Das Qi verwurzeln - Frieder Anders - E-Book

Das Qi verwurzeln E-Book

Frieder Anders

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Beschreibung

Verwurzelung ist die Basis für die Entwicklung von Innerer Kraft. Die Entwicklung Innerer Kraft ermöglicht einen anderen Umgang mit sich selbst und mit dem anderen: liebevoller, stressfreier, selbstbewusster, basierend auf einem Zugewinn an guter Energie und einem harmonischen Miteinander von Körper, Geist und Seele.

Frieder Anders, Taiji-Großmeister des Yang-Familienstils, hat nach über 40-jähriger Praxis die Kriterien der Inneren Kraft nun auf das Qigong übertragen und LebenstorQigong® entwickelt. In diesem Buch vergleicht er westliches und östliches Verständnis der Ausrichtung des Menschen zwischen Himmel und Erde und vermittelt die Rolle des Lebenstors Mingmen in der traditionellen chinesischen Medizin. Erstmals wird hier auch die Rolle der Myofaszien bei der Entwicklung Innerer Kraft aufgezeigt. Darüber hinaus wird die Lehre von den Atemtypen einbezogen: Denn Innere Kraft, so die Erfahrung aus langjähriger Praxis, entsteht nur, wenn der individuelle Atemtyp berücksichtigt wird. Im Übungsteil werden die acht Grundübungen des LebenstorQigong® so detailliert vorgestellt, dass sie allein erlernt werden können.

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Seitenzahl: 205

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Wichtiger Hinweis

Die Inhalte des vorliegenden Buches wurden sorgfältig recherchiert und werden nach bestem Wissen und Gewissen weitergegeben. Dennoch übernehmen weder Autor noch Verlag Haftung für eventuelle Schäden, die bei unsachgemäßer Ausführung der Übungen entstehen könnten. Die Übungen ersetzen keine medizinische Beratung oder Behandlung, falls eine solche erforderlich ist, und auch keine Anleitung durch einen qualifizierten Lehrer.

Impressum und Bildnachweis

Umschlaggestaltung unter Verwendung eines Fotos von Michael Borgers – pixabay

Buchgestaltung des gedruckten Buchs: Matthias Emde, Andrea Thiele

Illustration auf dem Umschlag und auf der Titelseite sowie die Kalligrafien der chinesischen Schriftzeichen im Text: Wang Ning

Grafiken (außer Kalligrafien und soweit im Text nicht anders benannt): Matthias Emde

Fotos im Übungsteil und im Anhang: Harry Tränkner; Modelle: Roza und Frieder Anders

Portrait Frieder Anders im Anhang: Sibel Cirsi

Digitale Ausgabe der gedruckten Originalausgabe. Copyright © 2020-2022 Verlag Werner Kristkeitz, Heidelberg. Alle Rechte für sämtliche Medien und jede Art der Verbreitung, Vervielfältigung, Speicherung oder sonstigen, auch jeder auszugsweisen Verwertung bleiben vorbehalten.

ISBN E-Book: 978-3-948378-01-1

ISBN des gedruckten Buchs: 978-3-948378-00-4

www.kristkeitz.de

Inhalt

Vorwort

Einleitung

Die Mitte finden

Himmel und Mensch

Körper haben – Körper sein

Kosmische Ordnung im alten China

Zentrale Begriffe der chinesischen Weltsicht

Kapitel 1: Qi

Qi und seine vielfältige Bedeutung

Qigong in seinen verschiedenen Formen

San Bao – Drei Schätze oder Drei Kostbarkeiten

Die drei Dantian

Die Himmlischen Kreisläufe

Atem und Qi

Kapitel 2: Sinken

Sinken und ein Fundament finden

Qigong – Sitzen im Stehen

Kapitel 3: Aufrichtung

Aufrichtung und der richtige Gebrauch des Körpers

Bodenreaktionskraft

Aufrechter Gang

Kapitel 4: Sonne und Mond

Vier Kräfte und ihre Wirkung auf die Aufrichtung

Einführung in die Lehre von den Atemtypen

Kapitel 5: Nichtstun tun

Kapitel 6: Faszien

Das Fasziensystem

Das Bild vom Skelett

Die drei Säulen

Kapitel 7: Dreieck und Ball

Kapitel 8: Faszien und Meridiansystem

Faszien und Meridiane

Das Lebenstor Ming Men

Kapitel 9: Atem

Wahrer Atem

Wie also atmen?

Übungsteil

Sinken und Aufrichten im LebenstorQigong – die Grundstellungen

Biotensegrity im Qigong und Taiji

Zu Beginn: Qigong im Sitzen

Erweiterung/Mudra

LebenstorQigong – die Übungen im Stehen

Anhang

Danksagung

Literatur

Über den Autor

Vorwort

Vielleicht wundern Sie sich, geneigte Leserin, geneigter Leser, über das Titelbild dieses Buches: Was hat «Verwurzelung» mit Hochseilartistik zu tun? Da tanzt oder schwebt doch jemand hoch über der Erde und berührt sie nicht einmal. Dabei scheint der direkte Kontakt mit der Erde doch unbedingt notwendig zu sein, wenn man sich verwurzeln will.

Versteht man das Verwurzeln als ein Nachgeben an die Schwerkraft, indem wir uns niederlassen hin zur Erde, die uns trägt, dann ist der Vergleich zum Hochseilakt in der Tat absurd. Aber Verwurzeln ist eben nicht nur die Anpassung an die Schwerkraft – denn dann wäre das Auf-dem-Boden-Liegen die absolute Verwurzelung –, sondern es ist die Basis für die Aufrichtung, die wir Menschen in unserer Bipedie, also der Fortbewegung auf zwei Beinen, verwirklichen. Dazu müssen wir einen ständigen Ausgleich zwischen Gravitation und Bodenreaktionskraft herstellen – oder «Himmel und Erde verbinden», wie es die Chinesen genannt haben.

So gesehen sind die Hochseilartisten wirkliche Meister der Verwurzelung und der Aufrichtung: Sie können sich der Schwerkraft nur soweit überlassen, wie sie einen festen Halt auf dem schwankenden Grund haben, um eine Aufrichtung zu finden, die aus der Verwurzelung erwächst. Das heißt, nichts hinzutun, nichts wegzunehmen von der Körperspannung, die ihre Balance zwischen Erde und Himmel ermöglicht und sie nicht abstürzen lässt.

Darum geht es in diesem Buch: Hinweise zu geben, wie die Polarität zwischen Sinken und Aufrichten gelingen kann, und damit ein Sinken zu vermeiden, das keine Aufrichtung hervorbringt («schlechte Haltung»), und eine Aufrichtung zu vermeiden, die das Sinken, also die Wirkung der Schwerkraft, nicht mit einbezieht («Halte dich gerade!»). Gelingt die verwurzelte Aufrichtung, entsteht Innere Kraft.

Zum Verständnis der Hintergründe werden die philosophischen Grundlagen des westlichen und östlichen Körperverständnisses aufgezeigt, die den Unterschied von innerer, verwurzelter, und äußerer Kraft nachvollziehbar machen können. Des Weiteren wird das Basiswissen der chinesischen Medizin und der neuen Faszienmodelle vorgestellt und ihre Verbindung aufgezeigt: Das Zusammenspiel der «myofaszialen Leitbahnen» und der «Qi-Meridiane» ist ein neuer Ansatz in diesem Buch. Im Übungsteil wird dann das Einüben der beschriebenen Prinzipien im LebenstorQigong® angeleitet.

Um beste Ergebnisse zu erzielen, ist dabei die Beachtung des «individuellen Atemtyps» (siehe Kapitel 4) erforderlich. Es gibt zwei verschiedene Atemtypen, Einatmer und Ausatmer, und jeder Mensch gehört entweder dem einen oder dem anderen Atemtyp an. Einatmer beziehen ihre Kraft aus dem aktiven Einatmen, Ausatmer aus dem aktiven Ausatmen. Das muss in der Körperhaltung und den Bewegungen berücksichtigt werden.

Dieses Buch ist für alle geschrieben, die Qigong erlernen oder bereits Qigong oder Taiji üben und ihr Verständnis von «Verwurzelung» vertiefen möchten, wie auch für Praktizierende der Kampfkünste, die bestrebt sind ihre Haltung zu optimieren. Wie wichtig die Aufrichtung gerade im Taiji ist, zeigt die Tatsache, dass in dieser Kampfkunst keine Falltechniken geübt werden, um den Verlust der Aufrichtung zu mindern, wenn man vom Gegner zu Boden geworfen wird. Im Taiji soll man nie fallen, sondern «hüpfen wie ein Spatz», wenn man vom Partner entwurzelt wird.

Und für alle ohne Kampfkunstambitionen wird hier ein Übungsweg dargestellt, der hilft, ihre Mitte und mehr «Bodenhaftung» zu finden, um die eigene Lebendigkeit zu spüren und innere Kraft und Standfestigkeit in mitunter hektischen Zeiten zu erlangen.

LebenstorQigong®, wie es hier vorgestellt wird, entstand aus den Qigong-Übungen, die ich in meiner 26-jährigen Zeit bei Meister K. H. Chu von ihm erlernen konnte. Den Grundstock – acht Qigong-Positionen, dazu vorbereitende Übungen der Arme und Hände – möchte ich allen Interessierten nun weitergeben und ihnen damit ein geeignetes Mittel an die Hand geben, um sich selbst flexibel und stabil im Qi zu verwurzeln.

Frieder Anders Frühjahr 2019

Mit dem Kopf in den Wolkenund den Füßen auf der Erde.(Chinesische Redensart)

Einleitung

Die Mitte finden

Der Ausgleich zwischen Himmel und Erde, wie er im Vorwort anhand eines extremen Beispiels – des Balanceakts auf dem Hochseil – dargestellt wurde, führt zur eigenen Mitte, die nicht nur der Körperschwerpunkt ist, sondern auch die «Erdmitte» des Menschen, wie sie Karlfried Graf Dürckheim (1896–1988) genannt hat. Sie ist also der Ort, wo sich Himmel und Erde im Menschen treffen, und gleichzeitig ist die «Erdmitte», der Bauch, aber auch ein zweites Gehirn, wie neuere Forschungen gezeigt haben.

«Die Vorstellung, der Magen-Darm-Trakt sei eine langweilige Verdauungsmaschine, ist in der Medizin längst passe. Denn die Forschung hat gezeigt, dass in unserem Bauchraum ein empfindliches Nervensystem mit erstaunlichen Eigenschaften sitzt. Dieses auch Bauchgehirn oder ‹zweites Gehirn› genannte Geflecht aus Nervenzellen ist strukturell ganz ähnlich aufgebaut wie unser Gehirn im Kopf. Interessanterweise ist es evolutionsgeschichtlich jedoch älter als dieses – bevor die ersten Lebewesen ein Kopfgehirn entwickelten, besaßen sie eines im Bauch. Die Hauptaufgabe dieses faszinierenden Nervensystems ist die Verdauung. Doch sein Einfluss reicht noch um einiges weiter. So reguliert das Bauchgehirn nicht nur unsere Darmtätigkeit und unser Sättigungsgefühl. Es scheint sogar unsere Emotionen kontrollieren zu können und möglicherweise an neurodegenerativen Erkrankungen wie Parkinson beteiligt zu sein.» (Albat, Daniela in: cinexx.de/‌dossier/‌das-bauchgehirn, Stand: 8.7.2019)

Die Mitte ist heute aber den meisten abhandengekommen oder in den Kopf gewandert. Nun scheint als Sitz des Bewusstseins eher dort, im Kopf, der Ort zu sein, von dem aus das Leben im Körper allein gesteuert und kontrolliert werden kann. Aber durch diese Überbetonung eines Bewusstseins, das alles mechanistisch zu verstehen sucht, ist uns das Leben selbst entglitten.

Die rationale Sicht der Naturwissenschaft auf die Welt, die, nach Galilei alles zu messen, nach Descartes alles in kleinste Teile zu zerlegen und nach Newton überall Ursachen zu finden sucht, hat in den letzten Jahrhunderten das menschliche Individuum mit seinen Gefühlen und Problemen ausgeklammert.

«Als Darstellung der Wirklichkeit ist die naturwissenschaftliche Abbildung der Welt nicht ausreichend, einfach aus dem Grund, weil die Naturwissenschaft nicht einmal den Anspruch erhebt, sich mit Erfahrung schlechthin zu befassen, sondern nur mit bestimmten Ausschnitten und nur in bestimmten Zusammenhängen. Die eher philosophisch interessierten Naturwissenschaftler waren sich dessen wohl bewusst. Aber unglücklicherweise hatten einige Naturwissenschaftler, viele Techniker und vor allem Konsumenten der vielen kleinen technischen Errungenschaften weder Zeit noch Interesse, den philosophischen Ursprüngen und Hintergründen der Naturwissenschaften nachzugehen.» (Aldous Huxley, in: Pietschmann 1980, S. 20)

Dass da in unserer Kultur etwas verschoben beziehungsweise nicht am richtigen Platz ist, zeigen auch die Antworten von Kursteilnehmern auf die Frage nach ihrer Motivation, sich mit Taiji und Qigong zu beschäftigen: Sie sprechen von der «eigenen inneren Mitte», die sie vermissen und finden möchten. Aber was wäre die «äußere Mitte»? Vielleicht ihr Lebensmittelpunkt, um das ihr Leben sich dreht, wie bei einem Hamster im Rad, das er selbst antreibt. Dieses Rad hat ja eine Mitte, um die es sich dreht, die aber nicht die Mitte des Hamsters ist.

Einfach stehen

Statt im Hamsterrad zu rennen, geht es also zunächst einmal darum, stehen zu bleiben bzw. einfach zu stehen. Denn die meisten Menschen begreifen ihre Füße lediglich als Vehikel, die den Körper tragen und ihn, frag- und besinnungslos, bewegen: nach vorn, nach oben, von der Erde weg – oder eben im Kreis herum. Die Füße dienen in diesem Verständnis als Werkzeuge, um Geist und Körper zu ihren Bewegungen, zum «Fortschritt» und zum «Vorwärtskommen» zu verhelfen. Dass es auch die Rolle der Füße sein könnte, den Menschen stehend zur Ruhe kommen zu lassen, gar zu verwurzeln, um innezuhalten und seine Mitte zu finden, wird kaum wahrgenommen. «Stehen» wird, wie bei stehendem Wasser, das nicht fließt, negativ als Stillstand empfunden: Man steht herum, steht an oder steht jemandem im Wege; nur in übertragenen Bedeutungen wie «für etwas einstehen», «seinen Mann stehen» oder «widerstehen» hat das Wort positive Bedeutung.

Der Philosoph Johann Gottlieb Fichte (1762–1814) beschreibt seine «freiheitstheoretische» Philosophie als eine einzige Flucht des Menschen von der Erde weg, die ja ohnehin nur mit seinen kleinsten Gliedmaßen, den Füßen, berührt wird.

«Durch ihren gewagten Gang, der ein immerfort dauernder Ausdruck ihrer Kühnheit und Geschicklichkeit ist, in Beobachtung des Gleichgewichts, erhält sie ihre Freiheit und Vernunft stets in der Übung, bleibt immerfort im Werden, und drückt es aus. Durch diese Stellung versetzt sie ihr Leben in das Reich des Lichts, und flieht immer die Erde, die sie mit dem kleinsten möglichsten Theile ihrer selbst berührt. Dem Thiere ist der Boden Bette, und Tisch; der Mensch erhebt alles das über die Erde.» (Bayertz, 2013, S. 243)

Wie ist es dazu gekommen? Da kann der Blick auf das unterschiedliche antike Verständnis des Himmels in West und Ost und helfen.

Himmel und Mensch

Seit Urzeiten war der «bestirnte Himmel über mir» (Kant) das ganz andere für den Menschen. Der Sternenhimmel, die Sonne und die Planeten, die Naturereignisse Blitz und Donner, Wolken und Regen waren (und sind) sowohl den «primitiven» wie den antiken Kulturvölkern heilig oder göttlich. Das Hohe war das Sakrale, und aus der Beobachtung des Himmels leiteten die Völker ihre Religionen ab. Das Verständnis des Himmels bestimmte ihr Menschenbild, und die Regeln für das menschliche Zusammenleben wurden aus den Gesetzmäßigkeiten, die der Mensch am Himmel entdeckte, hergeleitet.

Die alten Astronomen standen vor dem Problem, dass die Position der Sonne vor dem Sternenhimmel, die sich ja mit den Jahreszeiten verändert, gar nicht leicht zu bestimmen ist, da die Sonne bei Tag durch ihre Helligkeit die anderen Sterne überstrahlt und unerkennbar macht. Für dieses Problem wurden zwei unterschiedliche Lösungen gefunden:

Die alten Ägypter, Babylonier und Griechen konzentrierten sich auf die Beobachtung der sonnennächsten Sterne und Sternbilder, wie sie kurz nach Sonnenuntergang im Westen und kurz vor Sonnenaufgang im Osten am Horizont sichtbar werden. So entdeckten sie den scheinbaren Jahreslauf der Sonne durch den Tierkreis, die Ekliptik.

Die alten chinesischen Astronomen dagegen nahmen die sich drehende Erde – die sie, geozentrisch, als Mittelpunkt des Kosmos sahen – zur Grundlage ihres Koordinatensystems. So entwickelten sie ein «polares und äquatoriales System» der Himmelsbeobachtung und -messung, in welchem der Himmelsnordpol eine zentrale Rolle spielt. Der Polarstern ist der optische Mittelpunkt unseres Sternenhimmels: Alle Sterne und damit alle Sternbilder scheinen sich um ihn zu drehen. Dieser Eindruck ergibt sich deshalb, weil die Erdachse auf den Polarstern weist, der deshalb bei der täglichen Drehung der Erde um sich selbst stillzustehen scheint. (Aber der Polarstern beschreibt tatsächlich einen kleinen Kreis, der ihn nicht genau mit dem Himmelsnordpol zusammenfallen lässt.)

Diese beiden Ansichten ließen ein jeweils unterschiedliches Bild vom Kosmos und damit auch von der Rolle des Menschen darin entstehen.

Die Kugelgestalt, das Ideal der Vollkommenheit, garantiert allein für die Ewigkeit, die Unentstandenheit, Unvergänglichkeit und Unwandelbarkeit des Seins.(Karen Gloy)

Das Weltbild Platons

Der Kosmos Platons, sein Bild der Welt und ihres Aufbaus, ist in sich abgeschlossen.

«In dieser Kosmologie stand die Erdkugel unbeweglich im Mittelpunkt des Kosmos. Um die Erde und die drei darauffolgenden sublunaren Sphären der Elemente waren die Himmelssphären angeordnet, die die Planeten trugen, bis hin zur äußersten, nicht mehr sichtbaren Sphäre, in der der Sitz Gottes angenommen wurde. […]

Der Kosmos war prinzipiell geteilt zwischen der sublunaren Welt und den darüber liegenden Himmelssphären. Die Himmelssphären wurden bis auf ihre Bewegungen als vollkommen und unveränderlich verstanden. Wandel, Fehler, Imperfektion und Ähnliches waren dagegen auf die sublunare Welt beschränkt, die ihrerseits aus vier Elementsphären aufgebaut war.» (Tarnas, 2006, S. 62)

Platon ging einen Schritt zurück zu früheren mythologischen Vorstellungen, indem er die Himmelsobjekte wieder als personale, mit Verstand ausgerüstete göttliche Wesen annahm, während griechische Philosophen vor ihm die Himmelsobjekte viel «moderner» bereits «ent-göttlicht» als physikalische Natur betrachtet hatten. Aber die Annahmen Platons (die von Aristoteles übernommen wurden) blieben bis Ende des Mittelalters als Grundlage zur Betrachtung des Himmels im Wesentlichen unverändert und wirken in ihrer Prägung des westlichen Menschenbildes bis heute fort.

Das «Körper-Haben», die «instrumentale» Körperlichkeit, wird so zur «instrumentellen» Körperlichkeit deformiert und gelebt: Der Körper ist in diesem Gebrauch der Knecht des Geistes bzw. des Ichs.

Denn dahin, wo die Seele ihren eigentlichen Ursprung hat, ließ Gott den Kopf, die Wurzel des Menschen, gerichtet sein und so gab er dem Körper seine aufrechte Haltung.(Platon)

Die Erschaffung des Menschen

Nach Platon wurden der Kosmos und der Mensch von einem «Demiurgen» erschaffen. Demiurg bezeichnete ursprünglich einen «Anfertiger» oder «Erbauer», dann, u. a. bei Platon, den göttlichen «Erbauer» oder Schöpfergott. Den Menschen schuf der Demiurg nach diesem Verständnis indes nur als Seele. Die «Hilfsgötter» – die Planeten, selbst rund und vollkommen – konstruierten dann den Kopf nach ihrem und dem Vorbild des Kosmos als rundes Behältnis der Seele. Damit der Kopf aber nicht unkontrolliert auf der Erde umherkugeln konnte, wurden im zweiten Schöpfungsschritt von den Hilfsgöttern der Rumpf und die Gliedmaßen konstruiert – als «Fahrgestell» für den Kopf. Gleichzeitig diente der Rumpf als Behälter für zwei weitere Bestandteile der Seele: Der tapfere und ehrliebende Teil wurde im Brustkorb, im Herzen, untergebracht und der animalische und triebhafte Seelenteil im Unterleib. Der Kopf, nach Platon die «Wohnstätte des Göttlichsten und Heiligsten in uns», wird also «in überragender Stellung» gehalten und getragen, weil er die Herrschaft über die unter ihm befindlichen Seelenteile ausübt.

Als Modell gilt hier das Gleichnis vom Wagenlenker (vgl. Phaidros 246 3a): Der Vernunftteil, als Gespannlenker, setzt die Kraft eines gehorsamen Pferdes, das das «Muthafte» symbolisiert, gegen die Kraft eines zweiten, ungebärdigen Pferdes, Sinnbild der Triebe und Begierden, ein, und lenkt so das Ganze zu seinem Ziel, das nur die Vernunft bestimmen kann. (nach L. Geldsetzer, Philosophische Anthropologie, WS 98/99 Heinrich Heine Uni Düsseldorf)

Beine und Füße, noch unterhalb der Geschlechts- und Ausscheidungsorgane gelegen, stehen demnach am tiefsten in der Hierarchie, weil sie lediglich die Aufgabe haben, die aufrechte Haltung zum Himmel hin und die Bewegung auf Erden zu ermöglichen. Der Vergleich mit einem Baum liegt nah.

«Aber der Mensch ist nicht einfach ein Baum, sondern ein umgekehrter Baum, weil seine ‹Wurzeln› nicht unten in der Erde, sondern oben im Himmel sind», denn «…während Bäume ihre Nahrung aus der Erde ziehen, nimmt der Mensch sie aus dem Himmel.» (Bayertz, 2013, S. 43) Damit bildet der Mensch als Mikrokosmos die hierarchische kosmische Ordnung ab: unten die veränderliche materielle Welt und oben das Reich des Ewigen, Göttlichen, Vernünftigen.

Das Christentum hat dieses Bild vom Menschen übernommen. «Besonders unter dem Einfluss der neuplatonischen christlichen Theologen verschob sich der Schwerpunkt gegenüber dem frühen jüdisch-christlichen Glauben an eine Erlösung des ganzen Menschen und der gesamten natürlichen Welt hin zu der Vorstellung einer rein spirituellen Erlösung, in der allein das höchste menschliche Vermögen, die göttliche Essenz der menschlichen Seele, mit Gott wiedervereinigt würde.» (Tarnas, 2006, S. 176)

Aber auch, wenn dem christlichen Glauben abgeschworen wurde, prägte die «Ausrichtung nach oben» über die Jahrhunderte bis heute immer noch die Stellung des (westlichen) Menschen in der Welt. Die «Wagenlenker-Hierarchie» bestimmt weiterhin das Verhältnis des Menschen zu seiner Körperlichkeit. So wie der vernünftige Kopf die vitalen Bedürfnisse und Äußerungen des «Fleisches» kontrolliert, so geht damit eine Instrumentalisierung des Körperlichen einher: Der Körper soll nur vernünftige Bewegungen ausführen, solche, die ihm von der «Seele im Kopf», dem Geist, befohlen werden.

Körper haben – Körper sein

Wir haben einen Körper, und wir sind ein Körper, ein Leib.

Den Körper, den wir haben, hat die Naturwissenschaft in den letzten drei Jahrhunderten untersucht und dabei faszinierende Ergebnisse erzielt. Der forschende Blick dringt von außen ins Innere des Körpers, zerlegt seine Strukturen und gelangt in Bereiche, die sich dem bloßen Auge entziehen.

Der Körper, der wir sind, also unser Leib, den wir fühlen, wird entdeckt durch die Innenschau: das Spüren, Fühlen, Ahnen, das intuitive Erkennen. In ihm wohnt die Psyche, die nicht entdeckt und seziert werden kann, weil sie kein Organ ist, sondern nur gefühlt werden kann, gespiegelt durch empathische Teilnahme eines Gegenübers.

Der Körper, den wir haben, ist unser Instrument: einsetzbar für Arbeit, die uns ernährt, sowie nutzbar für von diesem Zweck grundsätzlich freie Aktivitäten, wie etwa Bewegung und Kunst, die mit diesem Instrument realisiert bzw. ausgedrückt werden können.

Den Leib – den Körper, der wir sind – erforschen wir durch Fragen, also einen Zugang von innen, der nicht zergliedern, sondern ganzheitliche Zusammenhänge erkennen und erleben möchte. Auf diese Fragen antwortet unser Innenleben, das gleichwohl den Körper braucht, um sich zu äußern.

Innen und außen, Sein und Haben sind, wie der Philosoph Helmut Plessner (1892–1985), ein Hauptvertreter der Philosophischen Anthropologie, gezeigt hat, nicht zu trennen. Er nennt diese doppelte Verschränktheit von Körper-Haben und Körper-Sein «exzentrische Positionalität»: Die Organisationsform des Menschen ist deswegen exzentrisch, weil der Mensch «jederzeit in ein reflexives Verhältnis zu seinem Leben treten kann. Ein Moment dieses reflexiven Verhältnisses bildet das Selbstbewusstsein, das Plessner nicht wie in der philosophischen Tradition üblich als geistiges Phänomen behandelt, sondern aus seiner biologischen Wurzel heraus entwickelt. Er analysiert diese Organisationsweise als Doppelaspekt: als Menschen haben wir einen Körper und sind zugleich ein Leib.» (de.wikipedia.org/‌wiki/‌Helmuth_‌Plessner, 27.8.2019)

Körper haben – der Gebrauch eines Instruments

Ein Feld für die menschliche Bewegung ist der Sport, in dem der Körper als Instrument gebraucht und bewertet wird: Mit dem Blick von außen wird seine Bewegungsqualität beurteilt und mithilfe von technischen Apparaten seine Leistungsfähigkeit gemessen. Wie der Blick von außen nach innen geschieht auch das, was den Körper zur Bewegung antreibt, in dieser Richtung: Der menschliche Wille, der irgendwo im Geist verortet wird, treibt, gefühlt von außen, das Instrument Körper an, damit dieses Instrument funktioniert und potenziell die Grenzen seiner Möglichkeiten überwindet. Dieser Ansatz, der keine Grenzen hat, weil er sein Innen nicht kennt, ist immer noch bestimmend im westlichen Verständnis des Körpers und seiner Bewegungsmöglichkeiten.

Niemand kam je auf den Einfall, seinen Magen als einen fremden, etwa einen göttlichen Magen zu verstehen.(Nietzsche)

Körper sein – die Wiederentdeckung des Leibes

Das mechanistische Welt- und Menschenbild, die Geometrisierung sowie die Ausrichtung der Körperhaltung nach oben bestimmten – und bestimmen – das Verhältnis des westlichen Menschen zu seinem Körper. Aber natürlich gab es auch Gegenbewegungen zu diesem seit der Neuzeit im Westen dominierenden Menschenbild des «Körper-Habens».

So wandte sich im 19. Jahrhundert der Vitalismus gegen diese rationalistische Betonung der Leib-Körperlichkeit als Körper-Haben, indem er die Rückführung des Lebendigen auf bloß chemische und physikalische Grundlagen – «tote Materie» – und deren kausal-analytische Erklärungen ablehnte und stattdessen die Lebenskraft (vis vitalis) als eigenständiges Prinzip zum Verständnis des Lebendigen einführte. An die Stelle des «Körper-Dings», das der Mensch mechanistisch-materialistisch (scheinbar) nach Belieben beherrscht, wurde nun der Leib, also der Körper, der der Mensch ist, gesetzt. Vor allem in der metaphysischen Richtung der «Lebensphilosophie» (Bergson, Dilthey, Klages, Driesch) versuchte man, das Phänomen des Lebens eher antisystematisch oder «organizistisch» (vgl. Gloy, 1996) zu erklären, aber auch Schopenhauer und Nietzsche dachten in diese Richtung.

An die Stelle des selbstreflexiven Bewusstseins als Quelle seiner Identität – Descartes' «Ich denke, also bin ich» – setzt dieses Denken den Leib: «Hinter deinen Gedanken und Gefühlen, mein Bruder, steht ein mächtiger Gebieter, ein unbekannter Weiser – der heißt Selbst. In deinem Leib wohnt er, dein Leib ist er.» (Nietzsche, bei Meinberg, 1988, S. 393)

Aber diese Hypostasierung des Leibes als die eigentliche «erste Wirklichkeit» ist wiederum dualistisch, denn Physisches und Geistiges fassen ineinander, ohne sich gegenseitig aufzulösen: «Körper, Leib, Seele, Geist, Bewusstsein und Ich können […] nicht gegeneinander verhärtet, sondern müssen als eine spannungsvolle Einheit in verschiedenen Zuständen gesehen werden.» (Ebenda, S. 281) Das getan zu haben, also die «leiblich-naturale Verfassung des Menschen […] neu und qualitativ anders interpretiert» (Meinberg) zu haben, ist das Verdienst von Helmut Plessner mit seiner «Philosophischen Anthropologie» (vgl. faustkultur.de/‌1677-0-Boehmer‌-Helmuth-‌Plessner.‌html, Stand 23.7.2019)

Heute wird «Körper-Sein» anerkannt und gepflegt in allen Disziplinen, die im ruhenden Körper diese Seite entdecken möchten: vor allem in östlichen Methoden wie Meditation, Qigong Taiji, Yoga, aber auch in allen Arten der «Körperarbeit» – und vor allem in jeder Art von «Wellness».

In den Hippie- und Bhagwan-Zeiten der 1970er-Jahre gab es den Versuch, die Instrumentalisierung des Körpers durch den Geist einfach zu umgehen und den Körper bzw. die Gefühle in unkontrollierten ekstatischen Bewegungen freizulassen. Taiji und Qigong im Westen, als sie in den 1970er-Jahren hier ankamen, waren ebenso willkommen, weil auch sie einen Ausweg aus der instrumentellen Körperlichkeit versprachen. Nur ging und geht es hier aber nicht um Selbstvergessen im ekstatischen Außer-Sich-Sein, sondern um ein angenehmes Sich-Überlassen an die scheinbar anstrengungslosen Wohlfühlbewegungen der östlichen Wege, bei denen der Kopf so schön ausgeschaltet werden kann, um «zu sich», zur «Erdmitte», zu kommen – ein vorsichtiger Schritt hin zum «Körper-Sein».

Aber das entspricht nicht den traditionellen Möglichkeiten dieser Bewegungskünste, weil diese vielmehr einen Weg darstellen, Körper-Haben und Körper-Sein zu verbinden. Alle Bewegungen werden vom Geist geführt – das ist sowohl das Vermächtnis der fernöstlichen Wege der «Selbstkultivierung» wie auch das Platons und rechtfertigt insofern den Vergleich beider. Man muss allerdings den Kontrollmechanismus des Geistes über den Körper, wie er in der Platon’schen Hierarchie angelegt ist, durch dessen Führungsrolle, die den Körper leitet, aber nicht beherrscht, ersetzen.

Biografischer Exkurs 1 Mein Verständnis dieser Thematik verdanke ich meinen Erfahrungen in einer New Yorker Theatergruppe, der ich Anfang der 1970er eine Weile angehörte und wo es darum ging, den Körper «zu befreien», sich also über Improvisation ganz dem Modus «Körper-Sein» zu überlassen, allerdings begleitet vom wachen Geist, der ja alle entstandenen Bewegungsabläufe wahrnehmen und reproduzierbar machen sollte; schließlich ging es letztlich um szenische Darbietung. Nach meiner Rückkehr nach Deutschland versuchte ich in einer eigenen Theatergruppe, diese Arbeit fortzusetzen. Doch gab ich sie schließlich auf, da sie mir zu radikal erschien, und wandte mich Taiji und Qigong zu, wo ich einen sanfteren Weg fand, Sein und Haben des Körpers zu versöhnen.

Himmel und Mensch sind ursprünglich ein und dieselbe Idee.(Zhu Xi, 1130–1200)

Kosmische Ordnung im alten China

Auch im alten China galt der Mensch als Mikrokosmos – in zweierlei Hinsicht. Einerseits ein Mikrokosmos, weil Abbild des Makrokosmos, stellte er zum andern die Verbindung zwischen Himmel und Erde durch die Welt­achse bzw. Himmelsachse in beide Richtungen dar: von unten nach oben und von oben nach unten. Zudem war der Mensch auch verantwortlich dafür, die moralische Ordnung des Kosmos, in dessen Mitte er stand und die seine Werte bestimmte, durch sein Verhalten zu bewahren.

Der chinesische Kosmos existierte von sich aus, brauchte keinen Gott oder Götter, die ihn als etwas «Höheres» als die Erde erschufen, und alle Wesen hatten gleichermaßen teil am universellen «Wirkstoff» Qi, der alles Existierende durchdrang. Der Himmel war Vorbild für die Menschen: Freiwillig und ohne göttliches Gesetz akzeptierte der Mensch eine universelle Ordnung, die zwar hierarchisch gegliedert war, aber jedem Menschen seinen angestammten Platz im Kosmos zuwies. Bezeichnend ist, dass das Urpaar Yin und Yang, das die Beziehungen des Kosmos strukturiert, keine Herrschaftsbeziehung ausdrückt, sondern eine polare Einheit bildet. Außerdem wurden Yin und Yang nicht von gegensätzlichen Himmelserscheinungen, wie z. B. Sonne und Mond in anderen Religionen, abgeleitet, sondern von der Erde selbst – wenngleich als Reflexion vom Licht des Himmels.

Himmelspalast auf Erden