Das Ting - Artur Dziuk - E-Book
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Das Ting E-Book

Artur Dziuk

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Beschreibung

»Eine moderne Story über drohenden Autonomieverlust.« SZ Extra Vier junge Visionäre gründen in Berlin ein Start-Up up und entwickeln zusammen eine App: das sogenannte Ting, das körperbezogene Daten seiner Nutzer sammelt, auswertet und auf dieser Grundlage Handlungsempfehlungen gibt. Das Prinzip Ting überzeugt – die App schlägt ein wie eine Bombe. Getrieben vom Erfolg entwickelt Mitgründer Linus die Möglichkeiten immer weiter, sein eigenes Leben und das der User mithilfe des Ting zu optimieren. Doch um neue Investoren für die Firma zu gewinnen, sind er und sein Team bald gezwungen, sich auf ein gefährliches Spiel einzulassen: Sie verpflichten sich vertraglich, künftig unter allen Umständen jeder Empfehlung des Ting zu gehorchen – mit verheerenden Folgen.

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Seitenzahl: 572

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Über das Buch

Vier junge Leute gründen in Berlin ein Start-up und entwickeln ein Tool: das Ting, das körperbezogene Daten seiner Nutzer sammelt, diese auswertet und auf ihrer Grundlage Handlungs- und Entscheidungsempfehlungen gibt. Die Idee überzeugt – das Ting schlägt auf Anhieb ein wie eine Bombe. Doch um zusätzliche Investoren zu gewinnen, sind Linus und sein Team gezwungen, sich auf ein gefährliches Spiel einzulassen: Sie verpflichten sich, den Empfehlungen des Ting zu folgen. Bedingungslos …

 

 

 

 

FÜR INSA

 

 

 

 

Unter »Technokratie« verstehe ich die Tatsache, dass die Welt, in der wir heute leben und die über uns befindet, eine technische ist – was so weit geht, dass wir nicht mehr sagen dürfen, in unserer geschichtlichen Situation gebe es u. a. auch Technik, vielmehr sagen müssen: in dem »Technik« genannten Weltzustand spiele sich nun die Geschichte ab, bzw. die Technik ist nun zum Subjekt der Geschichte geworden, mit der wir nur noch »mitgeschichtlich« sind.

Günther Anders

LINUS

Sein Spiegelbild in der gläsernen Drehtür wird mit jedem Schritt größer. Der neue Anzug scheint glänzend und glatt, doch Linus ahnt, dass die Fahrt Falten hineingedrückt hat. Heute darf er sich keine Fehler erlauben. Seine Performance muss tadellos sitzen. Seine Karriere – sein Leben hängt davon ab.

Wenige Meter über ihm, an der Glasfront des Towers, leuchtet der Schriftzug: Strindholm Consulting. Die Geräusche um ihn herum werden leiser. Bassgetriebene Musik aus einem Sportwagen. Das Gespräch mehrerer Männer, auf dem Weg in eine Szenekneipe. Das Lachen eines Liebespaares.

Die Hitze der Sommernacht drückt auf seine Schläfen. Zur Sicherheit kontrolliert er das Display seines Smartphones. Keine Nachricht von Kira. Keine Empfehlung des Ting.

In der Lobby ist es still, die Deckenlampen sind gedimmt. Die weite Eingangshalle ist leer, abgesehen von einem Mann, der hinter einem Tresen sitzt, das Gesicht erhellt von einem Bildschirm. Wie ein steinerner Wächter, umgeben von Marmor und gläsernen Wänden. Er schenkt Linus keinen einzigen Blick.

In fünf Minuten ist es 22 Uhr 30. Trotzdem ist niemand hier: keine Universitätsabsolventen, die flüsternd die Stationen ihres Lebenslaufs durchgehen. Sich gegenseitig taxieren. Keine Personaler, die ihn begrüßen. Ihm versichern, es gebe keinen Grund, nervös zu sein. Erklären, was er schon weiß. Dass Strindholm Consulting Bewerbungsverfahren in der Nacht abwickelt. Dass zwölf Bewerber eingeladen, geprüft, weggeschickt werden, wenn sie den Anforderungen nicht genügen. Dass, wer am Morgen übrig ist, gleich hierbleibt und den ersten Arbeitstag vor sich hat.

Linus streicht sein Sakko glatt, atmet tief ein. Und wieder aus. Wahrscheinlich warten Personaler und Bewerber in einem anderen Raum. Sein Hemd ist unangenehm feucht. Die klimatisierte Luft hat den Schweiß innerhalb von Sekunden abgekühlt. Er hebt unauffällig den Arm und neigt den Kopf, um seinen Körpergeruch einzuschätzen. Doch er ist nicht sicher, ob da überhaupt etwas ist. Die Schritte in den neuen Lackschuhen klingen laut auf dem Marmorboden, und er versucht, weniger stark aufzutreten. Noch immer schaut der Mann hinter dem Empfangstresen nicht auf. Auch nicht, als Linus direkt vor ihm steht.

»Entschuldigung – ich bin wegen des Bewerbungsgesprächs hier.«

Endlich richtet der Mann seinen Blick auf Linus und faltet die Hände ineinander. Aus dem neutralen Gesichtsausdruck schält sich ein schmales Lächeln.

»Guten Abend. Wie kann ich Ihnen helfen?«

Unter dem Anzug steckt ein athletischer Körperbau, obwohl der Mann die Fünfzig bereits überschritten haben muss. Linus denkt über die Berufsbezeichnung seines Gegenübers nach. Aber sie fällt ihm nicht ein. »Pförtner« kann es nicht sein. Vielleicht ein Anglizismus. Dem Aussehen nach zu urteilen ist der Mann Geschäftsführer oder sogar Personaler. Linus stutzt. Was, wenn er tatsächlich Personaler ist? Und diese Situation, die leere Lobby, seine Unfreundlichkeit, Teil der ersten Prüfung?

»Warum starren Sie mich so an?«

»Entschuldigung. Mein Name ist Linus Landmann. Ich bin wegen des Bewerbungsgesprächs hier.«

Der Mann blickt wieder auf den Bildschirm. Bewegt langsam die Maus. Klickt.

»Sie meinen sicherlich das Assessment-Center. Die Kollegen vom Recruiting sind mit den Bewerbern vor 20 Minuten hochgefahren. Tut mir leid. Man hat ohne Sie begonnen.«

Die gläserne Rückwand der Lobby ist beschlagen, als hätte ein riesiger, offener Mund von der anderen Seite dagegengeatmet. Diffuses Licht geht von ihr aus. Es bedeckt den Marmorboden und legt sich von hinten über den Körper des Mannes.

»Das kann nicht … Laut Einladung beginnt das Assessment-Center erst in einigen Minuten.«

Der Mann hebt die Schultern und schüttelt den Kopf. Wenn das tatsächlich eine Prüfungssituation ist, wenn der Mann das alles nur spielt, dann muss Linus seine Kreativität unter Beweis stellen. Er muss beweisen, dass er sich durch Hindernisse nicht aus der Ruhe bringen lässt.

Vielleicht ist Adam noch im Büro. Linus könnte ihn anrufen, ihn um Hilfe bitten. Dem vermeintlichen Personaler zeigen, dass er vorbereitet ist, dass er Connections hat. Doch in Wirklichkeit weiß Linus noch nicht mal, ob Adam von seiner Bewerbung erfahren hat. Ob er sie gutheißt. Kira hingegen meint, Adam ist der einzige Grund, warum man ihn überhaupt eingeladen hat.

»Könnten Sie vielleicht jemanden für mich anrufen?«

Der Mann hinter dem Tresen stöhnt auf. Greift nach einem Telefonhörer und wählt, wobei er sich auf seinem Stuhl um 120 Grad dreht. Nach einigen Sekunden sagt er: »Ein Linus Landmann ist hier.«

Er wartet die Antwort ab und legt wieder auf.

»Bitte setzen Sie sich. Sie werden gleich abgeholt.«

Linus sucht nach einem Platz. Vor einer Flotte von Lederhockern erstarrt er für einen Moment, als würde von seiner Entscheidung für eine Sitzgelegenheit etwas abhängen. Dann setzt er sich vorsichtig auf den erstbesten Hocker. Das diffuse Licht bedeckt ihn jetzt vollständig. Die Quelle liegt irgendwo im Zentrum des Towers, hinter der inneren Glaswand, die noch immer lückenlos beschlagen ist. Hindurchschauen kann er nicht.

Auf dem Display seines Smartphones findet er neue Nachrichten von Kira.

Ich bin mir sicher, dass es dieses Mal klappt. Ich glaube an dich.

Darunter ein Foto. Hochgezogene Augenbrauen, ein optimistisches Lächeln, ein gedrückter Daumen. Das Bild soll ihm Mut machen. Kira hat bereits Schlafsachen an und sitzt in ihrem Sessel. Wahrscheinlich scrollt sie gerade durch Modeblogs, um von der Arbeit zu entspannen. Geht zwischendurch auf den Balkon, eine rauchen. Macht Pläne für ihr Wochenende. Hoffentlich bleibt sie noch ein paar Stunden wach.

Dem Bild folgt ein weiterer Satz.

Wenn du Adam triffst, dann grüß ihn ganz herzlich.

Mit seinem Smartphone steuert Linus die Website von Strindholm Consulting an, sucht unter der Kategorie Team nach seinem ehemaligen Freund. Kein Foto, keine Angaben zur Vita, außer: M. Sc. Wirtschaftsingenieurwesen. Er steckt das Telefon in seine Tasche und versucht, geräuschlos seine Sitzposition auf dem unbequemen Hocker zu verändern. Möglicherweise kann Adam ihm helfen, den Job zu bekommen. Doch möchte er Adam überhaupt wiedersehen? Möchte er ihn um einen Gefallen bitten, nach allem, was vorgefallen ist? Linus ist sich nicht sicher. Seit dem Studium haben sie nicht mehr miteinander gesprochen.

Linus versucht, die Gedanken an ihre letzte Begegnung zu unterdrücken, aber es gelingt nicht. In ihrem letzten gemeinsamen Semester hatten sie die Idee für ein Produkt: ein »Navigationssystem fürs Leben«. Sie spielten mit dem Gedanken, ein Start-up zu gründen. Linus zuständig für die Entwicklung, Adam für den wirtschaftlichen Part. Linus entwarf ein erstes Konzept und stützte seine Masterarbeit darauf. Als er die Arbeit abgab, erfuhr er, dass Adam den Entwurf kopiert und in seiner eigenen Abschlussarbeit verwendet hatte. Es gab zu viele Überschneidungen und Linus musste einen neuen Ansatz finden. Letztlich kostete ihn die Neuausrichtung ein ganzes Semester. Auch noch nach Jahren, auch hier in der Lobby von Strindholm Consulting verkrampft sein Oberkörper, wenn er an ihr letztes Treffen zurückdenkt: wie sauer er auf Adam war, wie er vor Wut zitterte. Wie Adam am Küchentisch saß und ein großes, leeres Glas von einer Handfläche in die andere schubste. Lächelte und schwieg, statt sich zu entschuldigen, sich zu rechtfertigen, Linus zumindest anzuschauen. Nach einer Weile nahm Adam das Glas und füllte es bis zum Rand mit Wasser. Er ließ sich Zeit und blickte anschließend lange aus dem Küchenfenster. Während Linus um seine Fassung rang, mit der Stille im Raum kämpfte, drehte Adam sich um und schaute ihm direkt in die Augen. Ohne den Blick von Linus zu lösen, setzte er das Wasserglas an die Lippen und trank. Erst behutsam, dann immer gieriger. Mit jedem Schluck wurde die Bewegung des Adamsapfels ausladender, wurde das dazugehörige Geräusch obszöner. Einige Tropfen lösten sich aus seinen Mundwinkeln, flossen als Rinnsal die Wange herab und tropften vom Kinn. Auch wenn es nur ein Glas Wasser war – Linus sah ein Raubtier vor sich, das hungrig Stücke aus dem Leib seiner Beute riss. Mit einem Klong stellte Adam das Glas auf den Tisch. Und ging, ohne ein weiteres Wort.

Je länger er und Adam anschließend keinen Kontakt hatten, desto mehr flaute Linus’ Ärger ab. Und desto mehr stellte Bewunderung sich ein.

Linus schreckt auf, als sich die Tür des Fahrstuhls öffnet. Es ist nicht Adam, der heraustritt. Eine junge Frau kommt auf ihn zu. Während ihre Absätze selbstbewusst in die Lobby klacken, mustert sie ihn von oben bis unten. Er greift nach der ausgestreckten Hand und widersteht dem Verlangen, sich daran hochzuziehen.

»Herr Landmann, schön. Sie haben es doch noch geschafft. Mein Name ist Enni Strindholm. Ich bin Junior Human Resources Managerin. Und bevor Sie fragen: Ja, ich gehöre zur Familie. Kommen Sie, wir sind spät dran. Die Vorstellungsrunde findet im Abendmahl statt.«

Die Seitenwände des Fahrstuhls sind verspiegelt. Linus versucht, die Personalerin unauffällig anzuschauen. Er schätzt sie auf Mitte zwanzig. Sie ist knapp größer als er, trägt einen grauen Hosenanzug und ihre blonden Haare sind zu einem Dutt hochgesteckt. Ihr strenges Äußeres und die geradlinigen Bewegungen passen nicht zu ihrem kindlichen Gesicht. Als sie sich im Nacken kratzt, fällt ihm auf, dass sie keine Ohrringe trägt. Nicht einmal Ohrlöcher hat. Er fragt sich, was das über sie aussagen könnte. Ihm fällt nichts ein.

»Darf ich … Ihnen eine Frage stellen? Hat das Assessment schon begonnen? In der Einladung steht halb elf«, sagt er.

»Zufällig waren alle anderen Bewerber schon um zehn hier. Da dachten wir, wir fangen schon mal ohne dich an. Hast du was dagegen, wenn wir uns duzen?«

Sie macht einen Schritt auf ihn zu und berührt seinen Arm. Mit großer Mühe erwidert er ihr Lächeln.

»Keine Sorge. Das wird sich in keinem Fall negativ auf deine Bewertung auswirken«, sagt Enni.

Sie treten in einen langen Korridor. Die Wände sind weiß und kahl, unterbrochen von gläsernen Türen. Auf den Schildern daneben stehen weder Namen noch Nummern, sondern die Titel bekannter Gemälde: Geburt der Venus, Himmlische und irdische Liebe, Schule von Athen. Enni biegt in den nächsten Korridor. In einigen Büros brennt trotz der späten Uhrzeit noch Licht. Eine Mitarbeiterin hebt ihren Kopf, während sie an ihrer Tür vorbeigehen, und blinzelt, als habe man sie aus einem Tagtraum gerissen.

Ennis Pfennigabsätze stechen auf den Boden ein. Er wird sich bei den Personalern entschuldigen, seine Pünktlichkeit mit einer Verspätung des Busses, stockendem Verkehr rechtfertigen müssen. In seiner Hosentasche vibriert das Smartphone. Hoffentlich eine Nachricht von Kira, denkt er. Unauffällig holt er es hervor. Auf dem Display leuchtet eine Empfehlung des Ting.

   Flüssigkeitsmangel festgestellt. Optimale Versorgung des Gehirns nicht gewährleistet. Kognitive Leistungsfähigkeit zeitnah beeinträchtigt. Empfehlung: Mindestens 400ml Flüssigkeit zuführen.

Linus ist irritiert, denn er ist gar nicht durstig. Eine Empfehlung, wie er sich den Personalern gegenüber verhalten soll, eine gute Erklärung, weshalb er nicht wie alle anderen zu früh erschienen ist, wäre um einiges nützlicher. Eine solche ist ihm das Tool schuldig, denkt er, während er sich bemüht, nicht auf Ennis Hintern zu gucken. Immerhin ist das Ting mitverantwortlich, dass er diesen Abend in einem Assessment-Center verbringt und nicht nach einem langen Tag im Labor vor einem Stream mit Kira entspannt. Eine Empfehlung des Ting hat ihn dazu gebracht, seine Promotion abzubrechen. Und einige Wochen später verlangte eine andere Empfehlung des Ting, dass er sich bei Strindholm bewirbt.

Wunder. Dieses Wort kommt ihm immer in den Sinn, wenn er an jene beiden Empfehlungen denkt. Denn genau das sind sie. Die physische Hardware des Ting verfügt zwar über Sensoren, um anhand seiner Hormonausschüttung seine Frustration im Labor festzustellen. Ebenso konnten die Sensoren seinen Stress messen, als seine Stipendien- und Projektgelder ausgelaufen sind. Theoretisch hat das Tool sogar Zugang zu Online-Job-Portalen, um eine offene Stelle bei Strindholm ausfindig zu machen. Doch das alles ist nur Theorie: Die Software, also die Modelle und Algorithmen des »Navigationssystems«, die er während seiner Masterarbeit und Promotion entwickelt hat, ist nicht ausgereift genug, um Entscheidungsempfehlungen dieser Komplexität zu generieren. Und doch hat er diese beiden Empfehlungen vom Ting bekommen. Wunder. Ein solches könnte er auch jetzt gut gebrauchen.

Linus kollidiert beinahe mit Enni, als sie mitten im Korridor stehen bleibt. Ihre Gesichtszüge wirken weicher als vorhin, ihre braunen Augen groß und rund.

»Linus, da ist etwas, das ich loswerden muss. Versprichst du mir, es für dich zu behalten?«

Ennis Hände fassen nervös an den Saum ihres Blazers. Er hat keine andere Wahl, als zu nicken.

»Ich bin die Enkelin des Firmengründers. – Aber vor Kurzem war ich in der gleichen Situation wie du. Das hier ist mein erstes Assessment-Center auf der anderen Seite. Ich bin in der Probezeit und darf keinen Fehler machen, sonst bin ich den Job wieder los. Wahrscheinlich bin ich genauso aufgeregt wie du.«

Enni atmet demonstrativ laut aus. Wieder wittert Linus eine Falle. Er versteht einfach nicht, warum sie sich gerade ihm anvertraut. Vielleicht ist das ein Test, um seine Empathie und soziale Kompetenz auf die Probe zu stellen. Er versucht, die Distanz zwischen ihnen zu verringern, und tritt einen Schritt auf Enni zu. Sofort ist ihm die Nähe unangenehm und er weicht wieder einige Zentimeter zurück. Er räuspert sich, dann klopft er Enni dreimal auf die Schulter.

»Du schaffst das schon«, sagt er.

Enni hebt leicht die Brauen. Durchgefallen, denkt er. Doch noch ist es nicht zu spät. Vielleicht erwartet sie etwas im Austausch. Ein Geheimnis oder Geständnis. Er lässt alle Vorsicht fallen und redet einfach drauflos. Sagt, was ihn seit Tagen umtreibt und was er nicht einmal vor Kira aussprechen kann.

»Ich bin seit Monaten arbeitslos. In den letzten vier Assessment-Centern bin ich gescheitert. Fühlt sich an, als wäre das heute meine letzte Chance, mein Leben wieder hinzubiegen.«

Enni reagiert nicht. Macht keine Anstalten weiterzugehen.

»Immerhin scheinst du für deinen Job qualifiziert zu sein«, fährt er fort. »Für mich ist diese Consultant-Stelle ’ne Nummer zu groß. Ich bin Ingenieur, ein Entwickler. Um ehrlich zu sein – betriebswirtschaftliches Denken war nie meine Stärke.«

Das Geständnis erleichtert ihn, als wäre er nach der jahrelangen Vertuschung eines Verbrechens endlich überführt worden. An Ennis Mimik erkennt er, dass er einen Fehler begangen hat. Sie schürzt die Lippen, nickt zögerlich, als würde sie das eben Gesagte mental notieren. Linus will seine Worte relativieren, aber die Personalerin dreht sich um und öffnet, ohne anzuklopfen, eine Tür. Sie betritt den Raum, vor dem sie seit einer Minute stehen. Auf dem Schild die Aufschrift: Das Abendmahl. Linus bleibt im Korridor zurück. Im Konferenzraum ist es ruhig. Er hört, wie Enni einen Stuhl zurück und wieder nach vorne zieht, sich setzt. Erst dann folgt er der jungen Personalerin.

Um einen langen Konferenztisch herum sitzen Menschen. Alle Blicke sind auf ihn gerichtet. Das zuletzt gesprochene Wort liegt schwer in der Luft. Der Raum schwankt vor seinen Augen, und Linus versucht, sich festzuhalten. Aber er sieht keinen freien Stuhl, kein freundliches Gesicht, begreift nicht, wer Bewerber, wer Personaler ist. Als sein Sichtfeld wieder einrastet, erkennt er das Gemälde an der Wand, das dem Konferenzraum seinen Namen gibt. Etwas stimmt damit nicht. Es ist nicht originalgetreu, sondern eine Variation.

»Götz, Leiterin der Personalabteilung.«

Eine Frau greift nach seiner Hand. Sie deutet auf mehrere Personaler, die ihm einer nach dem anderen zunicken. Götz nennt ihre Namen, Linus vergisst sie sofort. Dann stellt sie die Beisitzer aus der Abteilung vor, in der die Stelle zu vergeben ist. Adam ist nicht unter ihnen.

»Ist mit Ihnen alles in Ordnung?«

Götz’ Stimme besitzt die routinierte Freundlichkeit und rücksichtslose Härte einer Frau, die gelernt hat, sich in einer feindlich gesinnten Domäne durchzusetzen. Ihre Bluse ist leicht aufgeknöpft, und unter ihrem Schlüsselbein leuchten vier rote Striemen, als habe sie sich gekratzt.

»Ich bin mit denen, die pünktlich waren, das Kommende durchgegangen«, sagt sie. »Die Prüfungen, das Bewertungssystem und so weiter. Ich werde das alles nicht für Sie wiederholen. Aber um Ihnen eine kleine Zusammenfassung zu geben: Einen weiteren Fehltritt können Sie sich nicht erlauben.«

Zu keiner Erwiderung fähig, setzt er sich auf den einzigen freien Stuhl nahe der Glasfront. Nach und nach wenden sich seine Mitbewerber wieder der Personalerin zu, die den Zweck der kommenden Kurzvorstellungen erklärt. Zwölf flipchartgroße Papierbögen mit den Namen der Bewerber hängen an der Wand hinter ihr. Auf dem Bogen mit der Überschrift Linus Landmann prangt eine Bemerkung: verspätet.

Die erste Bewerberin stottert sich durch die Stationen ihrer Ausbildung. Linus fixiert eine Kerbe in der hölzernen Tischplatte und versucht, nicht hinzuhören. Es ist schon vorgekommen, dass die Unsicherheit anderer ihn ansteckte. Die Personaler und Beisitzer notieren auf Klemmbrettern und nicken gelegentlich.

Der nächste Bewerber nennt seinen Namen und sein Heimatland. Zwischen ihm und Linus sitzen noch sieben weitere, Linus hat also noch Zeit. Die Zunge liegt ihm schwer und klebrig im Mund, am liebsten würde er sie ausspucken. Vielleicht hätte er die Empfehlung des Ting ernst nehmen und etwas trinken sollen. In der Mitte des Tisches stehen einige Flaschen Mineralwasser und Gläser, ineinandergestapelt und unangetastet. Um heranzukommen, wird er sich aus dem Stuhl erheben müssen. Alle werden zu ihm herschauen. Ein Glas wird klirren. Er wird etwas verschütten.

Linus hat sich auf diese Runde vorbereitet. Sein Leben zusammengefasst und zurechtgelegt, Details eingestreut und lange an einer Selbstdarstellung gebastelt, die überzeugend, aber nicht unrealistisch ist. Er hat noch Zeit, seinen Vortrag ein letztes Mal in Gedanken durchzugehen, sicherzugehen, dass er alle Punkte parat hat.

Ein Bewerber zu seiner Rechten, der tatsächlich Dreadlocks trägt, erzählt eine Anekdote über ein Auslandspraktikum in Frankreich und bringt die Personaler und sogar einige nervöse Bewerber zum Lachen. Linus ist nicht sicher, ob er einstimmen soll, den Witz hat er verpasst. Seinem eigenen Vortrag fehlen auflockernde Momente, obwohl alle Ratgeber sie für unverzichtbar halten. Wieder kichern einige. Der Bewerber holt sich jeden Lacher einzeln mit einem kurzen Blick ab. Seinem Auslandsaufenthalt in Paris schloss er ein Studium an der London Business School an. Den Master hat er in Frankfurt absolviert. Es folgten Praktika bei VW,ThyssenKrupp und McKinsey. Er macht eine Kunstpause, dann schließt er ab: »Im Übrigen bin ich 24 Jahre alt.«

Götz nickt zufrieden und macht eine kurze Notiz auf ihrem Klemmbrett. Egal was Linus aus seinem Leben rausholt, den Typen mit den Dreadlocks wird er nicht übertrumpfen. Er versucht, die ersten auswendig gelernten Sätze seiner Vorstellung gedanklich zu rekapitulieren, doch sie sind verschwunden. Da ist nichts als Leere. Als hätte er nie gelebt. Angst treibt ihm den Schweiß auf Stirn und Handflächen. Um sich zu beruhigen, knetet er seinen linken Daumen. Er wird etwas von sich erzählen müssen, nur was? Vielleicht von seiner Schulzeit in Hannover, seinen guten Noten. Dem Klavier- und Tennisunterricht, wo er kein Talent bewiesen hat, sondern bloß Durchschnitt war. Oder von seinen Ärzte-Eltern, die ihn überreden wollten, Medizin zu studieren. Wie er kurz davor war, ihrem Drängen nachzugeben, aber seine Freunde alle was mit Computern machten. Wie er sich für einen Kompromiss entschied: Medizintechnik. Vielleicht erzählt er aber auch von Kira. Dass sie seit über zehn Jahren in einer festen Beziehung sind und nach dem Abi zusammen nach Berlin zogen. Dass Kira die einzige Frau ist, mit der er je geschlafen hat. Er könnte darüber sprechen, wie stolz sie wäre, wenn er einen richtigen Job hätte, wenn seine Karriere endlich ins Rollen käme.

Vielleicht, denkt Linus, berichtet er sogar vom Ting, in das er die vergangenen fünf Jahre seines Lebens gesteckt hat. Das niemals das Alpha-Stadium verlassen wird, weil die Entwicklung seine Fähigkeiten mittlerweile übersteigt.

Oder er erzählt von Adam, seinem früheren besten Freund. Der Gedanke tröstet ein wenig. Die Vorstellung, dass Adam vor einigen Jahren in der gleichen Lage war, genau hier in diesem Raum. Linus hätte ihn kontaktieren und um Rat fragen sollen, trotz der schwierigen Situation zwischen ihnen. Immerhin hat Adam diese Runde und alle weiteren gemeistert und am Ende den Job bekommen. Typen wie Adam bekommen immer den Job. Vielleicht ist das seine einzige Chance, denkt Linus. Zu tun, was Adam tun würde. Zu sein, wie Adam ist.

Als die Frau im Hosenanzug neben Linus verstummt, schaut Götz ihn auffordernd an. Alle Personen im Raum tun es ihr gleich. Mit verschränkten Armen sitzt er da, rührt sich nicht. Wagt es nicht, zu atmen oder den Mund zu öffnen, aus Angst, sich zu übergeben. Er hat bereits Minuspunkte gesammelt, man wird ihn nach dieser Runde wegschicken. In einer Stunde wird er die Wohnungstür aufschließen. Kira wird in ihrem Schlaf-Shirt im Flur stehen und enttäuscht fragen, warum er schon zurück ist.

Linus greift nach einem Glas. Schubst es von einer Handfläche in die andere. Schraubt den Verschluss von einer Mineralwasserflasche. Füllt das Glas fast bis zum Rand. Er drückt sich aus seinem Stuhl und dreht sich von den Gesichtern weg, der Glasfront zu. Draußen ist es Nacht geworden. Ein Bus hält und einige Menschen steigen aus, sie scheinen es nicht eilig zu haben. Hinter ihm ist der Raum still, als wäre er allein. Langsam flaut die Übelkeit ab.

»Mein Name ist Linus Landmann. Ich bin Ingenieur und Programmierer.«

Er wendet sich wieder von der Glasfront ab, die Szenerie am Tisch ist unverändert. Langsam und bestimmt schreitet er in den Raum hinein.

»Ich habe die Regelstudienzeit überschritten. Die Gründe spielen hier keine Rolle. Doch es wird Sie freuen zu hören, dass ich als Bester meines Jahrgangs abgeschlossen habe.«

Der Bewerber mit den Dreadlocks schaut mit zusammengekniffenen Augen zu ihm hoch. Linus versucht, nicht zu blinzeln.

»Ich habe vor einigen Monaten meine Promotion abgebrochen. Das Projekt hat sich als Sackgasse herausgestellt. Die Entscheidung ist mir schwergefallen. Aber auch schwierige Entscheidungen müssen getroffen werden.«

Er schiebt die Enttäuschung und die Selbstzweifel beiseite, die dieses Thema in den Nächten der vergangenen Monate immer wieder in ihm ausgelöst hat.

»Darüber hinaus ist mein Lebenslauf geradlinig. Meine Praktika habe ich an der Universität absolviert, hab an mehreren Forschungsprojekten mitgearbeitet. Ich musste mich nicht ausprobieren, sondern hatte immer ein Ziel vor Augen. Wusste, was ich will.«

Sätze, die sich wie glatte Lügen anfühlen. Er darf sich jetzt nichts anmerken lassen. Als er an Enni vorbeigeht, meidet er ihren Blick. Wendet sich dem Abendmahl zu, das fast eine ganze Wand des Raums einnimmt, und lässt sich Zeit, es zu betrachten. Endlich fällt ihm auf, was daran nicht stimmt: Der zentrale Platz ist nicht besetzt.

»Ich kann keine Auslandserfahrungen vorweisen«, fährt er fort. »Aber in jedem Land, das ich kenne, ist zu früh zu kommen genauso unhöflich wie eine Verspätung.«

Für einen kurzen Augenblick meint Linus, hinter der gläsernen Eingangstür Adam zu sehen. Allerdings blickt ihm nur seine eigene Reflexion entgegen. Langsam führt er das volle Wasserglas zum Mund. Dann trinkt er es Schluck für Schluck in einem Zug leer. Er stellt es ab – das Geräusch von Glas auf Holz –, direkt vor Götz. Alle Anwesenden schauen hin. Ein Tropfen löst sich vom Rand und gleitet an der Außenwand herab.

»Schön. Schön. Vielen Dank. Sie können sich jetzt wieder setzen«, sagt Götz.

In den nächsten Minuten hört er nichts als das Echo seiner eigenen Stimme.

»Wir werden Sie jetzt in zwei Gruppen aufteilen. Die erste Gruppe wird unseren Intelligenz- und Persönlichkeitstest absolvieren. Die zweite nimmt an einer Führung durch das Gebäude teil und erhält Einblicke in die Unternehmensstrukturen von Strindholm Consulting. Nach einer Stunde wird getauscht.«

Schweigend erheben sich die Bewerber aus ihren Stühlen und teilen sich der Anweisung entsprechend auf. Linus heftet sich an Enni, die die Führung durch das Gebäude übernimmt. An der Tür entsteht ein Gedränge und er dreht sich noch einmal um. Die Personaler und Beisitzer am Konferenztisch blicken in ihre Notizen oder unterhalten sich flüsternd. Die Ersten stehen auf, um Punkte und Anmerkungen auf den Papierbögen zu verteilen. Als sich ein Personaler Linus’ Bogen widmet, verlässt er Das Abendmahl.

Zusammen mit einer Handvoll anderer Bewerber folgt er Enni durch die Flure der Renaissance-Etage. Neben dem Konferenzraum befindet sich die Kaffeeküche Marter der zehntausend Christen, daneben der kleine Kinosaal Selbstbildnis.

»Wenn ihr euch bei Strindholm zurechtfinden wollt, müsst ihr euch die Namen der Büros und Stockwerke merken. Die Gemälde sind natürlich nicht die Originale. Wenn ein Neuankömmling die Probezeit übersteht und sich verdient gemacht hat, darf sie oder er sich ein Bild aus der jeweiligen Epoche aussuchen. Strindholm gibt dann bei jungen, aufstrebenden Künstlern eine Reproduktion in Auftrag, die sich zu einem gewissen Grad vom Vorbild unterscheidet. Dieser Vorgang lehnt sich an unsere Beratungsphilosophie an: Das Ursprungswerk wird modernisiert und verbessert, ohne seine Identität und Seele einzubüßen.«

Während Enni über das Gebäude, die Arbeitsbereiche und die Unternehmensstruktur spricht, dreht sie ihren Kopf leicht zur Seite, schmeißt die Worte häppchenweise über ihre Schulter. Nur wenn sie auf die Firmengeschichte eingeht, von ihrem Großvater erzählt, der die Firma nach dem Zweiten Weltkrieg gründete, dreht sie sich um, öffnet ihre Arme und macht dabei einige Schritte rückwärts.

Die Gerüche von Deodorants, Parfums und Aftershaves mischen sich in der engen Fahrstuhlkabine. Linus wird von einem größeren Bewerber gegen Enni gedrückt und muss sich an die Wand quetschen, damit ihre Körper einander nicht berühren. Um niemanden anzuschauen, fischt er sein Smartphone aus der Tasche und ist enttäuscht, keine weitere Empfehlung des Ting vorzufinden. Nur eine Mail seiner kleinen Schwester an Linus und ihre Eltern, in der sie darum bittet, das vorletzte Kapitel ihrer Doktorarbeit in Medizin gegenzulesen. Er stellt sich vor, wie seine Eltern bei einem Glas Rotwein über dem ausgedruckten Kapitel sitzen und sich, stolz über die Leistung ihrer Tochter, gegenseitig Passagen daraus vorlesen. Schnell lässt er das Smartphone wieder verschwinden.

Direkt über ihm an der Decke des Fahrstuhls hängt ein Nachtfalter, der massive Körper braun und haarig. Die beiden schwarzen Flecken auf den Flügeln des Tieres erinnern ihn an ein Augenpaar. Er fühlt sich beobachtet, als würde der Falter ihn mustern. Erst als Enni anfängt, die wichtigsten Kunden von Strindholm Consulting aufzuzählen, und er den Kaffee in ihrem Atem riecht, kann er sich von der Vorstellung lösen.

In der Gegenwart-Etage passieren sie die Büros der Analysten, von denen manche noch an ihren Schreibtischen sitzen. Irgendwo hier muss auch Adams Büro liegen, vermutet Linus. Vielleicht arbeitet er gerade an einem wichtigen Projekt. Er spürt den Impuls, Enni nach Adam zu fragen, überlegt es sich aber anders. Bekanntschaften innerhalb des Unternehmens könnten ihm negativ ausgelegt werden. Als sei er auf Hilfe angewiesen oder wolle sich bei der Beurteilung einen Vorteil verschaffen. Vor einer Tür mit einem leeren Schild bleibt die Gruppe stehen.

»In dieses Büro wird einer von euch am Morgen einziehen.«

Der Raum erstreckt sich über mehrere Meter, der Schreibtisch verloren in seiner Weite. Enni schaltet die Deckenbeleuchtung nicht an, und so stehen sie eine Weile im schummrigen Licht, das aus dem Flur hineinfällt. Inhalieren den Geruch von neuer Auslegeware. Eine Bewerberin zieht den Bürostuhl zurück, um sich hineinzusetzen, aber Enni hält sie lächelnd zurück. Linus schaut durch die Glasfront hinaus in die Nacht. Anders als erhofft, kann er sie nicht sehen: die belebten Gehwege, die Menschen, die die erste Station ihres Wochenendes ansteuern. Angestrahlt vom Licht der Laternen, liegt dort nur das geschlossene Einkaufszentrum. Langsam lehnt er seine Stirn gegen das kühle Glas. Die Übelkeit, die ihn den ganzen Abend über quält, flaut ein wenig ab. Er kämpft gegen das Verlangen, die Augen zu schließen.

»An diese Stelle werden wir in sechs Monaten ein neues Bild hängen. Welches würdest du dir aussuchen, Linus?«

Ennis Gesichtsausdruck sieht aus, als hätte sie ihn bei etwas Verbotenem ertappt. Statt über Namen von Künstlern und Bildern nachzudenken, fragt Linus sich, ob er etwas falsch gemacht hat.

»Mhh – ein graues? Das würde gut zum Rest der Einrichtung passen«, sagt er nach einer längeren Pause. Niemand lacht.

Dreadlock, dessen richtiger Name Linus längst entfallen ist, verschränkt die Hände hinter dem Nacken, als er antwortet.

»Ich würde eins von Richter nehmen. Daniel Richter natürlich.«

Die Personalerin nickt und wechselt das Thema. Während sie darüber spricht, welche Leistungen Strindholm Consulting Start-ups bieten kann, wird Linus bewusst, dass er soeben zwei Mal hintereinander Minuspunkte gesammelt hat. Er wird sich übergeben müssen, und zwar bald.

»Entschuldigung, ich muss mal.«

Seine Stimme klingt gepresst, und er wartet nicht, bis jemand antwortet.

Die Herrentoilette befindet sich ein paar Türen weiter. Vor der Kloschüssel der nächstbesten Kabine geht er auf die Knie. Tränen schießen ihm in die Augen, der Würgereflex setzt krampfartig ein, aber nichts kommt hoch, nicht mal Säure. Alleine hier zu hocken, ohne bewertet zu werden, nur die glatte, sterile Keramik vor Augen, den schwachen Geruch von Chlor und Zitrone, lässt die Übelkeit mit der Zeit wieder abebben. Vom Flur her hört er dumpf und leise Ennis Stimme hereindringen.

»Da hinten, ganz am Ende des Ganges, ist unser Garten. Das Gebäude ist um eine Grünanlage herum gebaut. Die Vegetation wächst an der inneren Fassade empor und hat sich mittlerweile auf dem Dach ausgebreitet.«

Die beschlagenen Glaswände und das diffuse Licht in der Lobby stammen also von einer ausgeleuchteten Gartenanlage, denkt er. Bestimmt wird er von dieser Etage aus einen Blick darauf werfen können. Und auf dem Weg dorthin kommen sie vielleicht an Adams Büro vorbei.

Linus stemmt sich wieder hoch und durchquert den Raum mit schnellen Schritten. Er hat schon die Hand an der Tür, als er sein Gesicht im Spiegel erblickt. Schweißnass und blass schaut es ihn an. So kann er nicht hinaus. Den Knopf am Waschbecken muss er mehrmals betätigen, bevor das Wasser herausschießt und dabei auf sein Jackett spritzt. Mit kräftigen Stößen reibt er sich die kalte Flüssigkeit ins Gesicht. Ennis Stimme kann er kaum noch hören, geschweige denn das Gesagte verstehen. Mit einigen Papiertüchern trocknet er sich ab und tritt hinaus.

Der Flur wirkt verlassen, die Gruppe ist nicht auszumachen. Aus Richtung der Fahrstühle erklingt ein mechanisches Geräusch. Ein Indiz, wohin die Gruppe verschwunden ist? Andererseits nutzen auch andere den Fahrstuhl. Und hat Enni nicht gerade den Garten im Zentrum des Towers erwähnt? Während Linus versucht, sich zu entscheiden, erlischt das Licht. Der Flur verschwindet in völliger Dunkelheit und Stille. Der Raum verliert alle Züge und ist nicht mehr zu unterscheiden von all den anderen dunklen Räumen, in denen er sich genau in diesem Augenblick stattdessen aufhalten könnte. In seinem Schlafzimmer beispielsweise, wo Kira vielleicht schon fest schläft. In der Küche im Haus seiner Eltern, um nach einem kleinen Snack für die Nacht zu suchen. Oder im Labor der Forschungseinrichtung, kurz bevor er es nach einem langen, aber zufriedenstellenden Tag Arbeit am Ting wieder verlässt.

Irgendetwas löst den Bewegungsmelder aus. Die Leuchtstoffröhren springen flackernd an. Er folgt dem Gang Richtung Gebäudemittelpunkt. Hört nichts als das Surren der Lampen. Wenn er abbiegt, erlischt hinter ihm die Beleuchtung und vor ihm wird es hell. Rechts und links liest er die Türschilder, aber die Gemäldetitel scheinen nicht zu Adam zu passen. Linus hat das Gefühl, seine Hilfe mehr denn je zu brauchen. Vielleicht würde Adam sich dafür entschuldigen, ihn damals hintergangen zu haben. Dann würde Linus ihm vom Ting erzählen. Vom Sensormodul, das mehrere Dutzend Vitalwerte misst. Den Datenbanken und Modellen, die die Werte ins Verhältnis setzen. Den Algorithmen, die Handlungsempfehlungen daraus ableiten. Davon, wie er das alles selbst entworfen und entwickelt hat. Aber auch von der Fehleranfälligkeit. Und der Sackgasse, in der sich das Projekt befindet.

An einer Gabelung bleibt er stehen. Links oder rechts, er muss sich entscheiden. Bisher ist er niemandem begegnet. Mehrere Minuten schon ist er von der Gruppe getrennt, sein Fehlen wird nicht unbemerkt bleiben. Wenn jemand geschickt wird, um nach ihm zu suchen, wenn er die nächste Aufgabe verpasst, ist alles vorbei. Mittlerweile ist Linus sicher, die falsche Richtung gewählt zu haben. Er dreht um und will zurück. Macht die ersten Schritte in Richtung der Fahrstühle. Da vibriert zum zweiten Mal an diesem Abend sein Smartphone.

   Linker Korridor. Sechstes Büro auf rechter Seite. Unfall IV.

Mehr nicht. Keine Informationen darüber, welchem Zweck die Empfehlung des Ting dient. Kein Hinweis, was es mit dem Büro auf sich hat. Das muss ein Bug sein. Er glaubt nicht, dass Enni mit den Bewerbern noch immer auf dieser Etage ist. Und sie zu finden, ist seine Priorität.

   Linker Korridor. Sechstes Büro auf rechter Seite. Unfall IV.

Das Ting insistiert. Linus fühlt sich an die Empfehlung erinnert, die ihm riet, seine Promotion abzubrechen, auch da ließ die App nicht locker. Bis heute hat er ein schlechtes Gewissen, Kira seine wahren Beweggründe verschwiegen zu haben. Verschwiegen zu haben, dass er sein gewohntes Leben änderte, weil ihm ein unfertiges und fehlerhaftes Tool dazu riet. Kira hätte nicht verstanden, worauf er von Anfang an hoffte: Dass das Ting ihm half, den richtigen Weg für sich zu finden. Noch mal möchte er seine Freundin jedenfalls nicht anlügen.

Nach einigen Schritten in Richtung der Fahrstühle spürt er erneut die Vibration. Er sollte sein Smartphone abschalten. Das Ting zum Schweigen bringen und es morgen im Labor deinstallieren. Der fehlerhafte Prototyp schadet mehr, als er ihm nützt. Vibration. Linus zögert. Vibration.

Der linke Korridor ist lang, die Abstände zwischen den Büros groß. Das sechste Büro auf der rechten Seite trägt den Namen Unfall IV. Hinter der Glastür brennt Licht, obwohl sich niemand im Raum aufhält. Trotzdem klopft er. Keine Antwort. Vorsichtig öffnet er die Tür. Überall liegt Papier, vom Schreibtisch über den Boden bis zur Tür ohne erkennbare Ordnung verteilt. Neben seinen Füßen ein Stapel Bücher, zuoberst eine Biografie über Elon Musk. Linus’ Schritte rascheln, als er das Büro durchquert und an die Glasfront tritt.

Efeuranken ziehen sich an der Außenseite des Glases empor, aber es ist möglich, zwischen ihnen hindurchzuschauen. Erhellt von Scheinwerfern liegt unten im Erdgeschoss der Garten. Riesig, ein Dschungel, ein eigenes Land. Eschen, Birken und Buchen, die Kronen akkurat beschnitten. Selbst eine Kiefer, deren Spitze fast an Linus’ Etage heranreicht. Schattengewächse, Rhododendren und Büsche, an denen rote Beeren baumeln, werden von Schotterwegen gerahmt. Ein kleiner Bach schlängelt sich von einem Ende des Gartens zum anderen. Es ist nicht nur Efeu, der an der Innenseite des Gebäudes wuchert, auch anderes Gestrüpp. Zwischen erhellten Büros auf der gegenüberliegenden Seite sprießen blaue Blumen aus der Glasfront. Der Bewuchs reicht bis zum höchsten Punkt des Gebäudes und setzt sich auf dem Dach fort. Die Öffnung im Zentrum gibt die Sicht auf den Sternenhimmel frei.

»Strzela?«

Ein Mann steht in der geöffneten Bürotür und mustert Linus misstrauisch.

»Oh weh, bitte entschuldigen Sie die Verwechslung. Für einen kurzen Augenblick habe ich Sie für Adam Strzela gehalten. Nun, immerhin stehen Sie in seinem Büro.«

Der Mann trägt einen altmodischen, sandsteinfarbenen Anzug, dazu eine rote Fliege. Sein braunes, lockiges Haar ist zerzaust. Ein Casino in Monaco oder ein britischer Adelssitz: in solche Umgebungen würde seine Erscheinung wohl eher passen. Er macht einige Schritte auf Linus zu, achtet sorgfältig darauf, nicht auf Papier zu treten.

»Mein Name ist Linus Landmann. Ich bin ein Bewerber aus dem Assessment-Center. Ich … ich habe mich verlaufen. Und hier war Licht.«

»Natürlich, natürlich. Und da dachten Sie, Sie gehen hinein und schauen sich das Gemälde an.«

Er deutet auf die Wand neben ihnen. Das Bild fällt Linus zum ersten Mal auf. Öl auf Leinwand, das Motiv realistisch umgesetzt. Ein kleines Mädchen, vielleicht sechs Jahre alt, fährt auf einem Kinderrad. Blonde Haare gucken unter einem Helm hervor, sie trägt Ellbogen- und Knieschoner. Das Mädchen ist konzentriert, aber fröhlich.

»Was halten Sie von dem Bild?«

Linus schaut zur Tür. Die Übelkeit rutscht ihm aus dem Magen in die Beine. Er muss sich beeilen, muss Enni und die Gruppe finden. Immerhin steht eine Stelle bei einer der renommiertesten deutschen Unternehmensberatungen auf dem Spiel. Wäre dieser exzentrische Mann unter den Personalern gewesen, er hätte ihn bestimmt im Gedächtnis behalten.

»Ich weiß nicht«, antwortet Linus ungeduldig. »Es ist nett, niedlich. – Entschuldigung, wie war noch mal Ihr Name?«

»Kasper. – Sieh dir das Bild doch noch mal etwas genauer an. Was empfindest du dabei?«

Der Mann gähnt beherzt und lächelt. Er kann ein Personaler sein, auch wenn er während der Vorstellungsrunde nicht am Tisch saß, ausschließen lässt es sich nicht. Also muss er die Frage zufriedenstellend beantworten.

Linus betrachtet das Gemälde erneut. Ein kleines Mädchen, das Fahrradfahren lernt. Die Vorlage wahrscheinlich ein Foto, das der stolze Vater gemacht hat. Irgendetwas stimmt nicht, aber es ist schwer festzumachen. Eine Bedrohung steckt im Bild, nicht offensichtlich, aber spürbar. Dann fällt ihm der Name des Büros wieder ein.

»Ich schätze, die Szene auf dem Bild wird nicht gut ausgehen. Ich kann nicht sagen, was es ist. Nicht ihr Lächeln, nicht der Blick, auch nicht das Fahrrad. Aber irgendetwas Schlimmes wird passieren.«

Kasper schaut Linus lange an. Dann nickt er.

»Vollkommen richtig. Der Künstler hat verschiedene Fotos gesammelt, die den Augenblick kurz vor einem Unfall oder einer Katastrophe zeigen. Indem er den Moment nachmalte, wollte er herausfinden, ob das Unheil schon in ihm steckt. Die Wall Street vor dem Platzen der Dotcom-Blase. Das World Trade Center, Sekunden bevor das erste Flugzeug einschlägt. Und eben dieses Mädchen. Einen Moment später wird es hinfallen und sich das Handgelenk brechen.«

Kasper tritt an das Gemälde heran, stellt sich auf die Zehenspitzen und kneift die Augen zusammen. Sein Gesicht ist nur wenige Zentimeter von dem des Kindes entfernt. Er seufzt theatralisch.

»Was man im Blick der Kleinen erkennt, ist die naive Euphorie, die jedem ersten großen Scheitern vorangeht. Ungetrübt von jeder Angst. Der Unfall wird ihr das für immer nehmen. Eine Erfahrung, die alle Menschen auf die eine oder andere Weise machen.«

Hinter ihnen wird die Tür zum Büro geöffnet, es ist Enni. Sie ist außer Atem und schaut Linus verärgert an. Als sie den Mann neben ihm bemerkt, lächelt sie spöttisch.

»Oh. Hallo, Kasper. Ich unterbreche eure Unterhaltung nur ungern. Es ist nur so: Linus muss zum Intelligenztest.«

»Muss er das, ja? Wenn das so ist, gehört er ganz dir. Viel Erfolg, Linus.«

Der elektronische Wissens- und Intelligenztest findet in einem unpersönlichen Großraumbüro mit dem Namen Die drei Grazien statt. Eine Bewerberin sitzt bereits an ihrem Platz und starrt in einen dunklen Bildschirm. Die anderen unterhalten sich mit den Personalern. Der Mann mit den Dreadlocks hält einen Becher in der Hand und redet auf Götz ein. Außer mit Enni hat Linus mit keinem Personaler persönlich gesprochen. Das wird er bald nachholen müssen, beschließt er. Er nimmt sich eine Tasse und sucht nach einem Gesprächspartner, doch er erwischt niemanden allein. Da fällt ihm auf, dass die Gruppe der Bewerber geschrumpft ist. Es fehlt die Frau, die in der Selbstpräsentation Nervosität gezeigt hat.

Für den Intelligenztest ist eine Stunde Zeit angesetzt: Wissensfragen über die Geschichte der Bundesrepublik, die soziale Marktwirtschaft und Personen aus Politik und Wirtschaft. Logikrätsel mit rosafarbenen Frettchen und Flugzeugträgern im Mittelpunkt. Analogien, Mustergruppen und Matheaufgaben. Buchstaben ordnen und Sprachspiele. Linus hat in den vergangenen Monaten an vier Assessment-Centern teilgenommen. Dabei hat es immer eine Prüfung dieser Art gegeben. Er ist nach 50 Minuten fertig, als Erster. Er ist sich sicher, eine gute Punktzahl erreicht zu haben.

Im folgenden Rollenspiel sind sie nur noch zu acht. Die Bewerber sollen zusammen eine Tagung organisieren. Jedoch stehen nicht genug finanzielle Mittel zur Verfügung und zwei berühmte Hauptredner sind abgesprungen. Jeder bekommt Charaktereigenschaften und ein geheimes Ziel vorgegeben. Linus’ Aufgabe ist, die Tagung in eine Party umzugestalten. Er soll ambitioniert und zielstrebig agieren, unbeeindruckt von den Wünschen der anderen.

Um eine Empfehlung des Ting nicht zu verpassen, kontrolliert er mehrmals sein Smartphone. Auch wenn eine Nachricht des »Navigationssystems« ausbleibt, verleiht ihm das Tool ein Mindestmaß an Sicherheit. Damit ist er gegenüber einigen Bewerbern im Vorteil, die eingeschüchtert wirken und sich zurückhalten. Aus diesem kleinen Vorteil schöpft Linus Selbstvertrauen. Dennoch verhaspelt er sich und gestikuliert unnötig viel bei seinen Wortbeiträgen. Seine besten Ideen sind ein Fernsehkomiker als Moderator und Mallorca-DJs im Spätprogramm. Als Dreadlock zurückhaltend vorschlägt, man solle die Not zur Tugend machen und die Tagung auf unbekannte, aber aufstrebende Branchenmitglieder beschränken, unterbricht Linus und widerspricht ihm. Argumente kann er auf Nachfrage jedoch keine nennen. Götz macht sich eine Notiz. Gut abschneiden wird er bei dieser Prüfung bestimmt nicht, denkt Linus. Aber die Selbstsicherheit, die die Anwesenheit des Ting ihm verleiht, bewahrt ihn vor einem Totalausfall.

Nach dem Rollenspiel pocht die Müdigkeit hinter Lidern und Schläfen. Er lehnt an einer Wand neben dem Computerraum Die drei Grazien und wartet auf die Ergebnisse. Als Götz und Enni endlich wiederkommen, zeigen sie nicht auf ihn, sondern auf zwei andere Bewerber, die bei der Diskussion sehr zurückhaltend waren. Die beiden Bewerber gehen, ohne sich zu verabschieden, nur ein leises Schluchzen ist kurz zu vernehmen.

Ohne Unterbrechung geht es weiter. Simulation von Unternehmungsführung am Computer, Dauer anderthalb Stunden. Linus muss seine mediokren Ergebnisse aus der letzten Runde wiedergutmachen. Er braucht dringend eine hohe Punktzahl. Noch eine schlechte Runde wird er nicht überstehen.

Die Simulation ist komplex. Ein großes IT-Unternehmen soll durch eine Wirtschaftskrise geführt werden. Linus löst die Verträge von Angestellten auf und begeht mehrere rechtliche Fehler. Klagen und hohe Abfindungen folgen. Er beschwichtigt den Aufsichtsrat, ohne dessen Funktion zu kennen. Das Forschungsbudget hält er stabil und setzt auf die Entwicklung innovativer Projekte.

Nach einer halben Stunde kommen die ersten Quartalszahlen. Sie sind vernichtend. Der Umsatz bricht ein, kurz darauf der Aktienkurs. Linus knetet seinen linken Daumen und schwitzt trotz der klimatisierten Luft. Das Ting hilft nicht. Niemand ist hier, der ihm sagen kann, was zu tun ist. Die anderen Bewerber sind auf ihre Monitore konzentriert, einige klicken hysterisch. Dreadlock sitzt neben ihm, erwidert seinen Blick mit hochgezogenen Augenbrauen. Linus drückt die Escape-Taste. Es hat keinen Sinn, er kann genauso gut abbrechen. An Adam kann er sich dieses Mal nicht orientieren, denkt er. Denn im Gegensatz zu Linus hat Adam Ahnung von Betriebswirtschaft und Management. Für ihn muss diese Simulation ein Kinderspiel gewesen sein. Das war’s also, Linus wird hier untergehen. Eigentlich hat er schon im Vorhinein gewusst, dass das Assessment-Center auf diese Weise enden würde. Die Demütigung hätte er sich ersparen können. Hätte vermeiden können, Kira und seine Eltern erneut zu enttäuschen.

Er lehnt sich zurück und betrachtet das Gemälde mit den drei Grazien, die blassen Schöße und Hintern. Statt Äpfel haben die Frauen Smartphones in den Händen und machen Selfies. Hing dieses Bild schon hier, als Adam vor Jahren den Test absolvierte? Sein ehemaliger Freund würde in einer ausweglosen Situation wie dieser jedenfalls nicht aufgeben. Er würde eine Hintertür finden, durch die er schlüpfen kann. Wenn Linus diese Runde überleben möchte, wenn er Junior Consultant bei Strindholm werden möchte, dann darf er nicht denken und handeln wie Linus Landmann. Sondern muss sein wie Adam Strzela.

Er richtet seine Aufmerksamkeit wieder auf den Bildschirm. In der rechten unteren Ecke des Menüs blinkt ein kleines Symbol, ein Zahnrad. Klick. Ein Eingabefeld taucht auf. Er erkennt das Control-Panel. Die Simulation scheint in einer Umgebung programmiert worden zu sein, die er selbst schon einmal benutzt hat. Auf gut Glück beginnt er, Befehle einzugeben. Nach fünf Minuten sieht er ein, dass er nicht fähig ist, den Verlauf seines Spiels über das Panel zu beeinflussen. Aber vielleicht muss er das gar nicht. Alle Computer sind mit dem Intranet verbunden. Wieder gibt er einen Befehl ein. Auf seinem Bildschirm erscheint die Simulation von Dreadlock. Wie es scheint, macht dieser ein hervorragendes Spiel. Linus springt zwischen Dreadlocks Simulation und seiner eigenen, imitiert dessen Einstellungen und Schritte. Der Umsatz seines Unternehmens steigt, der Marktanteil auch. Die kommenden Quartalszahlen fallen zufriedenstellend aus. Er wird diese Prüfung bestehen.

Einige Minuten später verlässt er zusammen mit den anderen Bewerbern den Raum. Um alleine zu sein, flüchtet er unauffällig in eine Toilette. Er reibt sich das schweißnasse Haar mit Papiertüchern trocken und lockert seine Krawatte. Erst als er sein Gesicht im Spiegel betrachtet, wird ihm bewusst, dass er soeben geschummelt hat. Nein, betrogen. Der Täuschungsversuch ist leicht aufzudecken. Die Personaler müssen sich nur die Zeit nehmen, seinen Spielverlauf nachzuvollziehen. Warum hat er sich zu so einer Dummheit verleiten lassen? Das wird sein Ende bedeuten.

Die folgende Pause verbringt er in der Kaffeeküche und schaut durch die Glaswand hinaus in die Nacht. Die Müdigkeit hat seine Angst verdrängt. Der Himmel hat eine stahlgraue Farbe angenommen. Die Autos auf den Straßen sind zum großen Teil Taxis, über die Bürgersteige taumeln Betrunkene zur Haltestelle gegenüber und warten auf einen Nachtbus. Niemand schaut hoch zum Strindholm-Tower. Niemand bemerkt ihn im Licht der Leuchtstoffröhren.

Wenn Linus in den vergangenen Jahren abends in Berlin unterwegs war und gesehen hat, dass in einem Bürogebäude noch vereinzelt Lichter brennen, ist er oft stehen geblieben. Dann hat er sich vorgestellt, wie die Person im Büro konzentriert und zielstrebig an einem wichtigen Projekt arbeitet. So wichtig, dass es sich lohnt, die Nacht am Arbeitsplatz zu verbringen. Hat sich vorgestellt, wie eine heilige Ruhe die Korridore und die dunklen Räume des Gebäudes füllt, nur kurz unterbrochen vom Geräusch der Kaffeemaschine. Hat sich vorgestellt, dass für die Person im Büro nichts weiter zählt als der Erfolg ihres Auftrags, das Lob ihres Vorgesetzten, die Bewunderung der Kollegen. Wie groß war in diesen Augenblicken seine Sehnsucht, wie sehr wünschte er sich in dieses Büro, in diese Einfachheit. Keine Ängste, keine Zweifel mehr, sondern klare Strukturen, festgeschriebene Ziele und Wege.

Der Morgen ist fast schon angebrochen. Übrig sind noch vier Bewerber und er ist einer von ihnen. Die nächste Prüfung wird wieder ein Rollenspiel sein, mehr weiß er nicht. In keinem anderen Bewerbungsverfahren ist er so weit gekommen. Niemals hätte er vorher erwartet, dass er bei Strindholm so lange überlebt. Mit einem Mal wird ihm klar: Falls sein Betrug nicht auffliegt – und bisher sieht es nicht danach aus –, hat er eine realistische Chance, den Job zu bekommen. Eine realistische Chance, am kommenden Abend die Person im erhellten Büro zu sein.

Enni und Dreadlock sitzen an einem Tisch hinter ihm und unterhalten sich über europäische Städte. Dreadlock erzählt von London, Enni lacht und berührt seinen Arm. Seit der Simulation hat sie nicht mit Linus gesprochen, ihn kaum beachtet. Nur ab und zu schnellt ihr Blick zu ihm, als würde sie ihn im Auge behalten wollen. Er entschuldigt sich unter dem Vorwand, zur Toilette zu müssen.

»Verlauf dich aber diesmal nicht«, sagt Enni.

Im Korridor lehnt er sich gegen die Wand, rutscht langsam daran herunter. Als er das Gesicht zwischen seinen Knien vergraben will, rutscht das Smartphone aus seiner Hosentasche, scheppert auf dem Marmorboden. Das Display ist leer. Um nicht einzuschlafen, öffnet er den Chat mit Kira und beginnt zu tippen.

Schläfst du schon?

Oder schaust du dir wieder Vlogs von YouTubern an, weil du nicht schlafen kannst? Und schüttelst den Kopf, weil du die Teenies nicht mehr verstehst?

Oder bist du gerade aus einem Albtraum hochgeschreckt und hast Hunger bekommen? Und stehst jetzt halb nackt in der Küche, tust ein tiefgefrorenes Rindersteak in die Pfanne, füllst die Wohnung mit Bratgeruch? Liegt es vielleicht schon auf deinem Teller, groß, gut durch, ohne Beilagen?

Oder sitzt du im Dunkeln auf der Toilette, beim Pinkeln eingeschlafen, der Kopf auf dem Spülkasten, wie vor einigen Wochen?

Ich bin noch drin. Es sieht gut aus. Wirklich gut. Zwei Prüfungen noch.

Adam habe ich nicht getroffen. Aber ich war in seinem Büro.

Ich bin müde, aber ich halte durch. Nur mein Daumen macht mir mal wieder Sorgen.

Schlaf gut, liebste Kira.

Die Gedanken an Kira schenken ihm Kraft. Er dunkelt das Display ab und umschließt das Telefon fest mit beiden Händen, um eine Vibration nicht zu verpassen. Der linke Daumen liegt obenauf, unscheinbar. Doch er fühlt sich nicht an wie sein eigener Daumen. Er gehört nicht zu ihm. Ein fremdes Stück Fleisch. Zumindest stellt sich dieses Gefühl gelegentlich ein, seit einiger Zeit. Linus steckt sein Smartphone weg und knetet den Finger. Wieder spielen sich Szenen aus der Dokumentation vor seinem inneren Auge ab, die er vor einigen Monaten zufällig nachts gesehen hat. Menschen aus den USA, die überzeugt sind, dass ein Körperteil, das Ohr, die Hand, im schlimmsten Fall beide Beine, nicht Teil ihres Körpers sind. Sondern immer schon fremde Gliedmaßen. Für die Betroffenen ist es eine Qual, mit dem Körperteil leben zu müssen. Sie wollen es loswerden. Natürlich erhalten sie jahrelange, psychotherapeutische Betreuung. Einige lassen sich von dem Gedanken abbringen. Doch den anderen wird letztendlich gestattet, sich das Körperteil amputieren zu lassen. Nie wird Linus den glücklichen Gesichtsausdruck des Mannes im Rollstuhl vergessen, dem gerade beide Beine abgenommen wurden.

Er drückt mit einem Fingernagel fest in den Daumen hinein. Doch, das tut weh, denkt er. Trotzdem beschleicht ihn seit der Doku immer öfter das Gefühl, dass damit was nicht stimmt, dass dieser Daumen nicht Teil seines Körpers ist.

Aus der offenen Tür zur Kaffeeküche dringt Ennis Stimme und ihre Worte ziehen ihn aus seinen Wachträumen.

»Ich würde dir gerne ein Geheimnis anvertrauen. Aber nicht lachen, okay? Mein Job bei Strindholm ist alles andere als sicher. Und das obwohl ich zur Familie gehöre. Das ist mein erstes Assessment-Center als Mitarbeiterin. Ich bin noch in der Probezeit. Bisher ist ja alles gut gelaufen. Aber ich bin furchtbar aufgeregt bei jeder Runde.«

Im Raum ist es still. Dreadlock antwortet nicht.

»Ich rede zu viel, sorry. Verdammt, ist das peinlich. Kannst du nicht die Situation auflockern und etwas Unangenehmes von dir erzählen?«, sagt Enni.

Wieder ist es lange still. Dann die Antwort.

»Nein. Nein, ich glaube nicht.«

Die nächsten Worte kommen nicht aus der Kaffeeküche, sondern aus dem Korridor.

»Herr Landmann«, sagt Götz. »Es ist Zeit für die nächste Runde.«

Die Prüfung findet im namenlosen Büro statt. Dem Büro, in das Linus vielleicht in einigen Stunden einziehen wird. Er nimmt einer Anweisung folgend am Schreibtisch Platz, Enni und Götz setzen sich hinter ihn.

»Stellen Sie sich vor, Sie sind Senior Manager bei Strindholm Consulting. Sie betreuen mehrere Projekte gleichzeitig und tragen die Verantwortung für die Arbeit der ausführenden Analysten. Zu Ihren Aufgaben gehört es auch, schwierige Personalentscheidungen zu treffen«, sagt eine der Personalerinnen.

»In wenigen Augenblicken wird ein Analyst dieses Büro betreten. Er hat bei der Betreuung eines Klienten einen schweren Fehler begangen. Sie werden seine Akte aus der rechten Schublade Ihres Schreibtisches ziehen und werden anhand der dort vermerkten Informationen entscheiden, wie mit ihm zu verfahren ist. Sie haben volle Entscheidungsgewalt«, sagt die andere.

Linus spürt die Blicke der verstummten Personalerinnen im Rücken. Draußen über den Einkaufspassagen malt der Morgen rot-gelbe Bahnen in den bewölkten Himmel. Ein Schwarm schwarzer Schemen erhebt sich vom Dach, dreht zwei Runden über dem Gebäude und fliegt davon. Vor seinem Schreibtisch steht ein Stuhl, ohne Armlehnen, ohne Polster. Nur nacktes Holz. Es ist der erste Stuhl dieser Art, den er im Tower sieht. Mit einem Mal trifft ihn eine überwältigende Erschöpfung. Bestimmt wurde Dreadlock angestiftet, den Analysten zu spielen. So können sie zwei Bewerber gleichzeitig beobachten. Er weiß nicht, was in der Akte steht, aber wahrscheinlich wird er ihn entlassen müssen. Dreadlock mag unsympathisch sein. Aber Linus kann sich keine Kombination an Worten vorstellen, die dieser Situation angemessen ist. Er kennt nicht einmal seinen richtigen Namen.

Jemand klopft. Er bringt keine Antwort heraus. Die Tür öffnet sich trotzdem. Dreadlock ist es nicht. Linus erlaubt sich, für einen kurzen Moment die Augen zu schließen.

Adam lässt die Tür hinter sich zufallen und durchquert den Raum. Er hat es eilig oder spielt es zumindest. Das Büro schrumpft mit seinem Erscheinen, als sei es für ihn maßgeschneidert. Vor dem Schreibtisch bleibt er stehen und mustert Linus, ein schelmisches Lächeln im Gesicht. Keine Geste des Erkennens, kein Hinweis darauf, ob sie sich vor den Personalerinnen als Unbekannte ausgeben oder zerstrittene Freunde sind. Adam zwinkert Enni zu und lässt sich auf den leeren Holzstuhl fallen. Er wirkt älter, als Linus ihn in Erinnerung hat. Sein Haaransatz ist ein wenig zurückgegangen, Krähenfüße zieren seine Augen, und die dunklen Ringe darunter sehen aus, als seien sie in die Haut tätowiert. Es scheint, als habe er sich willentlich für diese Merkmale entschieden.

Götz räuspert sich. In der Schreibtischschublade findet Linus die Personalakte. Ein altes Foto von Adam, das viel eher Linus’ Erinnerung entspricht. Darunter ein Lebenslauf und eine Auflistung seiner Projekte bei Strindholm. Wenn die Tabelle den Tatsachen entspricht, hat Adam in den vergangenen zwei Jahren bei der Betreuung mehrerer mittelständischer IT-Unternehmen mitgewirkt und bei einer die Leitung übernommen. Am Ende der Akte klebt eine handschriftliche Notiz.

Der Analyst hat sich unerlaubten Zugriff auf die Daten seiner Konkurrenten verschafft, seine Ergebnisse verfälscht und die Marktsituation auf illegalem Weg beeinflusst.

Linus dreht sich zu den Personalerinnen. Sie sitzen zwei Meter hinter ihm und schauen ihn an. Auf Götz’ Schoß liegt ein Klemmbrett, aber sie hat keinen Stift in der Hand. Ennis Augen sind geschlossen, ihre Mundwinkel hochgezogen. Ihm wird klar, dass die Anklage in der Akte nicht Adam gilt, sondern ihm selbst. Dass sein Betrug während der Computer-Simulation aufgeflogen sein muss. Er ist als überführter Betrüger, als Verlierer in diese Runde gegangen.

Nur mit Mühe schafft er es, wieder Adam anzuschauen. Als er seine heisere und brüchige Stimme hört, erkennt er sie kaum wieder.

»Was würdest du an meiner Stelle tun?«

Adam beugt sich nach vorne und betrachtet Linus neugierig. Es scheint, als ginge er alle möglichen Kontexte für die Frage durch. Dann lehnt er sich zurück und streckt die Beine aus.

»Wie immer: Ich würde das Beste aus der Situation machen.«

Linus kann sich ein Lachen nicht verkneifen. Bald wird die Gewissheit einsinken, wieder gescheitert und weiterhin arbeitslos zu sein. Vielleicht liegt es an der Erschöpfung, vielleicht an der Enttäuschung – doch in diesem Augenblick spürt er nichts als die Freude, seinen besten Freund wiederzusehen.

»Okay, ich versuch’s. Wie wäre es, wenn du dich zuallererst bei mir entschuldigst. Für die Masterarbeit, meine ich.«

Adam wirkt, als hätte er nach dem Auspacken eines Geschenks feststellen müssen, dass er es bereits besitzt.

»Es gibt nichts, wofür ich mich entschuldigen müsste. Ich hatte ein Ziel und das Ting war eine gute Abkürzung. Das ›Navigationssystem‹ war meine Idee. Du hast sie lediglich aufgeschrieben. Also habe ich benutzt, was mir gehörte. Es war nichts Persönliches. Jedes Ziel hat seinen Preis, und man muss diesen Preis bezahlen, wenn der Profit hoch genug ist. Das ist ein Naturgesetz.«

Sein Gegenüber reibt sich die Augen. Linus erinnert sich, dass Adam schon früher Probleme mit der Sehkraft hatte, aber nie zum Augenarzt ging. Weder wollte er eine Schwäche für alle sichtbar auf der Nase tragen noch sich morgens diese als Linse vor die Augen schieben, wie er ihm damals erklärte.

Hinter Linus rutscht Enni – oder ist es Götz – nervös auf ihrem Stuhl hin und her.

»Deine Abkürzung hat mich sechs Monate gekostet. Weißt du, wie blöd das aussieht im Lebenslauf? Und ich musste einen ganz neuen Ansatz für meine Arbeit finden. Hab mein Stipendium verloren.«

Adam zuckt mit den Achseln. »Das hatte bestimmt auch irgendwelche Vorteile für dich. Bill Gates, Peter Handke, Günther Jauch – die haben alle ihr Studium abgebrochen und aus denen ist trotzdem was geworden. Und du beschwerst dich über ein Semester mehr. Bist du hier, um mir dieselben Vorwürfe wie damals noch einmal zu machen? Warst du deshalb in meinem Büro?«

Hinter seinem Rücken spürt Linus eine Bewegung, jemand ist aufgestanden. Er darf sich jetzt nicht ablenken lassen. Wenn er schon den Job nicht bekommt, dann will er sich wenigstens wieder mit Adam versöhnen. Und ihm vom Ting erzählen.

»Ich habe mich bei Strindholm beworben, weil das Ting es so wollte. Dass du hier arbeitest, hab ich erst später rausgefunden. Das Ting hat mich außerdem in dein Büro geführt.«

Götz kommt um den Schreibtisch herum und baut sich vor ihnen auf, doch Adam ignoriert sie. Er rutscht von seinem Stuhl, geht in die Hocke und legt seine Arme auf dem Schreibtisch ab. Eine Bewegung, als wolle er Augenhöhe mit Linus herstellen, obwohl er nun zu ihm aufschaut.

»Das Ting hat dich zu mir geführt? Du hast es tatsächlich entwickelt. Ist es fertig? Wie funktioniert es?«

Bevor Linus antworten kann, klopft es. Aus der geöffneten Tür lächelt Kasper, der seine rote Fliege gegen eine braune getauscht hat.

»Tut mir wirklich schrecklich leid, eure kleine Szene unterbrechen zu müssen. Adam, ich suche schon die ganze Nacht nach dir. Warum ist dein Handy aus? Der Alte will dich dringend sprechen.«

Adam hat Mühe, seinen Blick von Linus zu lösen. Sein Gesicht, das gerade noch voller Neugier war, nimmt einen besorgten Ausdruck an.

»Jetzt?«

»Jetzt.«

Nachdem Kasper und Adam das Büro verlassen haben, nutzt Götz die Gelegenheit, um die Situation wieder unter Kontrolle zu bringen. Sie schmettert ihre Worte über den Tisch, als sei Linus ein fast besiegter Gegner in einem Tennisspiel, das sie endlich beenden möchte.

»Sie und Herr Strzela sind also Bekannte. Wundert mich nicht. Wie auch immer. Betrüger können wir bei Strindholm nicht gebrauchen. Ich wünsche Ihnen einen guten Heimweg.«

Ohne ein weiteres Wort tritt sie ab. Eine längere Pause entsteht. Dann beginnt in seinem Rücken Enni zu sprechen.

»Alle waren von den Ergebnissen deiner Simulation angetan. Du hast gute Chancen auf die Stelle gehabt. Aber ich habe dein Geständnis von vorhin nicht vergessen: Betriebswirtschaftliches Denken war nie deine Stärke, hast du gesagt. Also hab ich mir deinen Spielverlauf genauer angesehen. Sorry, Linus.«

Sie versucht, den autoritären Tonfall von Götz’ Stimme nachzuahmen, aber Linus spürt vor allem die abgrundtiefe Müdigkeit darin, die viel weiter zurückreicht als nur in diese durchwachte Nacht. Er erhebt sich, ohne zu antworten. Verlässt das Büro, in das er nie wieder zurückkehren wird.

Als sich die Fahrstuhltür hinter ihm schließt und er allein ist mit seinem Spiegelbild, sinkt er zu Boden. Müdigkeit und plötzliche Kälte lassen ihn zittern. Wieder ist er an einem Bewerbungsverfahren gescheitert. Insgeheim hatte er geglaubt, dass es bei Strindholm anders laufen würde. Vor allem weil er sich nicht aus eigenen Stücken bei der Unternehmensberatung beworben hat, sondern weil das Ting es so wollte. Er hatte sich so sehr gewünscht, dass seine Vision von einem »Navigationssystem fürs Leben« wahr wurde, dass er dem Ting trotz dessen Fehleranfälligkeit vertraute. Und doch hat er wieder versagt.

In einer Stunde wird er Kira wecken und wird ihr von der Nacht berichten. Sie wird Fragen stellen, halbherzig über die Personaler lästern und ihn aufmuntern. Aber an einer kleinen Nuance im Tonfall, an einer kleinen Bewegung ihrer Mundwinkel wird er erkennen, wie enttäuscht sie von ihm ist. Und sie wird nicht die Einzige sein. Später am Tag wird er seine Eltern anrufen müssen. Sie werden sein erneutes Scheitern mit Schweigen quittieren. Stattdessen werden sie von allen Familienmitgliedern in seinem Alter berichten, die erfolgreicher sind als er: Wie gut seine kleine Schwester mit ihrer Promotion vorankommt, wie überlaufen die Arztpraxis seines Cousins doch ist.

Linus’ Gesicht in der Reflektion der Spiegelwand ist fahl, die Frisur durcheinander. Auf seinem Hemd sind Flecken, ohne dass er weiß, woher sie stammen. Noch immer ist ihm speiübel. Nicht mehr vor Aufregung, sondern vor Müdigkeit und Resignation. Hinter seinen Augen pocht es. Er neigt seinen Kopf, bis seine Stirn ihre Spiegelung berührt. Es ist angenehm kühl. Um sich zu beruhigen, stellt er sich Kira in ihrem gemeinsamen Bett vor. Sie liegt auf dem Bauch, ist nicht zugedeckt. Auf der rechten Bettseite. Sie schläft nie an der Wand, sondern immer außen. Sie sagt: um ihn im Notfall zu beschützen.

Er schreckt aus dem Schlaf hoch und braucht einige Momente, um sich zu orientieren. Der Fahrstuhl hat sich in Bewegung gesetzt, es geht aufwärts. Linus steht auf, reibt sich das Gesicht mit den Handflächen, strafft sein zerknittertes Jackett. Er will nicht, dass man ihm seine Verfassung ansieht.

Die Türen öffnen sich. Für einige Momente stehen sie einander gegenüber. Adam mustert ihn aus seinen tiefen Augenhöhlen heraus. Linus fühlt sich, wie er sich immer in seiner Gegenwart fühlt: vollkommen durchschaubar.

»Hast du den Job?«, fragt Adam.

»Natürlich nicht. Oder sah das für dich danach aus?«

»Sorry. Ich wünschte, ich könnte ein gutes Wort für dich einlegen. Aber wie sich gerade herausgestellt hat, bin ich dafür zurzeit nicht mal im Ansatz der Richtige. Hab gerade einen richtigen Einlauf verpasst bekommen. Eine absolut beschissene Nacht für uns beide.«

Adam betritt die Kabine und zieht einen Schlüssel aus einer Hosentasche, steckt ihn in die Armatur des Fahrstuhls.

»Komm. Ich zeig dir was. Das wird dir gefallen. Da geh ich immer hin, wenn ich ’ne Auszeit brauche.«

Sie fahren nur ein oder zwei Stockwerke nach oben. Als sie aus dem Fahrstuhl treten, sticht die Morgensonne in ihre Augen. Die Wolken haben sich verzogen, über ihnen der unendlich grelle Himmel. Sie stehen auf dem Dach des Strindholm