Der Fremde - Caitlin Wahrer - E-Book
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Der Fremde E-Book

Caitlin Wahrer

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  • Herausgeber: Heyne Verlag
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2022
Beschreibung

"Eine der aufregendsten Neuerscheinungen dieser Saison." New York Times

Als ihr Schwager Nick nach einem brutalen sexuellen Übergriff im Krankenhaus liegt, ist Anwältin Julia fassungslos. Der Zwanzigjährige hat mit physischen Verletzungen und einem massiven Trauma zu kämpfen – und Julias Mann Tony, der sein Leben lang wie ein Vater für Nick gesorgt hat, wird von Wut und Verzweiflung aufgefressen. Der Verdächtige wird schnell gefunden, doch er bestreitet Nicks Aussage. Gleichzeitig verschlechtert sich Nicks psychischer Zustand dramatisch. Julia bemüht sich, ihre Familie zusammen- und den ermittelnden Polizisten Detective Rice auf Abstand zu halten. Doch Tonys Rachegefühle geraten außer Kontrolle, er macht Julia immer mehr Angst. Und schließlich muss sie sich fragen, wie weit Tony gehen wird, um seine Familie zu beschützen …

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Seitenzahl: 520

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Das Buch

Für Nick endet eine harmlose Datenight in einem Albtraum. Am nächsten Tag wird er mit den Folgen eines brutalen sexuellen Übergriffs ins Krankenhaus eingeliefert.

Tony liebt seinen Halbbruder Nick über alles. Zu sehen, wie Nick unter den Folgen des Übergriffs leidet, bringt Tony fast um den Verstand. Tony würde alles zu tun, um seinem Bruder weitere Qualen zu ersparen.

Julia ist Anwältin und hat schon viel Schlimmes gesehen. Doch mitanzuschauen, wie ihr Mann Tony unter dem Kummer seines kleinen Bruders leidet, ist kaum auszuhalten. Sie fürchtet um Nicks psychische Gesundheit ebenso wie um ihre Ehe und ihre Familie …

Ein packender und zugleich berührender Roman über eine Familie, die durch die grausame Tat eines Fremden beinahe auseinandergerissen wird – und über die Frage, wozu wir bereits sind, um die Menschen, die wir lieben, zu schützen.

Die Autorin

Caitlin Wahrer wurde als Tochter zweier Hippies in einer Kleinstadt in Maine geboren. Sie verließ Neuengland für das College, kehrte aber zurück, um Jura zu studieren. Als praktizierende Anwältin bearbeitet sie täglich Fälle wie den von Nick in DER FREMDE. Sie lebt mit ihrem Mann im südlichen Maine. DER FREMDE ist ihr Debütroman.

Caitlin Wahrer

DER FREMDE

Roman

Aus dem Amerikanischen von Melike Karamustafa

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Die Originalausgabe THE DAMAGE erschien erstmals 2021 bei Pamela Dorman Books/Viking, Penguin Group USA, New York City.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Deutsche Erstausgabe 06/2022 

Copyright © 2021 by Caitlin Wahrer

Copyright © 2022 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Hanna Bauer

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design

unter Verwendung des Originalcovers/Getty Images/Patryce Bak

Satz: Buch-Werk­statt GmbH, Bad Aib­ling

ISBN: 978-3-641-27049-0V002 

www.heyne.de

Für Ben

I.MONSTER

Ich kannte Monster, und ich kannte Männer.

Ich habe in ihren langen Schatten gestanden,

sie mit meinen eigenen Händen gestützt,

gegriffen nach ihren unergründlichen Gesichtern in der Dunkelheit.

Sie sind schwieriger zu unterscheiden, als man denkt.

Als man je ahnen wird.

Claire C. Holland, Clarice

Kapitel 1 Julia Hall, 2019 

Das Haus des sterbenden Detective war ein hohes dunkelblaues Gebäude mit absplitternden Ornament-Verzierungen und Fensterläden. Es hob sich hinter den Schneeverwehungen am Straßenrand gegen den hellen Himmel ab. Obwohl das Haus noch bedeckt war vom Schneefall der letzten Nacht, war die schwarze Dreiundzwanzig über der Tür gut zu erkennen.

In der schmalen Einfahrt war noch Platz, dennoch parkte sie auf der Straße. Julia Hall rutschte auf ihrem Sitz her­um, um an die Tasche ihres dicken Wintermantels zu gelangen. Sie schob die Hand tief hin­ein, bis ihre Finger die Ränder des gefalteten Zettels streiften. Als sie ihn her­auszog, hoffte sie inständig, dass etwas anderes als diese Adresse darauf stehen würde – irgendetwas, das ihr erlauben würde, weiterzufahren und das Haus vielleicht niemals zu finden. Auf das zerknitterte Papier hatte sie 23Maple Drive, Cape Elizabeth geschrieben, und hier war sie nun.

»Geh einfach«, ­­sagte sie laut und warf einen Blick auf das Haus.

Fenster säumten die Haustür, und durch die heruntergelassenen Rollläden wirkte es verlassen, leer. Dann hatte er sie zumindest nicht beobachtet, als sie mit sich selbst geredet hatte.

Der Wind entriss Julia fast die Tür, als sie aus ihrem SUV stieg. Der Winter war bisher bitterkalt gewesen. Mit zunehmendem Alter fand sie die Kälte jedes Jahr ein bisschen unerträglicher. Sie zog sich die Mütze fester über die Ohren und drehte sich zum Auto um. Ohne nachzudenken, schlug sie die Tür fest zu. Sie zuckte zusammen, als der Klang über die ansonsten ruhige Straße schallte, und dachte an ihren alten Subaru, der eine etwas gröbere Behandlung verlangt hatte. Den sie gefahren hatte, als sie zum letzten Mal mit dem Mann gesprochen hatte, der im Haus auf sie wartete.

Der Weg zum Haus war frisch geräumt. Hatte er das für sie getan? Der Pfad und die Stufen zur Veranda waren mit Salz gestreut, und sie konzentrierte sich auf das Knirschen unter ihren Schuhen, als sie sich auf das Gebäude zubewegte.

Sie schüttelte ihre Hände aus und klingelte.

Noch bevor das Geräusch verklungen war, wurde die Haustür schwungvoll geöffnet.

»Julia«, ­­sagte die Gestalt vor ihr. »Wie geht es Ihnen, meine Liebe?«

So wie es aussah, besser als dem Mann vor ihr. Es war eindeutig Detective Rice, auch wenn sein Körper nur noch wie eine Hülle wirkte. Sein einst imposanter Körper schien in sich zusammengesunken zu sein wie ein verwelkter Blumenstiel. Sein Gesicht war blassgelb, und unter seinen Augen lagen dunkle Schatten. Eine Red-Sox-Kappe saß auf seinem vollkommen kahlen Kopf.

»Gut, Detective Rice. Es geht mir gut.«

Sie schüttelten einander unbeholfen die Hände, nachdem er sich vorgebeugt hatte, als wollte er sie umarmen.

»Nun, möchten Sie reinkommen?«

Jeden Tag, seitdem Sie mich angerufen haben, habe ich mein Frühstück erbrochen, war das, was sie eigentlich darauf erwidern wollte. Doch stattdessen lächelte sie und log. »Ja, natürlich.«

»Und bitte nennen Sie mich doch John«, ­­sagte er, während er wackelig ein paar Schritte rückwärts machte, damit sie eintreten konnte. In den letzten drei Jahren war er stark gealtert, vielleicht durch den Krebs.

Nicht, dass es bei ihr viel besser war. Den Großteil ihres Lebens hatte Julia jung für ihr Alter ausgesehen. Irgendwann hatte sich das jedoch geändert. Sie sah nun aus wie neununddreißig.

Während sie die Stiefel auszog, schaute sie sich in Detective Rice’ kleinem Eingangsbereich um, und eine leise Stimme in ihrem Kopf machte sie darauf aufmerksam, wie merkwürdig es war, überhaupt hier zu stehen.

Die Bank, auf der sie saß, war stabil und praktisch. Je ein Paar Arbeitsstiefel und Anzugschuhe standen darunter, rechts daneben ein Eimer Salz und eine nasse Schaufel, die an der Wand lehnte. Zu ihrer Linken befand sich der einzig auffällige Gegenstand: ein filigranes Regal, gefüllt mit Gartenbüchern. Als sie den Detective damals kennengelernt hatte, hätte sie ihn niemals als jemanden eingeschätzt, der gern im Garten arbeitete. Dazu fehlte es ihm an der nötigen Derbheit.

»Ich weiß nicht, ob ich das kann«, erwiderte sie, als sie sich erhob. »Ich glaube, Sie werden immer Detective Rice für mich sein.«

Er grinste sie an und zuckte mit den Schultern.

Sie folgte ihm durch einen schmalen Flur, der gesäumt war von Familienfotos und religiösen Artefakten. Es gab auch mehrere Porträts von Detective Rice in jüngeren Jahren, zusammen mit seiner verstorbenen Frau, wie Julia vermutete, und drei Kindern; ein Kruzifix und ein getrockneter Palmzweig; ein Foto von einem Enkelkind – wahrscheinlich – neben einem Bild von Jesus.

Detective Rice murmelte etwas vor sich hin, während er sie den Flur entlangführte.

»Was?«

Er sah sie über die Schulter hinweg an. »Ich habe nur angemerkt, dass Sie ein neues Auto haben.«

»O ja.« Sie deutete mit dem Daumen hinter sich. »Ich habe wohl etwas aufgerüstet, seitdem ich Sie zuletzt gesehen habe.«

Sie musterte seinen schmalen Körper. Er war noch immer ein hochgewachsener Mann, dachte sie, während sie ihm folgte, aber seine Krankheit hatte ihm mehrere Zentimeter geraubt.

»Ich dachte, wir setzen uns hierher.« Er deutete in den ersten Raum, den sie erreichten.

Es war eindeutig eine Art Salon – etwas, das Julia bisher nur in Häusern von älteren Menschen gesehen hatte. Wie so oft in solchen Zimmern herrschte eine zugeknöpfte Atmosphäre, trotz des Zweckes, hier Gäste zu empfangen. In der Mitte standen zwei Lehnsessel, dazwischen befand sich ein kleiner Tisch.

Detective Rice bedeutete Julia, im rechten Sessel Platz zu nehmen, während er selbst zu einem anderen Raum weiterging.

Sie wartete ein paar Sekunden und steckte dann den Kopf durch die Tür zum Flur hin­aus. Rechts befand sich noch eine weitere Tür. Die Küche lag ganz am Ende des Ganges. Julia lauschte, hörte aber nichts, drehte sich wieder um.

Tief durchatmen, dachte sie und holte Luft. Dann ging sie auf das Panoramafenster auf der anderen Seite des Zimmers zu. Es zeigte zum Maple Drive, gegenüber war ein großes Haus zu sehen. Die Scheibe sandte eine gleichmäßige Kälte aus, und Julia berührte mit einem zitternden Finger das Glas. Kaum sonst irgendwo herrschten so raue Wetterverhältnisse wie im Februar in Maine. Die kalten Monate waren schwer; das waren sie schon immer gewesen. Jedes Jahr musste sich Julia der Realität des Herbstes und Winters in Maine stellen, und keines von beidem passte jemals zu den von Nostalgie geprägten Erinnerungen in ihrem Kopf. Normalerweise begann es im Dezember zu schneien und hörte im April auf. Und nach jenem Winter – dem Winter, in dem sie Detective Rice zuletzt gesehen hatte – hatte jeder folgende etwas ausgesprochen Melancholisches an sich, das zusammen mit dem Schnee weggeschaufelt werden musste.

»Endlos, nicht wahr?«

Sie zuckte zusammen, als sie seine Stimme hinter sich hörte.

Er stand wieder im Türrahmen und lächelte sie an. In den Händen hielt er zwei Tassen. Er hatte nur Kaffee geholt.

Sie atmete aus, wahrscheinlich voller offensichtlicher Erleichterung.

Er deutete zu den Sesseln, und diesmal setzte sie sich. Sie nahm eine Tasse entgegen und sah zu, wie er es sich auf seinem Platz bequem machte. Der Geruch, der ihr in die Nase stieg, war aber doch nicht der von Kaffee, sondern von Tee. Sie probierte ihn und stellte überrascht fest, dass er stark gesüßt war.

»Wie geht es Ihren Kindern?«, ­­fragte Detective Rice, nachdem er einen kleinen Schluck aus seiner Tasse genommen hatte.

»Gut, danke.«

»Wie alt sind sie mittlerweile?«

»Äh, zehn und acht.«

»Man ist nie bereit dafür, dass sie erwachsen werden.«

Irgendetwas hatte er an sich, das einen leicht vergessen ließ, dass er selbst Kinder hatte – erwachsene Kinder –, sogar Enkelkinder, nach den Bildern im Flur zu urteilen. Es lag nicht an seinem Charakter, sondern an seinem Beruf. Die Tatsache, dass er Detective war, überdeckte, dass er auch ein Privatleben führte.

Julia nickte und wartete darauf, dass er sie fragen würde, wie es Tony ging.

»Ich nehme an, Sie waren überrascht, letzte Woche von mir zu hören.«

Damit wäre das geklärt, dachte sie. Dass er über ihren Mann hinwegging, fühlte sich an wie ein persönlicher Affront, besonders, wenn man bedachte, was alles geschehen war. Dennoch hielt sie sich davon ab, verärgert die Stirn zu runzeln.

Sie war tatsächlich überrascht gewesen, als sie am Donnerstag nach einem langen Morgen im Gericht ihr Handy hervor­geholt und eine einzige Nachricht auf ihrer Mailbox entdeckt hatte. Normalerweise versprach es ein einfacher Tag zu werden, wenn sie bis mittags nur einen verpassten Anruf hatte. Sie hatte dem Ordner an der Tür einen Abschiedsgruß zugerufen und hörte die Nachricht ab, während sie sich zügigen Schrittes vom Gerichtsgebäude entfernte. Angesichts der krächzenden Stimme, die aus dem Handy ertönte, war sie abrupt stehen geblieben; sie klang schleppend, aber unverkennbar. Eine Stimme, die sie zu fürchten gelernt hatte. Vor ein paar Jahren war sie immer, wenn ihr Telefon geklingelt oder eine Mailbox-Nachricht aufgeleuchtet hatte, kurz davor gewesen, in Panik auszubrechen aus Angst, dass seine Stimme am anderen Ende der Leitung erklingen würde.

»Ich war in der Tat überrascht, von Ihnen zu hören«, erwiderte Julia nun. »Und es tat mir leid zu hören, dass Sie krank sind.« Sie lehnte sich ein wenig in seine Richtung, als ihr bewusst wurde, dass sie noch nichts davon erwähnt hatte, seitdem sie letzte Woche telefoniert hatten und er sie gebeten hatte, ihn zu Hause zu besuchen.

»Wie lautet Ihre … Prognose?« Ihr fiel kein besseres Wort ein.

»Na ja, sie ist nicht gerade gut«, ­­sagte er in einem Tonfall, als würde er dar­über sprechen, wann es wohl das nächste Mal schneien würde. »Mein Arzt sagt, dass sich meine ›Lebensqualität‹ in den nächsten Monaten ziemlich verschlechtern wird und danach alles recht schnell gehen könnte.«

Julia hörte förmlich die Anführungszeichen, in die er das Wort Lebensqualität setzte, und stellte sich vor, wie Detective Rice im Bademantel vor dem Arzt saß und ­­sagte: »Lebensqualität? Was zur Hölle soll das denn heißen? Sagen Sie mir einfach, wann ich sterbe.«

Sie schenkte ihm ein warmes Lächeln. »Ich freue mich, dass Sie immer noch zu Hause wohnen können.«

»Ach, na ja, wir werden sehen.«

Beide tranken einen Schluck.

»Nun …«, ­­sagte er und lachte leichtherzig. Dann zuckte er mit den Schultern.

War er nervös?

»Ich weiß es zu schätzen, dass Sie zu mir gekommen sind«, fuhr er fort. »Wie gesagt wollte ich mit Ihnen reden, bevor … nun …« Er zuckte mit den Schultern.

»Solange Sie noch Ihre ›Lebensqualität‹ haben.«

Detective Rice lachte, stieß ein keuchendes Husten aus und griff hinter seinen Sessel. Das quietschende Geräusch eines ungeölten Rades erklang, dann sah Julia die kleine Sauerstoffflasche auf einem Ständer, die Rice neben sich zog. Er hielt sich die Maske vor das Gesicht und atmete, während er einen Finger hob, als Zeichen, dass sie einen Moment warten solle.

Himmel, am besten bringe ich ihn nicht noch mal zum Lachen.

Er nahm die Maske vom Gesicht.

»Warum behalten Sie sie nicht auf?«, schlug Julia vor. »Es macht mir wirklich nichts …«

»Nein«, ­­sagte Detective Rice entschlossen. »Danke, aber nein.« Als die Maske wieder an ihrem Platz bei der Flasche hing, richtete er sich auf.

Draußen pfiff der Wind. »Ich war mir nicht sicher, ob Sie kommen würden – nach allem, was passiert ist. Aber ich musste mit Ihnen reden. Um Ihnen ein paar Dinge zu sagen. Und ich glaube, auch Sie haben mir einiges zu sagen.«

Julia musste sich zwingen, seinem Blick standzuhalten. Seine Augen waren wässrig und gerötet, und sie wollte nichts mit ihnen zu tun haben.

»Ich war mir wirklich nicht sicher, ob Sie kommen würden«, wiederholte er. »Aber Sie waren schon immer zu nett, um Nein zu sagen.«

Die schmerzende Übelkeit in ihrem Magen verstärkte sich. Was sollte sie darauf erwidern?

Wie es schien, erwartete er jedoch keine Antwort, denn er sprach weiter. »So. Zurück zum Anfang?«

Kapitel 2 John Rice, 2015 

Als John Rice Julia Hall zum ersten Mal sah, stand sie barfuß in der Küche und spülte einen Stapel Geschirr. Rice hatte zwanzig Stunden zuvor mit den Ermittlungen begonnen. Bis zu jenem Moment waren es zwanzig fürchterliche Stunden gewesen. Gefüllt mit nichts als der Bösartigkeit, zu der nur Menschen fähig sind.

Er hatte am Abend zuvor das Opfer, einen jungen Mann namens Nick Hall, im Krankenhaus besucht. Eigentlich passte die Bezeichnung »Mann« seiner Meinung nach nicht richtig. Nick war zwanzig Jahre alt, ja, aber er schien die Schwelle vom Jungen zum Mann noch nicht ganz überschritten zu haben. Nur in seinen Augen war zu sehen, dass ihm auf einen Schlag jegliche Unschuld geraubt worden war.

Rice hatte Nick nicht zu viel zumuten wollen, indem er ihn gleich am ersten Abend nach der Tat be­­fragte, da er bereits in Anwesenheit einer Krankenpflegerin und eines Polizisten seine Aussage gemacht hatte. Rice wollte sich nur als führender Ermittler in Nicks Fall vorstellen und ihn bitten, seine Aussage niederzuschreiben. Es kam ihm immer ein wenig herzlos vor, die Opfer zu bitten, alles zu notieren und sie damit so kurz nach dem Vorfall dazu zu bringen, die Tat noch einmal zu durchleben. Doch es war das Beste, für alle. Rice hatte dann mehr in der Hand; und das Opfer erinnerte sich noch genauer. Abgesehen davon war der Beginn eines Falls normalerweise sowieso noch der einfachste Teil der Ermittlungen. Meist hatte das Opfer noch nicht begriffen, was geschehen war. Der Geist befand sich in einem Schockzustand, der Körper im Überlebensmodus, und es gab kaum Einflüsse von außen. Bei Nick war es auch so gewesen: Er wirkte überrascht, ein wenig verwirrt, aber hauptsächlich erschöpft. Es war besser für ihn, wenn er das Geschehene gleich noch einmal durchging. Und das hatte er getan.

Bevor Rice zum Haus der Halls gefahren war, hatte er Nicks zweiseitige Aussage im Krankenhaus abgeholt. Nicks älterer Bruder Tony war dort gewesen, genau wie am Vorabend, und seine Augenringe zeugten von dem vergeblichen Versuch, in einem Krankenhaussessel zu schlafen. Tony war aus dem Zimmer gekommen und hatte Rice die schriftliche Aussage überreicht. Hatte ihm gesagt, dass Nick schlafe. Rice hatte erwidert, dass er später wiederkommen würde.

Tony Halls Adresse hatte er ohne Probleme gefunden. Es war ein kleines und unauffälliges Haus am Rande von Orange. Auch Rice’ Schwägerin lebte in Orange, nur weiter im Stadtzentrum. So wie in vielen anderen Kleinstädten im Süden von Maine, oder wahrscheinlich generell in vielen Kleinstädten, hatte man den Eindruck, als bestünde die Stadt aus zwei unterschiedlichen Orten. Im Zentrum sammelten sich die wohlhabenderen Einwohner von Orange. Diese lebten entweder in moderat großen, identisch aussehenden Häusern (wie Rice’ Schwägerin) oder in Maines Version von Miniatur-Anwesen (die sehr, sehr Reichen). Der Großteil von Orange bestand jedoch aus Ackerland. Nur wenig davon wurde genutzt.

Das Haus der Halls befand sich zwei Grundstücke entfernt von einem riesigen, verfallenen Anwesen, das hauptsächlich von wilden Gänsen bewohnt zu sein schien, und einem Schuppen, den sich die Natur langsam zurückeroberte. Es wirkte vergleichsweise klein, alt, aber gut instand gehalten und charmant – zumindest soweit er es von der Straße aus erkennen konnte.

Die Einfahrt war voll, daher parkte er an der Straße.

Rice ging die Stufen der offenen Veranda hinauf zur Haustür. Er hörte Stimmen, die die Klingel übertönten, dann wurde die robuste Innentür geöffnet, und Rice stand einer kleinen, rüstig wirkenden Frau mit grau meliertem Haar gegenüber. Sie musste in seinem Alter sein, vielleicht Ende fünfzig.

Sie öffnete die äußere Tür. »Hallo?«

Rice stellte sich vor, und sie nickte sofort ernst und erklärte, dass ihr Sohn Tony noch immer bei seinem Bruder im Krankenhaus sei.

»Ich bin nicht Nicks Mom«, ­­sagte sie. »Nur Tonys.«

»Ja«, erwiderte Rice. »Das hat mir Tony heute Morgen erklärt. Ich komme gerade aus dem Krankenhaus. Ich bin hier, um Julia zu sehen, falls sie gerade Zeit hat.«

Kaum dass er drei Schritte ins Haus gemacht hatte, erkannte er die Anzeichen von Wohlstand, den nicht viele Familien genossen, denen er im Rahmen seiner Arbeit begegnete. Die Fußböden waren aus Hartholz, in der Küche lagen Fliesen, und der Flur war von üppigen dunklen Zierleisten gerahmt. Man bekam sofort ein Gefühl von Sicherheit und den Eindruck, dass es sich um eine überaus funktionierende Familie handelte.

Als ihm dieser Gedanke kam, spürte Rice, wie seine Ohren heiß wurden. Er erkannte, dass er über die Halls gewisse Mut­maßungen angestellt hatte, die auf zu wenig Informationen beruhten. Die Adresse im Landwirtschaftsgebiet, die Brüder mit zwei verschiedenen Müttern. Die vollkommene Abwesenheit von Nicks Eltern im Krankenhaus in einer Situation wie dieser. Das obligatorische »Sensibilitätstraining« auf der Wache im Frühling hatte nicht bewirkt, dass seine Vorurteile verschwunden waren – er wurde sich dieser nur häufiger bewusst und fühlte sich deswegen wie ein Mistkerl.

Der kurze Flur führte in die Küche, wo eine jüngere Frau an der Spüle stand. Die Oktobersonne fiel durch das Fenster da­rüber, sodass ihre weiße Bluse strahlte und ihr Haar leuchtete. Eigentlich war sie brünett, aber im Licht schienen einige Strähnen blond und rot.

Als sie sich zu Rice umdrehte, wirkte sie beinahe so, als sei sie nicht von dieser Welt, abgesehen von den Tatsachen, dass sie die Stirn runzelte und Geschirr spülte.

»Tut mir leid«, ­­sagte sie. »Tut mir leid, ich bin nur …« Sie drehte das Wasser ab und stellte eine Kasserolle aus Glas auf das überfüllte Abtropfgestell. »So. Ich habe Sie reinkommen hören, aber ich musste das hier einfach fertig machen.« Sie nahm ein Küchentuch vom Herd und trocknete sich ab, bevor sie ihm eine Hand entgegenstreckte. Ihre Haut war feucht und warm. »Ich bin Julia Hall«, stellte sie sich vor.

»John Rice. Detective im Salisbury Police Department.«

Über ihren Köpfen erklang ein dumpfes Geräusch, als würden Füße unsanft auf dem Boden aufkommen.

»Soll ich den Abwasch fertig machen oder nach oben gehen?«, ­­fragte Tonys Mutter aus dem Flur.

»Wenn du sie ablenken könntest, während wir reden …«, erwiderte Julia.

»Alles klar.«

»Danke, Cynthia«, rief Julia in Richtung Flur, als ihre Schwiegermutter die Treppe hinaufging.

»Die Kinder freuen sich, dass ihre Oma hier ist«, erklärte Julia und deutete zur Decke. »Sie begreifen nicht wirklich, was los ist.«

Julia sah jung aus, daher ging Rice davon aus, dass es auch die Kinder waren. »Wie alt sind sie?«

»Chloe ist sieben, und Sebastian ist fünf. Wir haben ihnen gesagt, dass ihr Onkel krank ist und ihr Vater sich um ihn kümmern muss, aber …« Sie zuckte mit den Schultern. Nun, da sie von ihren Kindern sprach, wirkte Julia verwirrt. »Sie sind zu jung, um es zu verstehen, und ich glaube, das ist auch besser so.«

»Ganz gewiss«, pflichtete Rice ihr bei.

»Wie kann ich helfen?«, ­­fragte Julia, als sie Rice in der kühlen Morgenluft auf der Veranda einen Becher Kaffee reichte.

Rice hatte vorgeschlagen, dass sie sich draußen, außer Hörweite der Kinder, unterhielten, und Julia hatte zugestimmt.

Die beiden nahmen auf zwei nebeneinanderstehenden Adirondack-Stühlen Platz, mit Kissen im nautischen Design, und Rice stellte seinen Becher auf dem kleinen Tisch zwischen ihnen ab. Der Geruch seines dampfenden Kaffees vermischte sich mit dem der Zitronengraskerze auf dem Tisch. Säure auf Säure.

»Nun«, ­­sagte er. »Nick hat noch geschlafen, als ich heute Morgen dort war, und Ihr Mann sah aus, als hätte er bisher kein Auge zugetan, also dachte ich, ich gebe ihnen noch ein paar Stunden zum Durchatmen, bevor ich sie wieder in die Mangel nehme. Tony hat gesagt, Sie könnten mir die Familiengeschichte für meine Notizen erzählen.«

Auf ihrem Gesicht machte sich Erleichterung breit. »O, das kann ich tun.«

Rice holte einen kleinen Block und einen Stift aus seiner Windjacke. Er würde darauf eingehen müssen, was sie über Nick wusste, aber zunächst wollte er behutsam einsteigen.

»Ist es wichtig, womit ich anfange?«

Er schüttelte den Kopf. Er war froh dar­über, einen Grund zu haben, sie anzuschauen, während sie sprach. Nachdem er Tony kennengelernt hatte, der unbestreitbar gut aussah, hatte Rice mit einer ebenso umwerfenden Ehefrau gerechnet. Und Julia Hall war hübsch, ja, aber sie hatte eine Schlichtheit an sich, die schwer zu beschreiben war, nun, da sie nicht mehr in der Morgen­sonne stand. Ihr Gesicht war rund und ohne signifikante Definition; während sie sprach, wirkten ihre Züge von allen Seiten gleich, was ihr eine Ausstrahlung von geradliniger Ehrlichkeit verlieh – und was man sah, das bekam man auch. Dadurch wirkte sie außerdem jünger, als sie vermutlich war. Rice hätte sie auf dreißig geschätzt, wären da nicht die feinen Fältchen gewesen: Krähenfüße um die Augen und Linien rechts und links von ihrem Mund. Eine Frau, die wohl öfter lächelte als lachte.

»Also, Tonys Eltern sind Cynthia«, Julia deutete hinter sich aufs Haus, in dem sich die Frau aufhielt, die Rice geöffnet hatte, »und Ron. Sie waren schon länger verheiratet, als sie Tony bekommen haben. Ron ist …« Sie hielt inne. »Ron hatte selbst eine schwere Kindheit und war nicht der verlässlichste Vater. Ron und Cynthia waren zusammen, bis Tony ungefähr sieben war.« Sie wählte ihre Worte wie eine Politikerin, oder vielleicht eine Anwältin. Beide Berufe passten nicht zu ihr. »Ron war nicht ausfallend oder so. Oder vielleicht, na ja …« Sie machte wieder eine Pause.

Rice hielt seinen Stift auf Augenhöhe. »Was halten Sie davon, wenn ich den hier für einen Moment weglege, und Sie entspannen sich, was Ron betrifft?«

Julia lachte und hob eine Hand an ihr Gesicht, als wollte sie es dahinter verstecken.

»Ein paar Informationen zur Familiendynamik können hilfreich sein.« Er erkundigte sich nicht grundsätzlich nach der Familie des Opfers, aber dennoch recht regelmäßig. Häufiger in Fällen wie diesem, bei denen das Leben des Opfers vor Gericht in allen Einzelheiten dargelegt werden würde, um belastende Dinge zu finden.

»Ich verstehe schon«, ­­sagte Julia. »Ich habe mit jeder erdenklichen Familiendynamik gearbeitet.«

»Was machen Sie denn beruflich?«

»Ich arbeite mittlerweile freiberuflich für Versicherungen im Bereich der Strafverfolgung, stelle für sie Recherchen an, schreibe Berichte; aber früher war ich Strafverteidigerin. Vor allem Jugend­straf- und Kriminalverfahren.«

Rice rutschte auf seinem Stuhl her­um und legte das rechte Bein über sein linkes. »Dann verstehen Sie es also wirklich.«

Sie nickte. »Und ganz ehrlich, Ron würde vielleicht gut in das Schema passen, wissen Sie? Er ist Alkoholiker und war der wichtigste Mensch in Tonys Leben, und es war einfacher für ihn, sich zurückzuziehen, nachdem er und Cynthia sich getrennt hatten. Cynthia ist so warmherzig und liebevoll; Tony hat großes Glück mit seiner Mutter. Im Gegensatz zu seinem Bruder.«

»Damit wären wir bei Nicks Seite.«

»Okay«, ­­sagte sie. »Ron ist der Vater von beiden, und Tony war siebzehn, als Nick geboren wurde, also war er vielleicht fünfzehn oder sechzehn, als Ron und Jeannie zusammenkamen.«

»Und was ist mit Jeannie?«

»Sie ist auch abhängig, und sie wird oft ein wenig …« Julia wedelte mit der Hand über ihrem Kopf her­um.

Das Wort »manisch« kam Rice in den Kopf. »Wissen sie, was passiert ist?«

Julia schüttelte den Kopf. »Sie wissen nicht mal, dass er dort ist. Er will es ihnen nicht sagen.« Sie wurde still und zuckte mit den Schultern, dabei runzelte sie die Stirn, so, wie es Leute oft taten, wenn sie versuchten, ihre Tränen vor Rice zurückzuhalten.

»Es wird ihm bald besser gehen, Julia. Es wird eine Weile dauern, aber Nick kommt schon zurecht.« Rice holte eine Packung Taschentücher hervor.

»Nick ist einfach toll«, ­­sagte sie, während sie ein Taschentuch entgegennahm. »Tony liebt ihn so sehr. Ganz ehrlich, Nick hat Tony zu dem Mann gemacht, der er nun ist. Wer weiß, was aus ihm geworden wäre, wenn er nicht das kleine Baby gehabt hätte?«

»Wie meinen Sie das?«

Julia schüttelte den Kopf. »Cynthia sagt, Nicks Geburt habe ihn weicher gemacht. Als Teenager war er so was wie ein Macho und fürchterlich wütend auf Ron und irgendwie auf die ganze Welt, glaube ich. Und Sie haben ja gesehen, wie er aussieht – ›gut aussehender Mistkerl‹ steht ihm sozusagen auf die Stirn geschrieben.«

Rice schnaubte zustimmend. Tony Hall war nicht einfach nur gut gebaut, er sah aus wie ein Model aus einer Zeitschrift. Die Art von Gesicht, das einen dazu brachte, ihn zu verabscheuen, nur weil er hatte, was einem selbst fehlte. Rice ­­fragte sich, was Julia von ihm selbst gehalten hätte, als er so alt gewesen war wie ihr Mann. Rice hatte leichte Aknenarben im Gesicht, die ihm bis zum heutigen Tag geblieben waren, aber als er jünger gewesen war, hatten sie ihn härter wirken lassen. Zumindest hatte seine Frau das behauptet.

»Aber Nick hat sein Herz zum Schmelzen gebracht«, fuhr Julia fort und tupfte sich mit dem Taschentuch die Augen. »Tony wurde warmherzig und emotional, und er kann gut kommunizieren, was wahrscheinlich klischeehaft klingt, wenn man das über seinen Ehemann sagt.« Sie lachte. »Aber, na ja, ich weiß, dass ich mich glücklich schätzen kann. Ich weiß, dass ich Cynthia einiges davon zu verdanken habe, doch ich glaube wirklich, dass es hauptsächlich an Nick lag. Sie werden den richtigen Nick wahrscheinlich nie kennenlernen. Er ist ziemlich lustig, charmant und einfach, nun ja, aufrichtig. Aber jetzt weiß ich nicht mehr so recht.«

Hinter sich hörte Rice, wie die Kinder die Treppe im Haus herunterliefen, ein paar Sekunden später folgte Tonys Mutter. Das Geräusch der Schritte im Flur wurde schwächer und verlor sich in der Küche.

Rice schob die Taschentücher in die Tasche zurück und holte stattdessen ein kleines silbernes Aufnahmegerät hervor. »Ich weiß, das ist schwer, aber ich muss Ihnen ein paar Fragen zu gestern stellen.«

»Okay.« Julia atmete aus. »Nick hat uns erst nach dem Abendessen angerufen.«

Kapitel 3 Tony Hall, 2015 

Der Samstagabend war normal verlaufen. Tony und Julia hatten auf der Veranda vor dem Haus gesessen und zugesehen, wie sich der Himmel rosa färbte. Ihre Nachbarn hatten eine goldene Decke aus Heu über dem Feld gegenüber ausgebreitet, und die Aussicht von der Veranda hatte wie ein Gemälde gewirkt.

Dann hatte das Telefon geklingelt.

Als Tony im Wartezimmer saß, versuchte er sich an die genauen Worte der Anruferin zu erinnern. Sie hatte ihren Namen genannt, Dr. Lamba vielleicht. Sie hatte aus dem York County Medical Center angerufen.

Als Erstes hatte er an seinen Vater gedacht. Er ist bei einem Unfall ums Leben gekommen, weil er betrunken gefahren ist. Bitte, bitte mach, dass er niemand anderen verletzt hat.

Doch die Ärztin rief nicht wegen Ron an. Sie rief wegen Nick an. »Ihrem Bruder ist etwas zugestoßen«, ­­sagte sie am Telefon. Genaueres hatte sie nicht preisgegeben.

Tony ­­fragte, ob es ein Autounfall gewesen war.

»Nein«, antwortete sie. »Können Sie jetzt kommen, um ihn zu sehen?«

Tony fuhr zu ihm, so schnell er konnte – er stürzte aus dem Haus, raste den Highway hin­unter, rannte über den Parkplatz, nur um am Empfang aufgehalten zu werden. Die Energie, die bei dem Anruf in ihm freigesetzt worden war, war noch immer in seinem Körper gefangen und summte unaufhörlich. Er holte sein Handy aus der Tasche und schrieb Julia. »Wann kommst du ungefähr?«

Sie war bei den Kindern zu Hause geblieben und wartete auf seine Mutter. Er würde sich besser fühlen, wenn sie bei ihm war, redete er sich ein. Oder wenn sie ihn endlich Nick sehen lassen würden. Oder nicht?

»Ihrem Bruder ist etwas zugestoßen.« Die merkwürdigen Worte waren ihm auf dem Weg zum Krankenhaus immer wieder durch den Kopf gegangen. Vage und dennoch ernst. Die Ärztin hatte ihm keine anderen Informationen gegeben, nur dass es kein Autounfall gewesen war. Was dann? Eine Alkoholvergiftung? Eine Kneipenschlägerei? Keines von beidem passte zu Nick, aber im College konnte es bekanntlich wilder zugehen. Lieber Himmel, zumindest kein Amoklauf. Davon hätte er während der Fahrt im Radio gehört. Dennoch holte er nun im Wartezimmer sein Handy hervor und öffnete den Internet-Browser. University of Maine Nachrichten, tippte er ein. Nichts. Salisbury Maine Nachrichten. Nichts.

Was hatte die Ärztin sonst noch am Telefon gesagt? Irgendetwas über Nicks Alter. Als Tony erklärt hatte, dass Nick zwanzig war, erwähnte sie, dass er einen gefälschten Ausweis bei sich getragen hatte und sie daher sichergehen wolle. Angeblich hatte Nick nicht gewollt, dass sie seine Eltern anrufe, und das würde sie nun auch nicht tun müssen. Er wollte nur Tony.

»Mr. Hall?« Eine ältere Frau in weißem Kittel stand im Türrahmen.

Er erhob sich von seinem Platz und begrüßte sie mit einem Händedruck.

Sie stellte sich als Dr. Lamba vor, sie hätten miteinander telefoniert, ihre Stimme klang tief und selbstsicher.

Erleichtert stellte er fest, dass in ihren freundlichen dunkelbraunen Augen kein Hinweis darauf zu erkennen war, dass sie ihm ihr Beileid aussprechen wollte. Nick könnte also wieder gesund werden.

Tony folgte Dr. Lamba durch einen langen Flur, während sie erklärte, dass Nick heute am frühen Vormittag eingeliefert worden sei.

»Und wie ich bereits am Telefon erwähnt habe, wollte er, dass wir nur Sie anrufen.«

Während sie redete, starrte Tony wie gebannt auf das Haargummi in ihrem grauen Zopf. Es war aus schwarzem Samt und saß tief im Nacken.

Sie näherten sich einer weiteren Flügeltür, über der »Psychiatrische Abteilung« zu lesen war.

»Moment mal …« Tonys Blick blieb an den Buchstaben hängen, als sie darunter herliefen. »Nick liegt hier?«

Hinter der Tür befand sich ein kleiner Raum, der von Drahtglasscheiben umgeben war und von dem eine schwere Tür zur Station führte.

Dr. Lamba gab ihm mit einer Handbewegung zu verstehen, dass sie auf zwei schwarzen Stühlen rechts im Raum Platz nehmen sollten. Dann legte sie Tony eine Hand auf den Unterarm und ­­sagte: »Ihr Bruder wurde letzte Nacht Opfer eines sexuellen Übergriffs.«

Tony starrte sie an.

»Wer auch immer ihm das angetan hat, hat ihn ziemlich übel zugerichtet, daher wollte ich Sie vorbereiten. Wir haben …«

»Warten Sie. Stopp. Stopp.«

Dr. Lamba hielt inne.

Tony schüttelte den Kopf. »Nein. Nein, niemand würde ihm so etwas antun. Das ergibt … Das ergibt keinen Sinn.« Während er sprach, hörte er eine merkwürdig losgelöste Stimme in seinem Kopf, die ihm zuflüsterte: Nein, was du sagst, ergibt keinen Sinn.

»Es tut mir sehr leid, Mr. Hall«, ­­sagte Dr. Lamba.

Er vergrub sein Gesicht in den Händen. »Bitte, nein.«

Er spürte ihre Hand auf seiner Schulter. »In der Notaufnahme hat man sich um Nicks Verletzungen gekümmert, und die gute Nachricht ist, dass er jetzt nach Hause gehen könnte, wenn er wollte. Die andere gute Nachricht ist, dass er meinen Rat angenommen und sich in die psychiatrische Abteilung hat einweisen lassen – nur für ein paar Nächte.«

Durch seine Hände ­­fragte Tony: »Könnten Sie aufhören, ›gute Nachricht‹ zu sagen?«

»Ja.« Sie rieb ihm die Schulter in kreisenden Bewegungen.

Irgendjemand hat ihm das angetan. Diese simple Schlussfolgerung traf ihn wie ein Schlag.

Tony löste das Gesicht von seinen Händen. »Wo ist das Arschloch, das das getan hat?«

»Nick hat bereits mit einem Polizeibeamten gesprochen.« Dr. Lamba begegnete erneut seinem Blick, als sie ­­sagte: »Bitte konzentrieren Sie sich jetzt auf Ihren Bruder. Er braucht Sie. Konzentrieren Sie sich nicht auf diese andere Person, dafür gibt es die Polizei. Ihr Fokus sollte auf Nick liegen.«

Nicks Gesicht war zerstört. Das war der erste Gedanke, der Tony kam, als er ihn sah. Nick lag auf der Decke seines Krankenhausbettes, als würde er in einem Hotelzimmer fernsehen. Aber mit seinem Gesicht stimmte nichts. Die Form war merkwürdig, seine Lippe war aufgesprungen und geschwollen, an einer Augenbraue befand sich ein Schnitt. Er hatte Blutergüsse auf einer Wange, an seiner Stirn und dem Kinn, als sei er eine Treppe hin­untergestürzt.

»Nick?«

Nick lächelte Tony an und zuckte dann zusammen, bevor er sich die Wunde an seiner Lippe leckte.

Tonys Stimme klang erstickt. »Was um Himmels willen …«

»Es geht mir gut.« Nick lächelte beruhigend.

Tony deutete auf Nicks Brust. »Darf ich?«

Nick hob seine Arme.

Als Tony sich nach unten beugte, um seinen Bruder zu umarmen, wurde seine Sicht vor Tränen verschwommen. Er schob seine Hände unter Nicks Rücken und legte den Kopf an seinen.

Als er sich von ihm löste, waren Tränen auf Nicks Wangen zu erkennen. Es waren die von Tony, Nicks Augen waren trocken.

»Es tut mir leid«, ­­sagte Tony.

»Was?«

Dass ich dich nass geweint habe, dachte er. Dass ich merkwürdig werde, wenn du mir sagst, dass es dir gut geht. Dass es so lange gedauert hat, bis ich zu dir gekommen bin. Mir tut leid, was auch immer geschehen ist.

Stattdessen ­­sagte Tony nichts. Er drehte sich nach hinten, um einen Stuhl neben das Bett zu ziehen, und sah, dass Dr. Lamba die Tür geschlossen hatte. Sie waren allein.

»Also …«, ­­sagte Tony schließlich, aber er verlor sich in Gedanken. Sollte er fragen, was passiert war? Mit welchen Worten? Wollte er es wirklich wissen? War er egoistisch? Wie konnte das geschehen sein? War es falsch, das zu fragen?

»Wo ist Julia?« Nicks simple Frage verdrängte alle anderen.

»Zu Hause. Bei den Kindern. Meine Mom fährt hin, und dann kommt sie her, so schnell sie kann.

»Julia kommt heute Abend hierher?«

»Ja, wenn du willst. Nur wenn du willst.«

»Ja, natürlich, ich hätte fast zuerst nach ihr statt nach dir gefragt.«

Tony verdrehte die Augen. »O, okay.«

»Sie hätte nicht geweint.« Nick grinste und zuckte wieder zusammen. Er legte sich einen Finger an die aufgeplatzte Lippe und flüsterte: »Scheiße.«

Tony beobachtete seinen kleinen Bruder. Sie mussten ihn missverstanden haben. Dies war niemand, auf den ein sexueller Übergriff ausgeübt worden war. Er war eindeutig verprügelt worden. Vielleicht hatte er sich mit dem falschen Typ angelegt, und der homophobe Mistkerl hatte ihn verprügelt, das war möglich. Oder er war ausgeraubt worden. Aber nicht das. Nicht das, was die Ärztin gesagt hatte. Ihre gutmütigen Spötteleien klangen wie immer. Sie hätten sich genauso gut scherzhaft wegen eines Spiels miteinander anlegen können, so wie damals, als Nick ein Kind gewesen war und Tony gegen ihn bei Dame verloren hatte. Nick war ruhig. So ruhig. Er musste jemandem erzählt haben, dass er angegriffen worden war, und diese Person hatte es falsch verstanden. So musste es sein. Nick wirkte …

Ein Klopfen an der Tür unterbrach seine Gedanken.

»Tut mir leid, Sie stören zu müssen«, erklang eine tiefe Stimme. Sie kam von dem stämmigen Mann, der auf einmal im Türrahmen stand. Er war unscheinbar gekleidet, aber es hätte genauso gut ein T-Shirt mit der Aufschrift »Ich bin ein Cop« sein können, das er statt des weißen Button-Down-Hemdes unter seiner Windjacke trug. Keine Krawatte.

»Ich bin Detective John Rice vom Salisbury Police Department«, stellte er sich vor und trat ein. »Ich glaube, Officer Merlo hat schon erwähnt, dass ich vorbeikommen würde?«

Nick richtete sich ein wenig im Bett auf. »Ja, hallo.«

Tony spürte, wie die Anspannung der anfänglichen Stille wieder den Raum erfüllte.

Detective Rice ging mit zwei Schritten an die andere Seite des Bettes. Er musste eins achtundneunzig oder sogar noch größer sein. Sein Gesicht war wettergegerbt und faltig; Tony schätzte ihn auf Anfang sechzig. Der Riese holte zwei Visitenkarten aus seiner Windjacke und reichte jedem von ihnen eine; dann schüttelte er Nick die Hand, als würde er der Polizei beitreten. »Also, schön, Sie kennenzulernen, Nick.« Er wandte sich an Tony. »Sind Sie der Bruder?«

»Ja.« Tony erhob sich, um ihm ebenfalls die Hand zu schütteln. »Tony.«

»Freut mich.« Der Detective drehte den Kopf und konzen­trierte sich wieder auf Nick. »Ich bleibe nicht lange. Es geht nur darum, Ihnen dieses Formular für die Opfer-Zeugenaussage zu geben.«

»Was ist das?« Tony griff an seinem Bruder vorbei, um die Unterlagen entgegenzunehmen. Ganz oben befanden sich Felder für Name, Geburtsdatum und Datum des Verbrechens, darunter fast eine ganze Seite mit leeren Zeilen.

Der Detective deutete auf das Formular. »Nick hat schon bei Officer Merlo ausgesagt, und er hat bereits eine SANE gesehen, also …«

»Eine was?«

»Entschuldigung«, ­­sagte Detective Rice und räusperte sich. »Eine Pflegekraft mit Spezialisierung auf Sexualstraftaten. Drüben in der Notaufnahme.«

Tony schaute Nick an.

Dieser blickte nach unten auf seine Hände, die er in die Decke krallte.

»Ah ja«, ­­sagte Tony leise.

»Die Pflegekraft bekommt normalerweise eine ziemlich gute Aussage, also will ich, dass Sie sich erst mal ausruhen. Aber ich muss morgen wiederkommen. Ist das in Ordnung, Nick?«

»Ja.«

»Warum müssen Sie denn wiederkommen?« Tony blätterte die Unterlagen durch. Sie sahen alle gleich aus.

»Um ihn zu befragen. In einem Fall wie diesem ist es wichtig, dass ich eine ausführliche, in sich schlüssige Aussage bekomme, und zwar so zeitnah wie möglich. Je eher Sie dar­über sprechen, Nick, desto besser wird Ihre Erinnerung auch später sein, und ich kann meinen Job besser machen. Heute Abend möchte ich, dass Sie alles aufschreiben, woran Sie sich erinnern, beginnend bei Freitagmorgen. Es war am Freitag, also gestern, richtig?«

»Als es passiert ist?«, ­­fragte Nick.

»Ja.«

»Ja, es war gestern Abend, am späten Abend. Also schreibe ich einfach meinen ganzen Tag nieder?«

»Na ja, Sie müssen nicht allzu sehr in die Einzelheiten gehen, was die Zeit vor dem Abendessen betrifft, würde ich sagen. Und ich kann Sie morgen, falls nötig, nach weiteren Details fragen. Ich hole die«, er deutete auf die Formulare, »irgendwann morgen Früh ab und schaue sie mir an, bevor wir uns unterhalten. Können Sie heute Abend alles notieren?«

Tony schaute wieder zu seinem Bruder hin­unter.

Zum ersten Mal, seit er eingetroffen war, sah Nick aus, als würde er jeden Moment weinen. »Jep.«

»Klasse. Tony, wenn Sie kurz mit rauskommen könnten, um ein paar Kontaktdaten zu bestätigen?«

Tony nickte.

»Wir sehen uns morgen, Nick.«

Tony und der Detective traten hin­aus in den Empfangsbereich.

Tony schloss die Tür hinter sich. »Ist die schriftliche Aussage wirklich notwendig, Detective? Ich glaube nicht …«

»Hören Sie zu«, unterbrach ihn Rice. »Ich verstehe, dass das eine schwierige Zeit ist, wirklich, aber ich versichere Ihnen, dass ich Vergewaltigungsopfer um nichts bitte, was nicht absolut notwendig ist.«

Tony zuckte beim Wort »Vergewaltigungsopfer« zusammen. Es versetzte ihm einen Stich, es im Zusammenhang mit Nick zu hören. Als hätte der Detective ihn mit Absicht verletzt, um ihn zum Schweigen zu bringen.

»Wir tragen Beweismaterial zusammen«, erklärte Detective Rice. »Das dürfen Sie nicht vergessen. Im besten Fall bekommen wir den Typ, der es getan hat. Aber das bedeutet noch nichts, solange wir keine Beweise haben, um ihn strafrechtlich zu verfolgen. Nicks Geschichte gehört zu diesen Beweisen.«

»Kann ich …« Tonys Stimme brach; er war kurz davor, vor diesem Mann zu weinen. Um die Tränen aufzuhalten, riss er die Augen auf. Dann stieß er scharf den Atem aus und versuchte es erneut. »Kann ich ihm helfen, die Aussage aufzuschreiben?«

»Es ist besser, wenn er es selbst tut. Bei vielen Fällen kommt es am Ende darauf an, wessen Seite glaubwürdiger ist. Es wird uns nicht helfen, wenn Sie die Aussage für ihn aufschreiben. Aber Sie können währenddessen neben ihm sitzen.«

Tony beantwortete die Fragen des Detective zu Namen, Nummern und Adressen der Familie Hall, aber die ganze Zeit ging ihm das eine Wort durch den Kopf: Vergewaltigungsopfer. Vergewaltigungsopfer. Vergewaltigungsopfer.

Nachdem sich der Detective verabschiedet hatte, ging Tony zurück in Nicks Zimmer.

Sein Bruder sah ihn vom Bett aus stirnrunzelnd an. »Warum hast du die Tür zugemacht?«

Kopfschmerzen breiteten sich wie ein heißes, feuchtes Tuch von Tonys Schläfen über seinen Schädel und Hals aus. »Einfach so.«

»Warum?« Nicks Frage kam so schnell, dass klar war, dass er Tonys Antwort nicht einmal gehört hatte.

»Nick …« Er hielt inne. Es gab keine Worte. »Es tut mir leid, ich versuche nicht, dich wie ein Kind zu behandeln, ich wollte nur fragen, ob es wirklich notwendig ist, die Formulare heute Abend auszufüllen.«

»Dann hast du mich also doch wie ein Kind behandelt, weil es einfach nur darum geht, Worte zu Papier zu bringen, und ich gesagt habe, dass ich es tun werde.«

»Mensch, Nick, wäre es denn so schlimm, wenn ich dich heute wie ein Kind behandele?« Tony sprach so laut, dass er beinahe schrie.

Die Brüder starrten einander an.

»Was?«, ­­fragte Tony. »Soll ich etwa so tun, als sei alles in Ordnung?«

»Aber mir geht es doch gut.«

Tony schüttelte den Kopf, blickte auf die Formulare in seiner Hand, betrachtete das Wort »Zeugenaussage«.

Nick starrte ihn an. Sagte nichts.

»Ich weiß nicht, wie ich dich fragen soll, was passiert ist.«

Kapitel 4 Nick Hall, 2015 

So war es passiert.

Am ersten Freitag im Oktober erhielt Nick Hall eine Nachricht von einem Typen, den er mochte. Während einer Vorlesung in Wirtschaftswissenschaft zog er sein Handy ein Stück aus der Tasche, um seine Nachricht zu lesen. Auf dem Display waren die Namen Elle, Mom und Chris zu sehen. Als er den letzten Namen registrierte, flatterten Schmetterlinge in seinem Bauch. Keine Frage, eine Nachricht von Chris war das Risiko wert, sich mitten im Unterricht mit Handy erwischen zu lassen.

Nick legte das Telefon auf seinen Oberschenkel, wobei er schnell die anderen Nachrichten durchging, bis er die von Chris las.

Chris G: Hey

Das war’s. Keine Interpunktion, keine Antwort auf Nicks letzte Nachricht, keine Mühe. Aber zumindest hatte er geschrieben. Und »Hey« war irgendwie sexy, dachte Nick, wenn man es im richtigen Tonfall ­­sagte. Chris hätte es von Angesicht zu Angesicht im richtigen Tonfall gesagt – die Art von »Hey« mit Auslassungspunkten.

Die Nachricht war erst vor zwanzig Minuten geschrieben worden. Nick konnte unmöglich schon jetzt antworten. Das würde zu verzweifelt wirken. Oder aber Chris zeigen, dass Nick keine Spiele spielte und keine Angst hatte, sich das zu nehmen, was er wollte.

Ja genau, dachte Nick, vielleicht sollte er doch jetzt antworten.

Er schaute auf.

Sein Professor sah ihn direkt an, während er sprach.

Nick grinste verlegen und schob das Handy zurück in seine Tasche.

Als erfolgreicher Junior der University of Maine Salisbury konnte Nick es sich leisten, zumindest in einer heruntergekommenen Bruchbude und damit außerhalb des Campus zu wohnen statt in einem Mehrbettzimmer auf dem Universitätsgelände. An der Spring Street gehörten einem Immobilienunternehmen gleich mehrere Häuser, die unter den Studenten schon seit Generationen als Studentenverbindungsstraße bekannt war. Obwohl es an der UMS keine offiziellen Verbindungshäuser gab, fanden in der Straße regelmäßig Partys statt. Nick und drei Freunde wohnten im ersten Jahr zur Miete in dem gelben Haus auf der Studentenverbindungsstraße. Für ihre Befreiung aus der Tyrannei des Studentenwohnheims bezahlten sie mit klebrigen Türen, einem feuchten Keller und winzigen Kleiderschränken.

Als es am ersten Freitag im Oktober Abend wurde, stand Nick vor einem solchen Schrank und betrachtete sich in dem billigen Spiegel, der an der Tür hing. Er trug eine enge blaue Jeans und ein kurzärmeliges Button-Down-Hemd mit kleinen Punkten. Zusammen mit seinen marineblauen Schuhen und der grauen Cargo-Jacke war dies sein aktuelles Lieblings-Outfit. Er hatte es vor zwei Wochen zu einem Abendessen getragen, und Tony und Julia hatten beide geschwärmt, wie gut er doch aussah. Und sie hatten recht gehabt … Warum also sah es heute fürchterlich aus?

Er lief durch das Schlafzimmer zur Kommode und ging in die Hocke, um die Schublade mit den T-Shirts zu öffnen. Dann fuhr er mit den Fingern über die weichen Band-T-Shirts auf der linken Seite der Schublade und zog einen cooleren Look in Erwägung. Chris stylte sich immer so, als würde er keinen Gedanken an sein Aussehen verschwenden. Es war die Kombination aus seinem kurzen Afro, dem Nasenring, abgetragener Jeans und der Ausstrahlung, die er wie eine Aura trug. Nick dagegen sah sehr wohl so aus, als würde er Wert auf sein Äußeres legen, sogar sehr, und das war schlecht.

Er zog ein abgenutztes Springsteen-T-Shirt her­aus – es war weiß und ausgewaschen, mit einem Cover-Aufdruck des »Born in the U.S.A.«-Albums.

Der Anblick reichte aus, um Nick ein Knistern hören zu lassen, das Geräusch einer Nadel, und kurz darauf Dancing in the Dark, das aus dem Plattenspieler seines Vaters schallte. Er war wieder acht; sein Vater war angetrunken und wirbelte seine kichernde Mutter durchs Wohnzimmer. Sie hatten sich gestritten, aber der Boss ließ sie das ganze Drama besser vergessen als jeder andere. Es spielte keine Rolle, womit seine Mutter gedroht hatte – die Polizei zu rufen, sich scheiden zu lassen, Nicky zu ihrer Mutter mitzunehmen, sodass Ron ihn nie wiedersehen würde. Und es spielte keine Rolle, was sein Vater zerbrochen hatte – einen Teller, eine Bierflasche und einmal das Fenster der Hintertür. Alles, was Ron Hall tun musste, war die Nadel auf den uralten Plattenspieler zu legen, und sie vertrugen sich wieder. Die Musik und alles andere, was ihn dar­an erinnerte, erfüllte ihn mit einer Mischung aus Nostalgie, Heimweh und etwas wie Reue. Es war das perfekte T-Shirt, um nicht mehr verzweifelt, sondern nachdenklich zu wirken.

Als Nick den obersten Knopf seines Hemdes berührte, wurde seine Zimmertür langsam und knarrend geöffnet.

Mary Jo, eine seiner Mitbewohnerinnen, stand im Türrahmen. »Bist du angezogen?«

»Als würde das eine Rolle spielen.«

Sie grinste. »Wollte nur mal schauen, ob ich einen Blick auf dein gutes Stück …«

»Igitt, raus mit dir.« Er warf ihr das T-Shirt entgegen, und sie fing es quietschend auf.

»Wenn du immer noch eine Mitfahrgelegenheit brauchst, Eric holt mich in zehn bis fünfzehn Minuten ab.«

Nick griff nach seinem Handy auf der Kommode. Drei Stunden, nachdem Nick die Hey-Nachricht beantwortet hatte, war von Chris der Vorschlag gekommen, dass sie sich auf einen Drink treffen könnten.

Chris stand schon kurz vor dem Abschluss, war zweiundzwanzig und hatte Hauspartys satt. Er ging stattdessen in Bars. Nick würde erst im März nächsten Jahres einundzwanzig werden, also musste er einen gefälschten Ausweis mitnehmen, wenn er überhaupt in Bars reinkommen, geschweige denn einen Drink bestellen wollte.

Nick hatte geantwortet: Jimmy’s?

Salisbury lag verlockend nahe an Ogunquit, wo sich einige der besten Bars und Clubs im Süden von Maine befanden. Zumindest hatte Nick das gehört. Doch überall hatte man ihn nach einem Blick auf seinen gefälschten Ausweis abgewiesen. In Jimmy’s Pub dagegen war er schon zweimal reingekommen. Es befand sich in der Nähe des Campus in Salisbury; zwar war es ziemlich schäbig, aber es bot alles, was man sich wünschen konnte: gedämpftes Licht, billige Getränke und eine kleine, klebrige Tanzfläche.

Chris hatte noch nicht geantwortet, aber das war ja nichts Neues.

»Ich weiß noch nicht, ob ich eine Mitfahrgelegenheit brauche«, ­­sagte Nick zu Mary Jo, wobei er mit dem Handy durch die Luft wedelte.

»Scheiß auf Chris, okay? Er hat lange genug mit dir gespielt. Warum triffst du dich nicht nach dem Essen mit mir und Eric? Wir gehen mit dir ins Jimmy’s.«

Nicks Handy vibrierte in seiner Hand. Er blickte hin­unter und sah, dass Chris geantwortet hatte.

Chris G: Interessante Wahl. 22:00?

Nick konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Mary Jo hatte recht, Chris spielte tatsächlich mit ihm, aber im Moment war ihm das egal.

»So gerne ich auch das fünfte Rad am Wagen wäre, es sieht aus, als hätte ich ein Date.«

Mary Jo verdrehte die Augen. »Was hat er geschrieben?«

»Er findet mich interessant und will sich um zehn mit mir treffen.«

»Um zehn? Zehn? Es ist noch nicht mal sieben, ihr schreibt schon den ganzen Tag hin und her, und er will sich um zehn mit dir treffen. Er ist ein Arsch, Nick. Er tut nicht mal so, als sei es mehr als eine Bettgeschichte.«

Elles Kopf erschien im Türrahmen neben Mary Jo. »Ich habe nicht gelauscht«, begann ihre Mitbewohnerin, »aber wenn das doch der Fall gewesen wäre«, sie schob sich an Mary Jo vorbei, »hätte ich eine Idee für dich.« Sie ließ sich auf Nicks ungemachtes Bett fallen und fuhr sich mit der Hand durch das glänzende schwarze Haar. »Wir gehen ins Jimmy’s, bestellen ein paar Drinks und vielleicht einen Shot, um den Abend locker einzuläuten, mehr nicht.« Sie hob die Hand, als Nick etwas erwidern wollte. »Und wenn Chris irgendwann nach zehn eintrudelt – du weißt, dass er zu spät kommen wird –, lasse ich euch alleine, und du kannst ihm eine Standpauke halten.«

»Ich werde ihm keine Standpauke halten«, stöhnte Nick. »Ihr täuscht euch in ihm. Zumindest teilweise. Es ist so toll, wenn wir zusammen sind.«

»Und wenn ihr nicht zusammen seid, fühlst du dich mies wegen ihm«, gab Mary Jo zu bedenken.

Sie hatte recht. Sie alle hatten recht. Selbst Johnny, ihr anderer Mitbewohner, der kein Mann vieler Worte war, hatte einmal über Chris gesagt: »Scheint mir ein Arschloch zu sein.«

Mary Jo und Elle sahen Nick erwartungsvoll an.

»Na schön. Gott! Ein paar Drinks, damit ich den Mut habe, ihm zu sagen, dass er klarkommen oder verschwinden soll.«

Elle quietschte und klatschte wie ein Kind in die Hände.

»Und jetzt raus, damit ich mich umziehen kann.«

Es war 22:38 Uhr, und Chris hatte sich nicht gemeldet.

Nick hatte, genau wie von Elle vorgeschlagen, ein paar Drinks getrunken. Drei, seitdem sie um kurz nach neun eingetroffen waren, wobei der erste ein Tequila gewesen war. Nick war eigentlich nicht in Stimmung für Shots, aber Elle war so nett gewesen, ihn zu begleiten, und sie liebte Shots.

Die erste Stunde war wie im Flug vergangen. Elle hatte ihn in eine Sitznische gegenüber der Bar gezogen und dafür gesorgt, dass er mit dem Rücken zur Tür saß, damit sie seine volle Aufmerksamkeit hatte. Elle war die perfekte Freundin, sie hielt ihn davon ab, zu viel nachzudenken, und sie hatten ein bisschen über ihre Mitbewohner und andere gemeinsame Freunde getratscht, um sich die Zeit zu vertreiben. Als Nick das Display seines Handys antippte, las er 21:59 Uhr und machte sich bereit, seinen Plan in die Tat umzusetzen. Er würde Chris sagen, was er empfand. Sie waren seit Ende letzten Jahres mal zusammen und mal getrennt gewesen. Nick war immer voll bei der Sache; es war Chris, der unentschlossen blieb. Nick war verrückt nach Chris, war­um also machten sie nicht endlich ernst?

Ab 22:03 Uhr hatte es ihm jedes Mal einen Adrenalinstoß versetzt, wenn die Tür hinter ihm knarrte – doch immer nur so lange, bis er den Kopf nach hinten gedreht und Chris nicht gesehen hatte. Um 22:16 Uhr wurde er langsam wütend.

Ich bin toll, dachte er, ich bin verdammt noch mal toll. Also muss er sich auch so verhalten, sonst soll er sich von mir trennen. Oder ich trenne mich von ihm.

Um 22:38 Uhr hatte er ungefähr vierzigmal auf sein Handy geschaut. Keine Nachricht, kein Chris. Er überlegte, ob er ihm schreiben sollte, dass er nun gar nicht mehr zu kommen brauche. Aber wollte er Chris gegenüber wirklich zugeben, wie viel er ihm bedeutete?

»Okay«, ­­sagte Elle laut und klatschte mit den Handflächen auf den klebrigen Tisch. »Mir reicht’s. Ich gehe zur Toilette, dann trinken wir noch einen Shot und tanzen. Sobald er auftaucht, trete ich ihm in die Eier, und wir gehen.«

Nick lächelte, konnte sich aber nicht zu einem Lachen zwingen. Gott, er war erbärmlich. Warum tat ihm Chris das nur immer wieder an? Und war­um ließ er selbst es zu?

»Geh einfach, ich komme schon klar.«

Elle rutschte von der Bank und stellte sich vor ihn. »Noch zwei Tequilas«, verkündete sie und drehte sich um.

Als sich Nick der Bar näherte, wusste er, dass es für diesen Abend nur zwei mögliche Ausgänge gab. Wenn er Glück hatte, würden er und Elle im Jimmy’s bleiben und trinken und tanzen, bis die Mitarbeiter die Hocker auf den Tresen stellten. Wenn er Glück hatte, konnte der Abend also überraschend gut werden. Doch wahrscheinlicher war die zweite Möglichkeit: Er würde den Shot trinken, halbherzig zu einem oder zwei Liedern mit Elle tanzen, sich dann in die Waschräume stehlen und sich im Spiegel anstarren. Er würde zusehen, wie seine Gesichtszüge unter dem Einfluss des billigen Tequilas und des schlechten Lichtes ausgeprägter und merkwürdig wurden, und er würde versuchen zu analysieren, was er an sich hatte, dass man ihn so zurückwies.

Der Barkeeper füllte vor Nick die Gläser.

»Ist einer davon für mich?«

Nick wandte sich nach links, wo sich der Besitzer der Stimme gerade auf einem Barhocker niederließ. Er hatte den Mann nicht reinkommen sehen, obwohl er die Tür wegen Chris im Auge behalten hatte. Ein Gesicht wie dieses wäre ihm nicht entgangen. Der Mann war beunruhigend gut aussehend. Sein Haar trug er oben länger, sodass ihm eine dunkle Locke in seine blasse Stirn fiel. Hellblaue Augen, hohe Wangenknochen, Dreitagebart.

Hei-li-ge Scheiße. Es mochte am Licht liegen oder an den ersten drei Drinks, aber dies könnte der schönste Mann sein, mit dem Nick jemals geredet hatte.

»Äh«, hauchte Nick.

Der Mann wartete mit einem verschmitzten Grinsen.

Elle wird verstehen, dass ich ihren Shot abgebe, besonders an einen Mann, der so aussieht. Genau genommen wird sie sogar der Ansicht sein, dass ihr der Ruhm dafür gebührt, da sie mich überhaupt erst hierhergeschickt hat.

»Ja«, ­­sagte Nick. »Ja, ich bestelle andauernd Drinks für Typen, die derart außerhalb meiner Liga spielen. Ich versuche einfach nur, das Spielfeld ausgeglichener zu machen.«

Der Mann lachte, und Nick war stolz.

Es war ihm schleierhaft, wie er es überhaupt geschafft hatte, irgendwelche Worte hervorzubringen. Er schob eines der Gläser dem gut aussehenden Fremden zu.

»Bist du dir sicher, dass es ihr nichts ausmacht?« Der Mann nickte in Richtung Toiletten. Er musste Elle gesehen haben.

»Ja«, erwiderte Nick. »Sie schafft es wahrscheinlich nicht mal zurück zum Tisch, sondern tanzt mit irgendeinem Mädel, das sie auf der Toilette kennengelernt hat.«

Der Mann schob das Glas in kleinen Kreisbewegungen über den Tresen. »Dann habt ihr beide also eine Übereinkunft?«

»O ja«, antwortete Nick. Was der Mann meinte, wusste Nick nicht so recht, aber er sprach mit selbstbewusster Stimme. Er fühlte sich schlau und cool – genau das Gegenteil von dem, wie er sich in Chris’ Gegenwart fühlte. Wie war das möglich, wo er doch mit einem Typ redete, der aussah, als käme er gerade von einem Model-Job?

»Ich bin Josh«, stellte der Mann sich vor und hob das Glas.

»Nick.« Er warf den Kopf zurück und fühlte, wie der billige Tequila seine Kehle hinabrann; es schmeckte widerlich.

»Woooow!«, rief Josh und schaute Nick an, als hätte er ihn vergiftet. »Das ist, glaube ich, der schlechteste Tequila, den ich jemals hatte. Du musst ein ziemlich armer College-Student sein, wenn du dieses Zeug trinkst.« Josh beugte sich vor und zog sein Portemonnaie aus der engen Gesäßtasche. »Die nächste Runde geht auf mich.«

Während er zusah, wie Josh dem Barkeeper winkte, erkannte Nick, dass er sich getäuscht hatte. Es gab noch eine dritte Möglichkeit, wie der heutige Abend enden könnte.

Sonnenlicht fiel auf Nicks pochendes Gesicht. Er drehte sich um, und sein Gehirn schien sich in seinem Schädel mit zu drehen. Für einen Moment hielt er still und versuchte, den Schmerz zu vertreiben, aber stattdessen breitete dieser sich aus. Er schien seinen Hals, seine Schultern und seinen Bauch hin­unter zu pulsieren …

O. O Gott.

Nick bewegte sich erneut und spürte einen heißen Schmerz tief in seinem Inneren.

Er hatte in der letzten Nacht Sex gehabt.

Nein. Schlimmer.

Joshs Stimme: »Hat es dir gefallen?«

Nein, stopp, dachte er, es geht mir gut, es geht mir gut.

Er setzte sich auf, sein Kopf explodierte beinahe, und der Schmerz schoss ihm stechend unter seinen Bauch.

»Gefällt dir das?«

Stopp.

Er war allein. Es war ein Motelzimmer, klein und beige und erfüllt von Zigarettengestank.

Er schob die dünne Decke zurück. Blut. Blut auf dem Laken unter seinen Oberschenkeln.

»O mein Gott.« Seine Stimme war ein Flüstern.

War Josh noch hier? Er lauschte. Hörte nichts.

»Hallo?«

Immer noch nichts.

»Okay«, flüsterte er. »Es geht dir gut.«

Was, wenn Josh zurückkam?

Ein Gedanke in seinem Kopf, losgelöst von seiner flüsternden Stimme: Du musst aufstehen. Du musst hier weg.

Nick schwang seine Beine aus dem Bett und spürte einen scharfen, stechenden Schmerz, als er sich erhob; er hörte sich selbst wimmern und fühlte sich wie ein Kind. Das Gefühl ebbte zu einem Brennen ab, und der dumpfe Schmerz in seinem Kopf meldete sich zurück.

Beweg dich weiter, ­­sagte die Stimme, du musst weg.

Auf dem Boden lag seine Kleidung. Er griff nach seiner Jeans und zog sie an, ließ seine Unterwäsche auf dem Teppich. Mist, das Blut würde Flecken auf seiner Jeans machen. Wie sollte er die wieder rausbekommen? Er zog sein T-Shirt auf links an und griff nach seiner Jacke. Das Portemonnaie steckte in der hinteren Hosentasche, aber wo war sein Handy? Er suchte in seiner Jacke danach. Die Taschen waren leer. Er ging hin­unter auf alle viere. Sofort begann sein Gehirn wie wild in seinem Schädel zu pochen, schrie ihm zu, dass er sich nicht so weit vorbeugen sollte.

Da war es, unter dem Bett.

Nimm es und hau ab.

Er schloss seine Hand um das weiche Leder.

Von der Tür hinter ihm erklang ein Geräusch. Er zuckte zusammen, hob abrupt den Kopf und stieß ihn sich am Bettrahmen.

»Reinigungsservice«, verkündete eine leise Stimme.

Nick schob sich unter dem Bett hervor und rappelte sich auf.

Versteck das Blut.

Er zog die Decke über das Laken und drehte sich in dem Moment um, als die Tür geöffnet wurde.

Die dünne Frau in Schwarz erschrak. »O, tut mir leid, man hat mir gesagt, Sie hätten ausgecheckt.«

»Sorry«, ­­sagte Nick.

Sie machte Platz für ihn, als er durch die Tür ging.

»Hey, Sie haben was vergessen.«

Er drehte sich um und sah, dass sie auf seine Unterhose auf dem Boden deutete. Eine Frau, die er nicht kannte, starrte seine Unterwäsche an. Bat ihn, sie aufzuheben. Nahm – richtigerweise – an, dass er keine trug.

»Sorry«, wiederholte er, griff danach, faltete sie und schob sie unter seine Jacke.

Nick trat hin­aus in die kühle Morgenluft und sah direkt ein Taxi unter dem Schild mit der Aufschrift Motel 4 Deluxe in der Einfahrt, die zur Route 1 führte. Er umklammerte seine Jacke mit der Hand und rannte die Treppe hin­unter und über den Parkplatz. Er dachte noch immer an das Zimmermädchen. Die arme Frau. Sie würde das Blut sehen. Sie würde das Bett abziehen müssen. Oder würde sie … Was würde sie tun, wenn sie das Blut auf dem Laken sah?

Der Fahrer ließ das Fenster hin­unter, als er sah, dass Nick sich näherte.

Mist. Er hatte sein letztes Bargeld im Jimmy’s ausgegeben.

Nick klammerte sich am Fensterrahmen fest. »Nehmen Sie Karten?«

»Äh, ja.« Taxifahrer reagierten fast immer genervt auf diese Frage, aber dieser Mann wirkte besorgt. »Steig ein, Junge.«

Nick ließ sich vorsichtig auf dem Rücksitz nieder. Das Blut. Das Blut könnte durch seine Hose durchsickern und den Sitz ruinieren. Er setzte sich auf eine Hand.

»Alles in Ordnung, Junge?« Der beleibte Mann wandte ihm sein Gesicht zu. Er war mittleren Alters und trug eine Ballonmütze.

»Was?«

»Wer hat dir das angetan?«

Nick spürte, wie er rot wurde, ­­sagte aber nichts.

»Dein Gesicht.«

Nick schaute über den Mann hinweg in den Rückspiegel.

Sein Spiegelbild wirkte falsch. Seine Lippe war aufgeplatzt, und über seiner Augenbraue befand sich eine blutverkrustete Wunde.

Gib ihm deine Adresse.

»11 Spring Street«, ­­sagte er. »Bitte.«

Der Fahrer schaute ihn noch einen Moment lang an, bevor er seufzte. »Alles klar.«

Würde die Hotelangestellte die Polizei rufen, wenn sie das Blut sah? Hatte das Motel seinen Namen?

Schau auf dein Handy.

Nick holte sein Telefon hervor. Das Display war voller Nachrichten.