Das Moorkind - Alma Lundt - E-Book
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Das Moorkind E-Book

Alma Lundt

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Beschreibung

Bist Du Dir sicher? Dass es so war. Wie Du denkst. Martha Roth ist Kinderärztin, eine gute, eine aufopferungsvolle, eine, die das Wohl der Kinder über alles stellt. Der Preis dafür ist hoch: Erst verliert sie ihren Freund, dann ihren Job. Und dann ihren Verstand? Wenn es nach ihrem Chef geht, hat sie ihn spätestens in jener Nacht verloren, als sie behauptete, dass ein schwer misshandeltes Mädchen auf der Kinderstation gestorben sei. Ein Mädchen, das es angeblich nie gegeben hat. Kaum wird sie aus der Entzugsklinik entlassen, in die sie nach diesem Vorfall eingewiesen worden ist, passiert es wieder. Sie findet einen halbtoten Jungen am Straßenrand, der aber spurlos verschwindet, als sie ihn ins Krankenhaus bringen will. Die Suche nach dem Jungen wird immer mehr zu einer verzweifelten Jagd nach Gewissheit. Ist sie einem Vebrechen auf der Spur, oder bildet sie sich das alles nur ein? Sieht sie Kinder, die es gar nicht gibt? 

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Das Moorkind

Die Autorin

Alma Lundt, geb. 1964, ist das Pseudonym einer Autorin, die bereits zahlreiche Jugendbücher veröffentlicht hat. Sie machte ihren Abschluss in Bibliothekswissenschaft und arbeitet in einer juristischen Bibliothek. Aufgewachsen auf einem trocken gelegten Sumpf in Brandenburg haben Moorlandschaften sie schon immer fasziniert. "Das Moorkind" ist ihr erster Thriller. Alma Lundt lebt heute in Berlin.

Das Buch

Bist Du Dir sicher? Dass es so war. Wie Du denkst.

Martha Roth ist Kinderärztin, eine gute, eine aufopferungsvolle, eine, die das Wohl der Kinder über alles stellt. Der Preis dafür ist hoch: Erst verliert sie ihren Freund, dann ihren Job. Und dann ihren Verstand? Wenn es nach ihrem Chef geht, hat sie ihn spätestens in jener Nacht verloren, als sie behauptete, dass ein schwer misshandeltes Mädchen auf der Kinderstation gestorben sei. Ein Mädchen, das es angeblich nie gegeben hat. Kaum wird sie aus der Entzugsklinik entlassen, in die sie nach diesem Vorfall eingewiesen worden ist, passiert es wieder. Sie findet einen halbtoten Jungen am Straßenrand, der aber spurlos verschwindet, als sie ihn ins Krankenhaus bringen will. Die Suche nach dem Jungen wird immer mehr zu einer verzweifelten Jagd nach Gewissheit. Ist sie einem Vebrechen auf der Spur, oder bildet sie sich das alles nur ein? Sieht sie Kinder, die es gar nicht gibt? 

Alma Lundt

Das Moorkind

Thriller

Ullstein

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Originalausgabe bei UllsteinUllstein ist ein Verlag der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin Februar 2023© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2023Umschlaggestaltung: zero-media.net, München Titelabbildung: ©FinePic®E-Book powered by pepyrusISBN 978-3-8437-2984-0

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Inhalt

Die Autorin / Das Buch

Titelseite

Impressum

Prolog

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Cover

Titelseite

Inhalt

Prolog

Prolog

Es war wieder passiert. Lange hatte er gedacht, es bliebe eine Ausnahme. Das würde sein Handeln rechtfertigen. Eins von hundert war nicht viel für all die anderen, die überlebten. Er tat etwas Gutes. Das wusste er, und das sagten ihm alle, die zu ihm kamen. Doch es war wieder passiert und er hatte nichts dagegen tun können. Trotzdem musste er weitermachen. Er konnte jetzt nicht aufhören, sonst wäre alles umsonst gewesen.

Manche würden sein Handeln für verwerflich halten, aber denen half ja auch Gott. Manchen half Gott eben nicht, und denen half er, denn es wurden immer mehr.

Der Pfarrer sagt, man dürfe Gott nicht ins Handwerk pfuschen. Der hatte keine Ahnung. Er war kein Pfuscher, auch wenn sein Vater das anders sah. Der sagte, er tauge nichts. Von Anfang an. Denn die, die was taugen, haben Erfolg. So war das schon immer gewesen.

Aber auch er würde Erfolg haben. Er musste nur durchhalten und weitermachen. Hundert Kinder, haben sie gesagt. Bringen Sie uns hundert Kinder. Er gab sich ja alle Mühe. Aber manchmal überlebten sie einfach nicht.

1

Martha lehnte in der offenen Scheunentür und sah den Wolken nach, die über den dunklen Himmel jagten. Zuerst waren es nur ein paar gewesen, die weiter Richtung Ostsee zogen, doch inzwischen türmte sich dichtes Grau am Himmel. Die Sonne war verschwunden, und ein kalter Wind wehte über die leeren Felder. Sie musste endlich los, wenn sie keinen Ärger bekommen wollte.

»Bitte bleib doch noch!«, bettelte Asta, die zu ihr getreten war. Schließlich heiratete sie nicht alle Tage. Ihr Gesicht glühte vom Tanzen und Lachen.

Martha schüttelte den Kopf. In zwei Stunden musste sie in der Klinik sein. Sie hoffte, dass niemand ihren heimlichen Ausflug bemerkt hatte.

Lächelnd strich Martha ihrer Schwester über den geflochtenen Haarkranz. »Mach dir um mich keine Sorgen.«

Machte Asta sich aber. »Hat Lennard sich gemeldet?«

Martha schüttelte den Kopf. »Das ist vorbei und gut so.« Das stimmte zwar nicht, doch an so einem Tag wollte sie keinen Gedanken an ihren Ex-Mann aufkommen lassen.

Asta umarmte sie so heftig, dass Martha den Herzschlag ihrer Schwester spürte. »Aber fahr vorsichtig! Bitte.«

Behutsam schob sie Asta von sich. »Es passiert nichts. Wirklich. Geh wieder rein.«

Martha schaute in den Rückspiegel, als sie mit ihrem Wagen vom Hof fuhr. Asta winkte ihr nach.

Ihre kleine Schwester hatte endlich ein Zuhause gefunden, das halbe Dorf war zu ihrer Hochzeit gekommen wie eine richtige Familie. Den ganzen Nachmittag war Martha mit auf dieser warmen Welle geschwommen, hatte sich tragen lassen von so unendlich viel Wohlwollen und Willkommensein. Sie hatte mit den anderen gelacht und getanzt und sich über das Brautpaar gefreut. Asta war angekommen, und das würde Martha auch, wenn sie endlich aus der Therapie raus war.

Langsam rollte sie den Sandweg zur Straße hoch. Warum Asta allerdings in diese Einöde hatte ziehen müssen, verstand sie nicht.

Während Martha damals für ihr Medizinstudium gebüffelt hatte, hatte Asta sich mit der Hauptschule abgemüht, die sie irgendwann aber hinwarf. In keinem Job hielt sie es lange aus, bis sie Ruben getroffen hatte und Asta anfing, sich für Blumen zu interessieren. Das einzige Gewächs, das Asta bis dahin gekannt hatte, war Gras.

Ruben war Gärtner, keiner von den Haschtypen, mit denen Asta jahrelang in Berlin um die Häuser gezogen war. Er verstand auch eine Menge anderer Dinge, die Asta Boden unter den Füßen verschafften. Die beiden wollten sich noch eine Schafherde anschaffen.

»Zieh doch auch nach Gambin«, hatte Asta gesagt. »Hier wirst du immer gut schlafen!«

Aber im Niemandsland zwischen Maisfeldern und Ostsee gab es keine Kinderklinik, und für die Schafzucht war Martha einfach nicht gemacht. Der Lärm der Hochzeitsgesellschaft verebbte langsam in ihren Ohren. Das Gelächter, die Musik, all die ausgelassenen Stimmen. Jetzt spürte sie, wie das Fest sie erschöpft hatte. Aber sie hatte Asta nicht enttäuschen wollen, die so begeistert von ihrem neuen Dorfleben war.

Als sie die Straße erreichte, hielt sie an und lauschte einen Moment dem Heulen des Herbststurms, der über die Landschaft hereingebrochen war. Dann setzte sie den Blinker und fuhr los.

Im selben Moment musste sie lachen, und diesmal kam es tief und befreiend aus ihr heraus, ein Lachen, das sie schüttelte und nicht mehr losließ, bis sie sich den Bauch hielt. Sie hatte geblinkt! Sie hatte verdammt noch mal geblinkt, obwohl in dieser Einöde weit und breit kein einziges Auto zu sehen war!

Es wurde wirklich Zeit, dass sie aus der Klinik rauskam. Immer nur Regeln den ganzen Tag. Eine hieß: »Es gibt Tag und Nacht. Und nachts schläft der Mensch.«

Schönes Märchen, dachte Martha, wenn man in der Notaufnahme arbeitet und wach bleiben musste.

Das Licht der Scheinwerfer glitt über das dunkle Straßenpflaster. An der nächsten Kreuzung bog sie links ab, so wie Asta gesagt hatte. »Da sparst du zehn Kilometer.«

Sie musste sich beeilen, um zweiundzwanzig Uhr schlossen sie das Haupttor ab.

Doch die Abkürzung durch die Maisfelder erwies sich als Katastrophe. Der alte Renault wurde auf dem Betonplattenweg durchgerüttelt, sodass sie Mühe hatte, ihn in der Mitte zu halten. Die schwarzen Schatten, die seit einer Weile neben ihr durch den trockenen Mais huschten, gefielen ihr gar nicht. Sie versuchte schneller zu fahren, doch das war auf dem kaputten Beton nicht möglich.

Plötzlich brach eine Rotte Wildschweine aus dem Mais hervor und stellte sich vor das Auto. Martha trat erschrocken auf die Bremse und starrte in ihre erhobenen Schnauzen. Sie beschnüffelten das Auto. Schließlich stürmte der Anführer davon und der Rest ihm nach. Erleichtert gab Martha Gas. Das Gerüttel war ihr jetzt egal.

Als sie endlich aus dem Mais heraus war, hämmerte ihr Herz. Es hörte überhaupt nicht mehr auf. Sie versuchte die Atemübung, die man ihr in der Klinik gezeigt hatte.

Fassen Sie etwas Festes an und suchen Sie einen Punkt für ihren Blick! Martha umklammerte das Lenkrad und starrte durch die Windschutzscheibe. Und dann hören Sie auf Ihren Atem!

Martha versuchte es ja, doch das Einzige, was sie hörte, war der Sturm, der heulend über die Felder raste. Egal, dachte sie, bis zur Klinik würde sie es schaffen. Ab jetzt keine Abkürzungen mehr.

Sie schaltete das Radio ein, doch der Sturm zerlegte die Sender in ein nervendes Rauschen. Dann fuhr sie eben ohne Musik. Sie lauschte dem Wind, als könnte sie etwas verstehen. Das hohe Heulen klang wie das Wimmern eines Kindes.

Als sie an die nächste Kreuzung kam, musste sie anhalten. Am Morgen hatte hier ein Wegweiser gestanden, doch jetzt ragte nur noch ein leerer Eisenpfahl in den dunklen Abendhimmel. Das Schild war weg. So ein Mist! Wo musste sie denn nun entlang?

Aus der Ferne blinkten die roten Positionslichter eines Windparks, aber im Norden gab es so viele Windparks. Sie schaute auf ihr Handy. Kein einziger Balken. Absolutes Funkloch.

Als sie nach einer Weile wieder vor dem abgerissenen Schild stand, fluchte sie. Das gab’s doch nicht! War sie im Kreis gefahren? Sie nahm jetzt die andere Richtung. Die Scheinwerfer erfassten beim Wenden ein Stoppelfeld. Da gab es wenigstens keine Wildschweine, aber überall lagen gepresste Strohballen herum, die der Sturm jetzt über die Straße fegte. Sie sah auf die Uhr. Es war schon fast neun. Im Schritttempo wich sie den Strohballen aus, bis sie endlich den schützenden Wald erreicht hatte.

Erschöpft wischte sie sich den Schweiß von der Stirn. Am Morgen war sie hier durch rot leuchtende Buchenalleen gefahren, jetzt war alles dunkel. Die Scheinwerfer brannten eine schmale Schneise in die Nacht.

Noch eine halbe Stunde, dann lag sie in der Klinik in ihrem Bett mit dem Ostseerauschen vor dem Fenster. Sie schaltete das Radio wieder an und vernahm erleichtert die Stimme eines Nachrichtensprechers. Er wünschte allen, die in dieser Sturmnacht noch unterwegs sein mussten, eine gute Heimfahrt. Dann spielte Musik.

Die Straße vor ihr war endlich frei, und sie fuhr wieder schneller. Für die Uhrzeit war sie noch ungewöhnlich wach. Das lag wohl an Astas Hochzeit. Nach Monaten im Entzug war sie das erste Mal wieder unter anderen Menschen gewesen. Und es hatte ihr gefallen, obwohl sie sich zuerst etwas gefürchtet hatte. Als alle wegen des Gewitters in die Scheune umgezogen waren, hatte sie sogar getanzt.

Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal so unbeschwert und gedankenfrei gewesen war. Lennard hatte Tanzen nie gemocht. In der Scheune hatte sie ein schwarzhaariger Mann in Zimmermannskluft die ganze Zeit angeschaut, aber nicht gewagt, sie aufzufordern.

Martha spürte noch immer seine Blicke auf ihrem Körper. Es war nichts Forderndes darin gewesen, einfach nur Freude und Wärme. Bei der Erinnerung an ihn musste sie lächeln.

Plötzlich gab es einen Knall.

Sie trat abrupt auf die Bremse, sodass der Renault zur Seite ausbrach. Sie versuchte gegenzulenken, doch der Wagen rutschte und drehte sich. Schließlich blieb er quer auf der Fahrbahn stehen.

Panisch sprang sie aus dem Auto. Der Wagen hatte eine tiefe Delle oben im Dach. Sie folgte ihrer Bremsspur. Am Ende fand sie einen dicken Ast auf der Fahrbahn. Der musste auf ihr Dach geknallt sein.

Erleichtert stieß sie die Luft aus, dann schleifte sie ihn von der Straße, damit nicht noch jemand drauffuhr. Gott sei Dank war nichts weiter passiert!

Als sie zu ihrem Auto zurückging, erfasste ihr Blick etwas kleines Dunkles, das auf der anderen Straßenseite lag. Im ersten Moment hielt sie es für eine verlorene Jacke. Langsam ging sie näher.

Doch das war keine Jacke.

Martha hielt den Atem an.

Am Straßenrand lag ein Kind.

Es war ein Junge, er war höchstens fünf. Trotz der Kälte trug er nur einen dünnen Strickpullover und kurze Hosen. Seine Sachen waren nass und mit Schilfresten und Moder verschmutzt.

Martha strich ihm vorsichtig die blonden Haare aus dem Gesicht. An den Schläfen entdeckte sie ein paar blaue Flecken. Als sie seinen grünen Pullover hochschob, fand sie sie auch auf seinem mageren Bauch.

Oh Gott! Hatte sie ihn angefahren? Aber das konnte nicht sein! Da war dieser Ast gewesen, der auf ihr Dach gefallen war. Deshalb hatte sie gebremst. Ein Kind hätte sie doch bemerkt!

Sie fühlte seinen Puls, der kaum wahrnehmbar unter der kalten Haut pochte. Aus seiner Nase lief Blut. Er musste sofort ins Krankenhaus. Aber was sollte sie der Rettungsstelle sagen? Ich habe gerade einen Jungen am Straßenrand gefunden? Es würde ewig dauern, bis die hier waren. Da wäre ihre Klinik längst abgeschlossen, und ihre Entlassung konnte sie dann auch vergessen.

Sie spürte, wie sie anfing zu hyperventilieren.

Treffen Sie eine Entscheidung, auch wenn Sie in Stress geraten, sagte ihr Therapeut immer.

Der hatte noch nie nachts in der Notaufnahme gearbeitet. Eine Entscheidung.

Der Junge musste ins Krankenhaus. Das war eine Entscheidung. Sie konnte ihn nicht hier liegen lassen. Sie war Kinderärztin, auch wenn sie nicht im Dienst war.

Sie rannte zu ihrem Wagen und fuhr ihn ein Stück zurück. Dann hob sie den schmächtigen Jungen vorsichtig hoch und legte ihn auf die Rückbank. Er war noch immer bewusstlos und unterkühlt. Sie hatte aber keine Decke dabei, um ihn zu wärmen. Da nahm sie ihre Jacke vom Beifahrersitz und deckte ihn notdürftig damit zu. Das Bluten aus seiner Nase gefiel ihr gar nicht.

Früher hatte sie wenigstens ihren Bereitschaftskoffer im Auto, aber den hatte ihr Chef ihr auch abgenommen.

»Zu ihrer Sicherheit«, hatte er gesagt, als ob sie gemeingefährlich wäre.

Vorsichtig fuhr sie los.

Der Junge hatte leise zu wimmern begonnen.

Martha starrte in den finsteren Wald neben der Straße. Irgendetwas darin machte ihr Angst. Sie schaute immer wieder in den Rückspiegel. Die Straße hinter ihr war dunkel, aber sie wurde das Gefühl nicht los, dass ihr jemand folgte.

Woher auch immer der Junge gekommen war, man hatte ihn geschlagen, schwer geschlagen. Die blauen Flecken stammten nicht von ihrem Auto. Seine nassen, verschmutzten Sachen ließen vermuten, dass er irgendwo in einen See gefallen war. Aber wie kam er dann hierher? Im Dunkeln?

Plötzlich musste sie anhalten. Der Sturm hatte eine junge Tanne quer über die Straße geworfen, sodass sie nicht weiterkam. Die Scheinwerfer erfassten den Wald vor ihr. Raureif überzog die Bäume und glitzerte kalt. Die Temperatur war mit Beginn der Nacht mächtig gefallen. Sie wollte hier nicht aussteigen. Was, wenn die, die dem Jungen das angetan hatten, irgendwo im Wald lauerten?

Der Junge bewegte sich jetzt stöhnend unter ihrer Jacke. Sie konnte nicht ewig überlegen.

Als sie die Autotür öffnete, lauschte sie einen Moment, aber es war nichts zu hören als das leise Knacken der Bäume.

Im Licht des Scheinwerfers versuchte sie, die Tanne von der Straße zu zerren. Sie keuchte und stieß in der Frostluft kleine Wölkchen aus. Verdammt! Obwohl der Stamm kaum dicker als ihr Arm war, schaffte sie ihn nur ein Stück beiseite. Für den Renault reichte es aber.

Hastig stieg sie wieder ein und warf die Autotür zu. Es hatte nicht lange gedauert, keine fünf Minuten, aber kostbare Zeit für den Jungen.

Als sie den Wagen startete, sah sie kurz im Rückspiegel nach ihm. Das gab es doch nicht. Sie schaute noch einmal. Der Junge war weg.

War er von der Bank gerollt? Sie schnallte sich wieder ab und schaute in den Fußraum. Aber da war er nicht.

Der Junge war weg. Einfach weg.

Ihr Verstand suchte hektisch nach einer Erklärung, fand aber keine. Sie umklammerte das Lenkrad und starrte in den undurchdringlichen Wald. Der Junge war niemals allein ausgestiegen, nicht mit diesen Verletzungen. Jemand musste ihn aus dem Auto geholt haben, als sie an dem Baum gezerrt hatte.

Eine Entscheidung. Nur eine Entscheidung! Aber sie konnte sich nicht konzentrieren. Ich muss aussteigen, dachte sie, aussteigen und den Jungen suchen. Aber sie konnte nicht, denn ein Gewitter tobte plötzlich in ihrem Kopf.

»Da war kein Mädchen, Frau Dr. Roth! Was für ein Mädchen denn?«

»Das ich behandelt habe, Prof. Almstedt!«

Es gab eine Patientenakte, die Martha unterschrieben hatte. Aber sie hatte so viel unterschrieben in den 24-Stunden-Diensten und dann noch in der Notaufnahme. Am Ende hatte sie alles unterschrieben, doch dann war plötzlich alles weg: das Kind, die Akte, der Totenschein. Deshalb war sie in der Therapie gelandet, weil sie Kinder sah, die es angeblich nie gegeben hatte.

2

Die Wellen der Ostsee scherbelten leise an den Strand. In der Nacht hatte der Frost das Ufer mit einer dünnen Eisschicht überzogen, die die Morgenwellen jetzt in klirrende Stücke zerlegten. Die Eissinfonie drang bis in Marthas Zimmer. Sie hatte das Fenster offen gelassen, denn das Geräusch beruhigte sie. Noch ein paar Stunden, dann würde sie die Ostsee auch sehen. Ein Meer mit graublauem Wasser. Man konnte es hören, berühren und schmecken. Martha war im Sommer oft darin geschwommen.

Es war eine gute Klinik, wenn man mitmachte. Und Martha hatte mitgemacht, denn sie wollte hier so schnell wie möglich wieder raus. Fünf Monate waren eine verdammt lange Zeit. Zu lang, fand sie.

Sie war nicht verrückt, sie hatte nur zu viele Tabletten genommen. Anfangs waren es nur ein paar zum Wachbleiben, damit sie die Doppelschichten überstand. Aber dann brauchte sie auch etwas zum Einschlafen, weil sie so aufgedreht nicht mehr schlafen konnte. Aber wenn sie dann schlief, wurde sie nicht mehr richtig wach. Dann brauchte sie auch etwas, um munter zu werden.

Irgendwann war sie durcheinandergekommen, oder das Zeug wirkte nicht mehr richtig. Aber mein Gott, das waren nur Tabletten. In der Entzugsklinik hatte sie keine einzige mehr angerührt. Sie konnte nach all den Monaten endlich wieder schlafen. Die Dinge blieben an ihrem Platz, und die Zeit kam ihr nicht mehr in Wiederholungsschleifen entgegen. Das war ein gutes Gefühl. Jeder Tag hatte einen Anfang und ein Ende.

Mehr haben Sie nicht – war das tägliche Mantra ihres Therapeuten. Immer nur einen Tag, Dr. Roth! Abends ist Schluss. Ohne den Verlängerungsrausch eines Tablettencocktails.

Berger war ein gut aussehender Mann, schlank, humorvoll und mit jenem Hang zu klugen Sprüchen wie alle Therapeuten. Die halbe Klinik war in ihn verliebt. Martha nicht.

Durch die Entgiftung hatte sie jegliches Interesse an Männern verloren. Berührungen zu anderen mied sie, weswegen Berger der Meinung war, sie solle noch bleiben und sich dem stellen. Martha wollte sich niemandem stellen. Dass sie keine Männer anfassen wollte, war kein hinlänglicher Grund, sie noch weiter dortzubehalten.

Sie hatte alles mitgemacht, hatte in endlosen Gesprächssitzungen ihre Vergangenheit durchforsten lassen. Sie hatte Sport getrieben und Teamaufgaben gelöst, obwohl sie weder das eine noch das andere mochte. Selbst Aschenbecher hatte sie getöpfert, obwohl sie Nichtraucherin war. Doch worüber sie beharrlich geschwiegen hatte, war die Sache mit dem toten Kind in ihrem Nachtdienst. Weil ihr eh niemand glaubte.

Martha streckte sich auf ihrem Bett, als plötzlich das Telefon auf ihrem Nachttisch klingelte. Erschrocken fuhr sie hoch. Sie wollte eigentlich nur, dass es aufhörte, und hob deshalb ab.

»Hallo?«, stotterte jemand am anderen Ende der Leitung.

»Wer spricht denn da?« Martha lauschte dabei ihrer Stimme. Ihrer Ärztinnenstimme, wie sie feststellte, die gleich eine mittlere Katastrophe erwartete.

»Martha, bist du das?«

»Asta?«

Die Ärztinnenstimme verschwand.

»Gott sei Dank!«, stammelte Asta. »Bist du in Ordnung?«

»Ja natürlich.«

»Du hast gar nicht angerufen.« Astas Stimme knickte ein.

Martha spürte ihr schlechtes Gewissen in sich aufsteigen.

»Es ist nur wegen …«, stotterte Asta und verstummte.

Auch Martha sagte nichts mehr.

Sie dachten beide an den Tag, der ihr Leben komplett aus der Bahn geworfen hatte. Damals war auch Sturm gewesen, und sie waren beide in einem Auto gesessen. Seitdem stieg Asta in keines mehr ein.

»Es war eine wunderschöne Hochzeit«, sagte Martha, um ihre Schwester von ihren Gedanken abzubringen.

Asta atmete hörbar aus.

»Ruben ist ein guter Mann.«

»Meinst du?«

»Ja«, antwortete sie. »Er wird gut für dich sorgen.«

»Um mich muss man sich nicht sorgen!«, meinte Asta schnippisch.

Martha lächelte in den Hörer.

»Ich weiß.« Aber um mich, beendete sie stumm den Satz, der in der Leitung schwang. »Ich bin gut angekommen. Mir ist nichts passiert.«

»Kommst du uns mal besuchen?«, fragte Asta.

»Ja sicher.«

»Auch wenn du wieder arbeitest?«

»Dann komme ich an meinen freien Tagen. Versprochen.« Sie schaute auf die Uhr. Es war schon sechs.

»Ich muss jetzt aber los zum Yoga.«

Asta gluckste. »Du machst Yoga?«

»Gehört hier zum Programm.«

Martha lachte, dann legte sie auf.

Rasch zog sie ihre Yogasachen über. Ein einziges Mal noch und dann nie wieder. Bevor sie ihr Zimmer verließ, warf sie einen kurzen Blick in den Flurspiegel. Schlank war sie noch nie gewesen, nicht mal als Kind. Ihre dunklen, widerspenstigen Haare hatte sie zu einem Knoten hochgebunden, was ihr Gesicht noch größer erscheinen ließ. Es war wie eine große, freundliche Ebene, in der sich ihre Nase wie ein sanftes Mittelgebirge erhob. Sie seufzte. Schön war anders.

Als sie eine Stunde später schwitzend am Fenster lehnte und sich mit dem Handtuch das Gesicht abwischte, kam der Yoga-Lehrer kopfschüttelnd auf sie zu.

»Frau Roth«, sagte er, »ich habe mir bei Ihnen wirklich alle Mühe gegeben.«

»Ich weiß.« Erschöpft legte sie das nasse Handtuch um ihre Schultern. Ihr Körper war für lange Fußmärsche am Meer oder durch den Wald gemacht, aber nicht für diese Verrenkungen. Der Sonnengruß kam ihr eher wie die Morgengymnastik der Bundeswehr vor. Entspannung empfand sie dabei nicht.

»Morgen verlassen Sie uns?«

Martha nickte. Gleich nach dem Abschlussgespräch war sie hier weg. Sie schaute auf den Parkplatz hinunter, wo ihr Auto bereits auf sie wartete. Der Parkplatz war zu dieser frühen Stunde noch fast leer. Der Yoga-Lehrer sah deshalb auch, was sie jetzt sah.

»Oh Mann«, sagte er. »Der sieht ja übel aus!«

Martha starrte auf ihren Renault. Von oben konnte man deutlich die Delle im Dach sehen, aber nicht nur das. Der Wagen hatte auch vorn einen ziemlichen Schaden. Das Blech der Stoßstange war völlig zerbeult.

»Muss ja ein übler Crash gewesen sein.«

Martha murmelte etwas und wandte sich vom Fenster ab. Sie hatte sich gestern Abend beeilen müssen. Kurz vor Torschluss war sie gerade noch aufs Klinikgelände gerollt. Und nun stand er da. Ganz offensichtlich hatte der Wagen etwas gerammt. Und jeder, der das sah, fragte sich: Was bloß?

3

Martha starrte auf die Uhr an der gegenüberliegenden Wand. Der Zeiger kroch wie ein müdes Schaf über das Ziffernblatt. Seit einer Stunde saß sie jetzt mit Berger und dem Stationsleiter hier, weil sich die beiden nicht einigen konnten, ob Martha nun gesund war oder nicht.

Berger kannte sie besser als der Stationsarzt, der am Ende nur seine Unterschrift auf die Entlassungspapiere setzen musste.

Wie viele Jahre hatte sie selbst solche Unterschriften gegeben? War der Patient gesund? Früher hatte sie nie darüber nachgedacht, was das eigentlich bedeutete. Jedenfalls nicht das, woran ihr Therapeut im Moment glaubte.

Berger durchblätterte die letzten Tests. Er wusste, was für Martha auf dem Spiel stand. Ohne seine Unterschrift bekam sie ihren Job nicht wieder.

»Kinderärztin«, sagte er, wohl mehr zu sich selbst, »in der Seeklinik.«

Der Stationsarzt lächelte, er wollte endlich gehen. Für ihn war Martha gesund. Er verstand nicht, warum Berger zögerte.

Schließlich klappte der die Behandlungsakte zu. »Sie haben einen verantwortungsvollen Beruf, Frau Kollegin.«

»Der mir viel bedeutet«, beendete sie seinen Satz.

»Eben drum.«

Martha drückte den Nagel ihres Mittelfingers gegen ihren Daumen, um sich zu fokussieren. Der Schmerz ließ ein wenig die Spannung aus ihrem Körper, die sich immer mehr aufbaute, je länger sie hier saß.

Berger starrte auf ihre Hände. »Geht es Ihnen nicht gut?«

»Doch, doch«, beteuerte sie. »Ich habe nur schlecht geschlafen.« Mist, dachte sie im selben Moment. Wieder gut zu schlafen, war eines der obersten Behandlungsziele gewesen. »Es ist nur die Aufregung«, versicherte sie, »endlich wieder nach Hause zu kommen.«

Berger lächelte.

Martha war fünf Monate lang eine mustergültige Patientin gewesen. Bereitwillig hatte sie ihr Leben offenbart, um wieder als Kinderärztin arbeiten zu dürfen. Doch was sie noch immer in sich verschlossen trug, war die Sache mit dem toten Kind.

Wieder und wieder hatte Berger sie gefragt, was in jener Nacht mit dem Mädchen geschehen war. Almstedt musste mit ihm telefoniert haben. Martha merkte es an seinen Fragen. Sie hatte ihm nichts von einem Mädchen erzählt. Sie sagte jedes Mal, sie könne sich nicht erinnern, und schob es auf die Tabletten. Nach fünf Monaten schien er ihr endlich zu glauben.

Berger schob jetzt ihre Behandlungsakte in die Mitte des Tisches. »Zum Glück sind die Zeiten vorbei, Frau Dr. Roth, in denen Sie Kinder gesehen haben, die es gar nicht gibt.«

Martha nickte.

Der Stationsarzt sprang erleichtert auf. Er hatte eh nicht verstanden, warum das Ganze so lange dauerte.

»Ich wünsche Ihnen alles Gute«, sagte er, schüttelte Martha herzlich die Hand und eilte aus dem Zimmer.

Berger hatte sich jetzt ebenfalls erhoben. »Und falls Sie doch wieder Zweifel haben sollten, Sie wissen ja, wo Sie mich finden.«

Das sollte ein Scherz sein, und Martha versuchte zu lächeln, doch Berger konnte noch so viele Scherze machen, entscheidend war, was er in den Entlassungsbericht schrieb.

»Passen Sie auf sich auf«, sagte er und gab ihr zum Abschied die Hand. Eine kalte Hand, die sich tot anfühlte. Rasch ließ Martha sie wieder los.

Als sie mit ihrer Tasche über den Parkplatz lief, spürte sie Bergers Blick in ihrem Nacken. Gleich würde er sehen, was auch der Yoga-Lehrer vorhin gesehen hatte, aber sie konnte nicht zurück. Berger wusste, dass ihr Oldtimer all die Monate ohne Blechschaden auf dem Parkplatz gestanden hatte. Jeder in der Klinik wusste das.

Schwitzend schloss sie die Fahrertür auf und warf ihre Taschen auf den Beifahrersitz. Dann sah sie sich doch um.

Bergers Gesicht klebte wie eine Maske hinter dem Fenster. Eine Totenmaske. Rasch stieg sie ein und fuhr zum Kliniktor. Der alte Renault holperte über das unebene Pflaster auf die Straße. Und dann war sie endlich draußen. Sollte Berger jetzt denken, was er wollte. Sie öffnete das Seitenfenster und trommelte auf das Lenkrad. Nach Hause, sie fuhr nach Hause!

Der klare Oktober spannte einen tiefblauen Himmel über die Landschaft, vom nächtlichen Unwetter war nichts mehr zu spüren. Dankbar sog sie den nassen Erdgeruch in ihre Lungen. Sie konnte sich nicht sattsehen an dem Braun der abgeernteten Felder, das dick und schwer über die Hügel floss.

Erleichtert lehnte sie sich in den Autositz. Warmes Sonnenlicht streichelte ihr Gesicht. In zwei Stunden war sie endlich wieder zu Hause.

4

Martha stellte ihre Taschen ab und ließ sich in einen der geflochtenen Stühle auf der Terrasse fallen. Sie betrachtete den verblühten Garten, der sich längst dem Herbst ergeben hatte. Die Blätter der Büsche und Bäume leuchteten rot und gelb. Den schönen Sommer mit seinen Kirschen, Himbeeren und duftenden Rosen hatte sie verpasst.

Es war noch Frühling gewesen, als sie zu einem ganz normalen Dienst in die Klinik gefahren war. Sie konnte sich noch genau an den Tag erinnern. Sie hatte mit Lennard auf der Terrasse gefrühstückt und in genau demselben Korbstuhl gesessen.

Im Garten blühten die Tulpen, und die weißen Baumblüten tanzten durch die Luft. Am Abend wollten sie grillen, Lennard hatte ein paar Freunde eingeladen. Doch sie musste noch die Nachtschicht übernehmen, obwohl sie bereits einen Zwölf-Stunden-Dienst hinter sich hatte. Danach war ihr Leben komplett aus den Fugen. Nichts war mehr wie vorher. Gar nichts.

»Schauen Sie nach vorn«, hatte Berger zum Abschied gesagt. »Die Vergangenheit hilft Ihnen nicht weiter.«

Seufzend holte sie ihren Schlüssel aus der Tasche und schloss die Haustür auf. Sie sah es gleich, bevor sie das Haus überhaupt betreten hatte. Lennards Jacken an der Garderobe waren jetzt fort, ebenso seine Schuhe und der Fahrradhelm, ohne den er nie fuhr.

Die hellgrauen Bodenfliesen im Flur glänzten. Er hatte noch alles geputzt, bevor er aus ihrem Leben verschwunden war, während sie in der Therapie auf ihr altes Leben gehofft hatte.

Sie stellte ihre Taschen neben der Garderobe ab und ging zuerst in die Küche. Auch hier strahlte alles vor Sauberkeit.

Sie schaute in den Kühlschrank. Er war leer. Lennard hatte nichts stehen gelassen, das verderben konnte. In der Speisekammer gab es noch ein paar Büchsen mit Eintopf in den Regalen und zwei mit Katzenfutter. Wie aufmerksam. Sie schob die Kammertür wieder zu.

Sie würde bald wieder arbeiten, das war das Wichtigste.

Almstedt hatte sie eine SMS geschickt, dass sie entlassen worden war und noch ein paar Tage freinahm. Sie hatte Berger versprechen müssen, dass sie es ruhig anginge. Also kein Grund zur Eile. Es war auch niemand mehr da, der sich über ihre unausgeräumten Taschen im Flur aufregen würde. Der kontrollierte, was sie gerade tat. Einfach nur Stille im ganzen Haus.

Sie ging ins Bad und zündete dort ein paar Kerzen an, die sie auf dem Wannenrand und der Waschmaschine verteilte. Dann ließ sie warmes Wasser in die Wanne laufen. Würziger Tannengeruch stieg aus dem Badeschaum und zog durchs ganze Haus.

Sie wollte noch kein Licht machen. Obwohl sie wieder zurück war, war sie noch nicht daheim. Sie war in irgendeinem Dazwischen, und sie musste sich erst wieder an ihr Zuhause gewöhnen. Und an ein Leben ohne Lennard.

Als die Wanne voll war, zog sie sich aus und glitt in das warme Wasser.

Seit fünf Jahren wohnte sie in dem kleinen Gartenhaus. Drei Zimmer, Küche und eine Terrasse mit Garten. Ein kleines Paradies am Rande der Kleinstadt. Truman war anfangs nicht aus dem Haus gegangen. Dem Großstadtkater waren all die Büsche und Bäume unheimlich.

Fünf Jahre hatten sie hier gelebt. Lennard und Martha. Sie wollten ein Kind, doch es hatte nicht geklappt. Martha hatte einfach kein Glück mit Familien, von Anfang an nicht. Als sie im Entzug gelandet war, war Lennard gegangen. Das war die Kurzfassung.

Er hatte noch alle gemeinsamen Rechnungen bezahlt und ihr dann seinen Schlüssel in die Klinik gebracht. Es tue ihm unendlich leid, »das Ganze«, hatte er zum Abschied gesagt. Er wollte mit ihr eine richtige Beziehung führen.

»Eine, in der es Kinder gibt«, hatte sie den Satz beendet.

»Nein, eine, wo man auch mal Zeit miteinander verbringt.«

Dann war er weg.

Martha stieg aus der Wanne und wickelte sich in ihren Bademantel. In der Klinik begann jetzt die Abendmeditation.

Martha ging in die Küche und setzte sich auf einen Stuhl. Sie schloss die Augen und versuchte gleichmäßig zu atmen, doch ihre Augenlider flatterten immer wieder hoch.

»Dann eben nicht«, sagte sie laut.

Ihre Stimme klang fremd und ungewohnt. Vielleicht musste das Haus sich erst daran gewöhnen, dass sie jetzt allein hier lebte.

Sie machte sich eine der Büchsen warm, die Lennard übrig gelassen hatte. Linsensuppe mit Speck. Um nicht gleich wieder in den alten Trott zu verfallen und aus dem Topf zu essen, tat sie die heiße Suppe auf einen Teller und setzte sich an den Tisch. Lennard hatte es immer wahnsinnig gemacht, wenn sie aus dem Topf aß, aber nach einer Doppelschicht hatte sie keine Kraft mehr für Etikette. Vielleicht sollten einfach nur Ärzte mit Ärzten zusammenleben. Da musste man sich nicht ständig entschuldigen.