Der Flussmann - Hardy Crueger - E-Book

Der Flussmann E-Book

Hardy Crueger

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Beschreibung

STILLE WASSER SIND TIEF. UND OHNE ERBARMEN Als ihr Mann Robin eines Abends von einer Firmenfeier nicht nach Hause kommt, beginnt für Denise Bachmann ein Albtraum aus Hoffen und Bangen, Angst und Wut. Weil die Polizei ihrer Meinung nach den Fall nicht ernst nimmt, macht sie ihn im Internet öffentlich und wendet sich verzweifelt an eine ständig wachsende, immer aggressiver werdende Netzgemeinde. Nachdem Robin tot aus der Oker geborgen wird, gehen die Behörden von einem Unfall oder Suizid aus. Paralysiert von den Ereignissen will Denise das nicht glauben, und in ihrer abgrundtiefen Verzweiflung schmiedet sie einen abstrusen Plan, um herauszufinden, was wirklich passiert ist: Sie postet Selfies, die sie nachts am Ufer des Flusses gemacht hat, und meint, so den Täter anlocken zu können. Dabei gerät sie nicht nur selbst in den Fokus der Ermittlungen, sondern auch in das Visier eines Psychopathen, denn der Flussmann beschließt, sich um sie zu kümmern …

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„... und er hätte dir lebendiges Wasser gegeben.“ Johannes, 4,10

Der Roman spielt hauptsächlich in bekannten Regionen, doch bleiben die Geschehnisse reine Fiktion. Sämtliche Handlungen und Charaktere sind frei erfunden.

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über http://dnb.ddb.de© 2023 CW Niemeyer Buchverlage GmbH, Hamelnwww.niemeyer-buch.deAlle Rechte vorbehaltenUmschlaggestaltung: C. RiethmüllerDer Umschlag verwendet Motiv(e) von 123rf.comEPub Produktion durch CW Niemeyer Buchverlage GmbHISBN 978-3-8271-8448-1

Hardy CruegerDerFlussmann

Prolog

Das Foto, das sie gepostet hatte, zeigte sie in Joggingklamotten unter dem schummrigen Licht einer Straßenlaterne. Es war etwas unscharf und schlecht ausgeleuchtet, aber man konnte ihre Gesichtszüge gut erkennen. Sie hatte das Kinn gehoben und lächelte. Dieses hübsche Lächeln, das sie den Followern auch auf den Bildern mit ihrem Mann oft präsentierte.

Ich starrte es an, sah auf meiner inneren Leinwand, wie sie das Handy wieder in die Tasche zurücksteckte, dort, unter der einsamen Laterne. Wie sie anlief und den Blick freigab, auf etwas, das sich hinter ihr im Schatten bewegte. Etwas Monströses, Böses. Das auf sie zuhetzte. Sich auf sie stürzte, sie zusammenschlug und in die Oker warf, um sie zu ertränken.

1. Kapitel- Hochwasser -

1

Um zwanzig Uhr machte Denise Bachmann sich noch keine Sorgen. Sie lümmelte auf dem Sofa herum, und nachdem sie mit einer Freundin telefoniert hatte, schaltete sie Fernseher und Notebook ein. Nahm den Computer auf den Schoß, schaute sich mit dem einen Auge an, was ihre Freundesgemeinde bei Lovelyfriends den Tag über erlebt und öffentlich gemacht hatte, mit dem anderen die Nachrichten aus aller Welt.

Eine halbe Stunde später blickte sie kurz zur Uhr in der Statusleiste, während eine Tierdoku das Wohnzimmer in das satte Grün eines Waldbodens tauchte, in dem kleine rotbraune Nager herumwuselten. Die Zeit rast nur so dahin, dachte sie, scrollte weiter, las, tippte und klickte, verteilte hochgereckte Daumen, Herzchen und Smileys. Als sie das nächste Mal zur Uhr sah, stand vor dem Doppelpunkt in der Leiste eine Einundzwanzig. Sie zog die Augenbrauen hoch, dann griff sie zum Smartphone. Die kleine grüne Leuchtdiode blinkte nicht, trotzdem schaute sie nach, ob vielleicht eine neue Nachricht von ihm eingegangen war. Aber es gab keine.

Denise wandte sich wieder dem Laptop zu, studierte eine Modeseite, die ihr eine digitale Bekannte empfohlen hatte, aber jetzt wurden die Intervalle immer kürzer, in denen sie auf die Uhr schaute. Um kurz vor zehn packte sie mit gerunzelter Stirn das Telefon und rief ihn an. Aber es tutete nur, knackte, und dann war es still.

Der Tierdokumentation folgte eine über Flüsse. Wieso hatte er sein Handy abgeschaltet? Oder hatte er nur vergessen, es aufzuladen? Nachdenklich betrachtete sie kristallklares Wasser, das leise plätschernd über glänzende Steine und an saftigen Mooskissen vorüberfloss, bis es sich über eine Felskante in die Tiefe stürzte. Ein paar Minuten nach zehn beugte sie sich vor, stellte das Notebook auf den Couchtisch, stand auf und ging zur Toilette. Goss in der Küche etwas Tee in einen Becher, nahm einen Joghurt, kehrte ins Wohnzimmer zurück. Noch immer blinkte das Handy nicht. Wieder nahm sie es in die Hand, rief den Chat auf, las seine letzte Nachricht vom Nachmittag: „Déni, der Müller feiert heute doch noch seinen Abschied. Wird ein bisschen später. Lasse das Auto stehen und nehme die Straßenbahn. Denke, komme so um 8, 8:30 Bussi! ♥“

Aber jetzt ging es schon auf halb elf. Wieder berührte sie das Icon, das einen Telefonhörer darstellte. Wieder tutete es nur einmal und war dann still. Denise zog die Augenbrauen zusammen, schabte mit dem Löffel im Joghurtbecher herum. Ja, es war schon passiert, dass Robin später nach Hause kam, als er gesagt hatte. Eine Stunde, vielleicht zwei, wenn er mit Freunden unterwegs war. Aber heute war Donnerstag, morgen musste er arbeiten. Robin war eigentlich nicht der Typ, der irgendwo versackte. Sie stellte den leeren Becher weg und drückte noch einmal auf den Telefonhörer, hörte aber wieder nur ein einziges „Tut“, dann Knacken und Stille.

Um Viertel nach elf rief Denise Bachmann in der Firma an, in der ihr Mann arbeitete. „Herzlich willkommen im Autohaus Schrader! Sie rufen außerhalb der Geschäftszeiten an. Wir haben für Sie geöffnet montags bis freitags von ...“

Die junge Frau legte auf, schaute wieder auf den Fernseher. Aus dem Bach war längst ein breiter Strom geworden, der sich in ein Meer ergoss. Dann folgte der Abspann. Ein Trailer für einen Krimi. Der Countdown zu den Nachrichten. Eine Frau, blond, schmales Gesicht, dunkle Augen. Vielleicht war er mit dieser Kollegin, Susanna, noch irgendwo hingegangen? Nein, so etwas tat er eigentlich nicht. Eigentlich, dachte sie und trank einen Schluck Tee. Überlegte, ob sie seinen Vater anrufen sollte, oder Tobias, Robins besten Freund? Aber nicht, dass alle Welt dachte, sie sei hysterisch, weil ihr Schatz mal überfällig war. Seit drei Stunden erst, oder ... schon?

Um halb zwölf suchte sie im Festnetztelefon nach der Nummer von Jens Marquardt, der einzigen eines Arbeitskollegen, die darin gespeichert war. Denise zögerte kurz, als sie sie gefunden hatte. Doch, es war richtig, ihn anzurufen, auch wenn es schon so spät war, denn sie machte sich Sorgen.

„Hallo, Denise. Hast du dich verwählt?“ Die Stimme des Mannes klang müde, abgespannt.

„Hallo Jens. Nein, entschuldige den späten Anruf, ich wollte dich fragen, ob du vielleicht weißt, wo Robin ist? Ihr habt doch in der Firma gefeiert und ...“

„Ja, der Müller hat ein paar Flaschen Sekt geschmissen. Geht in Rente und ... wie meinst du das, wo Robin ist?“

„Er ist bis jetzt nicht nach Hause gekommen. Wie lange ...?“, fragte sie mit einem verlegenen Lächeln.

„Na, so bis achte. Wir müssen ja alle morgen arbeiten ...“

Denise’ Herz begann etwas schneller zu schlagen. „Dann müsste er doch längst hier sein. Er geht nicht ans Handy. Ich glaube, das ist ausgeschaltet.“

„Na so was, vielleicht ist der Akku leer. Ja, du, aber ... vielleicht ist er noch irgendwo eingekehrt“, sagte Jens mit sanfter Stimme.

Denise schüttelte den Kopf. „Nein, das glaube ich nicht. Aber ...“, sie zögerte einen Augenblick. „War denn diese Susanna auch da?“

„Nein, die ist doch im Urlaub. Auf Gran Canaria, Sonne tanken.“

Sie schwieg. Spürte, wie sich ihr Blutdruck erhöhte. In ihrem Kopf spulten sich rasend schnell Möglichkeiten ab. Wirbelten herum und fachten die Angst an, die sich in ihrem Verstand breitzumachen begann. Angst, die das Denken erschwerte und in der ein Keim Panik steckte.

„Denise? Bist du noch dran?“

„Ja, bin ich. Was soll ich denn jetzt machen?“, fragte sie.

„Äh, weißt du, es ist schon spät, ich, hm, warte einfach noch ab. Wenn er nach Hause kommt, wird er dir schon erklären, was los war.“

Dann hörte sie eine Stimme im Hintergrund: „Jens! Mit wem telefonierst du denn da noch so spät?“

„Mit Denise, der Frau von Robin Bachmann! Der ist nicht nach Hause gekommen, und jetzt macht sie sich Sorgen!“

„Wie alt ist der denn? Zwölf?“

„Ach, du ...!“, rief er, fuhr dann wieder mit der sanften Stimme fort. „Also, Denise, ich denke, du solltest noch etwas abwarten.“

„Ja, da hast du wohl recht. Entschuldige, dass ich noch so spät angerufen habe.“

„Kein Ding. Der kommt schon noch. Morgen sieht die Welt dann schon wieder ganz anders aus.“

Denise behielt das Telefon in der Hand. Starrte durch den flackernden Screen des Smart-TVs hindurch. Nahm die Bilder nicht wahr, die dort liefen. Versuchte, böse Vor­ahnungen zu verdrängen, nein, nein, der ist versackt, nur versackt. Schaute immer wieder aufs Handy, in den Chat. Auf das Notebook. Strich mit beiden Händen die braunen Locken hinter die Ohren, stand auf. Berührte die Nummer von Tobias. Begann mit dem Telefon in der Hand im Wohnzimmer auf und ab zu gehen.

„Hallo?“, hörte sie seine schläfrige, verwunderte Stimme.

Denise erklärte, fragte, bedankte sich für seine ausgesprochene Anteilnahme und beteuerte, dass Robin und sie sich nicht gestritten hatten.

„Ist sein Smartphone bei einem Ortungsdienst angemeldet?“, fragte Tobias.

„Nein. Wir wollten das ...“

„Schade. Hast du schon bei seinem Vater angerufen? Vielleicht ist er zu ihm gefahren“, sagte er.

Sie rief Thomas Bachmann an. Aber auch der wusste nicht, wo sein Sohn war, und auch er fragte, ob sie sich gestritten hätten.

„Nein, Tom, das haben wir nicht“, sagte sie aufgebracht und legte zitternd auf.

Schaute wieder in die Chats. Nichts. Nagte am Daumennagel. Tippte auf die Nummer ihrer Freundin Madlen, lief herum, blieb vor dem Bücherregal stehen, endlich war sie dran, „Hi, Denny.“

Denise erklärte ihr, was los war, ging hin und her. Blieb vor dem Fenster stehen. Schaute in die nasse, ungemütliche Novembernacht hinaus. Hielt Ausschau nach ihm. Lief weiter aufgeregt im Kreis herum.

„Ich glaube, die Polizei nimmt Vermisstenanzeigen erst nach 24 Stunden auf“, sagte Madlen. „Nur bei Kindern suchen die sofort.“

„Was soll ich denn jetzt machen?“, fragte Denise verzweifelt und mit Tränen in den Augen.

„Weißt du was? Ich werde mal rüberkommen.“

„Jetzt? Es ist doch schon halb eins“, sagte Denise schwach.

„Egal. Ich habe morgen Spätdienst. Bis gleich.“

Zwanzig Minuten später saßen sich die beiden Freundinnen im Wohnzimmer gegenüber. Madlen versuchte Denise zu beruhigen, die nervös und aufgeregt das Telefon in ihren Händen hielt. Immer wieder seine Nummer anrief. In den Chat schaute. Immer wieder zur Tür lauschte, ob sie endlich seinen Schlüssel im Schloss hörte, oder aufsprang und zum Fenster lief.

„Man darf nicht vom Schlimmsten ausgehen, Denise.“ Madlen warf das lange blonde Haar nach hinten, wischte auf ihrem Smartphone herum, suchte, las. „Ach! Hier steht, man muss gar nicht 24 Stunden warten. Wenn ein begründeter Verdacht besteht, kann zu jeder Zeit eine Vermisstenanzeige aufgegeben werden. Ich würde sagen, du rufst jetzt mal bei der Polizei an. Und ich telefoniere die Krankenhäuser ab. Wenn du das möchtest.“ Sie hob den Kopf und schaute Denise über den feinen Goldrand ihrer großen Brille hinweg an. „Oder wollen wir noch warten?“

„Er ist fünf Stunden über die Zeit, sein Telefon ist aus, nein Maddy, ich möchte nicht mehr warten“, sagte Denise gereizt, und es klang schärfer als sie gewollt hatte. „Entschuldige, ich ...“

„Kein Problem. Hier, die Nummer von der Polizeiwache Nord.“

Gegen halb zwei Uhr in der Nacht wussten sie, dass Robin bisher in keinem Krankenhaus im Umkreis von dreißig Kilometern eingeliefert worden war.

Der Beamte der Wache Braunschweig-Nord hatte die Suchanzeige aufgenommen und an die Streifen in der Region durchgegeben: Robin Bachmann, 31 Jahre, 1,78 m, von schlanker Statur, kurzes dunkles Haar, Brillenträger. Gekleidet in einen schwarzen Mantel, schwarze Stoffhose, dunkelblaues Hemd. Trägt vermutlich eine graue Umhängetasche bei sich. Letzter bekannter Aufenthaltsort Donnerstag gg. 20:30 Uhr Braunschweig, Autohaus Schrader, Theodor-Heuss-Straße. Kfz: blauer VW e-Up, Kennzeichen BS - DR 2018.

Madlen hatte sich neben Denise gesetzt und einen Arm um sie gelegt. „Jetzt können wir nur noch abwarten ...“, sagte sie leise.

„Wo kann er nur sein? So etwas hat er noch nie gemacht.“ Denise schüttelte den Kopf, in dem dunkle Gedanken herumwirbelten wie Wolken vor einem furchtbaren Gewittersturm. „Da muss was passiert sein.“

„Vielleicht rufen die gleich an, weil er in eurem Auto eingeschlafen ist und ...“

Das Telefon klingelte tatsächlich in genau diesem Augenblick. Denise schaltete den Lautsprecher ein, damit Madlen mithören konnte.

„Frau Bachmann? Die Kollegen haben nach Ihrem Wagen gesehen. Der steht auf dem Parkplatz des Autohauses. Er ist verschlossen, und im Inneren befindet sich keine Person. Tut mir leid.“

„Danke“, sagte Denise und legte auf. Ein kleines Stückchen Hoffnung, das sich im dunklen Nichts auflöste. Wo ist er? Was ist ihm passiert? „Danke auch, dass du da bist. Ich würde sonst ...“

Maddy stand auf, holte eine Wolldecke, schaltete den Fernseher an. Tätowierte kurzhaarige Muskelprotze gockelten am Pool vor tätowierten, mehrfachoperierten Blondinen. Sie drückte das Programm weg, genau wie die Krimis und Krankenhausserien, zappte herum, bis die skurrile Moderatorin eines Verkaufssenders ihre gnadenlose Euphorie in das Wohnzimmer schickte, während es in Denise’ Kopf hämmerte: Wo ist er?

Blick in die Chats.

Wo ist mein Mann?

Panik. Keine Panik!

Dann tippte sie hastig mit beiden Daumen: „Hallo, seit gestern Abend vermisse ich Robin. Falls du/ihr ihn gesehen oder etwas gehört habt, sagt bitte, bitte Bescheid. LG Denise.“ Sendete es an fast alle Telefonnummern, die sie gespeichert hatte.

2

Das trübe Licht des grauen Novembermorgens sickerte nur langsam in das Wohnzimmer. Denise kochte Kaffee, verschüttete die Milch, Robins Vater rief an. Im Chat trafen nacheinander Antworten ein, niemand wusste etwas. Sie sprach mit ihrer Mutter in Nordhausen, hastig, mit zitternder Stimme.

Madlen musste gehen.

Die Polizei hatte keine neuen Erkenntnisse, aber die Beamtin beruhigende Worte. „Über neunzig Prozent der Vermisstenanzeigen müssen wir nach ein paar Stunden oder Tagen wieder löschen, weil die Person sich gemeldet und alles erklärt hat.“

Minuten krochen dahin.

Sie rief in der Dowesee-Schule an, wo sie als Sozialarbeiterin arbeitete, sagte, sie käme heute nicht.

Wartete. Las eingehende Nachrichten. Beantwortete Fragen.

Schaute immer wieder aus dem Fenster auf die nasse Straße Am Schwarzen Berge.

Verfluchte ihn, telefonierte, kroch die Wände hoch, kaute Fingernägel ab, weinte, betete, saß auf dem Sofa und wiegte den Oberkörper hin und her, sprang auf, musste etwas tun, wusste nicht was, raus, rausgehen – aber wenn er genau dann kam? Wenn er genau dann anrief?

Ein Unfall? Bitte, lieber Gott, lass es kein Verschwinden für immer sein.

Sein Vater kam zu ihr, aschfahl im Gesicht, aber wider Erwarten stark genug für ein paar beschwichtigende, aufbauende Worte. Er rauchte eine Zigarette auf dem Balkon. Rief bei der Polizei an, ob man den Wagen abholen dürfe.

„Ja, das dürfen Sie. Selbstverständlich.“

„Aber vielleicht sind da Spuren dran oder drin, die gesichert werden müssten.“

„Ganz sicher sind da Spuren am und im Fahrzeug. Aber es liegt ja kein Verbrechen vor.“

Gemeinsam fuhren sie mit einem Taxi zum Autohaus Schrader, um den e-Up zu holen.

Gingen in den großen Verkaufsraum, befragten Robins Kolleginnen und Kollegen. Jens Marquardt. Sie hatten den Müller verabschiedet. Ein bisschen was getrunken. Sekt. Und zur Feier des Tages hatte der Müller richtig guten Whiskey mitgebracht. Robin hatte probiert, aber lieber Bier getrunken, irgendwann sei er dann los.

„Wann? Wann war das!?“, fragte Denise, zu laut und zu barsch.

„Gegen halb neun, würde ich sagen. Der wollte das Auto stehen lassen und ist dann wohl rüber zur Straßenbahnhaltestelle an der Wolfenbütteler“, sagte Jens. „Die Susanna ist doch im Urlaub, sonst hätte sie Robin sicher nach Hause gefahren, die wohnt in eurer Richtung.“

„Danke“, sagte Denise, schaute zu Boden, dann auf ihr Handy, im Chat nichts Neues.

Sie verließen das Autohaus, der Vater zündete sich eine Zigarette an, und zusammen gingen sie durch den Nieselregen bis zur nächsten Kreuzung. Vierspurig. Hier musste er entlanggegangen sein, wenn er die Haltestelle an der Wolfenbütteler Straße hatte erreichen wollen. Dazwischen lag der Park. Vielleicht ist er einfach umgefallen, dachte Denise, liegt in einem Krankenhaus und hat sein Gedächtnis verloren, vielleicht wurde er in ein Auto gezerrt, wird irgendwo festgehalten, bitte nicht, lieber Gott.

Sie überquerten die Straße. Linker Hand ein Parkplatz hinter kahlen Pappeln. Vielleicht hatte er hier jemanden getroffen? Vielleicht ... umgefallen ... mitgenommen ... Unfall.

Rasch gingen sie am Messegelände vorbei. Die Autostraße machte einen scharfen Bogen nach rechts, aber sie nahmen den Fußweg, der geradeaus direkt in den Park führte. Auf der linken Seite befanden sich hinter blattlosen Büschen ein paar Schrebergärten. Vielleicht war er in einer der Lauben? Gefesselt? Verletzt? Verwirrt? Rechter Hand triefende Bäume mit schwarzen Ästen. Geradeaus eine Brücke über die Oker. Dort blieben sie stehen. Schauten in den vom Regen angeschwollenen Fluss. In das schnell strömende, aufgewühlte, braune Wasser. Vielleicht war er dort hineingefallen?

„Komm“, sagte der Vater. „Der Regen wird immer schlimmer ...“

Krampfhaft hielt sie sich am Geländer der Hoheworth-Brücke fest. Schaute auf den strudelnden Fluss, das nasse Ufergras, die blattlosen Trauerweiden. Erst als ihr Telefon klingelte, ließ sie es los. Ihre Mutter rief aus Nordhausen an. Ein Trommelfeuer aus Fragen, die Denise laut, mit panisch bebender Stimme beantwortete. „Nein! Er hat sich noch nicht gemeldet!“

Vater Bachmann brachte sie zurück zum Wagen. Robins Geruch im Auto, in dem er gestern noch gesessen hatte und zur Arbeit gefahren war. Der Sitz auf seine Größe eingestellt, die Spiegel. Sein Stick in der Audio-Konsole. Simple Minds. Don’t you forget about me. Es war kaum zu ertragen.

Fahrig und unkonzentriert fuhr Denise zur Wache Nord. Nichts Neues, aber: „Die Vermisstenanzeige läuft. Wenn Sie bis morgen früh nichts von Ihrem Mann – Ihrem Sohn – gehört haben, fahren Sie bitte zum Kriminaldienst der Polizeiinspektion in der Friedrich-Voigtländer-Straße. Die kümmern sich dann um alles Weitere.“

Zu Hause war niemand. „Ich muss wieder zur Arbeit, die warten auf mich. Versuch wenigstens einen Happen zu essen“, sagte Robins Vater, steckte sich eine Zigarette an und ging.

Weinend setzte Denise sich auf das Sofa, telefonierte, beantwortete Fragen im Chat. Starrte auf den Bildschirm des Notebooks. Am späten Nachmittag stellte sie zwei Fotos von Robin ins Netz. Eines zeigte ihn lachend in Hemd, kurzen Hosen und mit einem Cocktail vor sich in der Strandbar Okercabana, das andere ernst in Anzug und Krawatte bei der Arbeit. „Wer hat meinen Mann gesehen??? Er ist seit gestern Abend verschwunden!!! Wahrscheinlich ging er zwischen 20 und 22 Uhr durch den Bürgerpark in der Nähe der Hoheworth-Brücke“, schrieb sie darunter. „Bitte meldet euch! Bitte teilen!“

Am späten Nachmittag kam Robins Vater wieder zu ihr, goss eine Instantsuppe auf, die sie nicht anrühren konnte, rauchte auf dem Balkon und ging wieder. Tobias und seine Freundin Annika schauten vorbei und boten Hilfe an. Auch ihre Freundin Rebekka Tiehle wollte ihr zur Seite stehen, kam kurzerhand mit Bettzeug und ihrem vierjährigen Sohn Lennard zu ihr, der mit seinem kindlich unschuldigen Gemüt die Stimmung etwas aufhellte, bis er einschlief. Und auch Madlen kam wieder vorbei, brachte ein paar Beruhigungstabletten mit, blieb aber nicht über Nacht.

Die zweite Nacht ohne ihn. Ein unendlicher Albtraum ohne Schlaf. Nur mit einem Gedankenkarussell des Horrors im Kopf.

3

Viele ihrer 136 digitalen Bekanntschaften auf Lovely­friends hatten den Sucheintrag mit Emojis versehen und kommentiert. Tröstende Worte. Dumme Tipps. Schlaue Sprüche, von klugen Leuten, die schon lange tot waren, oder aus der Bibel. Dreißig Mal geteilt. Aber niemand schrieb, dass er Robin in der fraglichen Zeit am angegebenen Ort gesehen habe.

Als Rebekka mit ihrem Sohn fort war, stieg Denise ins Auto und fuhr zur Polizeiinspektion. Zwei Nächte war Robin jetzt verschwunden, das sollte wohl genügen, dass die Behörden sich endlich auf die Suche nach ihm machten, dachte sie und rollte wie durch einen Tunnel über die Straßen.

In einem Büro saß sie einer älteren blonden Frau mit tiefen Falten um den Mund gegenüber. Die dünnen Haare immer noch toupiert und mit Haarlack zu einer ewigen Achtzigerjahre-Frisur konserviert. Mit zusammengezogenen Augenbrauen hörte Kriminalkommissarin Deppe-­Kleinschmidt Denise zu, tippte, guckte auf den Monitor, stellte Fragen zum Familienstand, zur beruflichen Situation, tippte, dann schaute sie kurz auf: „Hatten Sie sich am Mittwochabend oder den Tagen vor Donnerstagmorgen gestritten?“

„Nein, wir haben uns nicht gestritten. Wir streiten nur selten“, sagte Denise und knüllte das Taschentuch in ihren Händen.

„Das sagen Sie. Sein Handy ist immer noch abgeschaltet?“

„Was? Ja. Ich habe es so oft probiert, Tag und Nacht, aber ...“

„Danke“, unterbrach die Kommissarin sie und tippte.

„Die Nummer?“

„0175-135567014444“

„Telefonanbieter?“

„Speakfresh.“

„Gut. Dann werde ich gleich den Antrag für den Beschluss einer Handyortung stellen“, sagte die Kommissarin, tippte schweigend. „Psychisch ist er gesund?“, fragte sie dann und blickte Denise kurz an.

„Ja. Er war noch nie depressiv oder psychisch angeschlagen, hatte kein Burn-out oder so etwas.“

„Süchte?“

Denise zog die Stirn kraus. „Was?“

Die Kommissarin fixierte sie. „Süchte, Krankheiten. Ist Ihr Mann alkoholkrank? Spielsüchtig? Tablettenabhängig?“

„Äh, nein, nicht dass ich wüsste.“

„Was heißt das, nicht dass Sie wüssten? Vermuten Sie, dass er etwas vor Ihnen verbirgt?“

Denise richtete sich auf, beugte sich vor. „Nein! Er verbirgt nichts vor mir! Was soll denn diese Fragerei? Sie sollen meinen Mann suchen!“

„Jetzt werden Sie bitte nicht laut, Frau Bachmann. Ich tue hier nur meine Arbeit und muss wissen, ob ein Suizid ausgeschlossen werden kann. Also, weiter im Text. Unterhält er eine intime Beziehung zu einer anderen Person außer Ihnen?“

Denise lehnte sich wieder zurück. „Nein, natürlich nicht.“

„Ist er vorbestraft?“

„Nein.“

„Sind Sie überschuldet?“

„Nein.“

„Wie verbringt er seine Freizeit?“

„Mit mir. Seinen Freunden. Hören Sie ...“

Wieder schnitt Frau Deppe-Kleinschmidt ihr das Wort ab. „Wir sind gleich fertig, Frau Bachmann, dann können Sie gehen und Ihrem Ärger Luft machen. Hat er Hobbys? Wenn ja, welche?“

„Fahrradfahren. Joggen. Musikhören. Fußball. Lesen. Grillen. Filme. Gitarre spielen. Gamen.“

„Gamen?“ Die Kommissarin schaute auf.

„Computerspiele.“

„Ach, ja, natürlich.“ Sie tippte, fragte weiter: „Hat er irgendwelche unveränderlichen körperlichen Merkmale? Große Narben? Tattoos?“

„Ja. Zwei Maori-Tattoos. Einen Tiki auf der Wade und das Marquesas-Kreuz auf dem linken Oberarm.“

Die Kommissarin tippte, murmelte: „Maori-Tattoos. Tiki und Kreuz“, schüttelte den Kopf und schnalzte mit der Zunge. Dann nahm sie die Hände von der Tastatur. „So, das Wichtigste haben wir ...“, klickte, starrte auf den Monitor, nahm einen Stift und schaute Denise direkt an. „Wurde Ihr Mann in der Vergangenheit bedroht? Hatte er Feinde?“

„Nein. Nein. So etwas hat er nie erwähnt.“

„Erzählen Sie noch einmal genau, was vorgefallen ist.“

Denise atmete tief ein. Erzählte wieder alles noch einmal ganz von vorn. Auch, dass Robin von seiner Arbeitsstelle aus durch den Bürgerpark zur Straßenbahnhaltestelle an der Wolfenbütteler Straße gehen wollte. Dann brach sie in Tränen aus. „Mein Mann ist verschwunden! Tun Sie doch endlich etwas!“

Die Kommissarin legte den Stift beiseite, lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. „Frau Bachmann, ich habe bereits – ich weiß nicht wie viele –Vermisstenanzeigen in meinem Leben bearbeitet. Deshalb würde ich sagen, ich kenne mich ein bisschen in dem Metier aus. Was meinen Sie, was uns die Leute hier alles erzählen, damit wir nach ihren verschwundenen Angehörigen suchen. Von den hysterischen Eltern pubertierender Jugendlicher will ich gar nicht erst reden. Aber erwachsene Menschen haben in Deutschland ein selbstbestimmtes Aufenthaltsrecht. Ich weiß auch, dass es momentan für Sie nicht einfach ist. Bis Ihr Mann wieder da ist, müssen Sie sich zusammenreißen. Wir werden das Unsere tun, tun Sie das Ihre. Bisher haben wir eigentlich alle Personen gefunden, die vermisst gemeldet wurden. Neunundneunzig Prozent, vielleicht sogar mehr.“

Denise strich sich eine Locke aus dem Gesicht. „Und was ist mit dem einen Prozent, das Sie nicht gefunden haben?“

Frau Deppe-Kleinschmidt zuckte mit den Schultern, schob ihren Stuhl zurück und erhob sich. „Die haben sich irgendwo ins Ausland abgesetzt, bevor sie jemand als vermisst gemeldet hat und wir Maßnahmen ergreifen konnten. Wir werden uns bei Ihnen melden, sobald wir etwas in Erfahrung gebracht haben.“

Auch Denise erhob sich. „Und? Was tun Sie jetzt?“

„Wir werden die Daten europaweit an die entsprechenden Behörden weiterleiten. Wenn das Gericht es anordnet, werden wir beim Mobilfunkbetreiber die Handydaten anfordern und möglicherweise die Kameraaufzeichnungen in den Straßenbahnen innerhalb der fraglichen Zeit. Außerdem nachsehen, wo im Umkreis der Firma und des Parkplatzes, auf dem Ihr Auto stand, Überwachungskameras installiert sind. Vielleicht fordern wir später auch die Aufnahmen der ÜKs im Bahnhof an, falls er sich mit dem Zug davongemacht hat. Aber das alles kostet sehr viel mehr Zeit als in einem Fernsehkrimi. Das muss alles richterlich und rechtskräftig beschlossen werden, und bis wir das Material bekommen, ist Ihr Mann mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit längst wieder aufgetaucht, und unsere Arbeit war mal wieder umsonst. Reicht Ihnen das erst mal, Frau Bachmann?“

*

Die Buchstaben, die Sätze, die Emojis, alles verschwamm vor Denise’ Augen. Sie hatte ihrer Netzgemeinde von dem Verhör und dem Verhalten der Kommissarin berichtet, einige mitfühlende Kommentare dafür bekommen. Auch am Telefon und über die Chatgruppen hatte sie es allen erzählt, und das furchtbare Karussell der Möglichkeiten in ihrem Verstand hatte sich langsamer gedreht.

Aber jetzt rasselte es wieder los. Sie stellte den Laptop auf den Sofatisch, legte sich hin, zog die Beine an, wurde von Schluchzern geschüttelt, die ihren Körper beben ließen. In ihrem Kopf jagte ein Horrorszenario das andere. Ein Unfall? Entführt? Wie lange war er jetzt weg? Zwei Tage. Aber keine 48 Stunden. Was, wenn er nachher kommt? Was, wenn er bis nächsten Sonntag weg ist? Was wäre, wenn er niemals wiederkäme? Oh Gott – nein! NEIN! Das wollte sie nicht denken. „Finden sich alle wieder ein, die Männer!“, hatte jemand geschrieben. „Unkraut vergeht nicht, der ist bald wieder da.“, „Genieß die freie Zeit!“, eine andere. „Ich wünsche dir viel Kraft!“, und „Meine Tante war auch mal drei Tage lang verschwunden.“, und „Neunundneunzig Prozent, vielleicht sogar mehr ...“, hatte die Kommissarin gesagt aber ...

Plötzlich schnitt die Türklingel wie eine aufkreischende Motorsäge ihre rotierenden Gedanken ab. Mit einem spitzen Schrei sprang sie auf. Rannte zur Wohnungstür. Mit großen, weit aufgerissenen Augen, in denen die Hoffnung aufblitzte. Sah Robin schon im Türrahmen stehen – dreckig, mit zerrissener Kleidung, blutend, egal, egal, egal –und riss die Tür auf.

4

Die da drüben, wenn das seine Bewährungshelferin wäre ... denn im Gegensatz zu der Hilfsakademikerin mit der Brille hatte die Torte da riesige, mit blauem Lidschatten geschminkte Augen und ein leuchtendes Rot auf den dicken Lippen. Außerdem ein Oberteil an, aus dem zwei ultrageile Möpse hervorquollen, die den Blick quasi anzogen wie Motten das Licht.

„Wie, Alta?“, fragte Rüdiger, der neben ihm saß und über sein Bierglas hinweg ebenfalls auf die Frau starrte. „So sieht die Olle aus?“

„Nee“, sagte er und hob das Glas. „Ich hab’ gesagt, wenn die so aussehen würde, dann würde ich die sofort flachlegen. Das rote Gift, das. Meine B-W-H ist auch rothaarig, hat aber ’n Stoppelschnitt wie’n Kerl. Und kein Arsch. Und schminken tut die sich auch nich’.“

„Is’ bestimmt lesbisch. Die sind doch alle lesbisch, Alta. Oder sogar Transen, diese Sozialtanten.“ Rüdiger lachte dreckig.

„Genau! Prost!“, sagte er, und sie stießen kichernd die Gläser zusammen, tranken synchron.

„Ahh ...“, er strich sich über die pralle Wampe.

„Wie lange musst du noch mal zu der hin?“, fragte Rüdiger.

„Na, die ganzen fünfzehn Monate. Bis die Bewährung vorbei is’.“

Sein Kumpan schaute nachdenklich in das fast leere Bierglas. „Oh Mann, fünfzehn Monate. Und Geld sollste auch noch zahlen ...“

„Kein’ Pfennig sehen die! Von mir nich’. Bin doch Frührentner. Hab doch nix.“

„Was für’n Scheiß. Nur weil du dich mit dieser blöden Tusse getroffen hast.“

Er hob den Zeigefinger: „Erst gechattet. Da wusste ich ja noch nicht, wie bescheuert die ist. Wollte mir auch keine Selfies schicken, von unter der Dusche oder so. Da hätte ich schon schalten sollen.“

„Und als ihr euch getroffen habt, hat sie dich verscheißert.“

„Mann, voll! Wie ’ne läufige Hündin war die. Immer den Blick, so ... Und gelächelt, so ... Wie ’ne Professionelle. Als wir dann im Park waren, hat se plötzlich rumgekreischt. Hat behauptet, ich hätte ihre Titten begrabbelt und was weiß ich noch alles. Alles gelogen! Für so eine Schlampe kriegt man fünfzehn Monate. Und dann kamen ja diese beiden Arschlöcher.“

„Die Supermänner!“

„Blöde Wichser. Haben da rumgebrüllt und die Bullen geholt, die Idioten. Na, man trifft sich im Leben immer zweimal, sag ich nur.“

„Genau! Mach se platt, Alta!“

„Prost!“

„Prost!“

Sie tranken das Bier aus. Er wischte sich den Schaum von den Lippen. „Den einen hab’ ich, glaub ich, mal gesehen. Im Park.“

„Echt? Im Bürgerpark? Da wo vorgestern so ’n Typ verschwunden sein soll? Was die Frau dauernd postet?“

„Nee, also ... äh, da nich’!“, sagte er und winkte mit dem leeren Glas. „Helmut! Noch zweie! Auf jeden Fall fragt die bekloppte B-W-H quasi immer, was ich jetzt mache. Ob ich wieder mit ’ner Ische chatte und so. Das soll ich nämlich nich. Und mit wem ich mich treffe.“

„Na, mit mir, Alta. Is’ doch okay!“

„Jawoll!“ Sie schlugen sich gegenseitig auf die Schultern. Glotzten weiter die Frau an, tranken und lachten, bis es Zeit war.

„So, Rüdi, ich werd dann mal. Meine Bahn ...“, sagte er, rief lauthals, dass er zahlen wolle, und verließ schwankend die Kneipe. Trat raus in die feuchte Kälte der Novembernacht. Torkelte durch die Fußgängerzone, über den Burgplatz Richtung Straßenbahnhaltestellen. Blieb unter dem Löwen stehen, pinkelte gegen den Sockel und schaute hoch zu dem bronzenen Raubtier. „Verdammt und schlag mich tot, der hat wirklich keine Eier“, murmelte er.

5

Denise war zur Tür gestürmt, hatte sie aufgerissen und in den leeren Hausflur gestarrt. Hatte dann erst auf den Öffner gedrückt und war ein paar Stufen die Treppe hinuntergeeilt.

Die Frau schaute zu ihr hoch und sagte: „Hallo Liebes.“

„Hallo Mama“, sagte Denise.

Sabine Dittmer hatte Schnittchen gemacht und die halbe Nacht geredet wie ein Wasserfall. Denise schaute nur ab und zu auf ihre Plattformen im Internet und in die Chats, hatte nur gepostet: „Er ist immer noch nicht da und die Polizei tut nichts!“, die Tabletten genommen, die Madlen ihr gegeben hatte, aber in dieser Nacht hatte sie endlich mal wieder ein paar Stunden auf der Couch im Wohnzimmer geschlafen.

Am frühen Sonntagmorgen rief Denise gleich bei der Kriminalpolizei an. Nein, es gäbe nichts Neues, sagte Kommissar Lichtenberg, ein Mann mit einer tiefen Stimme. Alles sei in die Wege geleitet, und man müsse abwarten.

„Konnten Sie denn sein Handy orten?“

„Ich schau mal ... Moment ... hm ... nein, mit den uns erlaubten rechtlichen Maßnahmen leider noch nicht. Tut mir leid.“

Dann riefen Freunde an, Bekannte. Und ihr Bruder Florian und ihre Schwester Leonie. Immer wieder schaute sie in die Kommentarlisten, in ihre Postfächer, ob jemand einen Hinweis hatte geben können. Aber da stand nichts.

Robins Vater kam vorbei. Rebekka. Geteiltes Leid ist halbes Leid.

Zweieinhalb Tage. Alle versuchten, Hoffnung zu schüren, Zuversicht über die Panik zu streuen.

Ihre Mutter kümmerte sich weiter um sie, „Liebes, ich glaube, eine Dusche würde dir ganz guttun“, kochte Tee, bereitete Essen, aber das Einzige, was Denise wollte, war Robin.

Am Nachmittag rief Kommissarin Deppe-Kleinschmidt an. Mürrisch, anklagend. „Vielleicht sollten Sie weniger in den Sozialen Medien posten, Frau Bachmann, das könnte unsere Arbeit behindern. Wenn Sie psychologische Hilfe in Anspruch nehmen wollen, schicke ich Ihnen gerne jemanden vom Kriseninterventionsteam.“

Denise hob das Kinn. „Nein, das ist nicht nötig“, sagte sie trotzig.

Ihre Mutter blieb, schimpfte über die Kommissarin, über die Nachrichten, über das Wetter, über ihre Friseurin, redete, erzählte von Denise’ Bruder Florian, der immer noch bei ihr wohnte und das Hotel Mama genoss, von Denise Schwester Leonie, die sich nie bei ihr meldete, wirklich niemals. Alles schon tausend Mal gehört, und es konnte den Horrorfilm in ihrem Kopf nicht in den Hintergrund drängen.

*

Nach dem Wochenende fuhr ihre Mutter zurück nach Nordhausen. „Ich muss mich auch um deinen Bruder kümmern“, sagte sie.

„Jeden Tag kümmerst du dich um Florian! Kochst, wäschst, putzt, als wäre er noch ein Kind! Er ist 31 Jahre alt, Mama! Er ist wie Papa. Wenn er wenigstens arbeiten gehen würde ... schmeiß ihn doch endlich raus!“

„Und dann? Taucht er ab, wie deine verstrahlte Schwester, wird kriminell oder so ...“ Die gleiche Leier, seit Jahren.

„Leonie ist nicht abgetaucht. Sie lebt in Berlin, wie ein ganz normaler Mensch.“

„Normal ...“, ihre Mutter winkte verächtlich ab, dummes Ding, du weißt gar nichts. Demonstrativ zog sie den Griff aus ihrem Rollkoffer. „Fährst du mich nun zum Bahnhof, oder muss ich den Bus nehmen?“

Beim Abschied weinte sie, schluchzte: „Ich würde dir so gern helfen, Liebes.“ Aber das hatte sie noch nie gekonnt.

Als Denise ihre Mutter abgesetzt hatte, fuhr sie zu ihrer Hausärztin. In dem Zustand konnte sie unmöglich arbeiten, und die Sprechstunden der Schulsozialarbeiterin an der Freien Schule Dowesee mussten die nächsten Tage ausfallen. Die Ärztin hörte ihr zu und verschrieb ein Schlafmittel und ein Antidepressivum.

Zurück in der leeren Wohnung stürzte sie sich in die virtuellen Weiten des digitalen Lebens. Lud weitere Fotos von Robin hoch, vom Weg im Bürgerpark, auf dem er vermutlich verschwunden war. Kommentierte barsch das bisher erfolglose Ergebnis der Polizeiarbeit, verteile Emojis, Reagierte auf Einträge in den Medien-Plattformen, bis das Festnetztelefon klingelte.

„Guten Tag, Kripo Braunschweig, Klunker am Apparat. Mit wem spreche ich?“

„Denise Bachmann.“ Sie richtete sich auf.

„Hallo Frau Bachmann. Hat sich Ihr Mann bei Ihnen gemeldet?“

„Nein“, sagte sie, plötzlich hellwach und voller Hoffnung. „Gibt es was Neues? Haben Sie etwas von meinem Mann gehört? Ist er ...?“

„Nein. Es ist nur so, das die meisten Angehörigen vergessen, uns Bescheid zu geben, wenn die vermisste Person wieder da ist. Was ich Ihnen mitteilen wollte, wir haben jetzt doch schon die Aufnahmen der Überwachungskamera von der Firma bekommen, in der Ihr Mann arbeitet, und uns den entsprechenden Zeitraum angesehen.“

„Was?“ Denise sprang auf. Bilder von Robin. Vielleicht die letzten vor seinem Verschwinden. „Sie haben ...? Die Aufnahmen ...?“ Sie schlug die Hand vor den Mund.

„Ja. Die könnten vielleicht bestätigen, was Sie uns erzählt haben. Es ist eine Person darauf zu sehen, die Merkmale der Beschreibung Ihres Mannes aufweist. Sie verlässt das Gebäude, und es sieht so aus, als ob sie sich Ohrhörer in die Ohren steckt und dann auf dem Handy herumwischt. Sie bewegt sich zu Fuß geradeaus in Richtung der Kreuzung, von der eine Straße zum Park und der Hoheworth-Brücke führt. Dann verlässt sie das Sichtfeld der Kamera. Ich wollte Sie fragen ...“

Denise setzte sich wieder hin.

„... um die Aufnahmen aus dieser und auch den noch folgenden Überwachungskameras auszuwerten, brauchen wir aktuelle Fotos von Ihrem Mann. Wenn möglich Videos, auf denen er sich natürlich bewegt, also, irgendwo entlanggeht. Sie können uns das entsprechende Material per Mail zusenden.“

„Ja. Ja, klar, mach ich“, sagte Denise, notierte sich aufgeregt die Adresse. „Ich habe doch Fotos ins Internet gestellt. Und auf meiner Lovelyfriends-Seite finden Sie auch kurze Videos.“

„Ja, das ist nicht zu übersehen. Aber die Qualität, wissen Sie, und rechtlich ist das auch so eine Sache. Schicken Sie uns einfach zu, was Sie finden können. So schnell wie möglich.“

Am Abend kam Madlen vorbei. Denise weinte bebend an ihrer Schulter. Ihrer Freundin drehte sich der Magen um vor Schmerz.

Irgendwann musste Maddy gehen. Bis spät in die Nacht telefonierte Denise, schaute sich die Kommentare an, ihre Netzgemeinde wuchs schnell. Sie antwortete, schrieb, dass es ihr nicht gut gehe. Las immer wieder vom Mut, den sie nicht verlieren, von der Hoffnung, die sie nicht aufgeben dürfe. Aber irgendwann war sie alleine mit der kreischenden Angst in ihrem Kopf, dem furchtbaren Bohrer in ihrem Magen und den Tabletten.

Lag schlummernd auf dem Sofa, schreckte trotz der Medikamente ein paar Mal hoch, weil sie seinen Schlüssel im Türschloss gehört hatte. Gehört hatte, wie er die Wohnung betrat und rief: „Déni! Schatz! Ich bin wieder da!“ Aber es war totenstill.

*

Früh am Dienstagmorgen saß sie unter der Lampe am Küchentisch und starrte mit roten Augen in den bodenlosen schwarzen See des Kaffeebechers. Erst als es spät genug war, begann sie wieder zu telefonieren.

Auch per Video mit ihrer Schwester in Berlin. Mit zerzaustem Haar und drei Traumfängern im Hintergrund saß Leonie da und empfahl ihr spezielle Globuli, Kraft-Edelsteine und natürlich die Bachblüten-Notfalltropfen. „Was? Du hast keine im Haus, Denise? Ich schicke dir mal welche. Und ich denke, es wäre gut, wenn du eine Stunde am Tag meditierst, damit dein Geist sich mal erholen kann. Wenn du dich fallen lässt und ganz frei darauf konzentrierst, siehst du vielleicht sogar, wo Robin gerade ist. In der Zwischenwelt gibt es nämlich Türen, die dich in andere Welten führen können. Als ich mal ein ähnliches Problem hatte ... also, als mein Mondkind verschwunden war – das weißt du doch noch? Wie aufgeregt und hilflos ich war? Da hat mir das echt geholfen, das Meditieren. Eine Verbindung zu der anderen Welt zu suchen. Und dann wurde ich eingelassen, sage ich immer. Ich wurde direkt zu ihr geführt und habe gesehen, dass jemand Mondkind im Tierheim abgegeben hatte! Ich also hin – und es stimmte! Ich hatte mich bei den guten Geistern mit einem Myrtenkranz und einem echten Mistelzweig bedankt, die ich am nächsten Neumond in die Spree geworfen habe. Ich habe nur gedacht ... sag mal, hörst du mir überhaupt zu, Denise? Du guckst immer nur auf dein Smartphone“, sagte ihre Schwester. In dem Augenblick begann Denise’ Festnetztelefon zu klingeln.

„Ja, vielen Dank, tschüss Leonie“, sagte sie, „ich muss da mal rangehen, ich glaube, das ist die Polizei.“ Klickte hastig das Programm weg und nahm das Gespräch an.

„Guten Morgen, Frau Bachmann, Deppe-Kleinschmidt hier.“

„Hallo“, Denise verzog das Gesicht, als hätte sie in eine verschimmelte Toastbrotscheibe gebissen.

„Wir haben nun auch die Aufnahmen der Überwachungskameras aus den Straßenbahnen bekommen und sie mit dem Material, das Sie uns gestern geschickt haben, verglichen. Auch wenn wir nur ein schmales Zeitfenster zu bearbeiten haben, es ist anstrengend, alle Aufnahmen zu sichten. Ich und eine Kollegin beschäftigen uns damit. Leider konnten wir bisher die vermisste Person, also Ihren Mann, auf den Videos nicht entdecken. Vielleicht kommen Sie mal vorbei und schauen sich die entsprechenden Aufnahmen an? Sie kennen Ihren Mann am besten, seine Gesten, wie er sich bewegt. Und nicht zuletzt, was er an dem Tag getragen hat.“

Denise richtete sich auf. „Wann soll ich da sein?“

*

Wieder fuhr sie mit dem e-Up zur Polizeidirektion in die Friedrich-Voigtländer-Straße, wo die Kommissarin sie schon erwartete. Mürrisch, kalt, wie beim ersten Mal. Sie brachte Denise in ein kleines, fensterloses Büro, das von mehreren großen Bildschirmen dominiert wurde.

„Sie können sich hier hinsetzen. Mit der Maus können Sie hier stoppen, vor und zurück spulen“, sagte sie und ließ den Mauspfeil über die entsprechenden Symbole gleiten. „Es sind insgesamt etwa zwanzig Sequenzen der beiden Tramlinien von je circa fünf Minuten, ab der Straßenbahnhaltestelle Jahnplatz bis zum Bahnhof. Die werden hintereinander abgespielt, da oben rechts stehen die Uhrzeit und die Nummer der Straßenbahn. Aber Sie brauchen nichts weiter zu tun, als sich auf die Bilder zu konzentrieren.“

Denise nickte und nahm auf dem Bürostuhl Platz. „Sie bleiben nicht hier?“

„So viel Zeit habe ich nicht, Frau Bachmann. Ihre Anzeige ist schließlich nicht die einzige, die wir bearbeiten müssen, und die Befragung der Straßenbahnfahrer hat lang genug gedauert. Nun denn, viel Erfolg“, sagte die Kommissarin, ging zur Tür, drehte sich aber noch einmal um, die Mundwinkel so weit nach unten gezogen, dass ihr Kinn aussah wie das einer missmutigen Marionette. „Hier ist das Fotografieren übrigens verboten. Wenn Sie also keine Geldstrafe riskieren wollen, lassen Sie es“, blaffte sie und verschwand.

Denise schaltete ihr Handy in den Flugmodus. Auf der Fahrt hierher hatte sie mit dem Gedanken gespielt, die Polizisten zu bitten, sich auch die Aufnahmen vom Parkplatz des Autohaus Schrader ansehen zu dürfen, Bilder, auf denen Robin zu sehen war. Aber vielleicht war es besser, wenn sie das nicht tat. Sie griff zur Maus, blickte auf den Bildschirm, 5.11.20xx, 20:00, Tram 1 wurde oben eingeblendet. Dann startete sie die erste Sequenz. Fenster, Fahrer, Sitzplätze, Menschen, die Infotafel. Alles in Graustufen, aber scharf. Scheibenwischer bewegten sich, Straßenlaternen glitten vorüber, Jahnplatz wurde angezeigt. Die Bahn hielt, zwei Fahrgäste stiegen ein, „Einstieg nur beim Fahrer“, erinnerte sie sich. Konzentrierte sich auf die Menschen. Sah ihn nicht. Auch beim nächsten Halt nicht. Und beim übernächsten. Und denen danach. Er war nicht dabei.

Als sie die letzten paar Aufnahmen noch einmal zurückspulte, sprang die Bürotür auf. „Da Sie gerade hier sind, Frau Bachmann, wir haben eben die Aufzeichnungen aus dem Hauptbahnhof bekommen. Warten Sie ...“ Die Kommissarin beugte sich über sie, drängte sie zur Seite, griff nach der Maus. Denise konnte ihr Deodorant riechen, stechend, penetrant. Nicht ihre Note. „Aber ich bin noch nicht ganz fertig ...“

Deppe-Kleinschmidt schaute sie einen Moment schweigend an. „Fündig scheinen Sie bis jetzt ja nicht geworden zu sein. Wie lange brauchen Sie denn noch?“

„Etwa zehn Minuten. Ich möchte mir die letzten Aufnahmen noch ein zweites Mal ansehen.“

„Tun Sie das, dann bereite ich das an dem anderen Terminal da vor“, sagte sie und wies auf den Arbeitsplatz hinter Denise.

Beide Frauen arbeiteten schweigend. Nur das Klicken der kleinen Schalter an den Computermäusen war zu hören.

„Und? Sind Sie durch?“, fragte die Kommissarin spitz, ohne sich umzusehen. „Dann kommen Sie hierher.“

Denise seufzte, erhob sich, blieb in der Mitte des Raumes stehen. „Sagen Sie mal, geht das auch ein bisschen freundlicher?“

Jetzt drehte sich Deppe-Kleinschmidt zu ihr. Die Augenbrauen missmutig zusammengezogen. „Hören Sie, Frau Bachmann, glauben Sie, ich bin zum Spaß hier? Wir sind keine soziale Einrichtung, in die Sie gehen, wenn Sie meinen, dass das Unrecht der ganzen Welt über Sie hereingebrochen ist.“ Die Kommissarin stand auf, stemmte die Hände in die Hüften. „Ich sage Ihnen mal was: Die Frau, die gestern so brutal zusammengeschlagen wurde, dass sie bisher keine Aussage machen konnte; der extreme, jahrelange sexuelle Missbrauch des Sechsjährigen, der uns letzte Woche zu einer ganzen Gruppe von Kinderschändern geführt hat; der alte Mann, der heute Morgen mit einem Messer bedroht, geprügelt und ausgeraubt wurde – das sind bedauernswerte Opfer, das alles ist Arbeit, die ich zu leisten habe. Ich sammele Beweise, damit die verdammten Täter ihre Strafe bekommen, wie niedrig sie auch immer ausfallen wird. Also, sehen Sie zu, ob Sie Ihren verschwundenen Ehemann auf den Videos hier entdecken“, sagte sie und warf die Tür hinter sich zu.

Denise setzte sich auf den Stuhl. Schloss kurz die Augen, wischte die Tränen fort und holte tief Luft, ehe sie sich daranmachte, die Aufnahmen aus dem Bahnhof durchzusehen. Aber auch da konnte sie Robin nicht entdecken. Sie stand auf und verließ das fensterlose Büro.

Auf dem Flur kam ihr eine Frau im mittleren Alter mit einem langen, braunen Zopf, ausladenden Hüften und einem Telefon am Ohr entgegen. „Du, warte bitte mal einen Moment ...“, sagte sie in das Handy und blieb stehen. „Na, sind Sie fündig geworden, Frau Bachmann?“, fragte sie lächelnd. „Ich bin Hauptkommissarin Schröder.“

„Nein“, sagte Denise.

„Oh, das tut mir leid. Ich weiß, es ist gerade eine sehr schwere Zeit für Sie. Danke, dass Sie hergekommen sind. Und auch dafür, dass Sie die Sozialen Medien nutzen. Bei uns dauert das alles ein bisschen länger. Es ist einfach zu viel los. Ich hoffe, Ihr Mann ist bald wieder daheim. Auf Wiedersehen“, sagte die Frau, hob das Telefon wieder ans Ohr und eilte davon, während Denise ihr stirnrunzelnd nachschaute.

*

Durch die konzentrierte Arbeit und den Ärger, den die Respektlosigkeit der Kommissarin in ihr hervorgerufen hatte, war das Horrorkarussell in den Hintergrund getreten. Zu Hause begann es sich wieder zu drehen, schnell und laut. Denise starrte auf den Laptop, schrieb, las, knabberte an dem, was vom Nagel ihres Zeigefingers noch übrig war. Dann meinte sie aus den Augenwinkeln plötzlich eine Bewegung zu sehen. Einen Schatten, der dort stand. Schleuderte ihren Kopf herum. Aber da war nichts. Nur eine dunkle Jacke von ihm, die an der Garderobe hing.

Tränen liefen ihr über das Gesicht, sie griff zum Handy, wählte eine Telefonnummer, egal wer dran war, sie musste sprechen. Eine Stimme hören. Bevor sie verrückt wurde.

„Hallo Tobias, ich ...“

„Denise, schön, dass du anrufst! Gibt es denn irgendetwas Neues?“

„Ich ... ich war vorhin bei der Polizei und habe mir die Aufnahmen der Kameras aus den Straßenbahnen angesehen. Aber ich konnte Robin darauf nicht entdecken. Es ist so schrecklich ...“

„Echt? Oh Mann ... das würde ja bedeuten ... das heißt, dann ist er nicht mit der Bahn gefahren ... dann ist er ... dann wäre er vielleicht auf dem Weg zur Haltestelle verschwunden. Was sagt denn die Kommissarin dazu?“

„Ach, die blöde ...“ Dennis erzählte stammelnd, was passiert war.