Der Date-Manager - Bianca Nias - E-Book

Der Date-Manager E-Book

Bianca Nias

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Beschreibung

Joss Baker hat Eventmanagement studiert und nutzt seine Gabe, Menschen zusammenzubringen, zum Aufbau einer Dating Agentur. Er ist der Date-Manager und auf schwule Paare spezialisiert. Dion Collister, sein neuester Kunde, sieht zwar zum Niederknien aus, doch einen passenden Partner zu finden stellt eine echte Herausforderung dar. Joss muss sein ganzes Können aufbieten, um den unnahbar wirkenden Wirtschaftsprüfer an den Mann zu bringen. Ein schwieriges Unterfangen, zumal Dion eine ungeheure Versuchung für Joss darstellt und plötzlich dessen eigenes Herz auf dem Spiel steht …

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Der Date-Manager

Ein Roman von Bianca Nias

Impressum

© dead soft verlag, Mettingen 2016

http://www.deadsoft.de

© the author

Cover: Irene Repp

http://daylinart.webnode.com

Bildrechte

© kiuikson – fotolia.com

© sasinparaksa – fotolia.com

1. Auflage

ISBN 978-3-96089-041-6

ISBN 978-3-96089-042-3 (epub)

Inhalt:

Joss Baker hat Eventmanagement studiert und nutzt seine Gabe, Menschen zusammenzubringen, zum Aufbau einer Dating Agentur. Er ist der Date-Manager und auf schwule Paare spezialisiert. Dion Collister, sein neuester Kunde, sieht zwar zum Niederknien aus, doch einen passenden Partner zu finden stellt eine echte Herausforderung dar. Joss muss sein ganzes Können aufbieten, um den unnahbar wirkenden Wirtschaftsprüfer an den Mann zu bringen.

Ein schwieriges Unterfangen, zumal Dion eine ungeheure Versuchung für Joss darstellt und plötzlich dessen eigenes Herz auf dem Spiel steht …

Widmung

Nichts Besseres kann der Künstler sich wünschen, als grobe Freunde und höfliche Feinde.

-Marie von Ebner-Eschenbach-

An der Entstehung dieses Buches haben einige sehr gute Freunde teilgehabt, mich mit Rat und Tat unterstützt oder mit ihrem Feedback motiviert, bei denen ich mich darauf verlassen kann, dass sie immer ehrlich zu mir sind. Ihr wisst gar nicht, wie dankbar ich dafür bin.

Für Susanne, die immer aufpasst, dass ich nicht zu scharf schieße

und für den Rest der Bande von

Kapitel 1

»Kevin?«

Ach, warum rief er ihn überhaupt. War wohl eher ein Reflex. Als ob ausgerechnet Kevin jetzt herbeieilen würde, um ihm zu helfen.

Mit einem Fuß hangelte Joss nach der Wohnungstür und gab ihr einen leichten Schubs, damit sie hinter ihm wieder ins Schloss fiel. Die überquellenden Einkaufstüten in beiden Armen versperrten ihm die Sicht und er tastete sich vorsichtig zur Küche hinüber, immer darauf bedacht, nicht über den Kater zu stolpern. Der strich ihm auch sofort schnurrend um die Beine. Wie üblich war Nemo der Einzige, der ihn um diese Uhrzeit begrüßte.

Zwölf Uhr mittags, wohlgemerkt. Joss hatte heute Morgen bereits eine Runde Joggen, ein leichtes Krafttraining im nahegelegenen Fitnessstudio und den Einkauf auf dem Wochenmarkt in der Stadt hinter sich gebracht, während sein Mitbewohner Kevin noch sabbernd in den Federn lag und selig schnarchte.

Er seufzte ergeben und stellte seine Einkäufe vorsichtig auf dem Küchentresen ab, bevor er in die Hocke ging und Nemo standesgemäß begrüßte.

»Hallo mein Süßer. Na, hast du schon wieder Hunger?«

Ihr schwarzweißes Fellbündel schnurrte laut und rieb den Kopf an seiner Hand. Dabei blinzelte er Joss zu, als würde er sagen wollen: Pfft, welche Frage. Her mit dem Fraß! Aber dalli!

Nemo hatte eigentlich immer Hunger. Dabei war der Kater mittlerweile eher ein wenig pummelig und Joss kontrollierte immer wieder besorgt sein Gewicht.

Stolze sechs Kilo brachte er auf die Waage, aber Kevin meinte, er habe einfach schwere Knochen. Trotzdem überfiel der Stubentiger Joss jeden Morgen direkt nach dem Aufstehen, als wäre er knapp vorm Verhungern. Dann lief er maunzend vor ihm her in die Küche, führte ihn zu seinem Napf und starrte entsetzt hinein, um ihn dann mit einem vorwurfsvollen Blick zu bedenken. Da, siehst du? Siehst du? Er ist LEER! Katastrophe! Mach was dagegen!

Joss füllte den Napf mit Trockenfutter, obwohl er wusste, dass Nemo eher auf etwas Schmackhafteres aus der Tüte wartete. Dementsprechend angewidert schaute dieser seinen menschlichen Dosenöffner auch an, setzte sich neben seine Futterschalen und maunzte beleidigt.

»Nein, mein Kleiner, das Frischfutter gibt es erst heute Abend wieder, solange musst du dich noch gedulden«, mahnte Joss ihn streng. »Friss das, das ist gut für deine Zähne!«

Demonstrativ kehrte Nemo ihm den Rücken und verließ hocherhobenen Hauptes die Küche. Gleich darauf hörte Joss ihn wie wild in seinem Katzenklo scharren. Wahrscheinlich war dies seine Retourkutsche. Dabei verteilte er nämlich die Katzenstreu durch die halbe Wohnung und Joss durfte den Staubsauger hervorkramen und wieder hinter ihm her saugen.

Sein zweiter Mitbewohner tauchte nun verpennt und noch völlig zerzaust in der Küchentür auf. Seine langen, straßenköterblonden Strähnen könnten auch mal wieder einen neuen Haarschnitt vertragen, bemerkte Joss am Rande, behielt den Gedanken aber gewohnheitsmäßig für sich. Grußlos schlurfte Kevin zum Kühlschrank hinüber, ohne ihn eines Blickes zu würdigen. Mit mechanisch wirkenden Bewegungen öffnete er die Tür, schaute mehrere Sekunden wie gebannt hinein und schloss sie dann wieder.

»Ich komme gerade erst vom Einkaufen«, erklärte Joss ungehalten, bevor Kevin auf die Idee kam, sich darüber zu beschweren, warum nichts Essbares dort zu finden war. Jetzt erst schien ihn sein Kumpel wahrzunehmen und drehte sich zu ihm um.

»Kaffee fertig?«, fragte Kevin schlicht und kratzte seinen wild wuchernden Bart. Mit der anderen Hand fuhr er ungeniert in seine schlabberige, karierte Boxershorts und rückte sein Teil zurecht. Das hellgrüne T-Shirt, das über seinem deutlichen Bauchansatz spannte, hatte mehrere rostrote Flecke im Brustbereich. Tomatensoße, vermutete Joss. Schließlich hatte er gestern Abend Spaghetti Napoli gekocht.

»Ich mache uns einen, wenn ich die Einkäufe weggeräumt habe«, erwiderte Joss mürrisch und sah einfach über Kevins schmuddelige Aufmachung hinweg. Er kannte ihn nicht anders.

Kevin Konradi, oder auch KeKo für seine Internetfreunde, war seit der Uni sein bester Freund. Eigentlich auch sein einziger Kumpel. Ein Computer-Nerd, wie er im Buche stand. Nein, Profi-Gamer und Youtuber, verbesserte Joss sich gedanklich. Seinen Lebensunterhalt verdiente Kevin als Webdesigner, aber mittlerweile folgten ihm auf Youtube fast 20.000 Leute, was wiederum eine ganz nette Geldquelle war.

Während Joss Eventmanagement studierte, hatte Kevin Informatik belegt. Die beiden hatten sich damals am Schwarzen Brett der Uni kennengelernt, als sie gleichzeitig nach Wohnungsangeboten Ausschau hielten.

Kurzentschlossen hatten sie sich zusammengetan, so war es einfacher, was Passendes in der Nähe der Fakultät zu finden. Joss mochte Kevins leicht verrückte und etwas weltfremde Art, obwohl sie beide vollkommen verschieden waren. Auch hatte es Kevin nie gestört, dass Joss schwul war. Diese Tatsache hatten sie gleich am ersten Tag geklärt: ich homo, du hetero. Klappte eigentlich hervorragend, zumal sie sich niemals ins Gehege kamen. Daher blieben sie auch nach ihrem Studium einfach WG-Kollegen, wobei sie nach dem Examen in ein größeres Appartement in Innenstadtnähe gezogen waren. Schließlich profitierte Joss von Kevins Computerwissen und ließ sich von ihm seine Webseite basteln und betreuen: der-datemanager.

Ja, er hatte den Sprung in die Selbständigkeit gewagt. Joss hatte schon immer eine ganz gute Menschenkenntnis und ein Gespür dafür, was die Leute brauchten und suchten. Vor zwei Jahren hatte er dann seine Geschäftsidee verwirklicht, die bislang in ihrer Stadt einzigartig war: Er organisierte Dates für schwule Männer.

Eine gelungene Mischung aus Event-Service, Escort und Partnervermittlung. Genau das, was schwule Männer wollten. Ganz nach dem Motto Alles kann – Nichts muss. Manche suchten einen Fick für eine Nacht, andere nach der Liebe ihres Lebens. Joss brachte einfach zwei Männer zusammen und bislang hatten sich tatsächlich einige feste Beziehungen aus einem One-Night-Stand entwickelt.

Vielleicht waren Männer da recht einfach gestrickt. Zumindest hatten die meisten keine großen Bedenken, einfach mal auszuprobieren, ob die Chemie stimmte. Natürlich achtete Joss darauf, ein gewisses Niveau zu wahren, etwas anderes käme für ihn nicht in Frage. Er war ja kein Zuhälter. Er verkaufte lediglich Träume. Den Traum vom perfekten Partner, der irgendwo da draußen auf einen wartete und den man nur noch kennenlernen musste.

Oh ja, Joss war ein hoffnungsloser Romantiker. Eigentlich hatte er gerne Kunstgeschichte studieren wollen, von Kindheit an galt seine Liebe der klassischen Malerei. Den Wunsch hatte er nie aufgegeben und wenn seine Dating-Agentur weiterhin so gut lief oder sich sogar ausbauen ließe, wollte er das Zweitstudium einfach aus Spaß noch dranhängen.

Wenn er denn irgendwann Zeit dazu fand, hieß das.

»Heute Mittag habe ich noch einen Termin mit einem wichtigen Kunden«, kündigte er Kevin an, der sich mittlerweile auf die Eckbank am Küchentisch verzogen hatte und in der Fernsehzeitung blätterte. Offenbar wartete sein Freund auf seine Kaffeelieferung.

»Und was hast du heute noch vor?«, fragte Joss höflich, obwohl er die Antwort darauf zu kennen glaubte. Bis zum Nachmittag auf der Couch vor der Glotze chillen, um anschließend fit genug zu sein, die Nacht wieder durchzuzocken. Irgendein Online-Spiel, dessen Regeln er nie begreifen würde, auch wenn Kevin noch so oft versuchte, ihm diese zu erklären.

»Aufstehen, Kaffeetrinken und niemanden umbringen«, antwortete Kevin und gähnte demonstrativ. Innerlich seufzte Joss frustriert auf. Kevin vor dem ersten Kaffee anzusprechen war zwar nicht gefährlich, aber total sinnlos. Da konnte er sich genauso gut mit dem Kater unterhalten.

Wortlos befüllte er die Kaffeemaschine und schaltete sie an. Er kannte seinen Kumpel. Ein paar Schlucke von dem Muntermacher und er war wieder aufnahmefähig. Zwischendurch räumte Joss den Einkauf weg und stellte die dreckigen Gläser vom gestrigen Abend in die Spülmaschine.

»Also, spuck’s schon aus«, forderte Kevin ihn auf, sobald Joss ihm eine Tasse starken Kaffee vor die Nase gestellt hatte.

»Was denn?« Fahrig wischte sich Joss die Hände an der Jeans ab und setzte sich ebenfalls an den Küchentisch. Gleich darauf sprang er jedoch wieder auf, nahm sich selbst eine Tasse und putzte anschließend noch mit dem Lappen über die Anrichte.

»Warum du so nervös bist, dass du hier wie ein Eichhörnchen auf Drogen durch die Küche tanzt«, brummte Kevin und schielte über den Tassenrand zu ihm hinüber.

»Tue ich das?«, versuchte Joss automatisch, ihm auszuweichen.

»Neiiiin.« Kevins Stimme triefte nur so vor Sarkasmus. »Also entweder ist der Kunde wirklich wichtig oder du bist einfach chronisch untervögelt. Ich tippe ja auf beides.«

»Lass den Scheiß.« Joss seufzte tief und setzte sich wieder zu ihm an den Küchentisch. »Der Kunde, mit dem ich mich heute Mittag treffe, ist wirklich total wichtig. Kann mich enorm vorwärtsbringen. Der Kerl heißt Dion Collister. Stinkreich, glaube ich. Ich habe ihn gegoogelt. Jedenfalls ist er einer der leitenden Wirtschaftsprüfer von W&S«, sprudelte er hervor. Lange hätte er die supertollen Neuigkeiten sowieso nicht mehr für sich behalten können. Da Kevin quasi der Mitarbeiter seiner Dating-Agentur war und jederzeit Zugriff auf seine Kundendaten hatte, brauchte er sich ihm gegenüber auch keine Gedanken um igrendwelchen Datenschutz machen. Den zweiten Teil von Kevins Vermutung ignorierte er einfach. Einzelheiten seines nicht vorhandenen Liebeslebens gingen seinen Kumpel nichts an. Aber hey, es war ja nicht so, dass ausgerechnet Kevin in dieser Beziehung in letzter Zeit etwas vorzuweisen hatte.

»W&S? Sollte mir das etwas sagen?« Kevin glotzte ihn nur verständnislos an.

»Na, Walther & Stevenson! Die Top-Adresse für Firmen! Eine der größten Wirtschaftsprüfungsgesellschaften weltweit!« Entgeistert starrte Joss zurück. Das konnte doch nicht sein Ernst sein! Das Firmengebäude in der City war höher als sämtliche Bankentürme und ihr Logo war für jeden weithin sichtbar. Ihn wunderte es nicht, dass sogar die Straßenbahnhaltestelle vor dem Wolkenkratzer den Namen der Kanzlei trug.

»Ach, die. Na klar.« Kevin schmunzelte unverhohlen in seinen Bart hinein und bestätigte Joss’ Vermutung, dass er schlicht keine Ahnung hatte. »Also sollst du ihm ein Date vermitteln?«

»Ja, er hat mich gebucht. Seine Anfrage auf der Homepage kam vergangene Nacht, gegen vier Uhr morgens. Heute Morgen um sieben Uhr war er anscheinend auch noch oder vielleicht schon wieder online. Jedenfalls hat er sofort auf meinen vorgeschlagenen Gesprächstermin reagiert und zugesagt.«

»Diese Typen kennen wohl keine geregelten Geschäftszeiten.« Kevin schnaubte abfällig. Sollte Joss ihn vielleicht daran erinnern, dass Kevin gegen vier Uhr ebenfalls noch vorm PC gesessen haben dürfte?

»Und er hat das Business-Paket gebucht«, platzte es stolz aus Joss heraus. »Du weißt schon, die Nobelpackung.«

Das beste Rundum-Sorglos-Service-Paket, das er zu bieten hatte.

»Joseph Theodor Baker. Ich wusste, du würdest es weit bringen«, sinnierte Kevin ironisch und Joss knuffte ihm gegen die Schulter. Mann, Kevin wusste genau, wie sehr er es hasste, mit seinem vollständigen Namen angesprochen zu werden. Den hatte er seinen beiden Großvätern zu verdanken. Klar, er liebte seine aus England stammenden Opas, aber das hätten seine Eltern ihm nun wirklich nicht antun müssen. Ihren einzigen Sohn mit einem solchen Namen zu strafen. Seine Freunde nannten ihn eigentlich nur Joss oder auch J.T., während seine Mum und sein Dad ihn peinlicherweise noch immer Joey riefen. Aber das brauchte niemand zu wissen.

»Ich treffe mich um 15 Uhr mit ihm im Perking’s«, informierte er Kevin. Gleichzeitig warf er einen Blick auf seine Armbanduhr. Okay, er hatte noch genug Zeit, um sich zu duschen und umzuziehen. Nachdenklich strich er sich über seinen Drei-Tage-Bart. Sollte er sich auch rasieren?

»Lass den Bart dran«, riet ihm Kevin ungefragt, als habe er seine Gedanken lesen können. »Er lässt dich älter wirken.«

Zweifelnd schaute Joss ihn an. »Meinst du?«

»Damit wirkst du seriöser. Kann doch von Vorteil sein, um so einen alten Knacker zu beeindrucken. «

»Er ist gar nicht so alt«, verteidigte Joss seinen Kunden spontan. »Auf der Firmenseite war ein Bild von ihm. Jedenfalls sieht er darauf aus, als wäre er so Mitte oder Ende Dreißig.«

»Sag ich ja. Alt.« Kevin nickte selbstgefällig.

Joss unterbrach ihre sinnlose Debatte, indem er aufstand und seine leere Kaffeetasse wegräumte. Außerdem verkniff er es sich, Kevin darauf hinzuweisen, dass sie selbst im Herbst neunundzwanzig Jahre alt wurden. So lange würde es also gar nicht mehr dauern, bis auch sie die Dreißig überschritten hatten. Und damit, zumindest aus Teenie-Sicht, zu tattrigen Greisen mutierten.

Noch immer aufgeregt über das bevorstehende Meeting eilte Joss in sein Zimmer. Nachdenklich inspizierte er seinen Kleiderschrank. Was sollte er bloß anziehen? Der erste Eindruck auf den Kunden war immens wichtig, also kam eigentlich nur ein Anzug infrage. Oder doch eher lässig mit Jeans und Jackett? Angesichts der Tatsache, dass er sich mit Mr. Collister im Perking’s treffen würde, entschied er sich dann doch für den dunkelgrauen Anzug, kombiniert mit einem weißen Hemd und einer violetten Krawatte. Vorsichtig, damit nichts zerknitterte, legte er die Klamotten aufs Bett und wischte mit dem Handrücken noch einen Fussel weg.

Das Restaurant war eine der Topadressen in der Stadt, ein sündhaft teurer Schickimicki-Laden im obersten Stockwerk einer noblen Einkaufspassage. Joss war schon einmal dort gewesen und eigentlich nicht sehr angetan von der steifen Atmosphäre, die das Lokal ausstrahlte. Alles war dort perfekt inszeniert, von den edel eingedeckten, runden Tischen, die die Gäste erwarteten, über die indirekte Beleuchtung bis hin zu den etwas blasiert wirkenden Kellnern mit ihren gestärkten Hemden, schwarzen Fliegen und Westen. Wenn er mit Kevin um die Häuser zog, bevorzugten sie eher eine ganz gewöhnliche Kneipe oder ein Pub, in dem es wesentlich legerer zuging und man sich einfach entspannen konnte.

Joss ließ sich viel Zeit unter der Dusche, auch wenn er vermutete, dass Kevin ebenfalls ins Bad wollte. Aber ein gepflegtes Äußeres war ihm enorm wichtig, daher griff er anschließend noch zum Langhaarschneider, stutzte seinen Drei-Tage-Bart auf eine gleichmäßige Länge und rasierte überschüssige Haare sorgsam ab.

Prüfend betrachte er sein Spiegelbild. Okay, er war nicht unzufrieden mit sich, schließlich achtete er sehr auf sein Aussehen. Seine mittelbraunen Haare trug er an den Seiten und im Nacken kurz, oben etwas länger. Sorgsam kämmte er sie auf eine Seite und zupfte ein paar Haarsträhnen zurück in die Stirn. Fertig.

»Du rockst das schon«, murmelte er seinem Spiegelbild zu, um sich selbst Mut zu machen. Dabei hatte er keine Ahnung, warum er so schrecklich nervös war. Es war schließlich nicht das erste Mal, dass er sich mit einem Kunden traf. Vielleicht würde er dies irgendwann mal von einem schicken Büro aus machen, aber bislang verabredete er sich für ein erstes Beratungsgespräch immer an einem neutralen, angemessenen Ort. Ihre WG-Wohnung kam dafür nicht in Betracht, auch wenn Joss hier immer auf Sauberkeit und Ordnung bedacht war. Selbst Kevin hielt sich mittlerweile, zumindest in den Gemeinschaftsräumen, an den aufgestellten Putzplan. Was Kevins Zimmer anging – nun, da hielt Joss sich raus. Das war seine Sache, wenn er mal Damenbesuch empfangen und seine Eroberung kreischend davonrennen würde. Das einzige weibliche Wesen, das sie regelmäßig mit ihrer Anwesenheit beehrte, war sowieso nur Filiz. Ihre Nachbarin von gegenüber.

Wie aufs Stichwort klopfte es an der Wohnungstür. Das konnte eigentlich nur sie sein.

»Kevin! Mach Filiz mal auf!«, brüllte Joss gegen die geschlossene Badezimmertür. Keine Reaktion, dafür ein erneutes Klopfen, dieses Mal klang es bereits äußerst ungeduldig. Er fluchte verärgert und begab sich, nur mit Boxershorts bekleidet, zur Tür, um sie einzulassen.

»Na endlich!«, begrüßte ihn ihre Freundin ungehalten. »Wird ja auch Zeit! Ich habe mir fast die Finger wundgeklopft!«

Theatralisch warf sie ihr langes, schwarzes Haar in den Nacken und stolzierte hoch erhobenen Hauptes an Joss vorbei, als wäre sie die Königin von Saba persönlich, die ihre Untergebenen aufsuchte. Durch ihre türkischen Wurzeln war sie mit einem enormen Temperament gesegnet, das sich auf nüchternen Magen nur schwer ertragen ließ. Hoffentlich hatte Kevin mittlerweile etwas gefrühstückt. Bevor er, wie üblich, mit ihr aneinandergeriet. Die beiden kabbelten sich für ihr Leben gerne, wobei es dann in aller Regel Joss überlassen war, die Wogen wieder zu glätten. Was Filiz trotz ihrer anstrengenden Art zu einem gern gesehenen Gast in ihren vier Wänden machte, waren unbestreitbar ihre Kochkünste. Nicht selten verwöhnte sie die Freunde mit ihrer türkischen Küche, und über Börek, Baklava und anderen Köstlichkeiten vergaß selbst Kevin, dass Filiz ihn ständig mit ihren Sprüchen nervte.

»Hallo Filiz, komm nur rein«, begrüßte Joss sie, ohne sich die Mühe zu machen, seinen Sarkasmus zu verbergen. Wie üblich hatte ihre Freundin darauf verzichtet, überhaupt zu fragen, ob sie reinkommen könnte, und stand bereits mitten in der Wohnung.

Wohlwollend musterte sie Joss von Kopf bis Fuß. »Was für eine Verschwendung!«, flötete sie und seufzte gespielt kummervoll auf. Sie trat an ihn heran, reckte sich zu ihm hoch und drückte ihm einen fetten Schmatzer auf die Wange.

»Hey, lass das, ich kann jetzt keinen Lippenstift im Gesicht brauchen«, wehrte er sie ab, konnte sich ein Grinsen aber nicht verkneifen. Diese Begrüßung hatte sich zwischen ihnen zu einem Ritual entwickelt. Dabei hatte Filiz keinerlei Probleme damit, dass er schwul war. Im Gegenteil, anscheinend betrachtete sie ihn als so etwas wie ihren schwulen besten Freund. Als einen, mit dem sie sich gefahrlos über Männer unterhalten konnte, ohne befürchten zu müssen, dass er ihr den Lover ausspannte. Gott bewahre, das würde niemals der Fall sein.

»Gut schaust du aus«, lobte Filiz ihn überschwänglich und tippte spielerisch mit einem Fingernagel gegen seine Brust. »Hast du noch etwas vor?«

»Ich muss gleich weg. Hab noch einen Kunden«, erklärte Joss und warf unwillkürlich einen Blick auf sein Handgelenk, nur um festzustellen, dass er seine Uhr noch nicht wieder angelegt hatte. Zögernd schaute er zur Küchentür, die Klinke der Eingangstür noch immer in der Hand. Konnte er die beiden gefahrlos alleine lassen, ohne dass sie sich an die Gurgel gingen?

In diesem Moment schlurfte Kevin jedoch aus der Küche, würdigte Filiz keines Blickes und steuerte das gegenüberliegende Badezimmer an.

»Ich wünsche dir auch einen schönen guten Tag, Kevin«, maulte Filiz auch sofort brüskiert.

Kevins einzige Antwort bestand aus seinem erhobenen rechten Mittelfinger, mit dem er sich anschließend ungeniert über den Arsch kratzte, während er demonstrativ im Bad verschwand.

»Oh Mann. Ihr zwei seid echt wie …« Ungehalten rang Filiz ihre Hände.

»Wie Ernie und Bert? Wie Dick und Doof?«, versuchte Joss, ihr zu helfen, und musste über ihren angewiderten Gesichtsausdruck lachen.

»Du bist nicht doof«, entgegnete Filiz jedoch vollkommen ernst und setzte ihren Weg in die Küche fort. Joss folgte ihr und zermarterte sich gleichzeitig sein Hirn, wie er die Gute möglichst höflich wieder zum Gehen bewegen konnte, ohne sie vor den Kopf zu stoßen.

»Ähm, ich muss wirklich gleich weg. Also, wenn du auf einen Kaffee vorbeikommen wolltest, müssen wir das auf später verschieben«, setzte er vorsichtig an und wedelte mit einer Hand auffordernd in Richtung Wohnungstür. Ohne Erfolg. Filiz ließ sich einfach am Küchentisch nieder und blätterte ungerührt in der Fernsehzeitung. Das war der Nachteil, dass sie sich bei ihnen wie zuhause fühlte.

»Hallo, Erde an Filiz!«, versuchte er es daher erneut. »Ich muss gleich weg!«

»Das habe ich schon verstanden, Süßer, du redest ja schließlich kein chinesisch«, murmelte Filiz abgelenkt.

»Anscheinend doch«, brummte er ungehalten. Ein erneuter Blick auf die Uhr mahnte ihn jedoch zur Eile. »Verdammt, so spät schon? Ich muss gleich los!«

Umgehend eilte er in sein Zimmer hinüber, zog sich fertig an und schnappte sich seine Mappe, in der sich die Unterlagen für das Kundengespräch befanden.

Gerade wollte er die Wohnung verlassen, als ihn Filiz´ Ruf zurückhielt.

»Halt! Stopp! Herkommen! Ausgangskontrolle!«

»Bitte was?« Verblüfft trabte Joss zur Küche zurück und schalt sich gleichzeitig, dass er dem blödsinnigen Befehl überhaupt Folge leistete.

Filiz schaute von der Zeitung hoch und winkte ihn mit einem ihrer grellrot lackierten Fingernägel näher. »Lass dich mal ansehen …«

Kritisch betrachtete sie ihn von Kopf bis Fuß. »Doch, ja. So kannst du gehen. Siehst aus, wie ein erfolgreicher Jungunternehmer. Du wirst ihn umhauen, J.T.. Sehr sexy«, lautete ihr Urteil.

Genervt verdrehte Joss die Augen gen Zimmerdecke. »Mensch, Filiz, das ist nicht sehr hilfreich. Ich will ihn schließlich nicht in die Kiste bekommen, sondern als Kunden gewinnen.«

»Wobei die eine Option so gut ist wie die andere. Oder wann hast du dich zuletzt …«

»Filiz!«, unterbrach Joss sie sofort. Jetzt fing sie auch noch damit an! Gut, seine letzte Beziehung lag schon eine Weile zurück, aber er hatte derzeit mit dem Aufbau seiner Firma genug zu tun. Außerdem hielt er diese beiden Bereiche strikt getrennt. Job und Liebesleben, das war nicht kompatibel. Das war auch etwas, das er seinen Kunden sofort verklickerte: Er selbst war tabu. Finger weg. Etwas anderes ließ sich mit der Seriosität seines Unternehmens nicht vereinbaren.

Seine türkische Heimsuchung verzog schmollend den Mund. »Stimmt doch! Du bist in letzter Zeit immer so gereizt. Sagt auch Kevin. Dagegen hilft eigentlich nur, sich mal wieder richtig ordentlich durchvö …«

»Filiz!«, flehte Joss angespannt. »Jetzt muss ich aber echt los«, brach er ihr unsinniges Gespräch einfach ab und hetzte aus der Wohnung. Schnell weg. Sollte sich dieses Mal Kevin mit Filiz herumschlagen.

Kaum hatte er das Haus verlassen, wurde er ruhiger und setzte seinen Weg gemessenen Schrittes fort. Bis zum Perking’s brauchte er zu Fuß nur fünf Minuten, also würde er pünktlich dort eintreffen. Außerdem machte es keinen professionellen Eindruck, wenn er schweratmend, durchgeschwitzt und zerzaust in dem Restaurant ankommen würde.

Die Gehwege waren vollgestellt mit Tischen und Stühlen, angesichts des herrlich warmen Frühsommerwetters hatten sämtliche Cafés und Bistros des Stadtviertels die Außenbewirtschaftung aufgenommen. Es war Freitag Mittag, etliche Leute genossen das beginnende Wochenende oder erholten sich bei einer Tasse Kaffee von ihrem Einkaufsbummel.

In Gedanken versunken schlängelte sich Joss durch die Passanten. Klar, wenn er Collister als Kunden gewinnen könnte, würde das einen Haufen Kohle bedeuten. Aber viel wichtiger war es ihm, dass dieser mit ihm und seinem Service zufrieden war. Wenn er es schaffte, für den Typ eine denkwürdige Nacht zu organisieren, würde sich das vielleicht in dessen Kreisen herumsprechen, was wiederum neue Kundschaft bedeuten könnte. Aber zunächst musste er herausfinden, auf was Collister überhaupt aus war. Auf ein unverbindliches Date? Vielleicht einfach nur auf eine heiße Nacht? Oder war er eher auf der Suche nach dem Mann fürs Leben?

Eine Gestalt tauchte vor ihm auf und Joss wäre fast in sie hineingerannt, wenn er nicht ruckartig abgebremst hätte und stehengeblieben wäre. Gerade wollte er sich mit einer gemurmelten Entschuldigung an dem massigen und mit dicken Goldketten behängten Mann vorbeidrücken, als er ihn erkannte.

Martin Sievers. Sein persönlicher Albtraum.

In diesem Jahr hatte er dem dicken Barbesitzer bereits einige Dates vermittelt, aber selbst seine hartgesottensten Escorts, die er für spezielle Aufgaben an der Hand hatte, beschwerten sich nach dem ersten Treffen. Nicht nur Martins Äußeres, auch sein Charakter ließ einiges zu wünschen übrig. So tuntig, wie er manchmal tat, so ordinär konnte er sein und den Kerlen unverblümt an die Wäsche gehen, wobei er selbst ein deutliches Nein nicht gleich akzeptierte. Zum Glück waren seine Escorts durchweg gestandene Männer, die sich zu wehren wussten.

Dieser Grat, auf dem Joss mit seiner Firma manchmal wandelte, war schmal, dessen war er sich durchaus bewusst. Aber er hatte seinen Kunden gegenüber stets betont, dass er Dates organisierte und keine Prostituierten vermittelte. Der Sex mochte eine Rolle spielen, aber er sollte nie der einzige Zweck eines Treffens sein und wenn überhaupt, dann immer einvernehmlich zustande kommen.

Zudem hatte Joss den unbestätigten Verdacht, dass Martin eher hinter ihm selbst her war, auch wenn er dies noch nie deutlich geäußert hatte. Mühsam unterdrückte Joss ein unwilliges Stöhnen.

»Guten Tag, Martin«, grüßte er betont reserviert.

»Joseph! Hach, wie schön, dich zu sehen! Was für ein Zufall!«, säuselte Martin. So ganz kaufte Joss ihm diese Überraschung nicht ab. Schließlich wohnte er in dieser Straße, was Martin wegen der Firmenadresse auf seiner Webseite auch durchaus wusste.

»Ja, so ein Zufall«, wiederholte Joss sarkastisch. »Martin, ich hab’s eilig. Also … man sieht sich.« Abweisend wedelte er mit der Hand und wollte sich schon an Martin vorbeidrücken, aber dieser griff ungeniert mit seinen fleischigen Wurstfingern nach Joss’ Oberarm und hielt ihn zurück.

»Wo ich dich gerade treffe – wie sieht’s aus? Ich könnte mal wieder einen unvergesslichen Abend gebrauchen. Hast du … Frischfleisch in deiner Kartei?« Dabei wackelte Martin mit den Augenbrauen, anscheinend in dem Glauben, dass das anzüglich aussehen würde. Joss fand es dagegen nur widerlich.

»Nein, niemanden, den du nicht kennst. Oder den du noch nicht in die Flucht geschlagen hast«, erwiderte er knapp.

»Na na, was soll das denn heißen?«, schnappte Martin brüskiert.

»Ganz im Ernst?« Joss straffte sich und funkelte Martin wütend an. »Das heißt nichts anderes, als dass ich der Falsche für dich bin. Ich bin kein Zuhälter, Martin. Aber was du suchst, ist nur billiger Sex mit irgendeiner Nutte. Dafür brauchst du keinen, der dir Dates vermittelt, dafür kannst du dir einen Stricher im Bahnhofsviertel suchen!«

So, das war hoffentlich deutlich. Zumindest blieb dem Fettkloß der Mund offenstehen, und bevor Sievers zu einer Erwiderung ansetzen konnte, schob sich Joss mit einem genervten »Tschüss« an ihm vorbei. Oh Mann, jetzt war auch noch seine gute Stimmung schlagartig ruiniert. Es war Joss scheißegal, ob er damit einen Kunden weniger hatte. Irgendwo war Schluss und er hatte schon lange Zeit vorgehabt, dem Kerl mal so richtig die Meinung zu geigen. Auf solche Kundschaft wollte er nicht angewiesen sein.

Eilig setzte er den Weg fort, denn selbst diese kurze Unterhaltung hatte seinen straffen Zeitplan durcheinandergebracht, was ihn noch mehr verärgerte. Normalerweise achtete er darauf, dass er mindestens fünf Minuten vor der vereinbarten Uhrzeit eintraf. Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit, das waren Dinge, auf die er äußersten Wert legte. Nicht nur bei sich selbst, sondern auch bei anderen Leuten. Okay, vielleicht nicht gerade bei Kevin. Aber dem ließ er sowieso deutlich mehr durchgehen, als jedem anderen.

Gerade noch rechtzeitig erreichte er das Perking’s. Im Eingangsbereich erwartete ihn ein Empfangschef an einem Pult, der in der einen Hand einen Telefonhörer hielt und in der anderen einen Füllfederhalter, mit dem er in ein dickes, gebundenes Buch kritzelte. Stimmt, hier bekam man nur nach entsprechender Vormerkung einen Tisch. Wenn überhaupt. Als Normalsterblicher hatte man hier eben nichts zu suchen.

»Sie haben reserviert?«, fragte der Angestellte auch sogleich hochnäsig, nachdem er das Telefonat beendet hatte. Und das in einem blasiert klingenden Tonfall, der Joss wohl verdeutlichen sollte, dass hier nur die Reichen und Mächtigen Zutritt hatten. Sah man ihm denn trotz seines Anzuges so genau an, dass er üblicherweise nicht in einem solchen Etablissement verkehrte? Okay, das Teil war von der Stange, aber das bedeutete schließlich nicht, dass er es nicht wert war, hier Gast zu sein! So ein arroganter Arsch!

»Ich bin mit Mr. Collister verabredet«, erklärte er kühl.

»Ah, Mr. Baker! Ja, Sie sind angekündigt.« Dienstbeflissen winkte der Concierge einen Kellner herbei. »Der Herr wird von Mr. Collister erwartet.«

»Wenn Sie mir bitte zu den wilhelminischen Gärten folgen wollen«, bat der dunkelhaarige Kellner höflich, wandte sich um und ging voran. Schnuckeliges Kerlchen. Die schwarze Stoffhose betonte jedenfalls einen knackigen Hintern, den Joss unwillkürlich anstarrte, als er dem Mann folgte. Ob der vielleicht noch einen Zweitjob suchte? So einen südländisch wirkenden Typ würde er sicherlich jeden einzelnen Abend an den Mann bringen können. Nur mühsam riss er sich von dem leckeren Anblick wieder los und sah sich neugierig um, gleichzeitig darum bemüht, nach außen lässig und welterfahren zu wirken.

Wilhelminische Gärten? Ach so, damit war die begrünte Dachterrasse gemeint, jedenfalls führte ihn der Kellner nun durch den noblen Restaurantbereich hindurch zu den großen Schiebetüren, durch die man dorthin gelangte. Also, man konnte es mit dem Quatsch auch übertreiben. Als würde es weniger edel klingen, wenn man die Sache einfach beim Namen nannte.

Der Kellner steuerte nun auf einen etwas abseits direkt an der gläsernen Balustrade stehenden Tisch zu, an dem ein einzelner Mann saß. Das Jackett hatte dieser trotz der steifen Atmosphäre des Perking’s abgelegt, die Hemdsärmel hochgekrempelt und er blätterte in einer überdimensionalen Speisekarte. Joss schluckte trocken. Ausgerechnet ein durchsichtiges Geländer. Und der Tisch stand direkt daneben. Was für manche bestimmt einen großartigen Ausblick über die Stadt bedeutete, brachte ihn schlagartig ins Schwitzen. Verdammt und zugenäht! Angesichts seiner Höhenangst war der Tisch dem Abgrund, der sich direkt dahinter auftat, eindeutig zu nahe.

Joss nahm kaum wahr, wie der Kellner den Mann höflich ansprach, woraufhin dieser die Speisekarte zuklappte und sich vom Stuhl erhob, um ihn zu begrüßen.

Mensch, Joss, reiß dich zusammen! Mit Mühe brachte er ein Lächeln zustande, von dem er hoffte, dass es nicht ganz so gequält wirkte. Schau einfach nicht hin!

Trotzdem wurde sein Blick wie magnetisch von der bodenlos wirkenden Tiefe angezogen, die keinen Meter von ihm entfernt begann und ihn zu verschlingen drohte. Schlagartig drehte es Joss den Magen um, ihm wurde schwindelig, Übelkeit stieg in ihm hoch. Scheiße, das würde noch fehlen, dass er Collister vor die Füße kotzte!

Oh Mann, diese Möglichkeit hatte er nicht einkalkuliert. Vielleicht hätte er besser den Tisch bestellen sollen. Am besten in einem anderen Lokal.

»Hallo«, murmelte er geistesabwesend, denn irgendetwas hatte sein Kunde eben anscheinend von sich gegeben. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals, der Puls dröhnte in seinen Ohren, daher war sich Joss nicht wirklich sicher. Jedenfalls hatte er am Rande mitbekommen, wie sich Collisters Lippen bewegten.

Aus den Augenwinkeln heraus nahm Joss wahr, dass Collister nun einladend auf den gepolsterten Korbsessel deutete, der dem seinen gegenüber stand. Mit etwas wackeligen Knien überbrückte er die zwei Schritte zu dem Stuhl, legte seine Aktenmappe auf dem freien Platz an seiner Seite ab und ließ sich vorsichtig hineinsinken. Anschließend rutschte er ein wenig herum, so dass er die durchsichtige Brüstung in seinem Rücken hatte und den Blick auf den innenliegenden Teil der Dachterrasse richten konnte. Okay, so ging es vielleicht. Seine Anspannung ließ merklich nach, er atmete tief durch und er schaffte es endlich, seine Aufmerksamkeit auf Collister zu richten. Der Mann hatte wieder Platz genommen und musterte ihn stumm.

»Joseph Theodor Baker? Bei dem Namen habe ich Sie mir ganz anders vorgestellt«, begann dieser dann jedoch freundlich, aber unerwartet offen und direkt. Seine tiefe Stimme hatte nur einen leichten amerikanischen Akzent, ansonsten sprach Collister einwandfrei Deutsch. Prima, das machte es Joss einfach. Auch wenn er zweisprachig aufgewachsen war und Englisch ebenso gut beherrschte, führte er eine Unterhaltung eigentlich lieber in der Sprache, die er täglich benutzte.

»So? Wie haben Sie sich mich den vorgestellt?«, ging er auf die Vorlage von Collister ein, auch wenn er zu wissen glaubte, was sein Gegenüber damit andeuten wollte. Gleichzeitig merkte Joss, dass er seine Höhenangst ausblenden konnte, indem er sich voll und ganz auf den Mann konzentrierte.

»Als einen deutlich älteren, konservativen Engländer«, gab Collister wie erwartet, aber auch reichlich unverblümt zu und lächelte andeutungsweise.

Joss kam nicht umhin, seinen Kunden näher zu betrachten. Das ebenmäßige, glattrasierte Gesicht des Mannes ließ ihn kaum älter als Anfang Dreißig erscheinen, da wurde ihm sein offizielles Foto auf der Webseite der Firma nicht gerecht. Sein dunkelbraunes, leicht gewelltes Haar trug er aus der Stirn gekämmt, kein Härchen schien es zu wagen, am falschen Platz zu sein. Vielleicht war es auch die Souveränität und die Energie, die dieser Mann ausstrahlte, so dass er wesentlich jünger wirkte, als er angesichts seiner leitenden Stellung bei W&S sein musste. Sein Lächeln sah zwar nett aus, war aber dennoch kontrolliert und bewusst so eingesetzt, dass es die gewünschte Wirkung entfaltete. Aber was Joss am meisten beeindruckte, waren die dunklen Augen, dieser wache und äußerst aufmerksame Blick, mit dem Collister ihn musterte. Irgendwie schien es Joss, als stünde er hier auf dem Prüfstand und würde gerade beurteilt werden, ob er den seriösen Service bieten könne, den seine Firma auf ihrer Webseite versprach.

»Sorry, ich habe meine Weste, Fliege und den Bowler angesichts des warmen Wetters zuhause gelassen«, scherzte Joss und merkte, wie er lockerer wurde. Collisters offene Art machte es ihm leicht, sich zu entspannen und die anfängliche Nervosität abzulegen.

»Sie stammen aus England?«, setzte Collister ihren Smalltalk fort, winkte aber gleichzeitig den Kellner herbei, der auch sofort dienstbeflissen neben ihrem Tisch auftauchte. »Ich nehme ein Perrier. Zimmertemperatur, bitte.«

»Für mich das Gleiche, bitte«, fügte Joss ohne nachzudenken an. Nicht nur aus Höflichkeit, sondern weil es seinem eigenen Wunsch entsprach. Ein Glas Wasser war jetzt genau richtig.

»Meine Eltern stammen aus Cambridge, ich bin jedoch hier geboren und aufgewachsen«, setzte Joss ihr Gespräch fort, nachdem der Kellner sich wieder entfernt hatte. Gelassen lehnte er sich zurück und schlug ein Bein über das andere. »Warum wollen Sie mich engagieren, Mr. Collister? Ich habe nicht den Eindruck, dass Sie auf meine Dienste angewiesen sind, um jemanden kennenzulernen«, lenkte er ihr Gespräch auf den Grund seines Hierseins. Collisters Offenheit schien ansteckend zu wirken, denn Joss hatte keine Bedenken, geradeheraus auszusprechen, was er dachte.

»Ich schätze einfach einen guten Service, der mir das bietet, was ich möchte«, erwiderte Collister ernst. »Ich bin mir nur nicht mehr sicher, ob Sie meinen Ansprüchen überhaupt gerecht werden können«, setzte er leise hinzu.

Sofort straffte Joss sich und musste sich zügeln, um nicht gekränkt hochzufahren. Der Kerl traute ihm nicht zu, ihm ein angemessenes Date organisieren zu können? Nachdem sie zwei Sätze miteinander gewechselt hatten? Automatisch stufte Joss den Mann in die Kategorie ›aufgeblasenes Arschloch‹ ein. Collister lehnte sich in seinem Sessel zurück, schlug ebenfalls ein Bein über das andere und legte seine Fingerspitzen aneinander. Der prüfende Blick aus den dunklen Augen ging Joss durch und durch. Ha, der Typ wollte ihn testen! Ihn provozieren! Na super, das fing ja schon mal gut an. Dadurch würde er sich jedoch nicht aus der Ruhe bringen lassen, darauf konnte Collister lange warten. Professionalität hatte schließlich nichts mit dem Alter zu tun!

»Vielleicht lassen Sie mich zuerst einmal ergründen, wie Ihre Vorstellungen aussehen, dann kann ich Ihnen ein entsprechendes Angebot unterbreiten«, gab Joss daher selbstbewusst zurück und zwang ein Lächeln auf sein Gesicht, das hoffentlich nicht wie ein Zähnefletschen aussah. »Normalerweise dient ein solches Beratungsgespräch dazu, etwas über die Vorlieben und den Geschmack des Kunden zu erfahren, damit ich ein passendes Event planen kann.« Er griff nach seiner Aktenmappe, zog den Schnellhefter mit dem von ihm entworfenen Fragebogen heraus und zückte seinen Kugelschreiber.

»Sie stammen aus den USA?«, fing er einfach an, auch wenn Collister kurz seine Mundwinkel in einer abwertenden Weise verzog. Der Kellner näherte sich mit ihren Getränken, daher wartete Joss geduldig ab, bis dieser ihre langstieligen Wassergläser zur Hälfte gefüllt, die Perrier-Flaschen auf dem Tisch platziert und sich wieder entfernt hatte.

»Ja«, antwortete Collister dann einsilbig.

»Aus welchem Bundesstaat?« Also, ein bisschen genauer wollte Joss es schon wissen.

»Aus Arizona.«

Aha. Nun gut, jetzt war er zwar auch nicht viel schlauer als zuvor, aber was sollte es.

»Sie sind wann geboren worden?«

»Das tut hier nichts zur Sache.«

Okay, mit dem wahren Alter rückten manche nicht gerne heraus, da war diese Weigerung Joss fast lieber, als eine Lüge.

»Sie sind beruflich nach Deutschland gekommen? Wollen Sie sich dauerhaft hier niederlassen?«, hakte er nach.

»Kein Kommentar.«

Konsterniert starrte Joss den Mann an, dessen Miene allerdings keine Regung zeigte. Anscheinend wollte Collister es ihm nicht gerade leicht machen.

»Sie sind als Wirtschaftsprüfer tätig. War das Ihr Traumberuf oder wenn nicht, welchen Beruf hätten Sie stattdessen gerne ergriffen?«

»Kein Kommentar.«

Unbewusst biss sich Joss auf die Unterlippe. Keine Fragen zum Alter, Herkunft und beruflichen Werdegang oder Karriere? Das konnte ja heiter werden. Wie sollte er den Kerl nur einschätzen? Mit der Spitze seines Kugelschreibers wanderte er einige Zeilen im Fragebogen tiefer.

»Haben Sie bereits früher schon einmal eine Partnervermittlungsagentur in Anspruch genommen?«

»Kein Kommentar.«

»Mit welchen Dingen beschäftigen Sie sich gerne in Ihrer Freizeit? Reisen, Sport, Kultur, Kulinarisches?«

»Kein Kommentar.«

Am liebsten hätte Joss seinen Kugelschreiber frustriert auf den Tisch gepfeffert. Das waren doch ganz einfache Fragen gewesen! Warum sperrte sich der Typ gegen ihn? Machte ihr Gespräch hier überhaupt noch Sinn? Oder hatte Collister sich bereits dazu entschieden, ihn doch nicht zu engagieren?

»Mr. Collister«, setzte er behutsam an, auch wenn es in ihm zu brodeln begann, »das sind Fragen, die auf einem wissenschaftlichen Test beruhen und mir dabei helfen sollen, mir einen persönlichen Eindruck von Ihnen zu verschaffen. Denn nur so kann ich etwas organisieren, das Ihren Wünschen und Vorstellungen entspricht.«

»Auf welchem wissenschaftlichen Test?«, fragte Collister, ohne auf seine mahnenden Worte einzugehen oder seine abweisende Haltung auch nur um einen Millimeter zu verändern.

»Auf der Studie von Prof. Dr. Steven Reiss«, antwortete Joss wie aus der Pistole geschossen. Wollte der Kerl ihn wahrhaftig auf die Probe stellen?

»Aha. Die sechzehn Lebensmotive und Handlungsmotivationen nach Reiss«, murmelte Collister kaum hörbar vor sich hin. Unbewusst verengten sich Joss’ Augen. Wider Erwarten schien sein potentieller Kunde die Studie zu kennen.

»Sie sind damit vertraut?«, entwischte es Joss, bevor er die Frage zurückhalten konnte.

»Selbstverständlich. Jede Führungskraft sollte diese Lehrmeinung kennen. Sie befasst sich auch mit Prozessmotivation und der Internalisierung von Projektzielen«, gab Collister lässig zurück und schaffte es sogar, trotz der Nennung der komplexen Fachbegriffe nicht hochnäsig zu wirken.

»Dann leuchtet Ihnen sicher ein, dass ich auf die Beantwortung solcher Fragen angewiesen bin, um Ihnen den optimalen Erfolg garantieren zu können?«, mahnte Joss erneut.

»Nein. Nur, weil ich das Modell der Theorie nach Reiss kenne, heißt das nicht, dass ich deren Zuverlässigkeit und Aussagekraft nicht infrage stelle«, entgegnete Collister ungerührt.

Okay. Collister schien nicht nur psychologische Profile sowie deren Entwicklung und Analyse zu kennen, sondern war den gängigen Studien gegenüber offenbar kritisch eingestellt. Er schien ein Typ zu sein, der alles hinterfragte. Aber so kam Joss einfach nicht weiter. Innerlich verabschiedete er sich bereits von dem Gedanken, den lukrativen Auftrag an Land ziehen zu können, und verstaute den Schnellhefter wieder in seiner Aktenmappe.

Nachdenklich trank er einen Schluck Wasser und wagte einen letzten Anlauf. »Wenn Sie mir gegenüber keine Details aus Ihrem Leben verraten wollen, würden Sie das dann überhaupt einer Person gegenüber tun, mit der Sie ein Date haben?«

»Wohl kaum«, erwiderte sein Gegenüber kühl.

Aha. Das hatte Joss bereits vermutet. Der Kerl war allen Anschein nach auch so jemand, der ihn mit einem gewöhnlichen Escort-Service oder schlimmer, mit einem Zuhälter verwechselte. Offenbar suchte er nichts fürs Herz, sondern ausschließlich jemand fürs Bett. Nein danke. Dafür musste er sich jemand anderen suchen.

Kopfschüttelnd griff Joss zu seiner Aktenmappe und erhob sich von seinem Sitz. Mittlerweile war er dermaßen frustriert, dass er dem Anblick der gläsernen Brüstung zu seiner Seite keinen zweiten Blick mehr schenkte.

»Ich denke mittlerweile auch, ich kann Ihnen nicht das bieten, was Sie sich wünschen, Mr. Collister«, erklärte er ruhig, mit angemessen gedämpfter Stimme. »Wenn Sie ausschließlich jemand zum Ficken suchen, müssen Sie sich an einschlägige Etablissements dieser Stadt wenden«, fuhr er bewusst derb fort. »Zwei Straßen weiter ist ein Club mit einem Darkroom. Dort werden Sie sicherlich fündig. Ich dagegen vermittele …«

»Setzen Sie sich«, unterbrach ihn Collister leise. Sein Tonfall klang dermaßen streng und gebieterisch, dass sich Joss fast augenblicklich wieder auf seinen Sessel sinken ließ. Verdammt, der Kerl hatte unbestreitbar eine Wirkung auf ihn, der er sich nicht entziehen konnte! Sofort regte sich jedoch auch Widerstand in ihm. Himmel, wie kam er dazu, einem solch barschen Befehlston überhaupt Folge zu leisten? Hatte er sie noch alle?

»Ich wollte damit sagen: Wohl kaum beim ersten Date«, ergänzte Collister, als wäre nichts gewesen. Nur die steile Falte zwischen dessen Augenbrauen zeigte Joss, dass der Mann in diesem Augenblick von Emotionen heimgesucht wurde, die er jedoch nicht zu deuten vermochte. Wut? Ärger? Resignation? Aufmerksam suchte er in Collisters Gesicht nach weiteren Anzeichen, aber die winzige Gefühlsregung verschwand und dessen Miene wirkte noch undurchdringlicher, als zuvor. Dennoch verstärkte sich sein Eindruck, dass er den Kerl nicht mit Samthandschuhen anfassen musste und genau dessen gerade, direkte Linie verfolgen sollte. Collister schien niemand zu sein, dem man Honig ums Maul schmieren musste, sondern der Ehrlichkeit und Offenheit schätzte.

»Ich bin nach wie vor an Ihrem Service interessiert«, fügte Collister unerwartet an, als Joss nichts erwiderte. »Aber ohne psychologisches Profil zu meiner Person.«

»Dann geben Sie mir einen Hinweis, wie Ihre Erwartungen an ein perfektes Date aussehen.« Unbewusst beugte sich Joss ihm über den Tisch hinweg entgegen, um noch leiser und eindringlicher sprechen zu können. »Ich weiß, ich kann Ihnen ein Treffen organisieren, das für Sie ein unvergessliches Erlebnis sein wird. Mit einem Menschen, der ausschließlich an Ihnen und nicht an Ihrem Geld oder am Glanz Ihres beruflichen Erfolges interessiert ist. Ich verspreche Ihnen nicht mehr und nicht weniger, als eine Chance. Einen Abend, der Sie Ihren tagtäglichen Stress und Ärger vergessen lässt. Vielleicht auch eine Nacht, die Ihnen das gibt, was Sie brauchen. Unter Umständen auch das Kennenlernen einer Person, die den Fokus Ihrer Welt verändert. Sie aus den Angeln hebt. Die Ihrem Leben einen anderen, völlig neuen Sinn gibt.«

Joss hielt inne. Hatte er sich zu weit vorgewagt? Zu dick aufgetragen? Mist, er hatte sich einfach hinreißen und ein wenig mehr von seinen eigenen Wünschen und Träumen einfließen lassen, als er ursprünglich wollte. Zu seinem Ärger spürte er an der hochsteigenden Hitze in seinem Gesicht, wie er errötete.

»Sie hätten Autoverkäufer werden sollen«, erwiderte Collister trocken, aber Joss meinte, so etwas wie ein angedeutetes Lächeln bei ihm zu entdecken. Nun ja, mit irgendwelchem gefühlsduseligen Geschwätz konnte er den Kerl wohl kaum beeindrucken.

»Wer sagt Ihnen, dass ich früher nicht Autos verkauft habe?«, konterte Joss schlagfertig. »Also, Mr. Collister, nochmals im Ernst: Was erwarten Sie von mir?«

Nur kurz schien Collister zu überlegen, dann beugte er sich ihm über den Tisch ebenfalls ein Stück entgegen. »Überraschen Sie mich. Ich lasse Ihnen freie Hand.«

Joss schluckte unwillkürlich. Der Hauch eines Duftes streifte seine Sinne, der wohl vom Aftershave des Mannes stammte. Herb, dennoch frisch und gleichzeitig würzig. Eine unaufdringliche, aber perfekte Komposition eines Geruchs, der ihm schwer zu Kopf stieg.

»Eine Überraschung«, wiederholte er heiser, darum bemüht, sich von seiner inneren Aufruhr nichts anmerken zu lassen.

»Es gibt eigentlich nur eine Regel: Diskretion.«

Collisters spröde Ansage brachte Joss sofort wieder auf den Boden der Tatsachen zurück.

»Diskretion steht bei mir an erster Stelle«, versicherte er sofort. »Gibt es irgendetwas, das Sie nicht mögen? Bootsfahrten, enge Räume oder … luftige Höhen?«, fragte er nach, ohne angesichts seines eigenen Dilemmas den Sarkasmus aus seiner Stimme heraushalten zu können, und deutete mit einer Handbewegung auf den neben ihnen liegenden Abgrund. Ohne genauer hinzusehen, das verstand sich von selbst.

»Paintball«, verblüffte ihn Collisters Antwort.

»Paintball?« Auf so eine blödsinnige Idee wäre nicht einmal er gekommen. Nicht bei solch einem Manager-Typen.

»Auf keinen Fall ein Paintball-Match«, bekräftigte Collister. »Das scheint der neue Trend bei sämtlichen Firmen-Events zu werden. Angeblich soll es zum Team-Building beitragen, was ich wirklich bezweifle. Und ich verabscheue dieses dilettantische Herumgehopse.«

»Kein Problem. Ich stelle Ihnen ein Angebot zusammen und schicke es Ihnen per E-Mail, zusammen mit der Auftragsbestätigung und meiner Rechnung«, kündigte Joss an, stand auf und griff nach seiner Aktenmappe. Vor seinem geistigen Auge erschienen bereits einige Ideen, wie er vorgehen könnte. Alles Weitere würde er zuhause ausarbeiten.

Collister erhob sich ebenfalls und reichte ihm die Hand. »Ach ja, die Rechnung. Ich überweise die Hälfte im Voraus. Den Rest, wenn Sie zufriedenstellend … liefern.«

Überrascht erwiderte Joss den festen Händedruck. Das entsprach keineswegs den vertraglichen Grundlagen, die auf der Webseite festgeschrieben waren! Und denen Collister, indem er ihn buchte, auch bereits zugestimmt hatte.

»Eine Teilzahlung ist in meinem Vertragswerk eigentlich nicht vorgesehen«, entgegnete er vorsichtig. »Sie gehen schließlich auch nicht ins Kino und zahlen erst dann, wenn Ihnen der Film gefallen hat.«

»Ich weiß«, antwortete Collister seelenruhig. »Aber ich lasse im Restaurant den Teller zurückgehen, wenn das Gericht nicht meinen Wünschen entspricht.«

Collister musterte ihn einige Sekunden lang stumm, ohne seine Hand loszulassen. »In Ordnung. Ich überweise die volle Summe. Aber wenn mir Ihre Auswahl nicht zusagt, verlange ich Nachbesserung. Bis ein zufriedenstellendes Ergebnis vorliegt. Einverstanden?«

»Einverstanden«, ging Joss ohne zu zögern darauf ein, obwohl sich gerade ein mulmiges Gefühl in ihm ausbreitete. Nachbessern? Was meinte der Typ damit? Aber gut, wenigstens schien Joss den lukrativen Auftrag an Land gezogen zu haben. Es sollte doch machbar sein, dem Ami einen netten Abend zu organisieren. Das war sein Job, seine Passion.

Die Herausforderung, die ganz offenkundig damit verbunden war, nahm Joss nur zu gern an. Collister würde schon merken, dass er sein Geld wert war. Jeden einzelnen verdammten Cent!

Kapitel 2

Dion steckte die Schlüsselkarte bereits zum vierten Mal in den Schlitz über der Türklinke, aber das grüne Lämpchen, das die Entriegelung der Tür anzeigen sollte, weigerte sich, aufzuleuchten. Scheiß Technik!

Ungehalten grummelte er einen deftigen Fluch und machte sich auf den Weg zurück in die Lobby. Der Tresen war unbesetzt, dabei hatte er vor wenigen Minuten, als er das Gebäude betrat, den Rezeptionisten noch hier gesehen. Endlich, nach mehreren Minuten zähen Wartens, tauchte der junge Mann mit einem entschuldigenden Lächeln auf dem Gesicht wieder auf.

»Verzeihen Sie, ich bin gerade …«, setzte er an, aber Dion unterbrach ihn auf der Stelle.

»Die Schlüsselkarte funktioniert schon wieder nicht«, fauchte er den Angestellten grußlos an und warf das Corpus Delicti zornig auf den Tresen. Zum dritten Mal innerhalb von vier Tagen! So langsam verlor er die Geduld. Das konnte doch nicht so schwer sein, diese Chipkarten richtig zu programmieren! Verdammt, es war mitten in der Nacht, ihm steckte ein langes Meeting in den Knochen, er musste sich noch auf die Vorstandssitzung vorbereiten, die morgen früh stattfand … und nicht einmal in einem Fünf-Sterne-Schuppen konnte man sich auf eine funktionierende Zimmertür verlassen?

Hastig schob der junge Angestellte die Karte in ein Lesegerät und hackte in Windeseile auf die Tastatur ein. »Stimmt, Mr. Collister, die Karte ist defekt. Ich gebe Ihnen sofort eine neue.« Er zog eine weitere Chipkarte aus einer Schublade, schob auch diese in das Lesegerät, schaltete sie über den PC frei und reichte sie anschließend Dion.

»Sie kommen mit hoch zu meiner Suite. Mit dem Zentralschlüssel. Ich habe keine Lust, erneut den Weg hierher zu machen, sollte auch diese nicht funktionieren«, grollte Dion sauer.

Nur kurz zögerte der Mann, erhob sich dann aber folgsam und ging voraus zu dem Fahrstuhl, der sie in den vierten Stock brachte. Dort trat er höflich zur Seite, um Dion die neue Schlüsselkarte testen zu lassen. Aber auch diese funktionierte nicht. Als hätte er es nicht geahnt. Dion schnaubte wütend.

»Oh, da scheint die Technik der Türverriegelung defekt zu sein«, murmelte der Rezeptionist und zuckte hilflos mit den Schultern.

»Ach, wirklich?«, ätzte Dion sarkastisch. »Und jetzt?«