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Katharina Peters

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Beschreibung

Die Toten von Rügen.

Eine Terrorwarnung erschüttert Rügen. Offensichtlich gibt es einen Hinweis, dass ein Anschlag auf die Störtebeker-Festspiele geplant sein könnte. Die Anspannung ist groß, doch alle Ermittlungen gegen einen Hotelbetreiber verlaufen im Sand. Nur bei Romy Beccare bleibt ein mulmiges Gefühl zurück. Warum will jemand die Polizei in Alarmbereitschaft versetzen? Steckt vielleicht etwas anderes dahinter? Bei ihren Nachforschungen stößt sie auf mysteriöse Vermisstenfälle: Vor Jahren sind zwei junge Mädchen spurlos auf Rügen verschwunden ...

Ein neuer Fall für Kommissarin Romy Beccare – fieberhafte Ermittlungen an der Ostsee.

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Über Katharina Peters

Katharina Peters, Jahrgang 1960, schloss ein Studium in Germanistik und Kunstgeschichte ab. Sie ist passionierte Marathonläuferin, begeistert sich für japanische Kampfkunst und lebt am Rande von Berlin.

Aus der Reihe mit Romy Beccare sind lieferbar: »Hafenmord«, »Dünenmord«, »Klippenmord«, »Bernsteinmord« und »Leuchtturmmord«. Mit der Kriminalpsychologin Hannah Jakobs als Hauptfigur: »Herztod«, Wachkoma«, »Vergeltung« und »Abrechnung«. Aus der Wismar-Serie ist »Todesstrand« bei atb erschienen.

Informationen zum Buch

Die Toten von Rügen

Eine Terrorwarnung erschüttert Rügen. Offensichtlich gibt es einen Hinweis, dass ein Anschlag auf die Störtebeker-Festspiele geplant sein könnte. Die Anspannung ist groß, doch alle Ermittlungen gegen einen Hotelbetreiber verlaufen im Sand. Nur bei Romy Beccare bleibt ein mulmiges Gefühl zurück. Warum will jemand die Polizei in Alarmbereitschaft versetzen? Steckt vielleicht etwas anderes dahinter? Bei ihren Nachforschungen stößt sie auf mysteriöse Vermisstenfälle: Vor Jahren sind zwei junge Mädchen spurlos auf Rügen verschwunden.

Ein neuer Fall für Kommissarin Romy Beccare – fieberhafte Ermittlungen an der Ostsee

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Katharina Peters

Deichmord

Ein Rügen-Krimi

Inhaltsübersicht

Über Katharina Peters

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Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Ermittlerteams Rügen und Stralsund

Impressum

Prolog

Die Gräser standen hoch und kitzelten an seinen nackten Beinen. Er bückte sich und kratzte. Das tat gut, aber immer nur für einen Moment, dann juckte es erneut. Er lief weiter und schirmte die Augen vor der Sonne ab, die immer noch wie ein glühender Ballon am Himmel stand. Aber es war nicht mehr so heiß. Sein Bauch war voller Erdbeereis und Kuchen mit Sahne und Limo, und eigentlich sollte er nicht herumtoben. Aber es war langweilig, am Kaffeetisch sitzen zu bleiben und Löcher in die Luft zu starren. Die Großen redeten oder stritten oder schwiegen, und er hatte sich in einem unbeobachteten Moment aus dem Staub gemacht.

Der Garten zog sich bis hinunter zum Waldrand, weit hinter den geraden Beeten und blühenden Obstbäumen, abgetrennt durch einen flachen Zaun begann sein geheimes Leben– eine dschungelartige grüne Höhle mit hochstehenden Sträuchern, die ihm bis über den Kopf reichten, und mit wildem Buschwerk, das vor keinem Rasenmäher weichen würde, dazwischen vergessene Bretter und Bohlen, Baumaterial, Kisten und Autoreifen. Ein Paradies für einen Vierjährigen.

Die alte Baubude stand zwischen halbhohen Bäumen, und man entdeckte sie erst, wenn man näherkam und genauer hinsah; sie war blau gestrichen, tiefblau wie das Meer weit draußen, mit einem weißen Wolkendach. Die Tür ließ sich leicht öffnen. Innen war es kühl und dunkel, und es roch muffig. Es gab ein Sofa, einen Tisch mit Sitzbänken zu beiden Seiten, einen alten Metallschrank mit Gläsern und Flaschen.

Er streckte sich auf dem Sofa aus und begann zu träumen.Später stand er wieder auf und kletterte hinter die Rückenlehne, wo ein Stapel Kissen und Decken in einer Holzkiste verstaut war. Er räumte einen Teil heraus und legte sich hinein. Wenn er die Beine anzog, fand er genügend Platz– wie ein Vogel in seinem Nest. Sein Magen mit all der Limo und dem Erdbeereis grummelte vor sich hin. Er drückte sein Gesicht in ein kühles Kissen und schlief ein.

Er träumte von einem Tanz auf den Wellen– weit draußen, wo die kleinen Fischerboote in aller Frühe das Morgenlicht berührten und die Möwen mit aufgerissenen Schnäbeln laut kreischend über ihnen hin und her schossen, begierig, einen Leckerbissen zu erhaschen.

Als er die Augen öffnete, war es dunkel, aber vielleicht träumte er auch nur, dass er aufwachte, denn nun begann ein neuer Traum, ein Alptraum. Die Schatten zweier Gestalten flogen über die Wände– fast so schnell und hektisch wie die Möwen, nur viel größer und dunkler, bedrohlich, noch lange vor dem Morgenlicht und seiner hellen Wärme. Ihre Stimmen wisperten, wurden dann lauter und zerrissen die Nacht. Dann fiel der eine Schatten über den anderen her, und es klang, als würde jemand einen Holzpfahl in den Boden rammen.

Plötzlich strömte ein Geruch in seine Nase, ein besonderer Geruch– schwer, süß, warm. Er zog sich eine Decke über den Kopf, hielt sich die Ohren zu und bat still um einen neuen Traum.

1

Kommissarin Ramona Beccare, genannt Romy, legte den Hörer auf und sah einen Moment schweigend zum Fenster hinaus. Sie konnte nach all der Hektik und Anspannung immer noch nicht glauben, dass es vorbei sein sollte– erst von null auf hundert, und nun umgekehrt.

Vor zwei Wochen hatte eine anonyme Mail eine interne Terrorwarnung ausgelöst und die Kommissariate in Bergenund Stralsund mitten in der Feriensaison in höchste Alarmbereitschaft versetzt. Ein Terroranschlag auf Rügen? Das klang immer noch absurd– wie ein sehr schlechter, geschmackloser Scherz. Aber vielleicht lag genau darin der grundsätzliche Denkfehler. Wo Menschen lebten, konnte heutzutage ein derartiges Geschehen nicht mehr grundsätzlich ausgeschlossen werden– so ähnlich hatte sich der Leiter der Antiterroreinheit ausgedrückt, die nach erster Sichtung der Lage kurzfristig die Ermittlungen auf der Insel übernommen hatte. Und warum nicht auf Rügen, zum Beispiel während der Störtebeker Festspiele? Seit über zwanzig Jahren besuchten jährlich Zigtausende das Spektakel auf der Naturbühne Ralswiek. Menschen, die sich in der Idylle sicher und beschützt glaubten, zumindest vor dieser Art Gefahr– zu Unrecht, wie der Mailschreiber zum Ausdruck gebracht hatte.

Der hatte behauptet, dass er in einem Propaganda-Video einer Terrorgruppe, das Folterszenen von Geiseln zeige, einen Schulfreund wiedererkannt habe. Der Mann lebe in Ralswiek und arbeite in der Hotel- und Gaststättenbranche. Die Planung eines Anschlags auf die Störtebeker Festspiele, die alljährlich zwischen Ende Juni und Anfang September stattfinden, sei nicht auszuschließen.

Doch die fieberhaften Ermittlungen waren bisher erfolglos geblieben. Analysen von Propaganda-Videos und Recherchen zu Hotelbetreibern der Umgebung hatten keinen Treffer gebracht, nicht einmal einen brauchbaren Hinweis oder einen flüchtigen Verdacht. So ziemlich jeder Rüganer und alle Gäste zwischen Bergen und Neuenkirchen waren inzwischen durchgecheckt, einschließlich aller Mitarbeiter des Störtebeker-Events. Ebenso erfolglos war die Suche nach dem anonymen Mailschreiber verlaufen.

Der Leiter der Sondereinheit war schon nach kurzer Zeit davon überzeugt gewesen, dass die Behörden genarrt worden seien, wie es in Zeiten regelmäßiger Terrorwarnungen nicht außergewöhnlich sei, hatte aber dennoch eine gründliche Überprüfung vornehmen lassen– man konnte ja nie wissen. Nun werde man weiterhin die Augen offenhalten, aber für weitergehende Ermittlungen gebe es keinen hinreichenden Grund mehr.

Romy atmete tief durch. Sie war immer noch verstört, auch wenn der Spuk nun vorbei war und die Festspiele für dieses Jahr beendet waren. Sie war heilfroh, dass die Öffentlichkeit nichts davon erfahren hatte, und ging nach nebenan, um das Team zu informieren. Kollege Kasper Schneider, alteingesessener Rüganer und mit deutlich über sechzig der Älteste unter ihnen, reagierte erleichtert. Fine Rohlbart, Urgestein des Kommissariats und Mädchen für alles, nickte mit grimmiger Miene.

»Sag ich doch– da hat sich irgendein kranker Vollidiot einen Spaß erlaubt, und wir sind dem auch noch auf den Leim gegangen. Sollte der mir zufällig über den Weg laufen, werde ich ihm sehr nachdrücklich meine Vorstellungen von Humor klarmachen. Na, ihr wisst schon, was ich meine.«

Und ob. Keine gute Idee, sich mit Fine anzulegen, dachte Romy. Sie hielt jede Wette, dass deren Vorfahren von den Wikingern abstammten, behielt diese Einschätzung aber auch nach mittlerweile gut drei Jahren erfolgreicher Zusammenarbeit für sich. Fine nickte in die Runde und entschwand eilig nach nebenan, um dem hektischen Telefonklingeln ein Ende zu bereiten.

Romy sah Max an, der ihren Blick erwiderte und die Stirn runzelte, was sie nicht weiter verwunderte. Datenexperte Maximilian Breder dürfte der Einzige gewesen sein, der sich in der letzten Zeit trotz aller Sorge und Anspannung durchaus in seinem Element gefühlt hatte. Der Schwerpunkt der Arbeit hatte neben verschärften Sicherheitsmaßnahmen und Standortanalysen in detaillierten Recherchen und Überprüfungen bestanden, die er mit wahrer Hingabe unterstützt hatte und die sein Datenbank-Herz natürlich höherschlagen ließen.

»Wirklich alles umsonst?«, fragte er verblüfft. »Es gibt wirklich keinen einzigen Verdacht, dem es sich nachzugehen lohnte? Keine Auffälligkeit, die überprüft werden sollte?«

Romy zuckte mit den Achseln. »Der ganz große Alarm ist jedenfalls abgeblasen. Nirgendwo haben sich auch nur vage Indizien gefunden, die im Zusammenhang mit einem geplanten Anschlag auf Rügen, in Ralswiek oder sonst wo stehen könnten.«

»Oder sagen die uns nicht alles?«

»Tja…« Sie hob die Hände. »Das können wir natürlich nicht einfach so ausschließen, aber vorerst sind wir raus aus den Nachforschungen, und ich hoffe ehrlich gesagt, dass es auch dabei bleibt.«

Max kaute einen Moment nachdenklich auf seiner Unterlippe, dann schob er seinen Bürostuhl zurück. »Der Typ, der die Mail geschrieben und verschickt hat, ist nicht blöd. Er hat seine IP-Adresse recht pfiffig verschleiert und kein Video verschickt, sondern nur einen Link, der auf eine entsprechende Seite führt.«

Max setzte eine vielsagende Miene auf, und Romy beeilte sich, Verständnis zu signalisieren– auf eine ausgedehnte Erläuterung, wie man beim Mailverschicken seine Identität verstecken kann, würde sie nur allzu gerne verzichten. »Klingt schlau«, meinte sie.

»Das ist es. Dazu teilt er uns sehr genau mit, dass der Mann in Ralswiek, von dem die angebliche Gefahr ausgeht–oder seiner Ansicht nach ausgehen könnte–, in der Hotel-Gaststätten-Branche beschäftigt und außerdem ein ehemaliger Schulfreund sei. Er kennt ihn demnach so gut, dass er ihn wiedererkannt hat.«

»Davon zumindest sollten wir aufgrund seiner Behauptung ausgehen.«

Romy goss sich eine Tasse frischen Kaffee ein und warf Max einen ernsten Blick zu. Sie hatten die Diskussion um die Hintergründe der Mail gefühlt hundertmal durchgekaut, ohne dass das Profil des Hinweisgebers schärfer hervorgetreten war. Aber irgendwie hatte Max natürlich recht. Auf der einen Seite gab es verblüffend konkrete Hinweise, die mit professionell verdeckter Vorgehensweise gepaart waren, andererseits brachten die Nachforschungen keinen einzigen Treffer, und alles verlief nun im Sande. Was also sollte das Ganze? Verbarg sich dahinter tatsächlich nichts als ein schlechter Scherz? Wollte jemand ausprobieren, wie die Behörden reagieren würden und wie lange man sie an der Nase herumführen konnte?

»Wir finden– nichts«, fuhr er fort. »Ist der Hinweis so versteckt, dass nicht einmal die Terrorspezialisten etwas entdecken? Schwer zu glauben, oder? Warum nennt er nicht einfach den Namen oder gibt uns wenigstens einen weiteren Tipp, als er mitkriegt, dass die Behörden keinen Treffer landen?«

»Vielleicht hat er Angst, als Verräter identifiziert zu werden, wenn er konkreter wird«, überlegte Romy, »von Leuten, mit denen man sich besser nicht anlegt, und darum macht er es den Ermittlern sehr schwer. Unter Umständen ist die Aktion aber auch ganz einfach ein Ablenkungsmanöver gewesen. Jan hält das für eine wahrscheinliche Variante. Während hier der Sicherheitsapparat auf Hochtouren läuft und Kapazitäten bindet, lachen die sich ins Fäustchen, und womöglich passiert demnächst an einem anderen Ort, mit dem im Moment niemand rechnet, etwas Furchtbares.« Romy atmete laut aus. »Ich hoffe, dass ich falschliege.«

»Ich auch. Oder er gehört dazu und will aussteigen.«

»Eine komplizierte Vorgehensweise, oder?«

»Nun, wir können die Hintergründe nicht einschätzen.«

»Nein, das macht das Ganze ja so schwierig. Wenigstens ist nichts passiert.« Zumindest bis jetzt nicht.

Romy behielt den Nachsatz für sich und stellte ihre Tasse ab. »Wir können übrigens nicht grundsätzlich ausschließen,dass die Ermittlungen und die verstärkten Sicherheitskontrollen im Rahmen der Festspiele dazu beigetragen haben, dass ein eventuell geplanter Anschlag abgeblasen wurde.«

Max schüttelte sofort energisch den Kopf. »Glaub mir, dann hätten wir etwas gefunden. Die Insel ist gründlich durchleuchtet worden, Stralsund auch– und diese Spezialisten von der Sondereinheit dürften noch deutlich tiefer gewühlt haben, als es für uns nachvollziehbar war. In den letzten Wochen ist jeder, der in Rügen unterwegs war, irgendwie erfasst worden.«

»Na schön. Die Geschichte ist ziemlich besorgniserregend, aber inzwischen mehrfach durchgekaut. Worauf willst du hinaus, Max?«

»Nun, wir freuen uns, dass nichts geschehen ist, und hoffen, dass weiterhin nichts passieren wird, aber das Ergebnis der Ermittlungen ist alles andere als zufriedenstellend. Es lässt uns vielmehr ratlos zurück. Und ich will wissen, was da los war oder los ist, du etwa nicht?«

Romy nickte. »Jan hätte auch große Lust, den Mailschreiber zur Rechenschaft zu ziehen, wie er mir gerade sagte. Zur schönsten Sommerzeit durchleuchten wir Rüganer und Gäste, befürchten das Schlimmste und zucken bei jedem lauten Geräusch zusammen. Allein dafür müsste der Typ in den Knast wandern…«

Sie spitzte die Lippen und tauschte einen langen Blick mit Max. »Ich denke, wir sollten die Sache, solange nichts anderes anliegt, einfach noch mal durchgehen.«

Max lächelte.

»Vielleicht machen wir den Mailschreiber doch ausfindig– oder entdecken rein zufällig etwas, was bislang unbeachtet blieb.«

»Das sehe ich genauso.«

Kasper, der bislang am anderen Ende des Raumes schweigend am Fenster gestanden hatte, trat zu ihnen und blickte von einem zum anderen. »Lasst mich raten– wir lassen die Geschichte nicht so einfach vom Haken.«

»So ist es. Stichwort: Ralswiek.«

Der Ort war klein und still; nur während der Festspiele einmal im Jahr herrschten Andrang und bunter Trubel, und die Zeiten herausragender geschichtlicher Bedeutung als wichtiger Seehafen lagen Jahrhunderte zurück. Grabungen zwischen 1967 und 1980 hatten Handelsbeziehungen mit den Wikingern belegt und eine mittelalterliche Siedlung samt Hafenanlage und Kultplatz zutage gefördert. Kasper konnte sich noch gut an die aufsehenerregenden Funde erinnern. Da war richtig was los gewesen. Seit Anfang der neunziger Jahre lockte Ralswiek mit den Störtebeker Festspielen, doch trotz der vielen Touristen war es gelungen, ein Stück intakter Natur am Bodden zu erhalten, die vielen Veränderungen und den Aufschwung der natürlichen Umgebung anzupassen– und nicht umgekehrt.

Kasper hatte hier unzählige Ausflüge mit seinen Kindern unternommen– vor gefühlt hundert Jahren. Sie waren durch den Park geschlendert, hatten das Schlosshotel umrundet, waren Boot oder Rad gefahren und am Bodden gewandert, zu jeder Jahreszeit. Der Blick übers Wasser, unbeschreiblich schön. Nirgendwo sonst wollte er leben als auf dieser Insel mit all ihren Ecken und Kanten, ihrer Weite und Schroffheit, ihrem Charme und ihrer Fülle. Es war eine schöne Zeit damals, mit Anna an seiner Seite, die dann doch noch einmal aufgebrochen war, weit weg von ihm und Rügen, von den gemeinsamen Erinnerungen.

Er wischte sich über die Nase. Nicht schon wieder. Seine zunehmende Anfälligkeit für melancholische Stimmungen und das Schwelgen in alten Zeiten gingen ihm selbst am allermeisten auf die Nerven. Noch wagte es niemand, von seinem Ruhestand zu sprechen, auf den er unwiderruflich mit dem Ende des Jahres zusteuerte, also sollte er es auch nicht tun. Jetzt blühte der Spätsommer in all seiner Pracht, und fertig. Und was Anna anging, so hatte sie ihr Glück woanders gesucht und gefunden. Er war zurückgeblieben mit seiner ganz eigenen Vorstellung von Glück oder Zufriedenheit. So einfach war das.

Kasper verzog das Gesicht zu einem grimmigen Lächeln, zog den Schlüssel ab und stieg aus. Eine Windböe fuhr ihm durchs Haar. Der späte Sommer spielte alle Trümpfe aus –der Himmel war strahlend blau, die Hitze flaute allmählich ab, und in der Luft lag der Duft nach guter Ernte. Allein die Vorstellung, dass irgendwelche Irren, fehlgeleitet von was oder wem auch immer, tatsächlich auf die Idee gekommen sein könnten, hier eine Bombe zu zünden, hatte Kasper um den Schlaf gebracht und seinen Blutdruck in ungesunde Höhen geschraubt.

Er war froh, dass Romy vor einigen Tagen kurzerhand beschlossen hatte, die Suche nach dem Mailschreiber fortzusetzen beziehungsweise zum Anlass zu nehmen, die Warnung im Auge zu behalten– auch wenn das ein erneutes und mühsames Durchwühlen der Akten bedeutete, egal, was die Spezialisten der Antiterroreinheit dazu sagen würden, wenn sie informiert wären. Wahrscheinlich würden sie die Aktion belächeln. Na und? Es ist unsere Insel, dachte er trotzig.

Max war selbstredend dafür, die Recherchen fortzusetzen– all die vielen Datensätze, die er in den letzten Wochen gesammelt und ausgewertet hatte, mussten doch für irgendwas gut sein. Der Junge kriegt irgendwann noch viereckige Augen, dachte Kasper, aber die Warnung schoss der junge Kollege regelmäßig in den Wind. Mit Ende zwanzig schoss man die meisten Warnungen in den Wind.

Das Gästehaus lag südöstlich des Yachthafens und war bereits zweimal überprüft worden, soweit Kasper wusste. Betrieben wurde es von Rolf Magold, einem frühpensionierten Polizisten, der in Neubrandenburg gelebt und gearbeitet hatte, bevor er das Gästehaus von seinen Eltern übernommen hatte, die vor ein paar Jahren verstorben waren.

»Streck doch mal deine Fühler aus– und zwar von Kollege zu Kollege«, hatte Romy ihm in der Morgenbesprechung vorgeschlagen, als sie sich die Daten zu Magolds Pension noch einmal genauer ansahen. »Kann doch nicht schaden. Die Terrorgefahr lässt du natürlich außen vor–wir wollen ja nach wie vor niemanden erschrecken oder alarmieren–, aber vielleicht ist ihm was aufgefallen, was in den Überprüfungen unter den Tisch gefallen ist. Na, du weißt schon, was ich meine.«

»Ja, so in etwa«, hatte Kasper gebrummelt. Außerdem war das eine willkommene Gelegenheit, seinen Schreibtisch zu verlassen und frische Luft zu schnappen.

Magold hatte ausschließlich in der Dienststelle Neubrandenburg gearbeitet und war nach einer Schussverletzung vor fünfzehn Jahren komplett aus dem Job ausgestiegen. Seitdem hatte er seine Eltern in Ralswiek tatkräftig unterstützt. Magold war geschieden, seine Exfrau lebte nicht mehr, er war Vater zweier erwachsener Kinder und Großvater eines Enkels.

Kasper hob den Blick und musterte die Fassade des Hauses– saniertes Fachwerk, dunkelgrüne Fensterläden, Balkone, an denen üppig gefüllte Blumenkästen hingen. Ein schöner, friedlicher Ort, nicht nur in den Ferien. Er wollte gerade klingeln, als sein Handy summte– Max. »Ja?«, meldete er sich.

»Bist du schon im Gespräch?«

»Dann würde ich kaum ans Telefon gehen.«

»Auch wieder wahr.«

»Also?«

»Ich habe mir gerade Magolds Biographie noch mal genauer angesehen. Die Sache mit der Schussverletzung ist nicht uninteressant.«

Kasper lächelte. »Schräg klingende Einschätzung, wenn du mich fragst. Soll ich ihm das ausrichten?«

»Du weißt doch, wie ich das meine«, entgegnete Max eilig. »Die üblichen Daten haben wir ja nun zur Genüge vorwärts und rückwärts beleuchtet…«

»Ja, ja, und?«

»Das Ganze ist Anfang 1999 bei einem Einsatz im Zusammenhang mit einem Banküberfall passiert. Die Kollegen haben zwei flüchtige Täter verfolgt und stellen können– der dritte hat um sich geballert, konnte unerkannt fliehen und wurde nie gefasst«, berichtete Max. »Magold traf es am Bein, er war damals dreiundvierzig. Man hat ihn eine ganze Weile freigestellt, und schließlich wurde er in den Vorruhestand versetzt.«

Kasper kratzte sich im Nacken. Mit dreiundvierzig in den Ruhestand– eine gruselige Vorstellung. Das hätte ihm auf gar keinen Fall passieren dürfen. »Der Innendienst lag ihm wohl nicht. Oder die Verletzung war so massiv, dass er komplett aus dem Job rauswollte.«

»Möglich, aber dann hätte er eine Umschulung machen können«, wandte Max ein.

»Er hat es vorgezogen, die Eltern in Ralswiek zu unterstützen.«

»Sieht ganz so aus.«

»Nun gut, ich behalte das im Hinterkopf.«

»Dafür war es gedacht.«

Kasper steckte das Telefon ein und klingelte an der Haustür. Sekunden später öffnete ihm eine junge Frau–eine Reinigungskraft, wie ihre Kleidung vermuten ließ– und führte ihn in ein kleines Büro, das vom Frühstücksraum abzweigte.

Rolf Magold saß am Schreibtisch vor einem Stapel Rechnungen und warf Kasper einen fragenden Blick aus graugrünen Augen zu, während er zwei Ablagekörbe beiseiteschob. Der Mann wirkte auch im Sitzen groß und bullig und alles andere als körperlich eingeschränkt.

»Ich bin ein Kollege«, stellte Kasper sich vor und zeigte ihm kurz seine Dienstmarke.

Magold runzelte die Stirn. »Ach? Nun, das ist lange her.« Er wies auf einen Stuhl. »Worum geht es?«

Gute Frage, dachte Kasper. Ein Expolizist würde hellhörig werden, wenn er behauptete, nur mal ganz allgemein die Situation vor Ort überprüfen zu wollen.

»Ist Ihnen in letzter Zeit irgendwas Besonderes in Ralswiek aufgefallen?«

Magold lehnte sich im Stuhl zurück. »Geht das etwas genauer?«

»Gab es mehr Diebstähle als sonst? Raufereien? Auffälligkeiten bei den Festspielen?«

»Nein.« Magold schüttelte den Kopf. »Wonach sucht ihr denn? Sind mal wieder Autoklauerbanden unterwegs?«

Kein schlechtes Stichwort, dachte Kasper und nickte. »So ist es. Wir haben einen Tipp von Kollegen bekommen und halten die Augen offen, zumal auch noch einige einschlägig bekannte Drogenkuriere aufgetaucht sein sollen«, behauptete er.

»Verstehe. Also, aufgefallen ist mir nichts–abgesehen davon, dass in letzter Zeit mehr Polizei und Sicherheitsleute unterwegs waren als sonst– hängt das damit zusammen?«

»Ja.«

»Okay. Ich behalte das im Blick.«

»Klingt gut.« Kasper lächelte und stand auf. »Danke.« An der Tür drehte er sich noch mal um. »Gehen die Geschäfte gut?«

»Glücklicherweise ja. Das ist ein alteingesessenes Gästehaus– meine Eltern haben es gleich nach der Wende aufgebaut. Es gibt seit vielen Jahren eine lange Liste von Stammgästen, die immer wiederkommen, nicht nur zu den Festspielen.«

»Nie Lust gehabt, in den Polizeialltag zurückzukehren?«

Magold stutzte nur kurz. »Nein. Ich wäre nach einer Schussverletzung fast verblutet. Meine Ambitionen, wen auch immer zu schützen, haben sich in diesem Moment in Luft aufgelöst. Nie wieder. Ich habe den Entschluss, der Polizei den Rücken zu kehren, nicht bereut.«

»Hat man den Schützen wenigstens geschnappt?«, fragte Kasper nach, obwohl er die Antwort kannte.

»Nein.« Magold machte eine wegwerfende Handbewegung. »Der ist mit dem Motorrad auf und davon– unerkannt und mit einer ordentlichen Beute nach einem Banküberfall.«

»Ach? Und wie kam es, dass der so mir nichts, dir nichts entkommen konnte?«

»Keine Ahnung. Vielleicht war er kurzfristig bei jemandem untergeschlüpft oder hatte sich ein anderes Fahrzeug besorgt. Viel mehr haben die Nachforschungen seinerzeit jedenfalls nicht ergeben.« Seine Stimme klang ernst, war aber frei von Bitterkeit. »Der Typ schien sich förmlich in Luft aufgelöst zu haben.«

Magold starrte einen Moment an Kasper vorbei ins Leere. »Nun gut, das ist lange her, fünfzehn Jahre, um genau zu sein. Sollte heute nicht mehr mein Thema sein. Ich fühle mich wohl hier. Und ich sage selbstverständlich Bescheid, wenn mir irgendwas auffällt.«

»Danke.« Kasper stand eine Minute später wieder vor der Tür, drehte eine Runde durch Ralswiek und machte sich auf den Rückweg in die Bergener Dienststelle.

Romy telefonierte gerade mit Stralsund, Max stierte angestrengt in seinen Monitor. Kasper versorgte sich mit Kaffee und ging zu ihm. »Dieser Banküberfall…«

»War eine ziemlich heiße Kiste«, vervollständigte Max mit breitem Grinsen.

Kasper deutete ein Lächeln an.

»Die Einzelheiten sind nie wirklich geklärt worden–zum Beispiel, was die Waffen betraf–, aber es spricht einiges dafür, dass die Täter über Insiderwissen verfügten oder die Bank schon eine ganze Weile im Auge behalten hatten und wussten, wann Geldtransporte anstanden, wann ein Überfall sich also definitiv lohnen würde.«

»Lass mich raten– der Tresor war an dem Tag gut gefüllt.«

Max schob seinen Stuhl zurück und hob einen Daumen.

»Was ist schiefgegangen?«

»Saudummer Zufall– eine Streife fuhr vorbei, und einer der Kollegen, nämlich Magold, wollte die Gelegenheit nutzen und Bargeld abheben. Doch bevor er die Bank betreten konnte, stürmten drei Maskierte raus und stießen ihn beiseite. Sekunden später gab es Alarm, und eine gute halbe Stunde später waren zwei gefasst, aber Magold war schwer verletzt, während der Dritte auf spektakuläre Weise entkommen konnte.«

»Sie sind demnach von Anfang an getrennt geflohen?«

»Ja, zwei fuhren im Auto, der dritte hatte ein Motorrad. Das war dann auch der, der die Beute hatte, um sich ballerte und untertauchen konnte.«

Kasper lehnte sich zurück. »Und alle drei waren maskiert?«

»Genau.« Max überflog das Protokoll. »Die übliche Verkleidung: schwarze Klamotten, Strumpfmasken. Einer sah wie der andere aus, und nur einer von ihnen sprach, wie es schien, mit verstellter Stimme. So sagten es auch die Zeugen in der Bank aus.«

»Und die beiden Häftlinge haben trotz der Pleite und des Frusts hinter Gittern ihren Kumpel all die Jahre nicht verraten?«

»Mit keiner Silbe. Selbst die Aussicht auf Strafverringerung lockte sie nicht, und die Nachforschungen im Umfeld haben nicht das Geringste ergeben. Einer der beiden –Fritz Tänner, seinerzeit zweiundvierzig– ist einige Jahre später im Knast eines natürlichen Todes gestorben. Der zweite–Bernd Munter, fünfundvierzig– hat sieben Jahre gekriegt und ist kurz nach seiner Entlassung untergetaucht. Die Vermutung, dass er sich irgendwo im Ausland mit dem geflohenen Täter getroffen hat, ist wohl nicht allzu weit hergeholt.«

»Wie groß war die Beute?«

»Eine Viertelmillion.«

»Damit lässt sich ein neues Leben auf die Beine stellen.«

»Das sehe ich auch so.«

»Nun gut, und was hat das Ganze mit unserer Suche nach dem Mailschreiber zu tun?«, murmelte Kasper. »Wahrscheinlich nicht das Geringste.«

»So sieht es aus. Trotzdem finde ich die Story spannend.«

Romy stand plötzlich in der Tür. »Apropos Spannung– Jan hat gerade angerufen. Die Stralsunder haben eine Leiche. Ich fahre mal rüber zu den Kollegen in die Polizeiinspektion, wir haben ja hier zurzeit nicht so viel zu tun. Ihr kommt allein klar, oder?«

Typisch, dachte Kasper. Sie hat wie immer Hummeln im Hintern.

Romy und Jan Riechter waren sich nähergekommen, als der Kollege vor gut anderthalb Jahren das Stralsunder Kommissariat übernommen hatte, das bei schweren Straftaten als leitende Ermittlungsbehörde auch den Rüganern vorangestellt war– sehr zum Leidwesen von Fine. Als echte Inselfrau ließ sie sich ungern etwas von Festländern sagen. Aber Fine war sowieso speziell, und ihre Vorbehalte gegen Jan hatte sie inzwischen begraben– nicht nur, weil Jan und Romy längst ein festes Paar waren und die Zusammenarbeit der beiden Teams in der Regel gut funktionierte, auch wenn mal die Fetzen flogen. Jan hatte sie schlicht und ergreifend um den kleinen Finger gewickelt.

2

Jan war etwas blass um die Nase. Er drückte Romy sein Smartphone in die Hand. »Die Fotos sind mit Vorsicht zu genießen.« Er wandte sich zur Anrichte um und schaltete die Kaffeemaschine ein.

Romy schob ihr Unbehagen beiseite und öffnete den Ordner Deponie Kramerhof-Kedingshagen. Die Anlage war seit mehreren Jahren stillgelegt, inzwischen wurden lediglich regelmäßige Abdeckungs-, Sicherungs- und Bodenarbeiten durchgeführt, wie Jan bereits am Telefon erläutert hatte. Arbeiter hatten am frühen Morgen beim Umschichten einen nahezu vollständig verwesten Leichnam in ungefähr einem Meter Tiefe entdeckt. Romy wappnete sich innerlich und betrachtete die Aufnahmen mit professioneller Distanz.

»Buhl ist mit seinen Technikern vor Ort und sichert den Abtransport in die Rechtsmedizin, wo Doktor Möller schon wartet«, erklärte Jan währenddessen und reichte ihr eine Tasse Espresso.

»Konnte Buhl schon was sagen?«

»Er meint, dass es sich um einen weiblichen Leichnam handelt, der dort abgelegt beziehungsweise verbuddelt wurde. Ein Loch im Schädel könnte mit der Todesursache zusammenhängen, es könnte aber auch erst später entstanden sein. Was die Liegezeit angeht…« Er zuckte mit den Schultern. »Bei den Bodenverhältnissen schwierig einzuschätzen, denke ich. Du siehst ja selbst– der Verwesungsprozess ist nahezu abgeschlossen. Wir müssen uns also gedulden und das Untersuchungsergebnis abwarten. Fest steht nur, dass dort seit neun Jahren kein Müll mehr abgeladen wurde.«

»Jedenfalls nicht offiziell.«

»Richtig.«

»Alles andere als ein enger Zeitraum.«

Romy senkte den Kopf und fasste erneut die Aufnahmen ins Auge. Auf den Müll gekippt. Was ging in einem Menschen vor, der sich entschloss, jemanden auf den Müll zu kippen, in einer stinkenden Deponie zu vergraben? Wenigstens ein Grab im Wald, dachte sie, unter Moos und Buschwerk, im Schatten eines alten Baumes, in der Nähe eines Sees oder Flusses. Wenigstens das.

»Also lässt sich zusammenfassen, dass es bislang nur einige wenige Anhaltspunkte gibt– es handelt sich vermutlich um eine Frau, die mit allergrößter Wahrscheinlichkeit Opfer eines miesen Verbrechens wurde, und zwar irgendwann in den letzten Jahren«, fasste Romy zusammen.

»Genau, und wenn wir Glück haben, ist sie in der Vermisstendatenbank aufgeführt, und wir können in Kürze Verwandte benachrichtigen.«

»Seit wann haben wir diesbezüglich Glück?«

Das Telefon klingelte. Jan stellte die Verbindung her und aktivierte die Lautsprecherfunktion, als er den Anrufer erkannte– Kriminaltechniker Marco Buhl. »Gerade sprachen wir von dir. Wir sind ganz Ohr. Leg los.«

»Wer ist wir?«

»Romy und ich.«

»Okay.« Buhl grüßte gewohnt knapp in die Runde. »Es ist alles protokolliert und aufgenommen, und die Leiche befindet sich auf dem Weg zu Möller. Der Doktor meldet sich, sobald er was sagen kann. Also nervt ihn nicht vorher. Das kostet nur Zeit. Wir nehmen uns jetzt den Liegeplatz gründlich vor.«

»Was erhofft ihr euch?«

»Wir müssen zwar davon ausgehen, dass die Tote durch Grabungs- und Deponiearbeiten im Laufe der Zeit in einem Radius von mehreren Metern mehrfach bewegt wurde, aber vielleicht finden wir ja doch noch etwas, was wir ihr zuordnen könnten.«

»Zum Beispiel?«, fragte Romy.

»Irgendein Kleidungsstück, Schuhe, Handtasche, die Reste eines Handys.«

»Davon dürftest du mehr finden, als Stralsund Einwohner hat«, bemerkte Jan.

»Davon gehe ich aus. Und trotzdem könnte sich der Aufwand lohnen. Vielleicht finden wir ein Puzzlestück, mit dem euch dann die Identifizierung leichter fällt«, erwiderte der Kriminaltechniker. »Wäre ja nicht das erste Mal«, schob er nach.

Er hat recht, dachte Romy. Buhls stoische Hartnäckigkeit war Gold wert, seine Bereitschaft, die Tat- und Fundorte auch mal abseits der üblichen Routinen und mit den Augen der Ermittler zu betrachten, ebenfalls.

»Sisyphos lässt grüßen«, seufzte Jan. Dazu sagte Buhl nichts. Wahrscheinlich zuckt er mit den Achseln, dachte Romy belustigt, und es interessiert ihn nicht die Bohne, dass wir das gar nicht mitkriegen.

»Na gut, alles klar, Buhl«, meinte Jan schließlich. »Klingt nach einer guten Idee.«

»Wir könnten übrigens Unterstützung gebrauchen– falls du also nichts anderes zu tun hast, zieh dir Gummistiefel an und…«

»Ähm, das wird zeitlich knapp, denke ich«, wandte Jan hastig ein. »Wir befassen uns gleich eingehend mit der Deponie, checken die Mitarbeiter und so weiter– da gibt es einiges zu recherchieren.«

»Unbedingt. Schon verstanden.«

Romy konnte sich lebhaft vorstellen, wie der hagere Buhl mit breitem Grinsen sein Telefon einsteckte und dann zu seinen Leuten stiefelte, um mit ihnen gemeinsam im Dreck zu wühlen, während die Sonne auf sie herunterschien oder auch ein Regenschauer oder klirrende Ostseekälte die Arbeit erschwerte– das war ihm letztlich völlig egal. Er blieb stets beseelt von der Zuversicht, auf die wichtigen Details zu stoßen, ohne die ein Fall nur mühsam aufgeklärt werden konnte, wenn überhaupt.

Als der Rechtsmediziner sich schließlich meldete, hatte Romy gerade beschlossen, nicht länger zu warten und den Heimweg auf die Insel anzutreten.

»Tut mir leid, ich habe es nicht eher geschafft«, erklärte er. »Sie warten schon ungeduldig, nehme ich an.«

Jan lächelte und tauschte einen Blick mit Romy. »Nun, da Kommissarin Beccare mit von der Partie ist…«

Möller lachte, während Romy Jan einen Schubser verpasste. »Verstehe. Also gut, vorläufig lässt sich Folgendes mit Bestimmtheit sagen: weibliche Leiche, zwischen Mitte vierzig und Ende fünfzig. Schädeltrauma– sehr wahrscheinlich wurde sie erschlagen, und zwar vor ein bis zwei Jahren. Genauso denkbar ist natürlich, solange die Umstände nicht bekannt sind: ein Unfall. Aber die Tatsache, dass man sie dort ablegte, spricht wohl ohnehin eine deutliche Sprache.«

»Allerdings«, gab Romy zu.

»Bezüglich anderer Verletzungen aufgrund von Gewalteinwirkung kann ich zurzeit noch nichts sagen, und auch der Zeitrahmen lässt sich leider im Moment noch nicht enger eingrenzen, da mehrere Faktoren eine Rolle spielen.«

»Welche?«, fragte Jan.

»Nun, zum einen können wir davon ausgehen, dass die Verwesung in dem Deponieboden schnell erfolgt ist, auf der anderen Seite müssen wir aber auch berücksichtigen, dass die Leiche eine ganze Weile in einer tieferen Erdschicht gelegen haben könnte, in der die Prozesse wesentlich langsamer ablaufen«, erklärte Möller. »Insofern müssen Sie zunächst mit dieser Hypothese arbeiten und die weiteren Ergebnisse abwarten.«

»Können Sie DNA-Material gewinnen?«, warf Romy ein.

»Wir geben uns Mühe.«

»Danke, Doktor.«

»Gerne.«

Romy warf Jan einen langen Blick zu. »Das ist was für Max, oder?«

Die wenigen Eckdaten waren schnell in die Vermisstendatenbank eingegeben und abgefragt, ohne dass sie einen konkreten Treffer lieferten.

Allgemeiner geht es ja kaum, dachte Max. Man erhielt entweder Dutzende von Namen oder gar keinen. Interessant wurde es erst am späten Abend, als er endlich allein im Kommissariat war und Romy eine Info von Buhl kurzerhand an ihn weiterleitete.

Die Techniker hatten unter anderem einen Schuh gesichert, der der Leiche zugeordnet werden könnte, so schätzte es Buhl jedenfalls ein– ein Freizeitschuh einer norwegischen Firma in Größe vierzig, der noch ganz gut erhalten war. Natürlich konnte man diese Schuhe überall auf der Welt kaufen. Allerdings stammte die Einlage von einem orthopädischen Fachbetrieb in Norwegen, wie der Stempel auf der Unterseite verriet, den Buhl bereits so bearbeitet hatte, dass er zumindest teilweise entzifferbar war.

Max rieb sich lächelnd die Hände. Na bitte. Eine Norwegerin, die vor ein, zwei Jahren in Stralsund und Umgebung unterwegs gewesen war. Das wäre zumindest eine Möglichkeit, die man in Betracht ziehen könnte. Dass der Schuh über hundert Ecken im Müll gelandet war und in keinerlei Zusammenhang mit der Frauenleiche stand, blieb natürlich die zweite denkbare Variante.

Max lockerte seine Schultern, holte sich einen frischen Tee und öffnete die nächste Fotodatei von Buhl, die Bilder von einem Schlüsselanhänger enthielt– ohne Schlüssel, dafür mit einem Aufdruck, der teilweise noch lesbar war. Max vergrößerte die Aufnahme und stutzte. Störtebeker. Der Artikel könnte aus einem Souvenirladen auf Rügen stammen. Alljährlich wurden Tausende solcher und ähnlicher Urlaubsandenken verkauft, die darüber hinaus natürlich auch online erhältlich waren.

Er lehnte sich zurück und trank einen winzigen Schluck. Dann beugte er sich wieder vor. Buhl hatte in einer Kurznotiz angemerkt, dass Schuh und Anhänger in unmittelbarer Nähe des Leichnams gefunden wurden und eine ähnlich lange Liegezeit denkbar wäre. Das musste nichts heißen, aber es konnte als Arbeitshypothese verwendet werden, die sich verifizieren ließ oder eben nicht. Ein wichtiger Ansatz wäre die zeitliche Datierung des Artikels.

Ein weiteres Foto zeigte die Rückseite des Anhängers, auf der eine Gravur zu erkennen war. Max stellte seine Tasse ab, als er die Inschrift entziffert hatte: Magolds Gästehaus. Er richtete sich wieder auf. Das war allerdings hochinteressant.

Der Kreis könnte sich schließen, überlegte er weiter. Die Norwegerin war auf Rügen unterwegs gewesen, hatte die Festspiele in Ralswiek besucht und bei Magold gewohnt, der natürlich auch Souvenirartikel an seine Gäste verkaufte oder verschenkte. Oder aber, Max stellte Zusammenhänge her, die sich bei näherer Betrachtung in Luft auflösen würden. Der Exkollege würde sich vielleicht an eine Norwegerin erinnern– wenn es sie denn tatsächlich gegeben hatte.

Merkwürdig mutete in dem Zusammenhang allerdings an, dass keine Vermisstenmeldung zu dieser Annahme passte, egal, in welcher Datenbank er unter welchen Gesichtspunkten suchte. Das konnte zum Beispiel bedeuten, dass die Schlussfolgerungen an den Haaren herbeigezogen waren oder niemand die Frau vermisst hatte oder dass die Suchanzeige, aus welchen Gründen auch immer, nicht erfasst worden war.

Max kaute einen Augenblick auf dem Gedanken herum, dann beschloss er, Magold und das Gästehaus erneut durchzuchecken und dabei diesmal den im Rahmen der Terrorwarnung verwendeten Abfragemodus außen vor zu lassen, um sich auf seine Weise auf die Suche nach Querverbindungen zu machen.

Um drei Uhr früh stieß er in der Vermisstendatenbank eines Blogs auf eine Verknüpfung, die seine gerade aufkommende Müdigkeit vertrieb. 1990 war die zwanzigjährige Frankfurter Studentin Luise Koch nach einem Urlaub auf Rügen verschwunden– sie hatte seinerzeit im Ralswieker Gästehaus Magold gewohnt. Das letzte Mal war sie bei ihrer Abfahrt am Bahnhof in Stralsund gesehen worden. Ein weiterführender Link zur BKA-Vermisstenstelle bestätigte den Vorgang. Rolf Magold persönlich hatte die junge Frau zum Zug gebracht, wie in der Fallbeschreibung vermerkt war.

Drei Jahre später beschäftigte die Polizei ein ähnlicher Fall, wie Max weiter recherchierte. 1993 verbrachte die Hamburgerin Birte Ahlberg, zweiundzwanzig Jahre alt, zwei Monate auf der Insel. Sie absolvierte ein Praktikum in Ralswiek, wo erstmals die Störtebeker Festspiele aufgeführt wurden. Auf dem Weg in den Urlaub, den sie Richtung Schweden antrat, verlor sich jede Spur von ihr. Auch sie wohnte im Gästehaus Magold. Ein Gastblogger wies darauf hin, dass die beiden Frauen sich gekannt hatten.

Romy war mit dem ersten Morgenlicht aufgestanden, das sich durch die Fensterläden stahl. Jan rührte sich nicht. Sie trank einen Espresso auf der Terrasse und ließ die klare Septemberstille des frühen Tages auf sich wirken. Der Garten war nach wie vor verwildert, und auch im Haus gab es viel mehr zu tun, deutlich mehr, als sie beide erwartet hatten. Sie lächelte, als sie sich an den Besuch von Jans Eltern vor einigen Wochen erinnerte und an die kritischen Blicke, mit denen die beiden sich umgesehen hatten.

Jan hatte nur amüsiert gelacht. »Das kriegen wir alles hin– ob heute oder in sechs Monaten ist doch völlig egal. Wir fühlen uns hier wohl«, hatte er gesagt.

Auch dafür liebe ich dich, dachte Romy. Sie bereute die Entscheidung für das alte Haus im Mönchgut nicht einen Augenblick. Bis zum Schafberg brauchte sie in flottem Tempo zu Fuß kaum eine Viertelstunde, von dort eröffnete sich ein eindrucksvoller Rundblick über Bodden- und Heidelandschaft, bis hinüber zum Festland und nach Usedom. Manchmal stand sie da oben und dachte an nichts, während sie den Duft der Insel einatmete, das Salz auf der Zunge schmeckte und ein sanfter oder auch rauer Wind über ihre Wangen strich.

Sobald sie an die unaufgeklärte Terrorwarnung dachte, beschlich sie ein ungutes Gefühl. Was sie nach wie vor zutiefst beunruhigte, war die schlichte Tatsache, dass die Bundesbehörden der Sache gar nicht nachgegangen wären–schon gar nicht in Form derart intensiver Recherchen vor Ort–, wenn sie nicht der eine oder andere Aspekt tatsächlich stutzig gemacht hätte. Dass die Mail als willkommene Möglichkeit genutzt worden war, den Ernstfall zu üben und auf diesem Weg zigtausend Daten zu erfassen, wie letztens ein Kollege aus Jans Team in spitzem Ton angemerkt hatte, schien ihr absurd. Aber das musste nichts heißen.

Vielleicht erfahren wir nie, was wirklich dahintersteckte und was womöglich die eine oder andere Dienststelle nach wie vor beschäftigte, überlegte sie und deckte den Tisch für ein kleines Frühstück.

Kurz darauf kam Jan die Treppe hinunter– verwuscheltes Haar, Schlafaugen, abwesender Blick. Er umarmte sie flüchtig und murmelte etwas, das nur mit sehr viel Phantasie nach einem leisen »guten Morgen« klang, bevor er ein Glas Saft leerte und unter die Dusche ging.

Romy hatte sich inzwischen fast daran gewöhnt, dass Jan morgens in der Regel eine gute halbe Stunde brauchte, bevor er in der Lage war, sich zu unterhalten oder auch nur den einen oder anderen belanglosen Satz zu äußern. Nun, zugegeben, manchmal war sie davon schlicht genervt oder auch verletzt, nach einer besonders schönen gemeinsamen Nacht zum Beispiel.

Ihr Smartphone unterbrach die Stille– Max. »Ja, Kollege? Was Besonderes?«

»Du klingst munter.«

»Meistens– so hoffe ich zumindest.«

»Ich habe dich also nicht geweckt?«

Romy seufzte. »Nein, Max. Was gibt’s?«

»Ich habe bei der Recherche zu der Deponieleiche ein paar merkwürdige und weitreichende Zusammenhänge entdeckt– sozusagen rein zufällig.«

»Zufällig?«

»Nun…«

»Hat das nicht Zeit, bis ich komme?«

»Doch, natürlich, aber vielleicht beeilst du dich ja, wenn ich schon mal andeute, worum es geht.«

Romy runzelte die Stirn. Max machte es gern mal ein bisschen spannend, aber das klang wichtig. »Ich höre.«

»Gut möglich, dass die Frau von der Deponie aus Norwegen stammt, in Ralswiek unterwegs und Gast im Hause Magold war.«

»Was?« Romy hielt sich das Telefon ans andere Ohr.

»Nun, wie gesagt, es wäre möglich. Es gibt ein paar Indizien, die sich unter Umständen in diese Richtung verifizieren lassen, falls wir uns entscheiden, ihnen nachzugehen. Spruchreif ist da noch gar nichts.«

»Das wäre ein verdammt merkwürdiger Zufall.«

»Finde ich auch, aber die Details dazu später, wenn es dir recht ist. Das ist nämlich längst noch nicht alles.«

»Ach du liebe Güte.«

»Ich habe mich ein bisschen auf die Suche gemacht und bin außerdem noch auf zwei vermisste junge Frauen aus Anfang der neunziger Jahre gestoßen, die ebenfalls in Ralswiek waren– zu unterschiedlichen Zeiten, aber die beiden kannten sich. Klingt ziemlich schräg, wenn du mich fragst.«

Romy schwieg einen Moment verblüfft. Schräg traf es ziemlich gut. »Ich mache mich gleich auf den Weg.«

»Das dachte ich mir. Kasper ist schon unterwegs.« Er gähnte herzhaft. »Bis gleich.«

Romy traf eine Dreiviertelstunde später in Bergen ein. Sie erfasste mit einem Blick, dass Max in der Nacht kein Auge zugemacht hatte. Wenn er sich in ein Thema vertiefte, war ihm die Uhrzeit völlig egal– und auch die Anweisung seinerVorgesetzten, Pausen einzulegen, kümmerte ihn dann nicht.

Kasper hatte sich bereits in Max’ Ergebnisse vertieft und sah mit grüblerischer Miene hoch, als Romy sich zu ihm setzte.

»Woher kannten sich die beiden Frauen?«, stieg sie sofort ins Thema ein.

»Über ein Austauschprogramm ihrer Universitäten«, entgegnete Max. »Die haben für ein Semester einfach mal getauscht.«

»Welcher Studiengang?«

»Theaterwissenschaft.«

»Und es gibt nach über zwanzig Jahren keine einzige Spur?«

Max schüttelte den Kopf. »Wie so oft.«

Romy fuhr sich durch die Locken. »Hast du eigentlich deine Ergebnisse zu der Deponieleiche nach Stralsund…«

»Ich habe natürlich, wie immer, alles weitergeleitet«, fiel Max ihr ungeduldig ins Wort. »Das tue ich selbstverständlich immer. Außerdem habe ich ein paar Informationen zur Familie Magold zusammengestellt– die bislang niemanden interessierten. Kann nicht schaden, finde ich.«

Romy nickte. »Fahr nach Hause und leg dich hin.«

»Mach ich. Bis später.«

Max, ursprünglich von der PI in Stralsund nach Bergen ausgeliehen, gehörte vom ersten Einsatz an zum Team und war inzwischen aus der Hansestadt auf die Insel gezogen. Romy war sicher, dass er nach einigen Stunden Schlaf wieder auf der Matte stehen würde. Sie hörte, dass Fine nebenan mit ihrer raumfüllenden Stimme telefonierte und dennoch Zeit fand, Max ein lautes »Schlaf gut« hinterherzuschmettern.

Romy blendete die Hintergrundgeräusche aus und vertiefte sich in die Zusammenstellung, die er vorbereitet hatte. Auf den ersten Blick offenbarte der biographische Hintergrund der Familie, mit der sie sich ja nicht zum ersten Mal befassten, keine neuen Aspekte, geschweige denn Überraschungen. Rolf Magolds Sohn Jonathan war Ende zwanzig und arbeitete als Verwaltungsangestellter in Neubrandenburg. Tochter Charlotte war Mitte dreißig und selbst seit neunzehn Jahren Mutter eines Sohnes, den sie demnach im zarten Alter von sechzehn zur Welt gebracht hatte– Vater unbekannt. Sie wechselte häufig die Arbeitsstellen, unstet, wie Max angemerkt hatte. Sohn Kostja hatte gerade sein Abitur gemacht. Detailliertere Informationen zu den beiden lagen noch nicht vor.

»Wie gehen wir vor?«, fragte Kasper schließlich.

»Auch wenn noch keine gesicherten Erkenntnisse vorliegen, könnten wir Magold fragen, ob er sich an einen weiblichen Gast aus Norwegen erinnerte und das Gespräch im weiteren Verlauf auf die Vermissten ausdehnen. Mal sehen, wie er reagiert.«

»Gut.« Er kratzte sich im Nacken. »Das ist wirklich eine komische Geschichte«, brummelte er.

»Kannst du laut sagen. Kennst du eigentlich Kollegen aus Neubrandenburg, die was zu Magold sagen könnten?«

»Muss ich mal drüber nachdenken.«

»Tu das.«

Die Enge in der Brust. Sie war immer das erste Anzeichen. So wie Schwüle und Donnergrollen ein heftiges Inselgewitter ankündigten. Manchmal ließ sie sich wegatmen, aber meistens war sie die Vorstufe, der dann das Herzrasen, Schweißausbrüche und der schier unbeherrschbare Gefühlsansturm folgten– wie ein Ritual. Einmal in Gang gesetzt, musste er es aushalten, minutenlang. Eine andere Möglichkeit gab es nicht. Eine Minute war so lang, als würde man Zeit durchs Stundenglas pressen wollen.

In der Therapie sagten sie ihm immer wieder, dass er sich früher oder später seinen Dämonen stellen musste– nur so ließen sie sich überwinden. Früher oder später. Kostja litt seit frühester Kindheit unter diffusen Ängsten, mal mehr, mal weniger, mal kaum auszuhalten. Es gab Zeiten, in denen er sich so hilflos und nackt fühlte, dass er sein Zimmer nicht verließ und sich dort in die Stille eines einzigen Gedankens verkroch, an dem er sich entlanghangelte, solange die Angst wütete. Mit zehn, zwölf war das ein Drama gewesen, weil Charlotte nichts verstanden hatte, sondern ihn als Faulenzer, Simulant und Spinner bezeichnet hatte. Charlotte war seine Mutter. Sie wollte nicht, dass er sie so nannte.

Irgendwann war Kostja in der Schule zusammengebrochen, und das war letztlich ein großes Glück gewesen. Er war in die Klinik gekommen, ein junger Arzt hatte sehr genau hingesehen und ihn an eine Psychologin überwiesen. Inzwischen lebte er in einer betreuten Wohngemeinschaft mit anderen jungen Leuten, die ähnliche Probleme hatten, und er fühlte sich sicher, meistens jedenfalls, beschützt. Es machte die Angst nicht kleiner, aber erträglicher, weil er nichts erklären musste. Weil die anderen wussten, was mit ihm passierte, weil ein Therapeut zur Stelle war, wenn er es nicht allein bewältigen konnte. Manchmal, wenn die Angst ein Gesicht annahm und ihre eigene Geschichte zu erzählen begann, nahm er Medikamente und erstickte sie im Vergessen. Und es gab Zeiten, da fühlte er sich wie jeder andere junge Mann mit neunzehn, der gerade das Abitur geschafft hatte: fröhlich, unbeschwert, optimistisch, tausend Träume und Pläne im Kopf. Jung und frei.

Er hatte die Prüfungen gerade so mit Ach und Krach bestanden, aber angesichts seiner Störung konnte diese Leistung gar nicht hoch genug bewertet werden– sagte der Therapeut, sagten die anderen in der WG. Charlotte hatte die Nase gerümpft, aber das tat sie so oft, dass es keine Rolle spielte. Außerdem sahen sie sich selten. Kostja fuhr einmal im Jahr zu ihr, zu ihrem Geburtstag, und das auch nur, falls sie Wert darauf legte.

Wenn er sich stabil fühlte, machte er sich auf den Weg nach Rügen und verbrachte Zeit beim Großvater in Ralswiek am Bodden. Dort ging es ihm meistens gut. »Der Bodden hat etwas Heilendes, das dich beschützt, wie ein Zauber«, so behauptete der Alte. Worte, die auf den ersten Blick seltsam aus seinem Mund klangen, unpassend für diesen großen wuchtigen Expolizisten, der immer etwas zu tun hatte und unverletzbar schien. Er wollte, dass man ihn so sah, ahnte Kostja: stark, zuverlässig, unbeirrbar in seinem Tun. Vor fünfzehn Jahren hatte ihn ein Bankräuber umgepustet.

Die größte Hürde war immer die Fahrt mit der Bahn