Der Aufseher - Matt Brolly - E-Book
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Der Aufseher E-Book

Matt Brolly

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Beschreibung

Es sind sechs Jahre vergangen, seit Spezialagent Samuel Lynch das FBI verlassen hat, nachdem sein Sohn Daniel verschwunden ist. Lynch glaubt, dass eine Untergrundorganisation, bekannt als The Railroad, verantwortlich ist und hat nie aufgehört zu suchen. Als Spezialagentin Sandra Rose einen fehlgeschlagenen Hausüberfall untersucht, entdeckt sie, dass der Angreifer das legendäre und berüchtigte Railroad-Tattoo auf seinem Rücken eingeritzt hat und behauptet, den Aufenthaltsort von Daniel zu kennen. Rose zieht Lynch in ihren Fall hinein, und gemeinsam werden sie in eine unvergleichliche Welt der Gewalt und des Bösen verstrickt. Es scheint, dass Lynch, um seinen Sohn wiederzusehen, seine größte Angst konfrontieren und die ultimative Prüfung bestehen muss: eine Begegnung mit dem rätselhaften und tödlichen Anführer der Railroad, Der Aufseher

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Ähnliche


Für Beth and Warren Eardley

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Kapitel 63

Kapitel 64

Kapitel 65

Kapitel 66

Epilog

Danksagungen

1

Das Pochen kam mitten in der Nacht. Es dauerte ein paar Minuten, bis er das unaufhör liche rhythmische Klopfen von Steinen auf Holz als das Geräusch eines über die Gleise ratternden Zuges wahrnahm. Als Samuel Lynch die Augen öffnete, überkam ihn dasselbe kribbelnde Gefühl, das er jeden Morgen verspürte, nämlich irgendwo anders zu sein, irgendjemand ganz anderes zu sein; und dann erkannte er das Durchein ander von vergangenem Abend und die Wirklichkeit kehrte mit einer heftigen Übelkeit zurück. Er fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen und setzte sich im Bett auf. Das Geräusch des Klopfens wurde durch ein ähnliches Geräusch in seinem Kopf ersetzt, begleitet von kurzen, abgehackten Schmerzstichen. Auf dem Nachttisch kämpften fünf leere Bierflaschen um einen Platz inmitten eines Stapels ungeöff neter Papiere. Er trank nie mehr als fünf, aber trotzdem litt er jeden Morgen unter diesen heftigen Kopfschmerzen.

„Mr. Lynch?“ Es hämmerte weiter an der Tür. Lynch konnte sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal Besuch gehabt hatte, und niemand, nicht einmal seine Ex-Frau, kannte seine Adresse. Das hätte ihn eigentlich traurig stimmen müssen, aber seine Neugierde war zu groß. Seine Miete, einschließlich der Rechnungen bezahlte er in bar und er achtete penibel darauf, wie er das Gebäude betrat und verließ. Niemand sollte wissen, wo er sich aufhielt.

Er sprang aus dem Bett und schlich auf Zehenspitzen zum Kleiderschrank, wobei er den Papierbergen auf dem abgenutzten Teppich auswich. Dann zog er seinen Morgen mantel an und holte seine Glock 22 aus dem Regal. Er zog das Magazin heraus, untersuchte es und schob es wieder an seinen Platz.

Da ging das Hämmern wieder los. Dieselben vier Schläge, der gleiche Rhythmus, als ob er irgendwie verspottet würde, passten genau zum Takt seiner immer stärker werdenden Migräne. „Sir, hier ist Special Agent Lennox vom FBI. Ich muss mit Ihnen sprechen.“

Mit der Waffe in der Hand begab sich Lynch zu seinem Schreibtisch. Sein Laptop war unter Papierbögen vergraben. Er warf sie zu Boden und schaltete das Gerät ein, in der Hoffnung, dass die Webcam vor seiner Haustür noch aktiv war. Nachdem er einen Haufen schmutziger Wäsche vom Stuhl geräumt hatte, setzte er sich hin und warf einen Blick auf die riesigen Landkarten, die an der Wand über seinem Schreibtisch hingen.

Bumm, bumm, bumm-bumm. Bumm, bumm, bumm, bumm.

„Um Himmels willen, Lynch, machen Sie die verdammte Tür auf.“

Lynch warf erneut einen Blick auf seine Waffe, während er das Passwort für den Laptop eingab. Er war überrascht, dass die Webcam noch funktionierte, und noch überrasch ter, was sie zeigte. Vor seiner Wohnungstür standen drei Männer. Zwei von ihnen trugen schutzsichere Westen. Der dritte trug einen Anzug und wollte gerade wieder gegen die Tür schlagen, als er das Licht der Webcam bemerkte. Er hob seinen Blick und winkte in die Linse. „Mr. Lynch, bitte machen Sie auf.“

Lynch schnappte sich den Laptop und eilte an die Seite des Raumes, sodass er sich nicht länger auf Höhe der Eingangstür befand. „Ich möchte Ihre Ausweise sehen. Alle drei, direkt in die Kamera.“

Der Anzugträger seufzte, zog seine Karte heraus und hielt sie vor die Linse. „Halten Sie ruhig!“, rief Lynch und untersuchte den Ausweis von Special Agent Bill Lennox.

„Der Nächste.“

Agent William Benson. Agent Ralph Barnes. Wenn es Fälschungen waren, dann waren es gute Fälschungen.

„Würden Sie jetzt die Tür öffnen?“, fragte Lennox.

Lynch steckte die Waffe in die Tasche seines Morgen mantels und öffnete die Tür, bereit für unerwartete Bewegungen.

„Samuel Lynch. Mein Name ist Special Agent Bill Lennox. Darf ich reinkommen?“ Der Mann war in den Vier zigern. Er war von mittlerer Statur und etwas fülliger um den Bauch herum, als es gesund gewesen wäre.

Lynch öffnete die Tür. „Kommen Ihre Kumpels auch mit rein?“

„Wenn es Ihnen nichts ausmacht.“

Lynch hielt die Tür für die beiden Männer vom Sonder einsatzkommando auf. Beide Kerle waren maßlos überdi mensioniert. Mit seinen 1,90 Metern war Lynch deutlich größer als der Durchschnitt. Er trainierte täglich und war kräftig gebaut, aber im Vergleich zu den beiden muskelbepackten Männern war er ein Zwerg.

Lynch schloss die Tür, während sich die Männer an die Umgebung gewöhnten. Lennox warf einen Blick auf die Karten an Lynchs Wand, die Kerle vom Sondereinsatzkom mando besahen sich die Unordnung.

„Sind Sie bewaffnet?“, fragte Lennox.

„Sie?“

Lennox nickte. „Was für eine Heidenarbeit“, stellte er fest und deutete auf die größere Karte.

Die Karte hatte Lynch angefertigt. Sie war fünf Meter breit und zeigte das gesamte Netz der Eisenbahnverbin dungen in den USA. Daneben befand sich eine zwei Meter große Karte der noch betriebenen und stillgelegten Eisen bahnlinien in Texas. Jede Karte war mit Hunderten von farbigen Stecknadeln übersät.

„Was wollen Sie?“

„Können wir uns hinsetzen oder sollen wir das im Stehen erledigen?“

„Was meinen Sie?“

„Na gut. Haben Sie schon mal von einem gewissen Gregor Razinski gehört?“ Die beiden Jungs vom Sonderein satzkommando hatten aufgehört, sich das Durcheinander anzuschauen und musterten ihn.

„Nein.“

„Aber er scheint Sie zu kennen.“

„Wie schön für ihn, Lennox, nicht wahr? Aber ich habe keine Ahnung, wer das sein soll, also wenn Sie mir nicht sagen können, worum es hier geht, dann verziehen Sie sich doch bitte.“

Lennox musste grinsen, und Lynch war kurz davor, ihm diesen Gesichtsausdruck aus dem Leib zu prügeln, drei bewaffnete Agenten hin oder her. „Mr. Razinski ist derzeit in eine Angelegenheit in Asherton County verwickelt. Er hat eine vierköpfige Familie in ihrem Zuhause als Geisel genom men. Dabei hat er den Vater der Familie und einen Poli zisten ermordet.“

Lynch spürte, wie die Pizza von gestern Abend und das letzte der fünf Biere in seiner Kehle aufstiegen.

„Er weigert sich, mit irgendjemand anderem außer Ihnen zu sprechen“, fuhr Lennox fort.

Lynch kannte den Namen nicht. Er verfügte über ein nahezu unfehlbares Erinnerungsvermögen und obwohl er bei vergangenen Einsätzen Hunderten, wenn nicht Tausenden von Leuten begegnet war, war er sich sicher, dass er Razinski nicht kannte. „Nie von ihm gehört. Ich kenne diese Gegend überhaupt nicht“, erklärte er.

„Das wissen wir. Wir haben ein Team vor Ort. Sie sind soweit startklar, aber wir haben es für klug gehalten, uns zuerst mit Ihnen zu unterhalten. Um herauszufinden, ob Sie etwas Licht in die Sache bringen können.“

„Wer ist denn seine Geisel?“

„Er hat einen gewissen Edward Gunn getötet. Gunns Frau Eleanor und die beiden kleinen Kinder befinden sich in seiner Gewalt.“

Lynch schüttelte den Kopf. „Motiv?“

„Unklar. Wir können nichts über Razinski herausfinden. Zuerst müssen wir noch ein Bild von ihm bekommen.“

„Wann hat er meinen Namen erwähnt?“

Lennox verheimlichte offensichtlich etwas. „Aus dem Haus waren zwei Schüsse zu hören, bevor Razinski versucht hat, das Haus zu verlassen. Fünf Minuten zuvor hatte eines der Kinder der Gunns die Polizei angerufen und erklärt, dass ein Mann in das Haus eingebrochen wäre und den Rest der Familie als Geisel genommen hätte. Zwei Cops, die zu Fuß in der Nähe unterwegs waren, sind daraufhin zum Tatort gekommen und haben Razinski beim Verlassen des Hauses erwischt. Daraufhin eröffneten sie das Feuer. Razinski ist in das Haus zurückgewi chen und hat dabei einen der Polizisten niedergeschossen.“

Lynch nickte. „Und?“

„Verstärkung ist angerückt, und die haben schließlich Verbindung mit Razinski aufgenommen. Razinski hat den Mord an Mr. Gunn gestanden und den Leuten des Sheriffs mitgeteilt, dass er den Rest der Familie bei sich hat.“

„Das ist ja eine spannende Geschichte, Lennox, aber wann kommen wir endlich zu dem Teil, in dem es um mich geht?“

Lennox blickte die beiden Einsatzkräfte des Sonderein satzkommandos an. „Spucken Sie es einfach aus, Lennox.“

„Es scheint, dass Mr. Razinski sich geirrt haben muss. Er hat verlangt, mit Special Agent Samuel zu sprechen.“

Lynch nickte und verstand nun die verstohlenen Blicke zwischen den drei Männern.

„Das FBI aus San Antonio ist hinzugezogen worden. Offensichtlich hat man Ihre Akte eingesehen. Da in den Datenbanken kein Hinweis auf Razinski zu finden war, konnten wir ihn ohnehin nicht mit Ihnen in Verbindung bringen. Unsere Leute haben sich mit ihm unterhalten und versucht, ihn unter Druck zu setzen. Und schließlich hat er uns auch was verraten.“

Lennox tauschte noch einmal einen Blick mit den beiden Jungs vom Sondereinsatzkommando aus. Vor sieben Jahren hatte Lynch das SWAT-Team der Einsatzzentrale von San Antonio geleitet. Und nun behandelten ihn dieselben Männer, die er einst befehligt hatte, wie ein Opfer. Vor seinem geistigen Auge stellte er sich vor, wie er die Glock aus der Innentasche seines Morgenmantels zog. Er war sich sicher, dass er auch jetzt noch drei Schüsse abgeben würde können, bevor sie reagierten. Er verfügte über das Überraschungsmoment, und sie machten den Fehler, ihn zu unter schätzen.

Lennox kratzte sich am Kinn, das Geräusch seiner Fingernägel, die durch seine rauen Stoppeln fuhren, war im Raum zu hören, und er blickte erneut auf die Karten über Lynchs Schreibtisch.

Als er diese Bewegung wahrnahm und sich fragte, was das bedeuten könnte, durchfuhr Lynch ein Adrenalinstoß.

Lennox seufzte, bevor er das Wort ergriff. „Hören Sie, es fällt mir nicht leicht, das zu sagen, Mr. Lynch. Razinski hat behauptet, mit Ihnen sprechen zu wollen, weil er über Infor mationen verfügt, die von Interesse sein könnten.“

Lynch nickte und versuchte, seinen zunehmenden Puls schlag zu kontrollieren. „Es geht um Ihren Sohn. Razinski behauptet, dass er noch am Leben ist.“

2

„Wir haben ihn.“

Special Agent Sandra Rose nahm das Handy von ihrem Kollegen entgegen. „Lennox? Sprich.“

„Wir haben ihn gefunden.“

„Was weiß er?“

„Meiner Einschätzung nach, gar nichts. Er hat noch geschlafen, als wir bei ihm aufgekreuzt sind. Behauptet, er hat noch nie etwas von Razinski gehört.“

„Aber er hat sich bereit erklärt, uns zu helfen?“ Lennox hielt inne.

„Widerwillig, ja.“

Rose gab ihrem Kollegen das Handy zurück.

Ein Beamter der Polizei von Dimmit County, Captain Iain Haig, der neben ihr in dem Zivilfahrzeug saß, sah sie fragend an. „Gehen wir rein?“, fragte er.

„Ich spreche noch ein letztes Mal mit ihm, dann gehen meine Leute rein. Ich möchte, dass Ihre Männer zurück bleiben.“

Haig verzog die Lippen. „Wollen Sie ihnen das lieber selbst sagen?“

Haigs Akte war beeindruckend. Als ehemaliger Marine leitete er die Abteilung für strafrechtliche Ermittlungen in dem kleinen Bezirk. Rose war sich sicher, dass er mit der Situation hätte umgehen können. Aber Razinski hatte einen ehemaligen FBI-Agenten erwähnt, und Haig war so freund lich gewesen, sie einzuschalten. Und jetzt, wo sie hier war, lag die Verantwortung bei ihr.

„Hören Sie, Iain, ich kann ja verstehen, dass das eine unangenehme Situation für Sie ist, aber wir wollen doch beide das gleiche Ergebnis. Ihre Leute sind ganz scharf auf Vergeltung. Lassen Sie mich da reingehen und diesen Kerl schnappen. Für Gerechtigkeit für Ihren Officer sorgen.“

Haig hatte keine andere Wahl, es war jetzt ihre Opera tion. Der Captain schüttelte den Kopf, als ob sie einen Fehler machen würde, und stieg dann aus dem Wagen.

„Ich will mit Razinski sprechen“, rief Rose.

Sie war bereits seit vier Stunden am Tatort. Den Großteil davon hatte sie im hinteren Teil des Wagens verbracht, zusammen mit fünf anderen Mitarbeitern. Das bisschen Sauerstoff, das in dem engen Raum noch übrig war, stank nach billigem Parfüm, Schweiß und Nikotin. Einen Moment lang beneidete sie Haig, der den Rückzug antrat, um die frische Luft, die er nun genießen konnte.

Einer der Techniker, ein schweigsamer, fast einsilbiger Mann namens Charles McCarthy, reichte ihr ein Paar Kopf hörer. Roses Herzschlag beschleunigte sich, als sie den Klin gelton hörte.

Seit ihrer Ankunft hatte sie zweimal mit Razinski gespro chen. In den kurzen Gesprächen hatte sie keinerlei Anzei chen von Angst feststellen können. Er war ruhig und besonnen geblieben, obwohl er gerade einen Polizeibeamten ermordet hatte und praktisch von der gesamten Polizei des Bezirks und zwei Einsatzteams des FBI umzingelt war. Er hatte zugegeben, Edward Gunn ermordet zu haben, und ihr mitgeteilt, dass er Gunns Frau und die beiden kleinen Kinder, einen Jungen und ein Mädchen, als Geiseln hielt.

Das Klingeln verstummte. McCarthy hatte die Augen niedergeschlagen wie ein verstörter Schuljunge, ratlos und alleingelassen. Es dauerte eine Sekunde, bis sie sich daran erinnerte, dass er ihre Unterstützung brauchte und dass sie die Verantwortung trug.

„Ja?“ Razinski sprach das Wort mit einer fast komischen Betonung aus.

„Mr. Razinski, hier ist nochmals Special Agent Sandra Rose.“

„Das ist ja wirklich schade.“

Roses Hals errötete. „Ich habe eine gute Nachricht für Sie. Wir haben Special Agent Samuel Lynch ausfindig gemacht.“ Sie hatte beschlossen, Razinski noch nicht zu verraten, dass Lynch nicht mehr für das FBI arbeitete, obwohl sie vermutete, dass er das bereits wusste.

„Herzlichen Glückwunsch.“

„Er ist bereit, sich mit Ihnen zu unterhalten.“

„Ich freue mich schon auf sein Kommen.“

„Ich fürchte, so einfach ist das nicht, Mr. Razinski.“ Rose hasste diese Nachgiebigkeit. Wenn es nach Haig gegangen wäre, wäre das Haus schon vor Stunden gestürmt worden. „Lynch benötigt vier bis fünf Stunden, um hierherzukommen, und ich fürchte, so lange können wir nicht warten.“

„Wie bedauerlich, Agent Rose. Denken Sie daran, dass ich sehr wenig zu verlieren habe. Ich habe Ihr kleines Schweinchen ausgeweidet, und Mr. Gunn ist, wie soll ich sagen, im Moment völlig durch den Wind. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich in nächster Zeit jemals wieder in Freiheit sein werde.“

Die Andeutung war unmissverständlich. „Lassen Sie uns nicht überstürzen, Mr. Razinski. Wir kommen jetzt rein, holen uns die Familie, und ich begleite Sie persönlich zu Agent Lynch, sobald er eintrifft.“

Razinski schwieg. „Tut mir leid, Miss Rose. Es ist Miss, nehme ich an, aber nein.“

Das leise Geräusch von Razinskis Atmen verstummte. „Hören Sie, Razinski, wir kommen hier an einen entschei denden Punkt. Ich habe Lynch für Sie aufgespürt, ich habe mich an meinen Teil der Abmachung gehalten, jetzt halten Sie sich auch an den Ihren. Ich habe eine ganze Abteilung hier, die Sie liebend gerne aus dem Weg räumen würde. Sie würden für die Gelegenheit, Sie zu schnappen, sogar eine Kugel riskieren. Dies ist Ihre letzte Gelegenheit. Lassen Sie meine Leute reinkommen und Sie in Sicherheit bringen, und ich gebe Ihnen mein Wort, dass Sie unverletzt bleiben werden.“

In der Leitung wurde es still. McCarthy nickte und stellte fest, dass Razinski immer noch am Telefon war. Aber solange Razinski schwieg, konnte sie nicht weitersprechen.

„Also gut, Agent Rose, ich nehme Sie beim Wort“, antwortete er eine Ewigkeit später. „Ich langweile mich hier sowieso schon langsam zu Tode.“ Rose deutete auf Agent Glen Phelan, der das Sondereinsatzkommando leitete. Phelan stürzte aus dem Wagen und bellte seinem Team Befehle zu. „Mr. Razinski, meine Leute kommen jetzt ins Haus. Zu Ihrer Sicherheit sollten Sie sich auf den Boden legen. Verschränken Sie Ihre Hände über Ihrem Kopf. Könnten Sie das für mich tun?“

„Für Sie, Rose, meine Liebe, alles.“

„Wenn Sie sich aus dieser Haltung lösen, schalten meine Leute Sie aus.“

„Verstanden“, antwortete Razinski mit einem Lachen in der Stimme.

Phelan kehrte zum Wagen zurück, zusammen mit Haig. „Bereit“, rief Phelan.

Rose reichte Haig einen Ohrhörer, damit er die Rettungsaktion mitverfolgen konnte. „Iain, wir werden doch keinen Ärger mit Ihren Leuten bekommen?“

„Schaffen Sie den Mistkerl sofort weg, dann gibt es keinen Ärger.“

Rose nickte und Phelan verließ den Wagen.

Dieser Einsatz war einer der einfacheren, die Rose geleitet hatte. Phelan schickte vier Mitglieder des Sonder einsatzkommandos hinein. Sie brachen die Eingangstür der Gunns beim ersten Versuch auf und sicherten die untere Tür ohne Widerstand. Als sie die Treppe hochgingen, vernahm Rose einen kurzen Aufruhr, als der Trupp auf Razinski stieß. Dreißig Sekunden später hörte sie: „Person und Bereich gesichert“. Es folgte ein kurzes Schweigen, als Phelan den Raum betrat.

„Verdammter Mist“, murmelte er in sein Headset. „Ma’am, wir werden Sie hier oben brauchen.“

Rose nahm die leise, lang gezogene Stimme am anderen Ende der Leitung nicht als die von Phelan wahr. Sie hatte immer die Stärke des Mannes bewundert, besonders unter Zwang. Sein letzter Satz hatte so gar nicht nach ihm geklun gen. Wie Rose hatte auch Phelan in seiner Zeit als Agent im Feld unvorstellbare Dinge gesehen. Was hatte er bloß gerade erblickt, das ihn so entsetzte?

Als sie aus dem Wagen stieg, brach die Hölle los. Gefes selt und von zwei Mitgliedern des Sondereinsatzkom mandos gesichert, wurde Razinski in einen wartenden Lieferwagen geführt, als einer von Haigs Leuten angriff. Ein beleibter Mann in einem karierten Hemd, einer von Haigs Deputys, überraschte Rose mit einer blitzschnellen Bewe gung, die dazu führte, dass seine Faust direkt in Razinskis Kiefer landete. Die Agenten nahmen den Schlag hin. Razinski hatte den Kollegen dieses Mannes ermordet, und ein Faustschlag war das Mindeste, was sie ihm zugestehen konnten. Doch als Razinski dann zu lachen anfing, sahen sie sich gezwungen, einzugreifen.

Das Gesicht des Karohemds nahm einen gefährlichen violetten Farbton an, als er sich wieder auf Razinski stürzte. Zwei seiner Kollegen hatten das Geschehen bereits erreicht und versuchten, Razinski dem Sondereinsatzkommando zu entreißen.

Rose zückte ihre Waffe. „Was zum Teufel ist hier los?“, rief sie.

Da stellten die Polizisten ihren Angriff ein. Karohemd funkelte sie an, als ob sie irgendwie schuld daran wäre. „Sie wissen doch, was er getan hat“, rief er.

„Lassen Sie uns das Ganze regeln. Er bekommt schon, was er verdient.“ Rose milderte ihre Stimme, ließ aber eine gewisse Schärfe in ihr, damit die Beamten sich keine falschen Vorstellungen darüber machten, wer das Sagen hatte. Da stieg Captain Haig aus dem Wagen. Ein Blick und seine Leute zerstreuten sich.

Razinski grinste, als die Männer den Rückzug antraten.

Rose schwieg, als Razinski gefesselt und in Begleitung eines ihrer Mitarbeiter in den hinteren Teil des abgesi cherten Wagens verfrachtet wurde. Als sie sich umdrehte, sah sie das aschfahle Gesicht von Phelan, der sie von der Vordertür des Hauses aus anstarrte. Sie trat zu ihm hin und nickte ihm zu, um sich zu vergewissern, dass es ihm gut ging. „Versiegeln Sie diesen Eingang“, wies sie einen von Haigs Deputys an. „Niemand darf das Haus betreten, bevor er nicht meine Erlaubnis hat.“

„Machen Sie sich bereit“, warnte Phelan und begleitete sie ins Haus.

Sie ahnte es sofort. Sie hatte in ihrer Zeit Hunderte von Tatorten besucht und es war immer dasselbe. Stille durch drang das Haus, ein Gefühl, dass sich etwas unwiderruflich verändert hatte. Ihr Magen krampfte sich zusammen, ein flaues Gefühl machte sich in ihrer Brust breit.

„Das Elternschlafzimmer“, sagte Phelan.

Sie versuchte, den Fotos, die die Wände neben der Treppe schmückten, keine Beachtung zu schenken. Dabei erhaschte sie einen Blick auf stilisierte Fotos, einzelne Porträts von jedem Familienmitglied und ein größeres Bild der Familie zusammen. Ihre Augen waren wie gebannt auf das Bild der kleinen Tochter gerichtet, die in die Kamera lächelte, als könne ihr nichts widerfahren.

Der Geruch führte sie in das Schlafzimmer. Ein Mitglied des Sondereinsatzkommandos bewachte die Tür. Er trat zur Seite, ohne ihr in die Augen zu sehen. Rose hielt den Atem an und betrat den Tatort.

Durch Phelans Reaktion wusste sie bereits, dass die ganze Familie abgeschlachtet worden war, aber sie war nicht auf das vorbereitet gewesen, was sie dort zu Gesicht bekam.

Sie nahm die ganze Szene mit einem Blick auf. Die Mutter und die Kinder waren aufgereiht auf Stühlen gefes selt. Sie waren alle geknebelt und ihre Hälse waren aufge schlitzt. Auf einem vierten Stuhl gegenüber saß die enthauptete Leiche ihres Vaters, dessen Kopf wie bei einer widerwärtigen Halloween-Puppe zwischen seinen Beinen steckte.

Rose brauchte die ERTU, das Spurensicherungsteam des FBI, nicht, um die Leichen zu untersuchen. Sie wusste, dass die Familie Zeuge der Enthauptung gewesen war, bevor sie getötet wurde. „Also gut, schicken Sie ERTU rein“, wies sie den Beamten an.

Sie folgte Phelan die Treppe hinunter und versuchte, sich dabei nicht zu überstürzen. Die frische Luft traf sie wie eine Ohrfeige. Sie brauchte ein paar Sekunden, um sich zu beruhigen und setzte dann ihre Arbeit fort.

„Alle?“, fragte Haig niedergeschlagen.

Rose nickte. „Ich schätze, er hat sie getötet, bevor er das letzte Mal versucht hat abzuhauen.“ Sie hatte Razinski ersucht, die Mutter mit ihnen sprechen zu lassen, aber er hatte sich geweigert. Rose konnte ein Schaudern nicht unterdrücken, als sie daran dachte, dass die Familie gezwungen war, die Enthauptung des Vaters mitanzusehen. Was das mit ihnen angestellt haben muss, wie lange sie mit diesem Bild vor Augen in Angst dagesessen und auf ihr Schicksal gewartet haben mussten.

Inzwischen war die ERTU eingetroffen und wurde von Phelan gebrieft. „Ich möchte bei allen Verhören mit Razinski anwesend sein“, forderte Haig. Er hatte eine überwältigende Ausstrahlung, und Rose spürte die natürliche Autorität des Mannes. In Anbetracht der Ereignisse war er überaus besonnen gewesen und sie konnte nachvollziehen, dass seine Leute ihm bedingungslos folgen würden.

„Sie können mich ins Büro begleiten. Ich tue alles, was ich kann.“

Da trat Trevor Khatri, ein Mitglied des Sondereinsatz kommandos, zu ihnen. „Entschuldigen Sie, Ma’am, wir haben etwas entdeckt, das Sie vielleicht sehen möchten.“

Haig begleitete sie zum Wagen. Khatri öffnete die hinteren Türen. Razinski saß auf der rechten Seite. Seine Arme und Beine waren an eine Stahlstange gekettet, die über die gesamte Länge des Wagens verlief. Ihm gegenüber saß ein zweiter Mitarbeiter des Sondereinsatzkommandos. „Beugen Sie sich vor“, befahl Khatri.

Razinski grinste, bewegte sich aber nicht. Khatri sah Rose an und sie nickte. Dann legte Khatri seinen Unterarm in Razinskis Nacken und schob ihn nach vorne. Razinski wehrte sich nicht, sein Grinsen blieb unverändert in seinem Gesicht.

Khatri zog das Hemd des Mannes hoch und enthüllte eine primitive Darstellung auf Razinskis Rücken. Es war halb Tattoo, halb Narbengewebe. Das Bild sah aus wie eine Leiter oder ein Eisenbahngleis. Zwei parallele senkrechte Linien waren auf Razinskis Rücken vom Hals bis zur Taille eingeritzt worden. Rose zählte die horizontalen Linien, die die beiden Linien verbanden. Die Linien waren keilförmig und blau eingefärbt. Rose zählte achtzehn von ihnen.

„Was soll das Ganze?“, fragte Haig.

„Ein Mythos“, antwortete Rose.

3

Lynch war an Fehlstarts und leere Spuren gewöhnt. Das hatte ihn während seiner Zeit als Agent oft heimgesucht und war seitdem nur noch schlimmer geworden. Er hatte die Hoffnung, dass sein Sohn noch am Leben war, nie ganz aufgegeben und das würde er auch bis zu seinem Tod oder dem Tag, an dem er seinen Sohn wiedersehen würde, nicht tun. Aber er konnte es nicht ändern. Es war eine Art Hoffnung. Nichts von dem, was Lennox ihm mitgeteilt hatte, änderte etwas an der Tatsache, dass es sich dabei um eine sehr schwache Spur handelte. Der Geiselnehmer, Razinski, hatte sowohl seinen Namen als auch den seines Sohnes erwähnt. Er hatte der zuständigen Agentin verkündet, dass Daniel Lynch noch am Leben sei.

Hoffnung.

Lennox ließ ihn allein, um die Agenten am Tatort anzu rufen. Die beiden Beamten des Sondereinsatzkommandos sahen zur Seite. Als seine Atmung wieder halbwegs normal war, schnappte sich Lynch seinen Laptop. Er lud eine Soft ware hoch und gab Razinskis Angaben ein. Die Suchergeb nisse enthielten nichts.

„Razinski hat sich ergeben. Man hat ihn in Gewahrsam“, meinte Lennox und legte auf.

Lynch klappte den Laptop zu. „Und die Familie?“

Lennox schüttelte den Kopf.

„Ich ziehe mich mal um.“

Nachdem er geduscht hatte, holte Lynch einen gepackten Koffer aus dem unteren Teil seines Kleiderschranks. Er zog die drei gefälschten Pässe, fünf Dollar bündel und zwei Handfeuerwaffen heraus und legte sie in seinen Safe. Dabei starrte er auf sein Handy und versuchte so gut es ging, nicht an seinen Sohn zu denken.

Daniel war vor sechs Jahren, im Alter von sieben Jahren, verschwunden. Einige Monate später hatte Lynch das FBI verlassen.

Er schnappte sich das Telefon und rief seine Ex-Frau Sally an.

„Hallo, Fremder“, meldete sie sich.

„Hallo.“ Auf Small Talk hatte er im Moment so gar keine Lust. „Hör mal, ich fahre für ein paar Tage weg.“

„Gut, danke für das Update.“ Sie klang verwundert, aber ihr Ton blieb sanft.

„Was?“, sagte Lynch.

„Nun, ich habe dich seit vier Monaten nicht mehr gese hen, Sam. Ich bin etwas verwundert, dass du mich über deine Pläne auf dem Laufenden hältst.“

Lynch umklammerte den Hörer. Alles, was er ihr sagen hatte wollen, ging in der Wut unter, die in ihm aufstieg.

„Was ist los, Sam?“

Er konnte ihr nicht von Daniel erzählen. Das Ganze war mit Sicherheit ein Schwindel. Dieser Razinski hatte sich bloß über den Fall informiert und ihn als Druckmittel benutzt. Nicht, dass Sally ihm wirklich zugehört hätte. Sie hatte die Hoffnung auf Daniel zwar noch nicht ganz aufge geben, aber sie hatte sich, wie sie selbst einmal gesagt hatte, damit abgefunden.

„Nicht der Rede wert“, erwiderte Lynch und stellte fest, dass er den Atem angehalten hatte. „Ich bin vielleicht eine Zeit lang nicht erreichbar, das ist alles.“

„Sam, du kannst jederzeit zu mir kommen. Das weißt du doch, oder?“

„Ich weiß“, antwortete Lynch und legte auf.

Anschließend öffnete Lynch einen zweiten Laptop auf dem Sideboard in seinem Schlafzimmer und lud einige Dokumente auf einen USB-Stick. Dann zögerte er und blickte unschlüssig auf eine Kommode in der hinteren Ecke des Zimmers. Er wusste nicht, wie lange er weg sein würde, wann er das nächste Mal in seine Wohnung zurückkehren würde. Seine Hände zitterten, als er die oberste Schublade öffnete und ein wollenes Kleidungsstück herauszog.

Es war kaum mehr als ein Lappen, ein Stück lebloses Mate rial. Daniel hatte es am Tag vor seinem Verschwinden getragen, ein unschuldiger Siebenjähriger, der nicht ahnte, wie sehr sich sein Leben für immer verändern würde. In den letzten sechs Jahren war kein Tag vergangen, an dem Lynch nicht auf den Pullover gestarrt hätte. Er hielt sich den Stoff vors Gesicht und atmete ihn ein, bevor er ihn in eine Reisetasche packte.

Unten warteten Lennox und seine Leute. Sie hatten es sich bequem gemacht und saßen um den Küchentisch herum, als ob sie auf eine Mahlzeit warteten. Lennox hielt ein Touchscreen-Tablet vor sich und betrachtete den Bild schirm mit intensiver Aufmerksamkeit.

„Angry Birds?“, fragte Lynch.

„Damit war ich vor Jahren fertig. Schauen Sie sich doch mal das hier an. Ein paar Bilder von diesem Razinski, die Sie interessieren könnten.“

Lennox reichte ihm das Tablet, seine Augen weiteten sich vor Erwartung. „Haben Sie schon herausbekommen, wer er wirklich ist?“, fragte Lynch und versuchte, nicht auf das zu reagieren, was er da auf dem Bildschirm sah.

Lynch wischte über das Bild auf dem Tablet und sah es sich genau an. Es war ein Eisenbahntattoo. Mit einer Machete in den Rücken des Mannes geritzt, gefärbt mit blauer Tätowiertinte. Zwei lange parallele Linien zogen sich über Razinskis Rücken, unterbrochen von einer Reihe waagerechter Linien, die die beiden Striche miteinander verbanden.

„Es sind achtzehn Schwellen, falls Sie das interessiert“, deutete Lennox auf die dünnen waagerechten Linien.

Lynch warf dem FBI-Agenten einen Blick zu. In den letzten sechs Jahren hatte er drei andere Leute mit ähnli chen Tätowierungen aufgespürt. Die Schwellen, die Verbin dungsstücke zwischen den Gleisen, sollten, soweit Lynch feststellen konnte, einen Mord versinnbildlichen. Von den drei Männern mit den gleichen Tätowierungen, die Lynch aufgespürt hatte, hatte einer sieben Schwellen, einer sieb zehn und der andere einundzwanzig gehabt. Alle drei hatten sich als Trittbrettfahrer erwiesen, die ein Gerücht, eine Großstadtlegende, nachgeahmt hatten. Unter Druck mussten die drei Männer schließlich einräumen, dass es sich bei den Tätowierungen um aufwendige Fälschungen gehandelt hatte, die von demselben Tätowierer angefertigt worden waren.

Daraufhin machte Lynch den Tätowierer ausfindig, einen älteren Mann namens Cooper. Cooper hatte Lynch erläutert, wie er die Tattoos der drei Männer angefertigt hatte, mit welchen Techniken er ihre Körper mit seinen barbarischen Praktiken geschändet hatte. Auch unter Zwang leugnete Cooper jede Verbindung zur Eisenbahn. Das Ganze sei ein Scherz gewesen, eine Bitte der drei Männer, die er gegen Geld erfüllt habe. Lynch machte dem Tätowierer klar, dass er sich nicht länger auf solche Vereinba rungen einlassen würde, und half ihm dabei, indem er ihm beide Hände zerschmetterte.

Lynch war an Fehlstarts gewöhnt, aber das Bild auf dem Display war völlig anders als diese drei Tätowierungen. Die gezackten Linien der Eisenbahnschienen und der Schwellen waren geradezu greifbar. Jede Schwelle war uneben, die entstehenden Striemen waren unterschiedlich groß. Das Ganze sah unzusammenhängend aus, als wäre die Arbeit über mehrere Jahre hinweg ausgeführt worden. Als hätte jemand ab und zu ein Messer in den Rücken des Mannes gesteckt.

„Glauben Sie, dass das hier das Original ist?“, fragte Lennox.

„Das hängt ganz davon ab, was genau das Original ist“, antwortete Lynch.

Lynch scrollte durch die Bilder auf dem Tablet, bis er zu Razinskis Gesicht kam.

„Erkennen Sie ihn?“, fragte Lennox.

Lynch schüttelte den Kopf, ohne den Blick von dem Bild von Razinski abzuwenden. Der Mann hatte ein schmales, hageres Gesicht. Seine Wangen waren stark eingefallen, die blauen Augen quollen aus ihren Höhlen. Die Hände des Mannes waren gefesselt, aber er lächelte in die Kamera, als ob er sich gerade auf einem Fotoshooting befände. „Den habe ich noch nie gesehen“, antwortete Lynch, ohne die Enttäuschung in seiner Stimme verbergen zu können.

„Nun, man nimmt das Ganze sehr ernst. Momentan wird er an einen sichern Ort verlegt. Er besteht immer noch darauf, mit Ihnen zu sprechen.“

„Worauf warten wir dann noch?“, fragte Lynch.

„Es handelt sich um einen sehr sicheren Ort, wenn Sie verstehen, was ich meine“, erklärte Lennox und holte eine Augenbinde aus seiner Gesäßtasche.

Sie warteten, bis er im hinteren Teil des Wagens saß, um ihm die Augen zu verbinden. Die Fenster waren verdunkelt. „Ist das denn wirklich nötig? Ich kann ohnehin nichts sehen.“

„Vorschrift“, sagte Lennox.

„Ach ja, die Vorschriften hatte ich völlig vergessen. Haben Sie zufällig ein Bierchen für die Reise?“

„Schön wär’s.“

Lynch verbrachte die ersten zehn Minuten damit, die Route des Lieferwagens in seinem Kopf nachzuvollziehen. Leider kannte der Fahrer diese Methode sehr gut. Er fuhr in gleichmäßigen Kreisen und schaffte es bald, ihn so zu verwirren, dass Lynch aufgab. Der sichere Ort hätte überall sein können. Sie hätten stundenlang fahren können, nur um dann bloß anderthalb Kilometer von seinem Haus zu landen.

Er versuchte zu schlafen, aber er war erst seit ein paar Stunden wach. Dann stellte er sich Razinski vor, sein hage res, lächelndes Gesicht, und dachte darüber nach, warum er nach ihm gefragt hatte. Selbst wenn es stimmte, was er sagte, dass sein Sohn lebte, hatte Razinski nichts davon, mit ihm zu sprechen.

Drei Stunden später hielt der Wagen an. „Warten Sie hier“, befahl Lennox und riss die Seitentür auf.

Lynch hielt den Atem an und lauschte. Das Ausbleiben von Verkehrsgeräuschen deutete darauf hin, dass sie sich an einem abgelegenen Ort befanden. Die frische Luft bot eine willkommene Abwechslung zu dem stickigen, klimatisierten Innenraum des Vans. Er hörte gedämpfte Worte zwischen Lennox und einem anderen Mann, der sich von seinen beiden Kollegen der Spezialeinheit unterschied. Lennox erhob seine Stimme und kehrte zum Wagen zurück. „Ich fürchte, ich muss mich von Ihnen verabschieden“, meinte Lennox. „Irgendwie haben wir keine Erlaubnis, weiterzufahren.“

„Das muss ja was wirklich Ernstes sein. Soll ich die Kopf bedeckung aufbehalten?“

„Nur noch einen Augenblick.“ Lennox ergriff seine Hand und schüttelte sie. „Viel Glück für die Zukunft“, sagte er.

„Danke.“

Lennox schob die Tür zu und der Wagen fuhr los. Zehn Minuten später spürte Lynch eine Veränderung des Drucks und eine Verdunkelung des Lichts. Sie waren unter der Erde. Lynch zog die Augenbinde ab, als der Wagen weiter nach unten fuhr. Die verdunkelten Fenster verhinderten jeden Blick nach draußen. „Ist es noch weit?“, fragte er den Fahrer.

„Nein.“

Dann fuhr der Wagen noch fünf Minuten lang im Kreis, bevor er zum Stehen kam.

4

Der Fahrer hielt an und öffnete die Tür des Wagens. „Bitte warten Sie hier, Sir“, bat er und ließ Lynch in der verhältnismäßigen Dunkelheit allein. Lynch war schon einmal an ähnlichen Orten gewe sen. Es sollte die geheimen Orte des FBI eigentlich gar nicht geben, aber er wusste von mindestens fünf solcher Einrich tungen im ganzen Land. Dafür brauchte man das höchste Sicherheitslevel und eine solche Freigabe hatte ihren Preis. Dies war auch einer der Gründe, warum er immer noch von seinen früheren Arbeitgebern überwacht wurde, und erklärte, wie sie ihn so schnell aufgespürt hatten.

Er konnte nicht sagen, ob er schon einmal hier gewesen war, da er keine Ahnung hatte, wo er sich gerade befand. Diese geheimen Orte waren alle gleich gestaltet. Es waren praktisch unterirdische Gefängnisse, mit einem Eingang und einem Ausgang. Die CIA nutzte solche Orte für mutmaßliche Terroristen und andere Sicherheitsbedrohun gen. Das FBI nutzte sie für Verhöre und behielt sie für Leute vor, die ein besonderes Risiko für die Öffentlichkeit darstellten.

Seine Anwesenheit dort deutete darauf hin, dass man Razinski ernst nahm. Außerdem war Lynch der führende Experte für die Organisation, die sich die Eisenbahn nennt, vor allem, weil das FBI bestritten hatte, irgendetwas über deren Existenz zu wissen.

Kurz nach Daniels Verschwinden waren Lynchs Nach forschungen über die Gruppe eingestellt worden. Ein externer Agent, Lawrence Balfour, war mit der Leitung von Lynchs Abteilung betraut worden, sodass Lynch seinen Posten aufgab, um seine eigenen Ermittlungen durch zuführen.

Da kehrte der Fahrer zurück. „Kommen Sie bitte mit, Sir“, bat er und bewegte sich auf einen kleinen Tunnelein gang zu, der von einer Reihe verblichener Neonlichter erhellt wurde.

Ein Hauch von Ammoniak schlug ihm entgegen, als er der schemenhaften Gestalt durch den sich verengenden Gang folgte. Der Fahrer bewegte sich mit militärischer Disziplin, und Lynch ertappte sich dabei, wie er mit dem Mann im Gleichschritt unterwegs war, bis er schließlich am Eingang zu einem zweiten Abschnitt der Geheimeinrich tung stehen blieb, einem höhlenartigen Bereich, der von starken Lichtstrahlen erhellt wurde. In der Mitte des Raumes befand sich eine Glaskuppel. In der Mitte der Kuppel saß mit verschränkten Armen und Beinen der Mann, von dem Lynch annahm, dass er Gregor Razinski war.

Ein paar Beamte kamen auf ihn zu, die Anzugträger wirkten vor dem Hintergrund des gläsernen Gefängnisses geradezu winzig. „Mr. Lynch“, begrüßte ihn einer der beiden, ein Mann in den frühen Fünfzigern mit einer Brille.

„Special Agent Balfour“, erkannte Lynch den Mann, der ihn in seiner Funktion beim FBI abgelöst hatte. Seit dem Weggang von Lynch war Balfour befördert worden. Er war jetzt ein ASAC, also ein stellvertretender leitender Agent, in der Außenstelle in San Antonio.

Balfour lächelte Lynch an und reichte ihm die Hand. „Danke, dass Sie sich bereit erklärt haben, uns zu helfen. Das kann nicht einfach für Sie gewesen sein.“

„Für Sie aber auch nicht“, antwortete Lynch und spielte damit auf die Tatsache an, dass sie damit anerkannten, dass es die Eisenbahn möglicherweise doch gab. Er schüttelte dem Mann die Hand und hielt dabei Augenkontakt.

„Das ist Special Agent Sandra Rose“, erklärte Balfour und warf einen Blick auf die Frau zu seiner Linken, während er sein geübtes Lächeln beibehielt.

„Samuel Lynch.“

Rose nickte. Sie war von schlanker, athletischer Statur, ein paar Zentimeter kleiner als Lynch. Ihr rotes Haar war zu einem Zopf gebunden. Ihr Gesicht war unleserlich. Kein Lächeln, aber auch kein Anzeichen von Feindseligkeit. „Ich habe die Operation geleitet, die zur Festnahme von Razinski geführt hat“, erklärte sie.

„Dabei hat er meinen Namen erwähnt?“

„Ja.“

„Was können Sie mir dazu berichten?“, fragte Lynch.

Rose ließ die Szene im Haus der Gunns noch einmal Revue passieren: der Tod des örtlichen Abgeordneten, die vermeintliche Geiselnahme, die zu dem Massaker an der gesamten Familie Gunn führte.

Lynch stellte sich die Szene bildlich vor und löste sich dann von der grausamen Wirklichkeit, indem er sie auf abstrakte Weise betrachtete, so, als ob es sich um eine Trai ningsübung gehandelt hätte und nicht um einen brutalen Mord. „War die Familie bereits tot, als Razinski meinen Namen erwähnt hat?“

Rose zögerte und zeigte zum ersten Mal einen Anflug von Gefühl. „Die ersten Untersuchungen deuten darauf hin.“ Sie seufzte. „Es hat ihm Spaß gemacht, mit uns zu spielen. Offensichtlich hatten wir keinen Grund zur Annahme, dass er bereits alle hingerichtet hatte, also haben wir abgewartet.“

Lynch spürte eine gewisse Abwehrhaltung in Roses Worten, die von Balfour aufgegriffen wurde, der nun von seinem linken auf seinen rechten Fuß trat. „Was meinen Sie denn, warum er mich erwähnt hat?“, fragte Lynch.

„Ich hatte eigentlich gehofft, dass Sie mir das sagen könnten“, erwiderte Rose und gewann ihre anfängliche Fassung zurück.

„Ich kenne ihn nicht“, meinte Lynch, ohne weiter darauf einzugehen.

„Er wusste über Sie und Ihren Sohn Bescheid“, erwi derte Balfour, immer noch lächelnd.

„Das ist öffentlich bekannt“, antwortete Lynch und rief sich die Zeitungsschlagzeilen ins Gedächtnis. Sohn von FBI-Agent vermisst. Daniels Gesicht hatte von der Titelseite gelächelt.

Balfour nickte und tauschte einen Blick mit Special Agent Rose aus. Lynch war klar, dass die beiden gerade darüber grübelten, wie er auf das Verschwinden seines Sohnes reagiert hatte. Über seine Besessenheit von der Organisation namens Eisenbahn und ihrem Anführer, einer Figur, die nur als der Aufseher bekannt ist. Wie diese Beses senheit bald außer Kontrolle geraten war, bis Lynch ein Jahrhundert voller Verbrechen aufgelistet hatte und sie dieser geheimnisvollen und – aus Sicht des FBI – erfun denen Gruppe zugeschrieben hatte. Wie Lynchs Arbeit immer aussichtsloser geworden war, bis seine Vorgesetzten keine andere Wahl hatten, als ihn zu entlassen und durch den Mann zu ersetzen, der nun vor ihm stand.

„Er bestand darauf, mit Ihnen sprechen zu wollen. Wie Sie wissen, behauptet er, nähere Angaben über den Aufent haltsort Ihres Sohnes zu besitzen“, erklärte Rose.

Bei der Erwähnung seines Sohnes schlug Lynch das Herz bis zum Hals. Er würde sich jetzt nicht von der Hoff nung treiben lassen. Er hielt den Gefangenen in der Glas kuppel, nur wenige Meter von ihm entfernt, für einen Betrüger und würde ihn auch als solchen behandeln, bis das Gegenteil bewiesen war. „Haben Sie denn nicht bedacht, dass er nur mit Ihnen spielen könnte? Dass er sein vermeint liches Wissen nutzt, um den Tatort lebendig verlassen zu können?“

Roses Gesichtsausdruck änderte sich nicht, als sie auf diesen Vorwurf reagierte, der eigentlich eine Anschuldigung war. „Wie ich schon gesagt habe, konnten wir nicht wissen, ob die Familie noch am Leben war oder nicht. Zu dem Zeit punkt war das die einzige vernünftige Verhandlungsmethode.“

„Sie haben ihn verhört?“, fragte Lynch.

Balfour kniff sich in die Nase und legte die Stirn in Falten. „Wir haben zumindest damit begonnen. Er behaup tet, sein Name ist Gregor Razinski und er ist ein Mitglied dieser sogenannten Organisation.“

„Der Eisenbahn“, drängte Lynch Balfour.

„Ja. Er hat sich allerdings geweigert, nähere Angaben über seine Beteiligung an der Gruppe oder über die Gruppe selbst zu machen.“ Balfour zögerte. „Hören Sie, Lynch, ich weiß, dass Sie in der Vergangenheit mit dieser Organisation zu tun hatten und ich weiß, was Razinski Ihnen in Aussicht stellt, aber soweit es das FBI betrifft, gibt es diese Eisenbahn nicht.“

„Das habe ich schon vor langer Zeit kapiert, Balfour.“

Balfour schwieg.

Razinskis Aussehen und seine Tätowierungen waren noch lange kein Beweis, dass es diese Eisenbahn wirklich gab, aber was bräuchten sie, um die Gruppe anzuerkennen? „Was halten Sie davon, Rose?“

„Ich weiß im Moment nicht genug über die Eisenbahn, um mir eine Meinung bilden zu können. Ich weiß nur, dass Razinski diese Familie ohne jede Gewissensbisse abge schlachtet hat. Er ist äußerst intelligent und raffiniert. Offen sichtlich hat er nicht damit gerechnet, geschnappt zu werden, und es ist durchaus möglich, dass er dieses Szenario mit Ihnen und der Eisenbahn als Absicherung geschaffen hat, falls er jemals in eine solche Situation geraten sollte. Abgesehen davon haben wir uns die Tätowierungen der Eisenbahn auf seinem Rücken genauer angesehen und soweit wir feststellen können, reichen die Spuren über mehrere Jahre zurück. Auf seinem Rücken befindet sich umfangreiches Narbengewebe. Wir vermuten, dass die letzten drei Markierungen vor weniger als einem Jahr in seinen Körper geritzt worden sind. Die erste Narbe sogar vor zehn bis fünfzehn Jahren.“

Lynch dachte über das Wort geritzt nach. Seinen Nach forschungen zufolge konnte nur ein Mitglied der Eisenbahn eine solche Markierung in einen Körper ritzen. Das Verfahren erforderte den Einsatz einer Machete. Es war brutal und gefährlich. „Was für ein toller Backup-Plan.“

„Möglicherweise gibt es dafür auch eine einfachere Erklärung“, antwortete Balfour.

Lynch betrachtete Balfour, sein kastanienbraunes Haar und sein leicht gebräuntes Gesicht, das Weiß seiner Zähne und sein falsches Lächeln, und fragte sich, wie viel Action der Mann jemals gesehen hatte. „Lassen Sie mich raten: Sie glauben, dass Razinski die Eisenbahn ist?“

„Das ergäbe mehr Sinn“, erwiderte Balfour, das Lächeln immer noch ungebrochen.

„Im Gegensatz wozu?“

„Im Gegensatz zu irgendeiner kriminellen Organisation, die Leute auf oder in der Nähe von Bahngleisen entführt, ohne dass man sie jemals wiedergesehen hätte.“ Balfour hielt inne und Lynch stellte einen Hauch von Stahl in seinen Augen fest. „Wir müssen in Betracht ziehen, dass Razinski im Laufe der Jahre diesen Mythos der Eisenbahn geschaffen hat, und dass …“

„Und dass er von meinem Sohn weiß, weil er derjenige ist, der ihn entführt hat?“

Zum ersten Mal, seit wir ihn getroffen haben, wirkte Balfour unruhig. „Das sollten wir zumindest in Erwägung ziehen“, meinte er.

Sie gingen auf die Glaskuppel zu, in der Razinski festge halten wurde. Das Glas war nur in eine Richtung hin durch lässig und Razinski konnte sie nicht sehen. Er saß ganz still da und starrte ins Leere. „Was wissen wir über die Familie Gunn?“, fragte Lynch und blickte durch das Glas in die Gefängniskuppel.

„Wir müssen noch eine Verbindung zwischen der Familie Gunn und Razinski aufdecken. Edward Gunn war Architekt, irgend so ein fancy Designer. Eleanor Gunn war Hausfrau“, erklärte Rose, während sie sich neben ihn schob. „Abgesehen davon konnten wir Razinski in keinem System aufspüren. Er wurde weder identifiziert noch taucht er in irgendeiner unserer Datenbanken auf. Höchstwahrschein lich benutzt er einen Decknamen.“

Lynch fuhr fort, den Mann in seinem Gefängnis zu mustern. Razinski wirkte gelassen, wie in Trance. Er wusste, dass er überwacht wurde und saß dennoch gedankenver loren allein in seinem Zimmer. Lynch wusste, was als Nächstes passieren würde, und das machte ihm Angst. Er dachte an Daniel. Sein letzter bekannter Aufenthaltsort lag an einem öffentlichen Weg neben einem Fernverkehrsgleis. Lynch konnte sich die Gegend so klar vorstellen, als hätte er den Ort gerade verlassen. Das braun gefärbte Spielfeld, das verrostete Metall der Schaukeln und der Riss im Wellblech des Zauns, der die Bahnstrecke vom Spielplatz trennte. Seit Daniels Verschwinden waren in einem Umkreis von fünf Kilometern um den Ort zwei weitere Kinder verschwunden. Vor Daniels Abgängigkeit waren siebzehn Kinder in einem Radius von siebeneinhalb Kilometern um den Ort herum verschollen, wobei jedes Verschwinden weniger als andert halb Kilometer von einem Gleis entfernt war. Balfour und Rose würden über Daniels Verschwinden sprechen wollen, und Lynch war sich nicht sicher, ob er die Energie dazu aufbringen konnte. Nur der Anblick von Razinski und die Möglichkeit, dass er über Daniels Schicksal Bescheid wusste, hielten ihn auf den Beinen.

„Holen wir uns etwas zu trinken“, schlug Rose vor, als hätte sie seine Gedanken gelesen.

Sie führte ihn in eine behelfsmäßige Kantine, in der auf einem langen Tisch Getränke und Essen ausgebreitet waren. Lynch schenkte sich eine Tasse öligen Kaffee ein und türmte seinen Teller mit dick geschnittenen Sandwiches auf, denn nach der langen Reise war sein Appetit wieder zurück gekehrt.

Sie saßen zu dritt da, Razinski immer noch durch eine Glaswand sichtbar. Lynch war sich des Geräusches seines Essens in der Stille des Raumes bewusst. Balfour und Rose nippten an ihren Getränken und warteten.

„Was wollen Sie denn nun wissen?“, fragte Lynch und schlürfte seinen Kaffee.

„Sie wissen, wo wir stehen“, antwortete Rose zögernd.

Lynch hob seine Hand, die Handfläche der Frau zuge wandt. „Sie brauchen mich nicht mit Samthandschuhen anzufassen. Ich verstehe den Ablauf und Ihr Misstrauen. Machen Sie einfach weiter.“

„Haben Sie jemals den Mann dort drüben getroffen, den Mann, den wir als Razinski kennen?“

Lynch verstand, dass sie die Fragen stellen mussten, dass sie sich wiederholen mussten, und er antwortete gerne. „Ich habe ihn nie getroffen, bin bei meinen Nachforschungen nie auf ihn gestoßen.“

Rose warf einen Blick auf Balfour. „Ihre Nachforschun gen, was können Sie uns darüber erzählen?“

Lynch lächelte. Balfour wusste von seinen Forschungen, hätte alles untersucht, was er damals nicht aus seinem Hauptquartier herausgeschmuggelt hatte. „Früher hat sich niemand für meine Recherchen interessiert“, antwortete er und betrachtete Balfour. Dies war nicht der richtige Zeit punkt, um sich kleinlich zu zeigen, aber er wollte seinen Standpunkt deutlich machen.

„Wäre jetzt nicht die ideale Gelegenheit, das richtigzustellen?“, wandte Rose ein, als spürte sie die Spannung zwischen den beiden Männern.

Lynch erinnerte sich an die Zeit vor sechs Jahren und die groben Zusammenhänge, die er hergestellt hatte, und wie diese Verbindungen im Laufe der Jahre stärker geworden waren. Im Nachhinein wurde ihm klar, dass er sich zu sehr in den Fall hineingesteigert hatte und dass er sich nach Daniels Verschwinden mehr Zeit für die Arbeit hätte nehmen sollen. Er trank seinen Kaffee aus und lehnte sich in seinem Stuhl zurück.

Während er Razinski aus dem Augenwinkel sah, blickte er zu Balfour und Rose. Er hatte keine Lust zu erzählen. „Ich habe Muster aufgedeckt, zunächst auf Ebene des Bundes staates, dann landesweit. Die Daten sind für jeden einseh bar. Ich bin sicher, Sie haben meine Berichte gelesen. Eine beträchtliche Anzahl von Kindern und Erwachsenen war landesweit in der Nähe von Bahngleisen verschwunden. Die Abweichung war so groß, dass wir darauf aufmerksam werden mussten.“ Er klang abwehrend, sogar bockig, aber es nagte noch immer noch an ihm, dass er vom FBI keine Unterstützung erhalten hatte.

„Sie hatten Zeit, daran zu arbeiten“, meinte Balfour, mehr Feststellung als Frage.

„Anfangs“, erwiderte Lynch und konnte das Grinsen auf seinem Gesicht nicht verbergen. „Allerdings wurde klar, dass das Projekt zu groß für ein kleines Team war.“

„Man hat Ihnen das Projekt entzogen?“, fragte Rose mit einem Hauch von Sanftheit in den Augen.

„Mir wurde gesagt, ich solle es auf Eis legen.“

„Aber das haben Sie nicht“, sagte Balfour.

„Ich bin nicht hier, um zu streiten. Wie sollte ich auch? Diese Familien wollten Antworten. Können Sie sich über haupt vorstellen, wie das ist? Der Verlust eines Kindes ist furchtbar, aber die Ungewissheit, die Gedanken, die mit dieser Unklarheit einhergehen, kann man sich kaum ausma len. Ich wollte diese Leute nicht im Stich lassen.“

Balfour und Rose antworteten eine Zeit lang nicht, denn sie wussten, dass Lynch aus persönlicher Erfahrung sprach. Dann war es Balfour, der das Schweigen zuerst brach. „Sie waren kurz vor einer Verhaftung, als Sie …“

„Gefeuert wurden?“, antwortete Lynch und konnte sein Grinsen nicht verbergen.

„Sie sind nicht gefeuert worden. Sie sind gegangen, als ich angekommen bin.“

„Ach ja, das hatte ich ganz vergessen. Ich hatte einen möglichen Aufenthaltsort eines Mannes ausfindig gemacht, der als der Aufseher bekannt ist, der Chef der Eisenbahn. Ich wollte meinen Informanten treffen und musste feststel len, dass er hingerichtet worden war.“

„Auf welche Art und Weise?“, fragte Rose.

„Professionell. Ein Schuss in die Brust, ein doppelter Treffer in die Stirn. Als meine Vorgesetzten herausgefunden haben, dass ich immer noch an dem Fall arbeite, haben sie mich beur laubt und wollten, dass ich über das Verschwinden meines Sohnes hinwegkomme. Darüber hinwegkomme“, wiederholte er und wandte sich dabei verächtlich an Balfour. „Sechs Monate später war ich raus. Und Mr. Balfour hier war drin.“

Special Agent Rose strich sich mit der Hand über die Nase und schenkte seiner Bemerkung über Balfour keine Beachtung. „Die Agenten, die Sie zu Hause abgeholt haben, haben einige Karten vorgefunden“, sagte sie.

„Ja.“

„Sie haben Ihre Arbeit fortgesetzt?“

„Ich halte das für ein schlecht gehütetes Geheimnis.“

„Und wie ist es Ihnen dabei ergangen, Mr. Lynch?“, fragte Balfour.

Lynch kniff die Lippen zusammen und stieß die Luft aus. Er hatte sich schon vor Jahren eine Meinung über Balfour gebildet und die war nicht gerade günstig. „Ich weiß, dass immer noch Leute vermisst werden. Das habe ich auch schon gemeldet, wie Sie ja wissen.“

Die drei saßen eine Zeit lang schweigend da. Lynch war klar, dass er beurteilt wurde. Man wollte herausfinden, ob er bei klarem Verstand war, um Razinski zu befragen. Deshalb hatte er sich während des Gesprächs so ruhig wie möglich verhalten, hatte seine Gefühle im Zaum gehalten, als er am liebsten um sich geschlagen hätte.

Rose hatte ihn noch nicht über den Tag befragt, an dem er angewiesen worden war, einen längeren Urlaub zu nehmen. Über die Anschuldigungen, die er über eine Vertuschung innerhalb der Abteilung gemacht hatte, Anschuldi gungen, die zum Teil an den Mann neben ihm gerichtet waren. Genau das hatte ihn letztendlich dazu gezwungen, zu gehen. Er hatte es in den Augen seiner Kollegen gesehen, die Mischung aus Mitleid und Abscheu darüber, dass er den Verstand verloren hatte. Dass das Verschwinden seines Sohnes an seinem Seelenheil gezehrt hatte, bis er schließ lich durchgedreht war.

Des Schweigens überdrüssig, ergriff Lynch das Wort. „Nachdem Sie mich den ganzen Weg hierher gebracht haben“, sagte er. „Können Sie mich genauso gut mit Razinski sprechen lassen.“

Balfour blickte ihn an. Lynch erwiderte den prüfenden Blick und sah eine Schwäche in Balfour. „Also gut, Lynch“, erwiderte Balfour. „Sie werden mit Special Agent Rose da reingehen. Beim ersten Anzeichen von irgendetwas Auffäl ligem sind Sie sofort wieder draußen. Ist das klar?“

Lynch warf einen Blick auf Rose, die unbeteiligt geblieben war. „Wie Kloßbrühe“, antwortete er.

5

Sie waren gerade im Begriff, die Sitzgruppe zu verlassen und zur Kuppel zu gehen, als ein Beamter sie unterbrach. „Sir, darf ich Sie kurz sprechen“, wandte sich der Mann im Anzug an Balfour.

„Warten Sie hier“, befahl Balfour, stand auf und beglei tete den Agenten auf die andere Seite des Raums.

„Wie lange kennen Sie Balfour schon?“, fragte Lynch, als Balfour außer Hörweite war.

Rose antwortete nicht sofort. Sie hielt seinem Blick stand und Lynch hatte wieder einmal das Gefühl, dass er von ihr analysiert wurde. Er versetzte sich in ihre Lage. Er konnte ja auch ein Verrückter sein, der nach dem Verschwinden seines Sohnes den Verstand verloren hatte. Aber so unwahr scheinlich sie Lynchs Vermutungen auch finden mochte, sie würde nicht bestreiten können, dass Razinski danach verlangt hatte, mit ihm zu sprechen. „Ich habe ihn bis heute noch nie gesehen“, antwortete Rose. „Scheint ganz nett zu sein“, fügte sie mit einem leichten Lächeln hinzu.

„Wussten Sie schon vorher von dieser Sache?“

„Was, von der Eisenbahn? Ich habe von diesem Mythos gehört, deshalb habe ich auch die Tätowierung auf Razinskis Rücken erkannt.“ Rose rutschte in ihrem Sitz hin und her und blickte zu Balfour hinüber, der in ein Gespräch mit dem Agenten vertieft war. „Wenn Sie mir die Frage gestatten, wie sind Ihre Nachforschungen in den letzten sechs Jahren vorangekommen?“

Es war eine harmlose Frage, und sie hatte sie ohne jede Vorverurteilung gestellt, also antwortete Lynch. „Die kurze Antwort lautet: Überhaupt nicht“, meinte er mit einem leisen Lachen.

„Die lange Antwort?“

„Dafür ist jetzt keine Zeit. Sagen wir einfach, dass jedes Mal, wenn ich kurz vor einem Durchbruch gestanden bin, etwas passiert ist.“

„Zum Beispiel?“

„Normalerweise verschwinden die Leute, mit denen ich mich näher unterhalten wollte“, erklärte Lynch.

Rose nickte. Er konnte nicht sagen, ob sie versuchte, einen Streit mit ihm zu vermeiden. Wahrscheinlicher war, dass sie ihr freundliches Gespräch als Verhörmethode nutzte. „Hatten Ihre Ermittlungen denn irgendwas mit der Familie Gunn zu tun?“

Lynch bemerkte, wie sich ihre Augen verengten, als sie den Nachnamen der niedergemetzelten Familie aussprach und fragte sich, wie schrecklich der Tatort wohl ausgesehen hatte. „Sie sind auf dem Holzweg, Special Agent Rose, wenn Sie glauben, ich hätte etwas mit dem zu tun, was dieser Familie zugestoßen ist.“

„Das habe ich nicht behauptet.“

Lynch hielt inne und fasste sich. „Nicht direkt, nein. Es würde mich aber interessieren, ihre Akten einzusehen. Nach dem, was ich gehört habe, klingt das nach einem miss glückten Einbruch. Es klingt nicht so, als ob Razinski ein besonderes Motiv hatte, die Familie anzugreifen.“

Rose wollte etwas erwidern, hielt aber inne, als Balfour zurückkam. Der Einsatzleiter wirkte gestresst. Er zupfte am Revers seines Jacketts und wippte von einem Fuß auf den anderen. „Also gut, Sie beide, lassen Sie es krachen“, meinte er, ohne eine weitere Erklärung abzugeben. „Ich beobachte Sie auf den Bildschirmen.“

Lynch folgte Rose zu dem gläsernen Gefängnis, in dem ein Schreibtisch und zwei Stühle aufgestellt waren. Bewaff nete Wachen umgaben den Eingang zur Kuppel und einer der riesigen Männer folgte ihnen in den gläsernen Bereich, als verfüge der Gefangene über die Fähigkeit zur Flucht wie Houdini.

Gregor Razinski zeigte keinerlei Regung, als sich die Seitentür der Glaskuppel öffnete. Rose betätigte einen Knopf an einer Seitenwand und der Stuhl, auf dem der Gefangene saß, drehte sich langsam, sodass Razinski ihnen zugewandt war. Razinski war gefesselt. Seine Hände und Beine waren in einem Metallgestell eingespannt und ein Stahlband war um seinen Hals geschlungen, sodass er seinen Kopf nicht bewegen konnte. Am Ende hielt der Stuhl inne, sodass Razinski ihnen gegenübersaß. Razinski blin zelte, bevor er abwechselnd mit ihnen Augenkontakt aufnahm und schließlich Lynch anschaute.

Razinski grinste und Lynch sah den Blick eines Mannes, der mit sich selbst im Reinen war. In seinem Blick lag nichts Menschliches und Lynch begriff, dass er in diesem Moment keine große Enthüllung machen würde. Razinski zeigte keinerlei Empathie. Er würde nicht bereuen, was er der Familie Gunn angetan hatte, und er würde auch keine Hilfe leisten, es sei denn, sie käme ihm zugute.

„Special Agent Lynch“, rief Razinski. Seine Stimme war rau, kehlig, als ob seine Kehle knochentrocken wäre. „Oder sollte ich Mr. Lynch sagen?“

„Da haben Sie mich nun erwischt“, antwortete Lynch.

Razinski versuchte zu lachen, aber das Geräusch, das aus seinem Mund kam, war eher ein Aufschrei. „Ich weiß alles über Sie, Lynch.“ Dann legte er den Kopf schief, soweit das in Anbetracht seiner Fesseln überhaupt möglich war. „Und auch über Ihren kleinen Jungen. Auch wenn er gar nicht mehr so klein ist.“

Vor Lynch verschwamm alles. Bei der Erwähnung seines Sohnes dröhnte weißes Rauschen in seinen Ohren und für eine Schrecksekunde meinte er, ohnmächtig zu werden. Er blinzelte, ähnlich wie Razinski zuvor, und dann wurde er wieder von der Gegenwart eingeholt. Er beruhigte sich und hoffte, dass er mit dieser Aktion nicht schon zu viel verraten hatte. In seinem Blickfeld nahm er Rose wahr, die ihn aufforderte, weiterzumachen. „Wollen wir jetzt mit den Spielchen aufhören, Mr. Razinski? Sie wissen offensichtlich, dass ich nicht mehr für das FBI arbeite. Warum haben Sie dann meine Anwesenheit hier verlangt?“

Razinski kniff die Augen zusammen, um Mitleid zu heucheln. „Armer Lynch. Wir haben Sie die ganze Zeit beobachtet, wissen Sie. Ihre mühsamen Versuche, uns aufzuspüren.“

„Sie geben also zu, dass Sie Teil einer größeren Organi sation sind“, warf Rose ein, als Lynch sich anspannte.

Razinski wandte den Blick nicht von Lynch ab. „Wir hätten Sie jederzeit ausschalten können“, erklärte er und weitete die Augen. „Aber wo wäre da der Spaß geblieben?“

Lynch erwiderte den Blick des Mannes. Er hatte sich oft gefragt, warum er nie ein Ziel für die Eisenbahn gewesen war, und vielleicht war dies die Antwort. „Letzte Möglich keit, Razinski. Man glaubt bereits, dass Sie bloß kostbare Zeit vergeuden. Rücken Sie endlich mit dem heraus, was Sie wollen. Erklären Sie mir, warum Sie die Familie Gunn getötet haben, oder ich bin hier raus.“

Eine Kälte überkam den gefangenen Mann. Sie breitete sich von seinen Augen aus. Seine Gesichtsmuskeln spannten sich an, die Sehnen an seinem Hals ragten wie Drähte heraus. „Die Familie Gunn“, begann er und holte tief Luft. „Eine bedauerliche Dummheit. Ein Versehen meinerseits. Ich entschuldige mich für die Brutalität, aber ich musste einfach schnell handeln.“ Zum ersten Mal erhob Razinski seine Stimme und richtete seine Aufmerksamkeit auf Rose.

„Wie lange hatten Sie Ihren Überfall auf die Familie Gunn geplant?“, fragte Rose.

„Ich bin nicht hier, um mich mit Ihnen zu unterhalten, Madam“, antwortete Razinski, atmete erneut tief ein und wandte seine Aufmerksamkeit wieder Lynch zu. „Mr. Lynch, wir mögen uns unter bedauerlichen Umständen begegnen, aber vielleicht ist das Ganze ja auch ein Glücksfall für Sie.“

„Verschwenden Sie keine Zeit, Razinski.“

„Schon gut, schon gut, Sie haben ja recht. Ich halte im übertragenen Sinne meine Hände hoch. Ich verfüge über die Informationen, die Sie brauchen. Ich kann Ihnen die Eisenbahn ausliefern. Den Aufseher. Sie haben ja keine Ahnung, worüber Sie da gestolpert sind. Ich kann Ihnen die Welt schenken, Lynch. So viele ungelöste Verbrechen, so viele Verbrechen, von denen Sie nicht einmal wussten, dass sie überhaupt stattgefunden haben. Und noch mehr als das, Mr. Lynch, kann ich Ihnen das geben, was Sie wirklich wollen. Ich kann Ihnen sagen, wo sich Ihr Sohn befindet.“

Lynch zügelte seine Atmung und weigerte sich, Razinski die Genugtuung zu verschaffen, ihn noch einmal in die Mangel zu nehmen. Trotzdem konnte er nicht umhin, an seinen Jungen zu denken. Er stellte sich Daniel immer so vor, wie er am letzten Tag ausgesehen hatte, als er ihn das letzte Mal zu Gesicht bekommen hatte. Die kurz geschnit tenen Haare, das grüne T-Shirt mit der aufgestickten Aufschrift 1967, die großen Augen und das breite Lächeln, mit dem er den Football durch den Garten geschleudert hatte. Am nächsten Tag war Lynch aufgebrochen, um einen Informanten zu befragen. Als er am Montagnachmittag zurückgekommen war, war Daniel verschwunden.

„Dann reden Sie“, befahl Lynch.

Razinski runzelte die Stirn, als ob Lynch sich schlichtweg dumm stellen würde. „Ach kommen Sie, Lynch, wofür halten Sie mich? Geben und nehmen und so weiter.“

„Was wollen Sie denn?“, fragte Lynch und verlor langsam die Geduld mit dem Mann.

„Ich will das, was mir rechtmäßig zusteht“, antwortete Razinski mit düsterer Stimme.

Lynch seufzte.

„Volle Immunität. Genehmigt und unterzeichnet vom Staatsanwalt und beglaubigt von einem Anwalt meiner Wahl.“

Hitze breitete sich auf Lynchs Gesicht aus. So ein lächer liches Ultimatum hatte er befürchtet, aber jetzt, wo er tatsächlich hier war und dieser Mann andeutete, Informa tionen über den Verbleib seines Sohnes zu haben, war das alles kaum zu ertragen.

Er wandte sich an Rose, die mit ihrem Stift auf den Schreibtisch tippte. „Kommt nicht infrage“, erklärte sie, ohne sich die Mühe zu machen, den Mann zu besänftigen.

„Nehmen Sie es oder lassen Sie es.“

Rose schien sich von Razinskis Entschlossenheit nicht beeindrucken zu lassen. „Razinski, Sie sind offensichtlich psychotisch, aber Sie sind nicht völlig ohne Verstand. Wir wissen beide, was Sie bei den Gunns angerichtet haben. Sie haben einen Mann enthauptet, seine Familie gezwungen, dabei zuzusehen, und sie dann kaltblütig ermordet, ohne einen Hauch von Reue. Außerdem haben Sie einen Poli zisten ermordet.“

Razinski grinste, als wolle er die Erinnerung auskosten. „Und?“

Lynch kämpfte gegen seinen steigenden Herzschlag an. Er war nur wenige Meter von Razinski entfernt und hätte ihn innerhalb von Sekunden erreichen können. In dieser Zeit konnte er erheblichen Schaden anrichten und er bezweifelte, dass es irgendjemand besonders eilig haben würde, ihn aufzuhalten. Alles, was ihn zurückhielt, war die Möglichkeit, dass Razinski die Wahrheit sagte und Antworten für ihn hatte.

Special Agent Sandra Rose schnappte sich ihren Stift und steckte ihn in die Vordertasche ihrer Jacke. „Wenn Sie die Sache nicht ernst nehmen können, Razinski, dann endet hier unser kleiner Besuch bei Ihnen. Wir bringen Sie zurück in den Knast und dann können Sie sehen, wie es Ihnen dort ergeht.“

„Würde ich nicht“, erwiderte Razinski.

„Was würden Sie nicht?“

„Ich würde mich nicht wehren. Ich wäre innerhalb von achtundvierzig Stunden erledigt.“ Er seufzte und schüttelte den Kopf, so weit er sich in den Fesseln bewegen konnte. „Ich fürchte, Sie begreifen nicht ganz, was für Informa tionen ich bereit bin, Ihnen zu geben.“

„Warum haben Sie nach mir gefragt?“, fragte Lynch.

„Ist das nicht offensichtlich, Mr. Lynch? Sie sind der Einzige, der daran glaubt, dass es uns gibt.“

Lynch zuckte mit den Schultern. „Das wird keinen Unterschied machen.