht gefolgt war.

Sie konnte sich nicht sattsehen daran, wie das Licht im Inneren des Bernsteins schimmerte. Winzig entdeckte sie ihr Spiegelbild darin, das ihr ratlos entgegenblickte. Doch seltsam – was war das? Neben ihrem eigenen Gesicht sah sie ein zweites. Es war älter und ganz gewiss nicht ihres, und es lächelte sie an.

Carly drehte sich um, sicher, dass jemand aus der Sitzreihe hinter ihr über die Lehne blickte.

Aber dort saß niemand. Alle drei Doppelsitze waren leer. Der Bus war kaum besetzt.

Verwirrt richtete sie ihren Blick wieder auf den Bernstein. Doch auf der blanken Oberfläche war nur ihr eigenes Gesicht zu sehen und ganz im Inneren ein Schatten, der vom Bug zum Kiel huschte und verschwand.

Wahrscheinlich fehlte ihr Schlaf. Gegrübelt hatte sie reichlich in den letzten warmen Nächten. Sie steckte das Schiff behutsam in ihre Tasche, kuschelte sich in die Ecke, schloss die Augen und dachte an den Sommernachmittag vor kaum zwei Wochen zurück, als sich alles zu verändern begann und ihr Leben zum zweiten Mal unaufhaltsam ins Rutschen kam.

Carly

1999

1Der Professor und die Weißen Zwerge

Thore stand mit anderen Studenten schon vor ihrem Stammlokal, wo sie verabredet waren. Als Carly sich zu der Gruppe gesellte, winkte er sie ein Stück beiseite und legte ihr freundschaftlich den Arm um die Schultern, wie so oft in den letzten sieben Jahren.

»Carly, es tut mir so leid. Wir bekommen keine Sondergenehmigung mehr. Dein Vertrag läuft Ende des Monats endgültig aus. Du musst dir einen anderen Job suchen. Es wird ja auch Zeit, dass du eine richtige Anstellung bekommst.«

Carly nickte stumm.

Einer der Studenten gestikulierte wild.

»Herr Professor, ich habe eine Frage!«

»Gleich, gleich! Lasst uns erst reingehen, ich habe Durst!« Thore scheuchte seine Herde durch das schmiedeeiserne Tor in den Biergarten.

Carly flüchtete in dem Chaos unbemerkt auf die Toilette.

Eine Überraschung war Thores Nachricht nicht, eher die erwartete Katastrophe, deren sicheres Eintreffen sie bisher erfolgreich verdrängt hatte. Ihr war schwindelig, als hätten seine Worte den Boden unter ihr verschluckt. Für einen Moment fühlte sie sich wieder sechs Jahre alt und verlassen.

 

Als Carly ein Kind war, hatte sie gedacht, der Tod wohne unter Tante Alissas Teppich. Sie stellte ihn sich klein, schwarz und struppig, mit gemeinen Augen und einem kahlen Schwanz vor, wie das Plüschtier, das ihr ein wohlmeinender Kollege Tante Alissas einmal mitgebracht hatte. Sie war schreiend davongelaufen und nicht wieder aus ihrem Zimmer gekommen, bis Tante Alissa vor ihrem Fenster das schreckliche Wesen in der Mülltonne entsorgt und einen Stein daraufgelegt hatte.

Mit dem Tod war das nicht so einfach.

Es gehörte zu Carlys Aufgaben im Haushalt, freitags die Teppichfransen mit dem Teppichkamm ordentlich zu glätten. Sie machte das immer zuerst und achtete darauf, dass nirgends eine Lücke blieb, durch die der Tod hinausschlüpfen konnte. Danach trat sie sie fest, indem sie drauf entlanglief, sich möglichst schwer machte und dabei sorgfältig einen Fuß vor den anderen setzte.

Später lernte sie, dass der Tod sich davon nicht einsperren ließ, und noch später, dass er nicht nur dort wohnte. Er steckte in Abständen immer wieder den Kopf in ihr Leben.

Dann kam ihr Studium und mit ihm Thore Sjöberg. Thores Stimme, sein Augenzwinkern und seine himmelstürmenden Gesten verscheuchten für Carly den Tod so nachdrücklich, dass sie ihn und alle Vorsicht vergaß und wirklich zu leben begann.

Und jetzt? Nun, da sich Thores und ihre Wege trennen würden, was würde geschehen? Sie hatte nie darüber nachdenken wollen, aber jetzt, wo es soweit war, hatte sie das Gefühl, dass nichts mehr im Leben sicher war.

 

Carly seufzte, wischte mit einem feuchten Papier über ihr Gesicht und wagte sich aus dem kühlen Lokal wieder hinaus in den Sommer.

Die Blätter an den Kastanienbäumen winkten die klebrige Julihitze über den Biergarten hinweg. Nur gelegentlich öffnete ein kräftigerer Windstoß eine Lücke. Dann huschte Sonnenlicht über den Kies, ließ die verschiedenen Getränke in den Gläsern aufleuchten und warf für einen Moment einen silbernen Schimmer auf die kurzen dunklen Haare von Thore.

Carly war seit Jahren seine studentische Hilfskraft gewesen. Obwohl ihr Studium bereits abgeschlossen war, hatten sie den Vertrag zweimal verlängern können, weil sie gut eingearbeitet war und sich mit der Planung der Astronomischen Tagung auskannte. Die war nun vorüber und ihre Zeit mit Thore auch. Sie musste sich einen Job suchen, was für frischgebackene Astronomen fast schwieriger war, als einen neuen Kometen zu entdecken. Aber das erschien ihr weniger bedenklich als die Aussicht, nie wieder täglich mit Thore zusammenzuarbeiten. Dieser Schrecken, den sie gerade noch so entschlossen hinuntergeschluckt hatte, breitete sich bei seinem vertrauten Anblick sofort wieder in ihr aus und ließ das Brausen der Hauptstadt und das Stimmengewirr um sie herum zusammenfallen in eine wattedicke Stille, in der sie allein war.

»He, Carly!« Jemand stieß sie in die Seite, so dass sie ihre Apfelschorle auf das rotkarierte Wachstuch verschüttete. Dankbar ließ sich eine Fliege darauf nieder. Wenigstens eine, die sich freute.

»Was?«

»Hast du schon das Poster mit den Messergebnissen fertig? Für die Ausstellung im Planetarium?«, fragte Julius, ein übereifriger Student aus dem zweiten Semester, der es nicht erwarten konnte, dass sein Name an einer Wand hing, egal, wie kleingedruckt er auch war. Carly konnte ihn verstehen; es war noch nicht so lange her, dass es ihr genauso gegangen war. Jetzt waren ganz andere Dinge wichtig.

Sie lächelte ihm beruhigend zu. »Na klar. Ich hänge es morgen auf.«

 

Sie war noch jünger als Julius gewesen, als sie Thore kennenlernte. Neunzehn. Es war ihr allererster Tag an der Uni. Sie hatte seine Veranstaltung nur gewählt, weil im Verzeichnis stand: »Vorlesung. Von Roten Riesen und Weißen Zwergen. Professor Thore Sjöberg.« Alle anderen Veranstaltungen waren Seminare. Da muss man bestimmt etwas sagen, dachte Carly, aber in einer Vorlesung brauchte man nur zuhören. Für den Anfang erschien ihr das verlockend. Außerdem fand sie den Titel schön. Zwar wusste sie, dass Rote Riesen und Weiße Zwerge bestimmte Stadien im Leben eines Sterns bezeichneten. Aber es klang tröstlich märchenhaft. Noch fühlte sie sich verloren in der weitläufigen Uni. Fremd. Sie suchte ewig nach dem Raum mit der Nummer 114. Doch am Ende fand sie ihn, und bald war es, als führten hier alle Wege zu Thore Sjöberg.

Da Carly zwar gerade noch pünktlich, aber fast als Letzte hereinkam, musste sie sich auf einen der leer gebliebenen Plätze ganz vorne setzen. Offenbar fühlten sich die anderen Erstsemester ebenso unsicher und hatten sich nach hinten verkrümelt. Der Professor fegte direkt nach ihr herein, nahm die Kurve eng und blieb vor der Tafel stehen. Aus dem Stapel Papier, den er unter den Arm geklemmt hatte, segelten einige Seiten neben Carlys linken Fuß und blieben auf dem Boden liegen. Sie hob sie auf und reichte sie ihm.

So begegnete sie schon in der ersten Minute seinem schnellen Lächeln, das fortan zu ihrem Leben gehörte. Mal im Vordergrund, mal hintergründig, aber unverrückbar gegenwärtig wie eine alte Zeichnung an der Wand, die immer wieder durch den neuen Anstrich hindurchschien.

Einen langen Augenblick blieb er stehen und sah Carly nachdenklich an. Ein Moment der Stille entstand zwischen ihnen, schwebte beinahe greifbar im Raum, bis er weiterging. Danach würdigte er sie während seines Vortrags keines Blickes mehr. Warum auch, sie war eine von vielen. Er war eifrig bemüht, diesen vielen die Weißen Zwerge näherzubringen, ihre Oberflächentemperatur und was sie bedeutete. Er langweilte sie nicht mit zu vielen Zahlen, sondern flocht Mythen und Sagen zu den betreffenden Sternen ein.

Es waren aber nicht nur seine Worte, mit welchen er die Studenten dermaßen in Bann zog, dass jeder einzelne kerzengerade auf seinem unbequemen Stuhl saß und lauschte, ohne auch nur einen Blick auf das grüne Frühlingsleuchten vor dem Fenster zu werfen. Es war sein Schritt, seine Art, sich wie ein Tänzer zu der Musik seiner Begeisterung durch den Raum zu bewegen und dabei mit den Armen zu dirigieren, als sei seine Vorlesung ein Schöpfungsakt. Gelegentlich lösten sich seine Schnürsenkel und folgten ihm eine Weile wie zierliche Schlangen ihrem Beschwörer. Dann bückte er sich und band sie zu, ohne in seinem Redefluss auch nur einmal zu stocken.

Als er am Ende der Vorlesung ebenso schwungvoll verschwand, wie er gekommen war, segelten erneut drei Seiten unter Carlys Tisch. Sie lief ihm nach.

»Herr Professor!«

Er blieb kurz stehen, nahm ihr die Zettel ab, ließ ihr noch ein Lächeln da und war schon um die Ecke.

»Wow!«, sagte eine blonde Studentin neben Carly. »Der sieht gut aus, findest du nicht?«

Carly fand, dass er ganz normal aussah. Seine dunklen Haare, die trotz ihrer Kürze an einigen Stellen unordentlich hochstanden, passten nicht zu den skandinavischen Vorfahren, die sein Name vermuten ließ, aber sonst war an seinem Aussehen nichts Außergewöhnliches. Er war nicht ganz einen Kopf größer als Carly, und sein sandfarbener Pullover war ausgeleiert. Seine Augen allerdings, ja, da machte etwas neugierig; sie waren irgendwo zwischen grau und blau, dazu waren je nach Lichteinfall auch grüne Spuren darin und gelegentlich ein Blitzen oder ein Sturm. So musste das Meer aussehen, das sie nur von Bildern her kannte. Das Meer … aber halt, hier durfte sie nicht weiterdenken! Das Tabu, das ihr Tante Alissa von klein auf eingeprägt hatte, galt auf seltsame Art immer noch. Wenn sie es nicht beachtete, wachte möglicherweise der Tod unter dem Teppich auf. Das hatte sie damals geglaubt. Jetzt war es Gewohnheit, Tante Alissa zuliebe.

Thore Sjöbergs Augen jedenfalls konnte man lange ansehen. Irgendetwas an ihm ließ ein stummes Echo in ihr zurück.

 

In der nächsten Vorlesung drängten sich die Studenten noch dichter. Es gab nicht viele Dozenten, die mit ihrer Begeisterung fürs Thema dermaßen anstecken konnten. Carly wählte diesmal einen Platz weiter hinten, doch als der Professor an ihr vorbeilief, verhielt er kurz, sah ihr in die Augen und fragte: »Kennen wir uns nicht?«

Ehe sie antworten konnte, stand er schon an der Tafel. Später suchte er in seiner Aktentasche herum, fischte schließlich einen Schlüssel aus seinem Jackett und steuerte auf Carly zu.

»Könnten Sie mir wohl ein paar Kopien aus meinem Büro holen? Raum 221. Der Stapel muss auf dem Tisch liegen. Den finden Sie.« Er drückte ihr den Schlüssel in die Hand.

Sein Büro war ein vollgestopftes Chaos. Der gesuchte Stapel lag auf einem Stuhl, nicht auf dem mit Büchern bedeckten Tisch. Auf dem Boden vor der Tür lagen noch zwei Zettel mit handschriftlichen Notizen. Vorsichtshalber nahm sie sie mit. »Ah, prima, da ist ja mein Konzept!«, freute er sich. »Würden Sie die Kopien gleich verteilen?«

Als sie nach der Veranstaltung sah, wie er sich bemühte, den Overheadprojektor unter einen Arm zu klemmen und seine Aktentasche und mehrere Bücher unter den anderen, nahm sie ihm die Bücher stillschweigend ab. Ebenso sein Jackett, aus dem Kugelschreiber fielen.

In seiner Vita las sie, dass er achtundzwanzig Jahre älter war als sie. Nicht alt genug, um so zerstreut zu sein, aber er war mit seinen Gedanken häufig in wissenschaftlichen Sphären unterwegs. Insofern bediente er gelegentlich das gängige Bild des typischen Professors, der nicht ganz von dieser Welt ist. Dazwischen wirkte er jung und ausgelassen, wollte alles über alle wissen, war sich nicht zu schade, auf einer Feier mitzutanzen, im Schneidersitz zwischen den Studenten auf dem Gras zu sitzen oder abends mit ihnen in der Pizzeria zu essen.

 

Dieses erste Sommersemester war aufregend, voller neuer Eindrücke und Herausforderungen. Schneller, als gedacht, war es vorbei. Thore und Carly waren in eine Art Routine verfallen: Sie sammelte auf, was er verlor, schwatzte der Bibliothekarin die Bücher ab, die er nicht mehr ausleihen durfte, weil er nie welche zurückbrachte, und setzte sich für ihn mit dem Kopierapparat auseinander, wenn ihm die Zeit fehlte. Es hatte sich so ergeben.

In der Sommerpause bemerkte sie, dass ihr sein Lächeln fehlte und sein Tanz vor der Tafel, seine ausholenden Gesten zu den Sternen hin.

»Das ist furchtbar peinlich!«, vertraute sie dem Rasenmäher an. »Es könnte sein, dass ich mich in meinen Professor verliebt habe. Was für ein Klischee! Schlimmer geht’s nicht.«

Obendrein war Thore verheiratet, mit einer sehr sympathischen rothaarigen Frau, und Zwillinge hatten sie auch noch. Er hatte ihr die Familie einmal vorgestellt, als sie ihn im Büro abholte. Carly beschloss, in Zukunft einen großen Bogen um Thore Sjöberg zu machen. Das konnte so schwer nicht sein. Die Uni war weitläufig genug, die Fakten und Geschichten über die himmlischen Zwerge und Riesen kannte sie nun, und sie musste Studienarbeiten schreiben und sich auf Prüfungen vorbereiten.

Im Herbst klügelte sie sich für das neue Semester einen Stundenplan aus, der am Freitagvormittag zwei unvermeidbare Freistunden aufwies.

»Komm doch mit«, sagte Daniela, mit der sie sich angefreundet hatte. »Es gibt ein spannendes Seminar über Sonnenflecken. Da will ich reinschnuppern. Allein hab ich keine Lust.«

»Na gut, wenn du mir mit dem Computerkurs hilfst …«

»Geht in Ordnung.«

Carly trottete hinter Daniela in den Seminarraum und grübelte dabei immer noch über ihren Stundenplan. Ein Blatt Papier segelte vor ihre Füße. Sie wusste es, bevor sie den Blick hob. Thore Sjöberg stand vor ihr, und sein Lächeln war in den Sommermonaten keine Spur dunkler geworden.

»Es ist eine Stelle für eine studentische Hilfskraft ausgeschrieben«, sagte er, »haben Sie Lust?«

»Ähm …« Carly dachte an ihren allzu vollen Plan. Aber auch an ihr Konto. »Bin ich denn dafür qualifiziert? Und gibt es nicht jede Menge Bewerber?«

»Ich habe die Stelle ja so ausgeschrieben, dass sie nur auf Sie passt.« Er strahlte sie an, seiner Sache sicher. Es war das letzte Mal, dass er Carly mit »Sie« angeredet hatte.

 

In den folgenden Jahren gab es kaum einen Tag ohne Thore. Er war ein Workaholic und hatte häufig auch noch am Spätnachmittag etwas für sie zu tun, verbrachte mehr Zeit in der Uni oder in der Sternwarte als zu Hause. Oft saßen sie an den Abenden im Biergarten, nicht anders als heute. Allein, wenn es etwas zu organisieren oder diskutieren gab, oder mit Studentengruppen, die sie gemeinsam betreuten. Carly konnte sich nicht vorstellen, wie ihr Alltag ohne Thore aussehen sollte. Die Zukunft schien leer, unbewegt und brüchig ohne seine Geschichten und Gesten, ohne die Funken in seinen Augen, die nie ihr, sondern immer dem Leben an sich galten. Und ohne seine offenen Schnürsenkel.

Von Anfang an waren sie nie nur Professor und Studentin gewesen. Zwischen ihnen war etwas Erfrischendes, Unzerbrechliches, eine rätselhafte Schwingung, eine wie selbstverständliche Verbindung, die in keine Schublade passte. Sie würde wohl nie dahinterkommen, was es war.

Oder bildete sie sich alles nur ein, und er hatte sich seinerseits an sie gewöhnt wie Professor Higgins an Eliza in »My Fair Lady«? Obwohl der Vergleich gefährlich war. Immerhin gab es unterschiedliche Versionen dieser Geschichte.

 

Sein Blick traf ihren über den Tisch hinweg, während er der allzu blonden Studentin neben sich lauschte. Er lächelte Carly zu; er kannte sie zu gut, wusste genau, was sie dachte.

»Willst du auch noch was trinken?«, fragte der gelockte Student von vorhin.

Sie beobachtete Thores Hände, die Bilder in die Luft malten, um die Form eines neuentdeckten Sternennebels zu beschreiben.

»Ja, bitte. Dasselbe.« Solange das schräge Licht den Saft in ihrem Glas sommergolden leuchten ließ, würde dieser Abend vielleicht einfach nie vorübergehen.

2Alte Töne und wer die Welt dreht

Wochenende. Dem Wind war die Luft ausgegangen, und die Schritte der Menschen waren schwer, als hätte die Hitze die Straßen verstopft. Manchmal hasste Carly die Stadt, in der sie aufgewachsen war. Oft sehnte sie sich nach weitem Land, nach sauberer Luft. Ihre Hausmeisterwohnung war noch relativ kühl, aber sie hielt es an diesem Nachmittag trotzdem nicht dort aus. Der Nudelsalat, den sie sich gemacht hatte, reichte mindestens für zwei. Sie steckte ihn in ihren Rucksack und radelte zum Hinterhof der Großfamilie Fiedler, die nach und nach fast ein ganzes Mietshaus geentert hatte. Bei Orje Fiedler fand sie immer Trost.

Sie hatte zwar auch ihre mütterliche Freundin Teresa. Die wäre eine bessere Wahl gewesen, wenn Carly über Thore reden wollte. Aber Teresa war im Krankenhaus und wollte wie immer keinen Besuch. Und Miriam, mit der Carly seit der Schule befreundet war, war segeln. Am Ende war es wie so oft eben ihr bester Freund Orje, der für sie da war.

Auf ihr Klingeln öffnete er prompt.

»Dich schickt der Himmel!«, lachte er.

»Mich oder den Nudelsalat?«

»Beides. Komm rein. Oder besser, lass uns rausgehen. Die Wohnung ist unerträglich.«

Er ging ihr durch das angenehm zugige Treppenhaus voraus in den Hinterhof, wo ein paar seiner kleinen Neffen im Schatten spielten und Oma Jule einen gießkannenähnlichen Limonadenkrug bewachte.

 

Carly kannte Orje länger als Thore. Eigentlich hieß er Georg, wie sein Großvater und mehrere andere Vorfahren. Aber alle diese Georgs hatte man Orje gerufen, und dabei blieb es. Einer davon war legendär in Berlin gewesen.

Den vorerst jüngsten Orje hatte sie neun Jahre zuvor an einem stürmischen Novembertag kennengelernt. Trockene Blätter flogen ihr um die Ohren, während sie ziellos durch die Straßen lief. Carly war ratlose achtzehn, und alles schien ihr gerade noch grauer und bedrückender als der Himmel. Die Angst vor den Abiturprüfungen lag ihr scharfkantig im Magen, und obendrauf lastete der heutige Vormittag, an dem sie fast vor der ganzen Schule in Tränen ausgebrochen wäre.

Dabei hätte sie jubeln müssen. Frau Giesing, die den Kunstkurs leitete, hatte vor Wochen einen Wettbewerb ins Leben gerufen. Ein Schuljubiläum mit einem Tag der offenen Tür stand an, und es gab leere Vitrinen im Treppenhaus, die nach Dekoration verlangten. Frau Giesing trug ihrem Kurs auf zu schnitzen.

Carly hatte ihren erschreckend großen Holzblock skeptisch hin und her gedreht. Das Material lag angenehm in ihren Händen, aber ihr fiel nichts dazu ein. Den Kunstkurs hatte sie wie viele andere nur belegt, weil dabei ein paar Punkte heraussprangen, die nichts mit Formeln, Zahlen oder lateinischen Vokabeln zu tun hatten. Doch dann sah sie aus dem hölzernen Klotz ein Auge an – ein Astloch. Dahinter eine kleine Maserung im Holz. Auf einmal konnte sie sich einen Fisch vorstellen. Ein Fisch hatte eine ganz einfache Form, das würde sie ja wohl zuwege bringen! Zaghaft setzte sie ein Messer an. Nach ein paar Stunden hatte sie wie der Rest der Klasse die Handhabung einigermaßen heraus. Es machte ihr zunehmend Freude, wie das schlichte Wesen unter ihren Händen erkennbar wurde.

Nun glättete sie unter Frau Giesings Anleitung die Oberfläche mit immer feinerem Sandpapier. Zum Schluss rieb sie sie mit Holzöl ein und polierte sie, bis der Fisch glänzte, als wäre er gerade aus dem Wasser gesprungen. Nachdem sie ihr Werk abgeliefert hatte, vergaß sie es prompt.

Und dann lauerte ihr Frau Giesing gestern früh schon am Eingang auf, stürzte auf Carly zu und packte sie am Arm.

»Carlotta!«

Was habe ich ausgefressen?, dachte Carly erschrocken. Dann sah sie, dass Frau Giesing strahlte.

»Carlotta, du hast den ersten Preis gewonnen! Im Wettbewerb! Die Jury hat tatsächlich deinem Fisch den ersten Platz zugesprochen. Und psst, bis zur Verleihung ist das geheim!«

Benommen stieg Carly die Treppe hinauf. Ihr Fisch hatte gewonnen. Sie hatte noch nie einen Preis gewonnen!

Abends erzählte sie Tante Alissa davon.

»Schön, Carly, freut mich«, sagte diese zerstreut.

»Verwandte sind zur Preisverleihung eingeladen«, erzählte Carly zaghaft. »Für die gibt es auch eine Führung durch die Schule und ein kleines Theaterstück von der vierten Klasse.«

»Sehr schön. Aber ich habe eine Besprechung im Museum wegen der Restaurierung der Anubis-Statue. Du brauchst mich doch nicht, oder?«

»Nein.« Carly hatte nichts anderes erwartet.

Ihren Bruder Ralph brauchte sie gar nicht erst fragen. Der würde sich in der Bank nicht freinehmen, nur weil seine kleine Schwester einen Fisch geschnitzt hatte.

Aber hey, sie hatte gewonnen, darauf kam es doch an!

 

Das Theaterstück der Kleinen war süß und witzig, und Carly lachte mit den anderen. Dann wurden die Preise vergeben. Ein Fünftklässler hatte eine Figur aus leeren Büchsen gebastelt. Ein Neuntklässler ein Musikinstrument erfunden. Eine Arbeitsgruppe für Handarbeit eine Lampe erschaffen. Carly applaudierte mit allen anderen. Die Aula war voller Familien mitsamt Onkeln, Tanten und Cousinen, die alle glückwünschend und strahlend über die Geehrten herfielen. Dann der dritte Preis: Ein Junge hatte einen Garten aus Origami gezaubert. Der zweite Preis: die Kohlezeichnung eines Mädchens, das die Schule vor hundert Jahren zeigte.

»Und jetzt bitten wir die Siegerin des Wettbewerbs Carlotta Templin auf die Bühne!«, rief die Direktorin. Carly stieg die Stufen hinauf.

Die Direktorin hielt Carlys Fisch in die Höhe.

»Eigentlich nur ein Fisch. Ein einfaches Wesen, eine schlichte Form. Was uns daran überzeugt hat, ist seine Lebendigkeit. Die offensichtliche Lebensfreude. Er scheint mitten im Sprung zu sein – einem Sprung in die Zukunft. Und wenn man sein Gesicht betrachtet, ist es eine verheißungsvolle Zukunft. Daher waren wir uns einig, dass er den ersten Preis verdient hat. Herzlichen Glückwunsch, Carlotta Templin!« Die Direktorin überreichte ihr einen goldfarbenen Pokal auf einem kleinen Marmorsockel. Carly bedankte sich und gesellte sich hastig auf die Seite zu den anderen Preisträgern. Doch die waren alle von ihren jeweiligen Familien umringt – kleine Geschwister, große Geschwister, stolze Eltern. Überall Eltern. Der Grundschulchor sang ein Ständchen, bevor alle von der Bühne durften. Carly stand allein. Die Freude und der Stolz, die sich in ihr ausgedehnt hatten wie eine große, schimmernde Seifenblase, platzten abrupt, wandelten sich erst in einen Klumpen in ihrem Magen, dann in einen scharfen Schmerz, weil niemand da war, mit dem sie das Glück ihres großen Moments teilen konnte. Irgendwann war der Chorgesang vorbei. Carly flüchtete von der Bühne und aus der Aula, verdrängte während der letzten Schulstunden ihre Traurigkeit.

Auf dem Heimweg schummelte der kalte Wind runde, weiche, melancholische Töne zwischen dem Straßenlärm in ihre Ohren. Sie lehnte sich gegen die nächstbeste Litfaßsäule. Die Tränen ließen sich nicht mehr schlucken und rollten nasskalt in den Kragen ihrer Jacke.

Bis die Musik verstummte und sie jemand behutsam an einem ihrer kurzen Zöpfe zog, in die sie ihre ungebärdigen rotbraunen Locken immer noch manchmal zwang.

»Kann ich dir helfen?«

Sie drehte sich um und sah in sanfte graue Augen. Der dazugehörige Junge schien kaum älter als sie selbst zu sein, trug ein rotes Halstuch und eine Schiebermütze und lächelte sie verständnisvoll an. Er hatte feine honigfarbene Haare, die ein wenig zu lang waren.

Carly schniefte. Er reichte ihr ein Taschentuch.

»Wie heißt du?«

»Carlotta. Danke.«

»Ich bin Orje. Orje Fiedler.«

Erst jetzt sah sie das Instrument, das neben ihm auf einem hochrädrigen Wagen stand.

»Ist das ein Leierkasten?«

Er strich zärtlich darüber.

»Eigentlich heißt es Drehorgel. Ja, das ist Friederike.«

»Spielst du noch was?«

Er sah sie prüfend an, nahm ihr das feuchte Taschentuch aus der Hand und reichte ihr ein neues.

»Gerne, aber nicht hier. Komm mit.«

Er schob die Drehorgel behutsam über das gnadenlose Kopfsteinpflaster um eine Ecke, durch eine offene Tür und einen Gang. Carly zögerte.

»Komm!«, wiederholte Orje.

Vor ihnen öffnete sich ein Hinterhof. Carly blieb staunend stehen. Neben einer Schaukel, auf der zwei Kinder spielten, gab es einen Springbrunnen, umgeben von Kübelpflanzen. Sie entdeckte Zitronen und Mandarinen. Oleander verbreitete dem Novemberwetter zum Trotz süßes Spätsommeraroma.

»Meine Oma lässt die Pflanzen immer bis zum ersten Frost draußen. Dann kommen sie in den Keller«, erklärte Orje.

Die Kinder kamen auf ihn zugerannt.

»Meine Nichten«, sagte er.

»Orje, wer ist das? Warum weint sie?«

»Das ist Carlotta. Und damit sie nicht mehr weint, holt ihr einen Kakao bei Oma Jule, ja? Setz dich, Carlotta.« Er wies auf einen Korbstuhl.

Dann rückte er Friederike in Position, fingerte an der Seite herum, um irgendeine Einstellung vorzunehmen, und begann, die Kurbel zu drehen.

Die Töne stiegen mit dem vom Hinterhof besänftigten Wind auf, ließen sich unsichtbar um Carly herum auf den Steinen nieder, blieben in den Zitronenbäumen hängen.

Orje drehte gleichmäßig die Kurbel. Wenn eine Melodie zu Ende war, fummelte er geheimnisvoll an Friederike herum und spielte dann die nächste. Mit jedem Lied wurde Carlys Schmerz ein wenig leichter.

Sie erkannte das alte Berliner Lied von der Emma auf der Banke an der Krummen Lanke und musste lächeln, weil Tante Alissa das früher manchmal gesummt hatte, wenn Carly nicht einschlafen konnte. Tante Alissa kannte keine Kinderlieder. Orje sah ihr Lächeln, lächelte erfreut zurück, ließ die Musik ausklingen und setzte sich neben Carly auf einen Schaukelstuhl.

»Wie machst du das, dass Friederike immer ein anderes Lied spielt?«, fragte sie.

»Ich verschiebe die Walze ein ganz kleines Stück. Auf der Walze sind acht Lieder«, erklärte Orje. »Es sind sogar mehrere Walzen im Familienbesitz. Daher kann sie auch einige modernere Lieder. Lange war es Tradition, dass jede Generation ein oder sogar zwei Walzen anschaffte. Sie sind sehr teuer. Manche sparten jahrelang darauf, andere sollen sie am Kartentisch gewonnen haben. Heute stellt man sie so gut wie nicht mehr her, es ist zu aufwendig. Modernere Orgeln haben Lochbänder oder sogar Computersteuerung. He, Mia, da seid ihr ja. Das ist aber kein Kakao!«

Wichtig schob die Kleine das Tablett auf einen wackeligen Tisch. »Nee. Oma Jule hat gesagt, wenn einer traurig ist, gibt’s keinen Kakao, dann gibt’s Seelensaft.«

»Noch besser!« Orje reichte Carly einen dampfenden Becher.

»Seelensaft?«

»Oma Jules Geheimrezept. Hilft gegen alles. Verrätst du mir jetzt, warum du so traurig warst?«

Carly kostete vorsichtig. Herrlich! Es wärmte von innen, nicht nur den Magen, auch die Gedanken. Sie erzählte Orje, warum sie so traurig gewesen war. Er lauschte interessiert und schwieg mit ihr an den richtigen Stellen.

»Deine Musik hat mir so geholfen«, fuhr sie dann fort. »Bestimmt hilfst du vielen Menschen auf der Straße mit deinen Liedern.«

»Zum Glück muss ich nicht von der Straßenmusik leben«, sagte er nachdenklich. »Ich bin Maler. Kein Künstler, sondern in einer Malerfirma. Ich habe mich darauf spezialisiert, Bordüren und Friese um Türen und Fenster und oben an die Wände zu malen. Muscheln, Blumen, Schwalben. Was du willst. Ich kam darauf, als ich die Friederike aufgemöbelt habe.« Stolz zeigte er ihr das feine Dekor auf dem alten Holz.

»Warum heißt sie Friederike?«

»Sie ist über zweihundert Jahre alt. Friedrich der Große verlieh Drehorgeln an versehrte Kriegsveteranen, damit sie sich ihr Brot verdienen konnten. Einer meiner Was-weiß-ich-wie-viel-Ur-Großväter war so einer. Auf geheimnisvolle Weise blieb die Orgel in Familienbesitz. Man sagt, er war auch ein sehr geschickter Kartenspieler. Orje hieß er, wie alle ältesten Söhne seither. Manchmal nahm er sein Holzbein ab und legte es auf die Orgel. Man erzählt sich, dass er ein geheimes Münzfach darin hatte.« Er strich über das Gehäuse. »Es ist eine Bagicalupo. Das ist der Mercedes unter den Drehorgeln. Bagicalupo war eine italienische Drehorgelbauerfamilie. Berlin entwickelte sich damals zum Mekka der Drehorgelbauer.« Orje schmunzelte. »Wenn ich als Knirps meinem Opa zugesehen habe, wie er die Friederike spielte, da dachte ich, wenn er die Kurbel bedient, sorgt er dafür, dass die Welt sich weiterdreht. Er war ein Magier für mich, auch weil er damit ein Lächeln auf die Gesichter der Menschen zauberte. Er und alle Orjes davor. Wenn ich die Musik höre, geht es mir ähnlich wie dir vorhin. Ich habe das Gefühl, die Stimmen der Toten sind alle darin lebendig geblieben.«

Carly war, als sähe sie die lange Ahnenkette der Fiedlers hinter ihm stehen und ihr zufrieden zuzwinkern. Ihre Eltern entdeckte sie nicht, auch nicht die kleine Valerie. Vielleicht riefen die Töne nur diejenigen, die mit Musik zu tun gehabt hatten, als sie lebten.

Und die anderen? Gab es für sie auch einen Klang, ein Zauberwort, um die Erinnerung lebendig werden zu lassen?

Die Dämmerung senkte Nebel auf den Hof. Oma Jule kam heraus. Sie reichte Carly kaum bis zur Schulter, aber sie funkelte geradezu vor Lebendigkeit.

»Kommt rein, Kinder«, sagte sie, »es wird kühl!«

Drinnen gab es Orjes Geschwister und die kleinen Nichten und einen Haufen verschiedener Verwandter, die Carly auch in den Folgejahren nie lernte auseinanderzuhalten, und sie spielten Fang-den-Hut und lachten bis spät in den Abend. Von da an gehörte Carly wie selbstverständlich zu dieser uferlosen, herzlichen Familie dazu. Sie war dankbar dafür, weil sie so etwas nicht kannte.

Vielleicht hätte sie auch irgendwann zu Orje gehört. Doch dann fegte Thore in ihr Leben.

 

»Ich verstehe dich nicht!«, sagte Miriam Jahre später zu Carly. »Orje ist in jeder Hinsicht wunderbar. Verständnisvoll, vergnügt, ein bisschen verrückt und zum Vernaschen süß.« Miriam liebte Alliterationen und Männer, die anders waren. »Was hast du nur an ihm auszusetzen?«

»Überhaupt nichts! Orje ist wie ein Bruder für mich. Der tollste Bruder, den man sich nur wünschen kann.«

Miriam stöhnte. »Bruder! Du hast doch schon einen Bruder.«

»Ralph? Der ist weder verständnisvoll noch vergnügt. Und am allerwenigsten verrückt.«

»Aber Orje und du, ihr seid doch wie … wie … na, unzertrennlich eben.«

»Ich kann mir auch gar nicht mehr vorstellen, ihn nicht zum besten Freund zu haben. Aber … na ja, du weißt schon. Tausendmal berührt – und es hat eben nicht Zoom gemacht.«

»Ihm geht es da anders«, behauptete Miriam. »Also, ich würd’ ihn nehmen. Sofort.«

Carly lachte. »Probier dein Glück!«

»Hat keinen Zweck«, sagte Miriam düster. »Bist du so blind? Der hat eine teuflische Engelsgeduld. Der wartet einfach auf das zweitausendste Mal.«

 

Und so war es geblieben. Orje war geduldig für Carly da. Immer. Oft saß sie bei ihm, wenn er auf Straßenfesten spielte, hörte zu und las die Gesichter der Passanten. Orje hatte nur einen Fehler: Er war nicht Thore. Aber er brachte sie zum Lachen, und er hörte ihr zu.

Eine Zeitlang war Carly mit einem Biologiestudenten zusammen und Orje mit einer Sängerin. Sie wollten leben, nicht ewig warten auf etwas, das nicht geschehen würde. Es war schön, und sie unternahmen viel zu viert, aber es ging vorbei, und Carlys und Orjes Freundschaft blieb.

So saßen sie also an diesem heißen Nachmittag unter Oma Jules Zitronenbäumen und aßen Nudelsalat. Orje versuchte, sie aufzuheitern. »Du wirst einen Job finden«, sagte er. »Sterne gibt es überall.«

»Aber keine Sternwarten oder Institute, die unerfahrene Astronomen suchen.«

»Es wäre gut für dich, wenn du von diesem Professor wegkämst«, brummelte er, ohne sie anzusehen.

»Wenn ich aus Berlin wegmuss, sehen wir beide uns auch nicht mehr oft«, gab Carly zu bedenken.

»Trotzdem«, sagte er. »Du siehst in dem Sjöberg doch eigentlich nur den Vater, den du nicht hattest.«

Carly schüttelte den Kopf. Thore … ja, vielleicht war er auch ein Vater für sie. Doch er war viel mehr. Die unwillkürlichen Blicke in Gesellschaft anderer, wenn jeder wusste, was der andere dachte, die gleiche Freude an denselben Geschehnissen, demselben Buch, oder dasselbe Schmunzeln über eine Begegnung, das Füreinander-da-Sein, ohne jemals Fragen zu stellen – es verband sie so viel. Und wenn es nur eine besondere Freundschaft war, so war das immer noch etwas Wunderbares. Dass Orje Thore aus Eifersuchtsgründen in der Ersatzvaterrolle sehen wollte, war allerdings verständlich. Es wäre auch logisch gewesen, dass Carly auf Ersatz aus war. Orje wusste, wie sehr sie seine Großfamilie mochte, die Wuseligkeit, das Stimmengewirr, die Umarmungen. Das Lachen, das aufbrandete, wann immer die Fiedlers zusammen waren, und wenn es beim Geschirrspülen war. In Carlys Leben hatte es das nie gegeben. Zumindest konnte sie sich nicht daran erinnern. Sie war sechs gewesen, als sich ihre Welt veränderte, und wusste nur, was ihr wortkarger, kühler Bruder Ralph erzählt hatte. Tante Alissa redete nie darüber.

»Alissa kehrt grundsätzlich alles Wichtige unter den Teppich«, hatte sie einmal eine Nachbarin sagen hören. Seitdem war sie überzeugt, dass der Tod unter dem roten Teppich im Wohnzimmer lebte. Auf dem Teppich war ein schwarzes Muster, das grimmigen Löwenköpfen ähnelte. Und drum herum die Fransen, die mit ihnen den Tod bewachten.

»Hättest du dich nicht wenigstens in Rune verlieben können?«, fragte Orje. »Der ist nur drei Jahre älter als du, wusstest du das?«

Rune. Thores kleiner Halbbruder. Sie hatten ihn auf einer von Thores Geburtstagspartys kennengelernt, und Orje hatte sich sofort mit ihm angefreundet, weil er mitreißend Mundharmonika spielte. Rune war völlig anders als Thore. Ein Bär von einem Mann mit einem donnernden, herzlichen Lachen. Er lebte in Thores Heimat Dänemark und hatte einen hinreißenden Akzent. Carly hatte mit ihm getanzt und herumgealbert und sich dabei die ganze Zeit heimlich nach Thore umgesehen. Rune hatte zu den Melodien gesungen, mit einer wunderschönen Bassstimme, und dabei immer wieder die Töne dermaßen versemmelt, dass sie nur am Kichern gewesen war. Zum Glück fand das Rune selbst komisch.

»Ich dachte eigentlich, der wäre was für Miriam«, meinte sie. »Aber wer weiß, am Ende werde ich ihn womöglich fragen müssen, ob er mir einen Job in Dänemark besorgen kann.«

Oma Jules Seelensaft

1 Liter Streuobstwiesenapfelsaft

1 unbehandelte Zitrone

8–10 EL Holundersirup

1 TL Nelken

1/2 Zimtstange

1 Liter Wasser

Omas Geheimnis

Zitrone dünn schälen und auspressen. Zitronenschalen, Nelken und Zimtstange im Wasser einige Minuten köcheln und wieder herausfischen. Holdundersirup und Zitronensaft dazugeben. Streuobstwiesenapfelsaft dazugießen. Heiß trinken. Im Sommer mit kaltem Sprudel und Eiswürfeln servieren. Erfrischt und löscht den größten Durst.

Und Omas Geheimnis bleibt leider geheim!

3Post, Abschied und das himmlische Katzenauge

Carly war erst halb wach nach dem langen Abend bei Orje, wusste aber sofort, was der morgendliche Krach, das anschließende Schleifgeräusch und der laute Fluch zu bedeuten hatten. Hastig stellte sie ihre Teetasse ab und lief aus der Haustür.

»Herr Wielpütz, haben Sie sich verletzt?«

Sie zog das umgestürzte Fahrrad vorsichtig unter dem Briefträger hervor, der verschämt grinsend im Rinnstein lag, stellte es auf und reichte ihm eine Hand, um ihn hochzuziehen.

»Aber nein, Frau Templin, ich doch nicht!« Er strahlte sie an.

Gemeinsam machten sie sich daran, die verstreute Post aufzusammeln, die aus seinen Packtaschen geschleudert worden war. Carly fragte sich nicht zum ersten Mal, warum ein Briefträger, der nicht Fahrrad fahren konnte, grundsätzlich dermaßen gutgelaunt war. Sie hätte es ihm gerne nachgemacht.

»Der hier ist nass geworden, soll ich ihn schnell trockenföhnen?«

»Ach was! Der Herr Annighof kennt mich doch. Dem macht das nix. Hier, für Sie! Schönen Tach noch!«

Zweifelnd betrachtete Carly die Umschläge in ihrer Hand. Vorsichtshalber setzte sie sich auf die Treppenstufen. Die Zahnarztrechnung hatte sie erwartet. Das andere waren Absagen. Carly brummelte vor sich hin. Die von der Sternwarte auf dem Wendelstein war keine Überraschung. Aber in die Landessternwarte von Thüringen in Tautenburg hatte sie ein wenig mehr Hoffnung gesetzt. Thore hatte dort ein gutes Wort für sie eingelegt. Doch es gab einfach keine freien Stellen!

»Ach, Abraham. Ich bin gespannt, wovon ich meine Miete demnächst zahlen soll«, sagte sie zu dem Rosenstock neben der Treppe. Sie hatte ihn nicht so getauft. Abraham Darby, so hieß die Sorte. Das stand auf einem verblichenen Schild um den Stamm des betagten Stocks, der den ganzen Sommer über bis in den Herbst hinein aprikosenfarbene Blütentrauben über Gartentor und Treppe hängen und den passenden Duft in die Welt fließen ließ. Carly hatte sich schon als kleines Mädchen mit ihm angefreundet und angefangen, mit ihm zu sprechen. Manchmal tat sie es immer noch. Schließlich wohnten sie zusammen. Sie bewirtete ihn mit Wasser und Dünger, und er winkte ihr mit seinen langen Ranken fröhlich zu, wenn sie zum Tor hereinkam. Warum ihm nicht ein paar Worte widmen? Es fühlte sich tröstlich an. Jetzt ließ er ein Blütenblatt in ihren Schoß fallen, auf den Absender aus Tautenburg.

»Das Schlimme ist, ich bin gar nicht richtig enttäuscht«, vertraute sie Abraham an. Das konnte sie nicht einmal Thore sagen. Sie war stolz auf ihren guten Abschluss und das Wissen, etwas zu Ende gebracht zu haben. Aber schon länger trieben sich Zweifel in ihr herum, ob sie das Richtige gelernt hatte. Ob sie das wirklich den ganzen langen Rest ihres beruflichen Lebens machen wollte? Astronomie, das war heutzutage eben kaum noch »Sterne gucken«, wie sie einmal gedacht hatte. Das waren hauptsächlich Zahlen. Wenn man Beobachtungsdaten benötigte, musste man ein halbes Jahr vorher einen Antrag stellen, um an ein Fernrohr zu dürfen an einer der wenigen Sternwarten, die noch ein eigenes Teleskop hatten. Das hieß, ein sogenanntes Vorblatt auszufüllen, bei dem es sich um zehn Seiten technischer Angaben handelte: Wo lag der Stern, wie hell war er, warum wollte man die Daten und wozu? Irgendein Komitee entschied dann darüber, ob das Anliegen wichtig genug war, um ihm den Vorzug gegenüber anderen Interessenten zu geben. Wie oft hatte sie das für Thore erledigt! Am Ende bekam er meist, was er wollte; er hatte eine Menge Durchsetzungsvermögen.

Aber Carly hatte die Zahlen und die Anträge satt. Es genügte ihr, auf dem Rücken im Gras zu liegen und die vertrauten Sternbilder zu suchen: Pegasus mit Füllen, Orion, Leier, Schwan, Plejaden, Kassiopeia, Perseus, Giraffe … Ein Märchenland da oben, das zu jeder Jahreszeit andere Geschichten erzählte. Ein kleines Teleskop genügte, um auch die Mondmeere und die Saturnringe oder Kugelsternhaufen zu bestaunen.

Sie vermutete, dass es Thore manchmal ähnlich ging. Er hatte zwar kein Problem mit Zahlen, Kurven, Statistiken. Aber die Sternbilder verführten auch ihn immer wieder dazu, aus der griechischen Mythologie zu zitieren und das eine oder andere hinzuzudichten. Sein augenblickliches Projekt befasste sich mit der Frage, warum manche Galaxien schwächer leuchten als andere.

Er führte Untersuchungen über Anzahl und Alter ihrer Sterne durch, um Hinweise darauf zu finden. Aber ebenso erfand er Geschichten, wo das Licht geblieben sein könnte. Dann kam der Erzähler in ihm durch; nichts hielt ihn auf dem Stuhl, und seine Augen blitzten, als hätte sich das fehlende Licht genau dorthin verirrt.

 

Carly bemerkte eine blütenschwere Ranke, die abzubrechen drohte, und band sie sorgfältig hoch. Den Draht hatte sie für solche Notfälle in den Pusteblumen zu Abrahams Füßen versteckt, die sie als Hausmeisterin eigentlich hätte wegstechen sollen.

»Unkraut!«, würde Frau Jensen, die Hausbesitzerin, wettern, wenn sie wieder einmal vorbeikam. Aber auf die hatte schon Tante Alissa nicht gehört.

Tante Alissa. Die war der Anlass für Carlys Astronomiestudium gewesen. Sie tat sich schwer damit, Kindern etwas zu erklären, besonders, wenn es um Gefühle ging oder um Trost. Einmal aber hatte sie so etwas wie eine Sternstunde gehabt.

Carly war sieben. Andere Kinder in der Grundschule wurden von ihren Eltern abgeholt oder auf Ausflügen begleitet. Sie hatte keine Eltern mehr und fing an, Fragen zu stellen. Ob die Toten noch irgendwo waren und ob es stimmte, dass dieser Ort der Himmel war. Tante Alissa hielt wenig vom Christentum. Sie war Naturwissenschaftlerin durch und durch. Aber sie brauchte eine kindgerechte Antwort, denn Carly ließ nicht locker und weinte sich in den Schlaf.

In ihrer Not schwatzte Tante Alissa dem Direktor des Museums, in dem sie arbeitete, etwas ab. Sie hatte ihn nie zuvor um etwas gebeten. Er war so verblüfft, dass er nicht Nein sagte. An dem Abend legte Tante Alissa Carly beim Gutenachtsagen einen kartoffelgroßen, länglichen Stein in die Hand mit einer seltsam glatten, glänzenden Oberfläche, auf der an einigen Stellen Blasen, Kringel und Risse wie geheime Zeichen zu sehen waren. Er war sehr schwer; schwerer als gewöhnliche Steine von gleicher Größe, wie Carly sie oft in den Grunewaldsee geworfen hatte, um die Kreise auf der Wasseroberfläche zu wecken.

»Das ist ein Meteorit«, sagte Tante Alissa. »Wir haben im letzten Herbst Sternschnuppen gesehen, weißt du noch?«

Ja, daran konnte sich Carly erinnern. Sterne, die vom Himmel fielen, so etwas vergaß sie nicht.

»Wenn sie auf der Erde ankommen, kühlen sie ab, und das hier bleibt übrig. Das ist Post aus dem Himmel.«

»Von meinen Eltern?«, fragte Carly aufgeregt.

»Post aus dem Himmel«, wiederholte Tante Alissa nachdrücklich.

Carly, die stolz darauf war, dass sie im Gegensatz zu manchen Kindern in ihrer Klasse schon mit ganzen Büchern zurechtkam, drehte den Stein hin und her und betrachtete die seltsamen Muster, die beinahe wie Wörter aussahen.

»Aber ich kann sie nicht lesen!«

»Wenn du groß bist, wirst du es eines Tages können. Gute Nacht!«

Wer hatte schon Eltern, die Post aus dem Himmel schickten. Sternenpost! Carly spürte, wie der Stein in ihrer Hand warm wurde. So schlief sie ein, und durch ihre Träume huschte ein Funkeln.

Von da an sah sie die Sterne anders. Als ihr Bruder Ralph ihr einen drehbaren, nachtleuchtenden Sternglobus schenkte, lernte sie alle Sternbilder auswendig und zweifelte nie daran, dass der Nachthimmel ihr ein Stückchen Zuhause war und sie die Sterne zu ihrem Beruf machen würde.

Als an der Uni erste Zweifel aufkamen, war ihr schon Thore passiert und das Fach zu wechseln für sie damit ausgeschlossen. Meistens machte es ja Spaß. Und die Zeichen auf den Meteoriten konnte sie nun auch lesen: Sie sagten immerhin etwas über Herkunft und Beschaffenheit und Schmelztemperaturen aus. Außerdem ergänzte Thore den fehlenden Zauber bei weitem. Woher sie den allerdings ohne ihn nehmen sollte, war ihr schleierhaft. Sie hatte noch zwei Tage Vertrag bei ihm, jedoch ihre Stundenzahl war schon abgearbeitet. Es blieb nichts mehr zu tun.

Sie fühlte sich verloren. Missmutig zupfte sie an den Pusteblumen herum, pflückte eine und blies die Samen in den Wind. Die wussten auch nicht, wo sie landen würden.

Hoffentlich wurde Teresa bald aus dem Krankenhaus entlassen. Sie war dort schon öfter gewesen, meist wegen ihrer Bandscheiben oder ihrer Hüfte. Danach half ihr Carly mit dem Wohnungsputz, den Einkäufen und den Balkonpflanzen. Teresa wusste dafür Rat in allen Lebenslagen, durchschaute nadelscharf Carlys Schwächen, entdeckte aber auch ihre Stärken und tröstete sie nebenbei mit ihren Kochkünsten. Teresa war ursprünglich eine Freundin Tante Alissas gewesen. Mit der hatte sie sich irgendwann zerstritten, aber Carly und Teresa waren stets wunderbar miteinander ausgekommen. Teresa hatte das Mütterliche, das Tante Alissa völlig fehlte. Vielleicht hatte sie eine Ahnung, was Carly nun mit ihrem Leben anfangen sollte, ohne Thore und ohne klares Ziel.

 

Wie auf Kommando klingelte ihr Handy. Aber es war nicht Teresa, sondern Thore. Immer noch machte Carlys Herz diesen albernen, unvernünftigen Hüpfer, wenn sie seine Stimme hörte. Nach all den Jahren!

»Ich weiß, du hast deine Stunden durch«, sagte er, »aber ich habe einen Stapel Bücher ins Büro gelegt, mit Zetteln, du verstehst schon, da wäre noch einiges ganz dringend zu kopieren. Könntest du vielleicht … heute noch …?«

Er wusste natürlich, dass sie noch nie Nein gesagt hatte. Wie froh sie über diese kleine Galgenfrist und die Ablenkung war, ahnte er wahrscheinlich nicht.

Kaum hatte sie aufgelegt, rief Miriam an. »Kommst du mit schwimmen? Zum Insulaner?«

»Kann nicht, muss arbeiten.«

»Das hat ja zum Glück bald ein Ende. Na gut, dann frag ich Orje.«

»Mach das. Viel Spaß!«

Vielleicht würde es ja doch noch klappen zwischen Orje und Miriam, dann brauchte sie ihm gegenüber auch nicht mehr dieses diffuse schlechte Gewissen haben.

 

Carly schnitt eine Rose von Abrahams langen Armen, radelte zur Uni, fischte den beträchtlichen Stapel Bücher aus dem üblichen Chaos und brachte den Kopierer im Flur auf Touren. Sie kannte seine Macken, wusste, wie man den Papierstau entfernte und wo man dagegenhämmern musste, wenn er streikte. Die Stunden, die sie mit dem brummigen alten Gerät verbracht hatte, waren längst nicht mehr zählbar. Irgendwie hing sie sogar an dieser Maschine. Sie schalt sich eine sentimentale Ziege, legte den Stapel Kopien ordentlich beschriftet auf den Tisch und stellte die Rose in ein Marmeladenglas, das sie schon oft mit Blumen gefüllt hatte, um die kühle Nüchternheit des Büros zu erschüttern. Sie konnte nicht anders. Wenigstens waren Abrahams Blüten ja nicht ungehörig rot. Der Duft mischte sich in den Geruch des Kopiertoners.

Als sie die Bürotür zum letzten Mal abschloss, klingelte ihr Handy erneut. Thore.

»Bist du fertig? Ich kann dich abholen, bin schon fast auf dem Parkplatz. Wenn du Zeit hast, könnte ich noch deine Hilfe in der Sternwarte gebrauchen. Bring die Kopien bitte mit.«

Im Auto saßen Rita, seine Frau, und die Zwillinge Paul und Peer, die Carly hatte heranwachsen sehen und auf die sie oft aufgepasst hatte. Carly wurde mit lautem Hallo begrüßt. Sie hatten sich von Anfang an verstanden, alle, auch Carly und Rita.

»Ich setz die anderen bei meiner Schwiegermutter ab, dann fahren wir noch ins Gartencenter und in die Sternwarte«, erklärte Thore.

 

Im Gartencenter steuerte er auf die Teichabteilung zu. »Wir brauchen Pflanzen für den Teich im Sternwartegarten. Du hast mehr Ahnung als ich, was nehmen wir?«

Hinter der Sternwarte gab es einen kleinen Kräutergarten, Obstbäume, ein Stückchen Rasen und den Teich. Hin und wieder werkelte jemand in den Beeten herum; Carly hatte es gern getan. Vor Monaten waren Rohre auf dem Grundstück verlegt worden. Dazu musste der Teich geleert und die ganze riesige Plastikschale aus der Erde gehoben werden. Seitdem stand sie verloren an die Hauswand gelehnt. Heute hatte sich Thore, der Gärten liebte, ohne viel darüber zu wissen, aus irgendeinem Grund in den Kopf gesetzt, den Teich wiederzubeleben.

Carly suchte also Seerosen, Fieberklee, Schwanenblumen und Schwertlilien aus und war froh, dass sie ihre alten Jeans anhatte. Zum Schluss stopften sie den Kofferraum voller Säcke mit Teicherde. Als sie die im Sternwartegarten wieder ausgeladen hatten, waren Carly und Thore schon beide von oben bis unten mit Schlamm bespritzt und grinsten sich in gewohnt stillem Einverständnis über die schmutzigen Stapel hinweg an. So liebte Carly ihn am meisten: wenn dieser Mann der Sterne der Erde so nahe war. Dann war er ganz er selbst.

Sie erinnerte sich an einen Märztag, an dem sie nach Seminarende einen Spaziergang durch den Botanischen Garten machen wollten. Dort war kein Einlass mehr, es war zu spät. Thore ließ sich jedoch nie von etwas abbringen.

»Komm«, sagte er und zog sie um die Ecke, wo ein verschlossenes, unbenutztes Gartentor den dornenbewehrten Zaun unterbrach. Darunter war ein Spalt, ein paar Handbreit hoch. »Wir kriechen!« Schon zog er sein Jackett aus, drückte es ihr in die Hand und robbte auf dem Bauch hinüber.

»Und wenn sie uns erwischen?«

»Komm schon!«

Er trug sein Lausbubengrinsen. Wer konnte da widerstehen? Er würde es auch auf sämtliche Parkwächter anwenden. Mit Erfolg. Carly reichte ihm die Jacke durch die Gitterstäbe und folgte ihm. Wie immer. Erdverschmiert und glücklich durchstreiften sie in der schrägen Abendsonne die taufeuchten Anlagen, bis die Dämmerung das Licht verschluckte und am Himmel die Venus zwinkerte. Sie sah Thore noch heute vor sich, wie er auf der weiten Krokuswiese stand. Die meisten Menschen wissen nicht, dass Krokusse duften. Carly aber konnte den Geruch jenes Tages noch immer in ihrer Erinnerung wecken, und das Violett und Safrangelb des Blütenteppichs hatte sich zusammen mit Thores Lachen und seinem leichten Schritt für immer in ihr Gedächtnis geschrieben.

»Fass an!«, sagte er jetzt. Zu zweit versuchten sie, die Kunststoffwanne in das Erdloch zu schieben, doch schließlich mussten sie einsehen, dass das allein nicht zu machen war. »Schau nach, ob irgendwo noch jemand ist«, bat Thore.

Carly fand in der Sternwarte niemanden mehr; es war längst zu spät. Den warmen Tag hatten offenbar alle mit einem frühen Feierabend gekrönt.

»Ruf Orje an!«, schlug Thore vor.

Während Orje Thore mit Argwohn betrachtete, hatte Thore absolut nichts gegen Orje. Warum auch. Orje und Miriam waren wahrscheinlich nebenan im Schwimmbad, fiel Carly ein.

»Klar, wir sind gleich da«, sagte Orje dann auch fröhlich in ihr Ohr. »Ich habe eh schon einen Sonnenbrand. Und Miriam ist anstrengend!«

Kurze Zeit später kamen sie angeschlendert, unverschämt sauber und bestens gelaunt. Das mit dem »Sauber« dauerte nicht lange, aber wen störte das an diesem Sommerabend. Zu viert bugsierten sie die sperrige Plastikschale an die richtige Stelle, füllten sie mit Erde, buddelten die Pflanzen ein und wurden dabei immer ausgelassener. Miriam warf mit Erde nach Orje, während Thore Carly aus dem Schlamm zog, in dem sie ausgerutscht war.

»So!«, sagte er zufrieden. »Was haltet ihr von einem Picknick, während das Wasser einläuft?«

Er fischte einen Korb hinter dem Birnbaum hervor und warf Orje eine Flasche zu.

»Mach schon mal den Sekt auf, bitte, ich hol noch was aus dem Kühlschrank.«

Miriam breitete ihr Handtuch aus und räkelte sich genüsslich. Orje lehnte sich gegen den Birnbaum und bastelte am Sektkorken. Carly hockte auf den alten Kirschbaumstamm, der seit dem letzten Sturm schräg über der winzigen Wiese lag. So konnte es bleiben, dachte sie. Sie hätte jeden Tag mit Thore im Dreck wühlen können. Vielleicht hätte sie doch Gärtnerin werden sollen?

Als Thore mit einer Schüssel Kartoffelsalat in der einen und einer Tüte Buletten in der anderen Hand zurückkehrte, brachte er Julius und ein paar andere Studenten mit, die sich voller Stolz die fertige Plakatausstellung angesehen hatten.

 

Es wurde ein langer, leuchtender Abend. Irgendwann holte Thore zwei Fernrohre aus dem Schuppen. Orje seinerseits lief zum Auto und kam mit Friederike wieder. Die leicht melancholischen Töne kullerten zusammen mit dem Plätschern des Wassers über die Wiese und mischten sich mit dem Lachen der Studenten. Thore richtete das Fernrohr in Richtung des Sternbilds Drachen und winkte Carly heran.

»Guck, der NGC6543! Ist er nicht grandios?«

Sie kannte den bläulichen planetarischen Nebel, der diese unromantische wissenschaftliche Bezeichnung trug. Nur war er ihr noch nie so schön erschienen. Man nannte ihn auch Katzenaugennebel. Weil er genau so aussah. Unvorstellbar viele Lichtjahre entfernt und doch so nahe.

Wenn dieses gewaltige himmlische Auge sehen könnte, würde das Bild von ihr und Thore erst in all diesen Lichtjahren bei ihm ankommen. Dann wären sie schon lange Staub und die Erde mit ihnen; die Sonne dann auch nur noch ein Weißer Zwerg.

Hinter ihnen sang Orje, beflügelt durch den Sekt, zusammen mit Miriam unter dem Birnbaum zu Friederikes Melodie.

Wer kennt der Schatten Macht,

in blauer Tropennacht.

Wer kennt der Sterne Gunst und Neid.

Spiel noch einmal für mich, Habanero,

denn ich hör’ so gern dein Lied.

Spiel noch einmal für mich von dem Wunder,

das doch nie für dich geschieht …

Thore goss den letzten Sekt ein, trank einen Schluck und reichte den Pappbecher an Carly weiter. Sie setzte sich neben ihn, roch sein Aftershave und den Schlamm an seinem Hemd. Hätten Orje und Miriam ihnen nicht gegenübergesessen und Julius und die anderen im Gras gelegen, hätte sie sich wahrscheinlich blamiert und an Thores Schulter gelehnt. So trank sie nur den Sekt aus und fragte sich, ob er diesen Abend absichtlich als Abschiedsparty für sie inszeniert hatte. Und natürlich um den Teich in Ordnung zu bringen. Es sähe ihm ähnlich. Er schlug gern zwei Fliegen mit einer Klappe.

Diese Stunden waren perfekt gewesen, ein weiterer unzerbrechlicher Beitrag für ihre innere Erinnerungsschatzkiste.

Und doch hatte Carly das Gefühl, die Zukunft wäre ohne Boden, wie eine Nacht ohne Sterne.

Aber heute war heute, und heute waren die Sterne hell.

4Einbruch mit Rose

Die Hitze lag lähmend über der Stadt. Carly werkelte lustlos im Haus herum. Sie war müde von der langen Nacht und bemüht, die Bilder von Thore, die seit gestern in ihren Gedanken umhertrieben, für immer in ihrer Erinnerung festzuhalten. Auch der Klang seiner Stimme sollte bei ihr bleiben und die lebendigen Schatten, die sein Gestikulieren in der Abendsonne auf die Wiese malte.

Sie schrieb eine Bewerbung, brachte sie zum Briefkasten, las die Stellenanzeigen in der Zeitung, döste in Abrahams Gesellschaft und machte sich gegen Abend ans Unkrautjäten. Die Pusteblumen ließ sie stehen, aber gegen die Vogelmiere musste etwas getan werden, sie erstickte alles.

Da stieß ihre Hand im wirren Grün auf etwas Eckiges. Ein Brief, an Carly adressiert! Den mussten sie und Herr Wielpütz übersehen haben, als am Vortag seine Post aus den Packtaschen geschleudert worden war. Sie wischte die Erde ab. Erfreut erkannte sie die Handschrift. Teresa! Teresa schrieb tolle Briefe, allerdings meist nur, wenn sie verreist war. Wahrscheinlich hatte man sie wegen ihrer Hüfte wieder zur Kur geschickt. Sie benutzte nie Papier, sondern stets einen ganzen Stapel Postkarten, die sie eng beschrieb und durchnummerierte, von eins bis fünf oder sogar von eins bis neun. Die steckte sie alle zusammen in einen Briefumschlag und scheute auch das Porto nicht.

»Dann siehst du gleich die Bilder von dem Ort, wo ich bin, und kannst dir alles vorstellen«, meinte sie. »Papier ist langweilig.«

Oft waren es Bilder vom Meer, die Carly begierig sammelte. Von Tante Alissas Ängsten hielt Teresa nichts.

Carly steckte das dünne Kuvert in die Tasche. Allzu viele Karten waren diesmal offenbar nicht darin, aber sie wollte den Brief später mit sauberen Händen lesen.

 

Sie waren so hell und so lang, diese Sommerabende. Carly arbeitete sich vertieft durch den ganzen Garten, und als sie fertig war, war es zu ihrer Überraschung schon fast zehn Uhr. Ihr Magen knurrte ärgerlich. Sie wusch sich, fischte einen Joghurt aus dem Kühlschrank, und weil immer noch ein Rest Tageslicht am Horizont spielte, setzte sie sich auf die Treppe, um Teresas Brief zu lesen.

Es waren gar keine Postkarten. Es war nur eine Karte, eine Doppelkarte. – Und die hatte einen schwarzen Rand.

Carly verschluckte sich am Joghurt, stellte den Becher ab, ohne hinzusehen. Er fiel um und tropfte zur Freude der Ameisen unter der Treppe rosafarbenen Erdbeergeschmack über beide Stufen.

»Für alle, die sich erinnern«, stand in schwarzen Lettern auf der Innenseite gedruckt. »Teresa Lessing ist am 19. Juli verstorben. Die Beerdigung fand anonym statt.«

Carly konnte nicht glauben, was sie las. Sie lief ins Haus, ohne es zu merken, hielt die Karte unter die Küchenlampe. Die Buchstaben blieben trotzig, was und wo sie waren.

Aber die Handschrift auf dem Umschlag war unzweifelhaft die Teresas. Eine brennende Wut stieg in Carly auf, weil das leichter war als Schmerz. Teresa hatte es also vorher gewusst und ihr nichts gesagt! Was zum Teufel fiel ihr ein, ihre eigene Todesanzeige zu schreiben? Und dafür auch noch einen normalen Umschlag ohne Trauerrand zu benutzen, so dass man nicht vorgewarnt war? Und das Ganze dann erst nach der Beerdigung abschicken zu lassen, so dass niemand sie auf diesem Weg hatte begleiten und um sie trauern dürfen?

Aber wie typisch Teresa! Sie hatte nie erlaubt, dass jemand sie im Krankenhausnachthemd oder auch nur unfrisiert zu Gesicht bekam. Sie hatte eben nicht gewollt, dass jemand sie in einer Urne sah.

Doch das Trauern, verflixt, das konnte sie Carly nicht verbieten!

 

Die Tränen allerdings steckten in Carlys Hals fest und nahmen ihr die Luft. Sie schluckte, doch der harte Klumpen ließ sich nicht bewegen. Hastig wählte sie Tante Alissas Nummer, aber die war nicht da. Ach ja, fiel ihr ein, die war auf Exkursion in Ägypten, auf der Suche nach antiken Tonscherben. Tante Alissa liebte die Wüste, weil sie das Gegenteil von Meer war.

Aber wer konnte ihr dann sagen, was mit Teresa passiert war? Da war doch diese komische Nachbarin gewesen, die bei Teresa manchmal die Blumen goss. Widerwillig, weil sie den Katzengeruch in der Wohnung nicht mochte. Carly suchte im Telefonbuch. Nach dem achten Klingeln antwortete endlich jemand.

»Frau Bigalke …? Hier ist Carlotta Templin. Eine Freundin von Teresa Lessing, wir sind uns mal begegnet …«

»Mädchen, wissense nich, wie spät det is …?!«

Carly sah erschrocken nach. Dreiundzwanzig Uhr dreißig. Herrje! Aber darauf konnte sie jetzt keine Rücksicht nehmen. Sie brauchte Gewissheit.

»Entschuldigung, Frau Bigalke, aber ich habe eben erfahren … Können Sie mir bitte sagen, was passiert ist?«

»Det weeß ick doch ooch nich. Die hat ja nie wat erzählt. Aber die Frau, die die Katzen abjeholt hat, die hat wat von Krebs jesaacht. Darmkrebs. Hat ja ooch nich zu knapp jefuttert, die Frau Lessing.«

»Frau Bigalke, wissen Sie, auf welchem Friedhof die Beerdigung stattgefunden hat?«

»Nö. Ick war ja nich einjeladen. Un nu jute Nacht! Kieken se det neechste Mal uff de Uhr!«

Carly starrte den Hörer an. Wie sollte sie sich denn nun von Teresa verabschieden?

 

Sie tat, was sie in Notfällen immer tat. Sie rief Orje an. Der hatte nie etwas an einer Uhrzeit auszusetzen.

»Was ist passiert?«

Sie erzählte ihm alles, so gut sie es in Worte fassen konnte. Er hatte Teresa gekannt. Oft hatten sie sie zusammen besucht.

»Kannst du kommen? Mit Friederike? Wir müssen auf den Friedhof!« Er hörte die zitternden Ausrufezeichen in ihrer Stimme.

»Ich bin gleich bei dir. Zieh dir eine Jacke an!«

Er hatte nicht gesagt: »Was, jetzt gleich?« oder »Mitten in der Nacht? Das kann doch bis morgen warten.« Er sagte nur: »Zieh dir eine Jacke an!«, weil er wusste, dass sie das sonst vergessen hätte.

Warum nur konnte sie diesen Mann nicht lieben?

Sie griff nach der erstbesten Jacke, schnitt von Abrahams Ranken die allerschönste Rose ab und wartete auf den Treppenstufen, die Arme um die Knie geschlungen. Sie dachte an früher.

Der Tod war also doch wieder unter dem Teppich hervorgekommen.

 

Dabei hatte Carly den Teppich entsorgt, als sie die Wohnung übernommen hatte, weil Tante Alissa einen Österreicher geheiratet und zu ihm auf einen Berg gezogen war.

»Das hat sie nur gemacht, weil sie dort vor dem Meer in Sicherheit ist«, hatte Carlys Bruder boshaft bemerkt. »Ich wette, der arme Kerl weiß gar nichts von ihrer Meeresphobie und dass er nur Mittel zum Zweck ist.«

Nun, Ralph verstand nichts von Liebe. Tante Alissa war endlich glücklich mit ihrem Franzl, und nicht nur, weil er auf einem Berg wohnte.

Die Sache mit der Teppichentsorgung war Carlys Bedingung gewesen, obwohl Alissa natürlich nicht ahnte, warum. Der Tod war zu oft auf geheimnisvolle Art unter dem Teppich hervorgekrochen, egal, wie fest Carly die Fransen getreten hatte.

Einmal wegen Valerie, die sie aus der Vorschule kannte. Carly und Valerie waren jahrelang unzertrennlich gewesen, hatten lange barfüßige Sommernachmittage zusammen lesen gelernt, Murmelbahnen gebaut und Wasserschlachten veranstaltet. Valerie besaß ein Lachen, das sich durch die Tage zog wie die silbernen Spinnwebfäden im Herbst. Es endete unweigerlich mit einem lustigen kleinen »Hicks«. Bis Valeries hüpfender Schritt sich, als sie elf Jahre alt war, an einer Straßenecke mit der ebenfalls überschäumenden Lebensfreude eines jungen Mannes auf seinem ersten Motorrad traf.

Carly hörte seitdem niemals mehr ein Kinderlachen, ohne unwillkürlich auf dieses »Hicks« zu warten, das nicht kam.