Der Füllfederhalter des Grauens -  - E-Book

Der Füllfederhalter des Grauens E-Book

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Beschreibung

Der Füllfederhalter eines Toten übermittelt eine unheilvolle Botschaft, für perfide Außerirdische erweist sich gewöhnliche Tinte als pures Gift, der Tod persönlich tauscht seine Sense gegen einen Füller, ein Weltkriegsveteran irgendwo in Russland hat schreckliche Schreibwerkzeuge zu verschenken. Spannende Unterhaltung und subtiler Horror mit Gänsehautgarantie.

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Der Füllfederhalter des Grauens

Gruselgeschichten

Herausgegeben von Jörg Sprave

Dr. Ronald Henss Verlag Sudstraße 2 66125 Saarbrücken www.ronald-henss-verlag.de [email protected]

© Alle Rechte beim Verlag und den Autoren Umschlaggestaltung: Conny Sprave, Spravart, www.spravart.com

eBook im epub-Format ISBN   978-3-939937-59-3

Weitere Ausgaben: ISBN   978-3-939937-05-0   (Buch)

Vorwort des Herausgebers

Ein echter Füllfederhalter besitzt seinen ganz eigenen Reiz. Die schlanke Form, die edlen Materialien, die biegsame Goldfeder, die der Besitzer über Jahre hinweg persönlich einschreibt und so dem Schreibgerät seine individuelle Prägung gibt – das übt seit Generationen eine starke Faszination auf die Menschen aus.

Mit einem Füllfederhalter kann man ganze Bücher schreiben. Aber man kann auch eine einzige Unterschrift unter einen gedruckten Text setzen. Dann wird der Stift zum Werkzeug der Macht – per Füller kann ein Staat einem anderen den Krieg erklären, ein Richter unterzeichnet grausame Urteile mit einem Füllhalter, ein dem Tode geweihter Mensch unterschreibt beklommen seinen letzten Willen, Waffen- und Drogengelder in Milliardenhöhe werden durch eine einfache Signatur transferiert. Ein Füllfederhalter kann mit ein wenig Tinte unendliches Leid und sogar den Tod über Menschen bringen. Er kann mit einem einzigen Federstrich verurteilen, verdammen, vernichten.

Das macht ihn zu einem geeigneten Mittelpunkt einer Gruselgeschichte und somit zum Thema des vorliegenden Buches – vierzehn Autoren haben ihre ganz eigene Version des Horrors, den ein Füllfederhalter verbreiten kann, zu Papier gebracht.

Der Füllfederhalter eines Toten übermittelt eine unheilvolle Botschaft, für perfide Außerirdische erweist sich gewöhnliche Tinte als pures Gift, der Tod persönlich tauscht seine Sense gegen einen Füller, ein Weltkriegsveteran irgendwo in Russland hat schreckliche Schreibwerkzeuge zu verschenken ...

Die Geschichten dieses Buches bieten spannende Unterhaltung und subtilen Horror mit Gänsehautgarantie. Die Autoren wünschen angenehmes Gruseln.

Barbara Naziri

Nebelmond

Bremsen kreischen. Ein ohrenbetäubender Knall. Glas splittert. Etwas Dunkles wirbelt durch die Luft und bohrt sich in die feuchte Erde. Eine feine Rauchfahne steigt empor. Stille. Nur der Nebelmond wirft einen Blick auf das Geschehen. Sein Schein streift verstreut herumliegende Trümmer. Ein Lichtstrahl fällt auf einen tiefschwarz glänzenden Füllfederhalter, dessen Kappe jäh aufblitzt. Dann gewinnt die Finsternis Raum.

Grau ziehen Nebelschwaden über das Wendland und verdichten sich immer mehr. Nirgendwo ist eine Menschenseele zu sehen. Die Zeit scheint in dieser Nacht stillzustehen. Der Gedanke an Laura bereitet mir Unbehagen. Nie zuvor habe ich sie so zornig erlebt wie heute. Ihre haltlosen Anschuldigungen haben mich tief verletzt.

Die Sicht wird immer schlechter. Mühsam brennen die Nebelscheinwerfer zwei schwache Strahlen in die undurchdringliche Wattewand. Die Landschaft ist nur zu erahnen und gleitet an mir vorüber. Unheimlich wie die Schattenwelt. Es ist mir, als fahre ich durch eine ferne Galaxis. Dabei bin ich nur auf der Heimfahrt. Zurück an die Nordsee. Schemenhaft tauchen Bäume aus dem Nichts auf, schweben wie dunkle Geister an mir vorüber, als wären sie ihrer Wurzeln beraubt, um dann von der Finsternis wieder verschlungen zu werden. Ihre Zweige scheinen wie unzählige Arme nach mir zu greifen. Ich muss mich beherrschen, um das Gaspedal nicht durchzutreten. In mir ist ein Gefühl, als zöge mich jemand in ein bodenloses Loch. Ich schlucke, aber der Kloß in der Kehle will nicht weichen.

Ich umklammere das Lenkrad in meinen Händen. Die Innenflächen werden feucht und die Knöchel treten durch die Anspannung weiß hervor. Ich sehne mich nach Entspannung. Ach, eine kurze Pause täte jetzt gut! Auf einem der abgelegenen Rastplätze, die nicht mal beleuchtet sind? Wer weiß, was dort im Verborgenen auf mich lauert! Ich fühle mich ausgestoßen und wünsche mich zurück in die lebendige Welt, die sich irgendwo hinter diesen wallenden Schleiern verbirgt. Jeder Busch, jeder Stein dort draußen in der zähen Suppe scheint mir allein. Es ist, als halte alles Leben den Atem an. Unwillkürlich muss ich über meine Gedanken lächeln. So viel Schiss vor ein bisschen Nebel! Ich versuche mich zu entspannen, strecke meine Glieder hinter dem Lenkrad so gut es eben geht. Mitternacht ist längst vorüber. Müdigkeit und Kälte kriechen in mir hoch und ich schalte die Heizung höher.

Wie zwei grimmige Augen leuchten jäh die Rücklichter eines Wagens vor mir auf. Abrupt trete ich auf die Bremse. Ein Stau, der sich wie eine rotäugige Schlange durch die wabernde Dunkelheit zieht. Ich sende einen Stoßseufzer zum Himmel. Selten hat sich wohl jemand so über einen Stau gefreut wie ich. Endlich Gesellschaft! Ich schalte die Warnblinklichter an. Schrill dringen Sirenen durch die Nacht und grelles Blaulicht blendet meine müden Augen. Irgendwo da vorne hat es einen Unfall gegeben.

Wie in Zeitlupe wälzt sich die Autokolonne voran. Schritt für Schritt. Am Straßenrand steht ein mächtiger Baum, dessen Stamm stark beschädigt ist. Glassplitter glitzern im kalten Licht der Scheinwerfer. In Fetzen hängt die Rinde an der großen Baumwunde herunter. Auf dem Boden liegt eine verkrümmte Stoßstange. Dann bemerke ich den Wagen. Er ist nach dem Aufprall in den Straßengraben gestürzt. Dort liegt er – wie ein zerbrochenes Spielzeug. Seine Räder sind zum Himmel gerichtet. „Wie ein Maikäfer auf dem Rücken“, schießt es mir durch den Kopf. Die Helfer, die im milchigen Licht mit der Rettung der Opfer beschäftigt sind, wirken gespenstisch. Ich wende mich ab. Mehr kann und will ich nicht erkennen.

Obwohl wir die Unfallstelle längst passiert haben, geht es noch eine Weile im Schritttempo weiter. Plötzlich klopft es an die Seitenscheibe. Mir stockt der Atem. Mein Puls rast. Eiskalt kriecht mir eine Gänsehaut über den Rücken. Ein Mann beugt sich zu mir herunter. Ich blicke in ein erschöpftes Gesicht, hole tief Luft und kurbele das Fenster herunter.

„Nehmen Sie mich ein Stückchen mit?“, bittet er dringlich. „Mein Wagen hat einen Schaden.“

Ich betrachte den Fremden genauer. Seine Kleidung ist durchnässt, das Haar wirr und feucht. Er hat ein markantes Gesicht. Doch nun ist es leichenblass und sein Blick wirkt seltsam starr. In der Hand hält er einen Füllfederhalter, den er unruhig durch die schmalen Finger gleiten lässt.

„Warum nicht?“, sage ich und versuche, meiner Stimme einen ruhigen Klang zu geben. „Ich fahre nach Büsum.“

„Das ist meine Richtung.“ Der Fremde steigt ein, aber er nennt seinen Namen nicht und schaut stur geradeaus. Unablässig spielt er mit seinem Füllhalter, reibt die glänzende Oberfläche, als streichele er sie.

Ich schweige, weil ich nicht weiß, wie ich ein Gespräch beginnen soll. Seine Unnahbarkeit macht mich stumm. So betrachte ich den Füllhalter in seiner Hand. „Ein schönes Stück“, denke ich. „Gewiss ziemlich teuer.“ Der tiefschwarze Lack hat einen seltsamen bläulichen Glanz und zieht meinen Blick magisch an. Die silberne Kappe ist fein poliert und scheint von innen zu leuchten. Auf der Kuppe ist kunstvoll ein silberblauer Halbmond eingraviert. Der Schreiber ist wunderschön und ich möchte ihn besitzen. Als ich mir dessen bewusst werde, fühle ich eine tiefe Scham. Was ist in dieser seltsamen Nacht eigentlich mit mir los?

Endlich geht es weiter und die Kolonne setzt sich in Bewegung. Im Wagen ist es bitterkalt, obwohl die Heizung auf vollen Touren läuft. Seltsam. Es ist, als wolle der Nebel sogar in das Innere meines Autos kriechen.

„Möchten Sie eine Decke?“, frage ich den Fremden. „Es liegt eine auf der Rückbank. Sie sind ja ganz durchnässt.“

„Nein, das ist nicht nötig“, flüstert er. „Ich will einfach nach Hause.“

„Wo ist das?“, frage ich neugierig.

„Ich will ans Meer zurück, einen letzten Blick darauf werfen. Ich möchte spüren, wie der Wind mir Flügel gibt, mich davonträgt … Das Meer, dort ist mein Zuhause … dort möchte ich mich noch einmal vom Glück umarmen lassen.“

„Das haben Sie wunderschön ausgedrückt“, sage ich ergriffen. „Nur wer die Weite des Meeres und der nordischen Landschaft liebt, kann es so beschreiben.“

„Bald bin ich zuhaus.“ Den Rest der Fahrt schweigt er.

Ich habe nicht das Bedürfnis, ihm eine Unterhaltung aufzudrängen und hänge meinen eigenen Gedanken nach. Die Sache mit Laura belastet mich.

Kurz vor Büsum bittet er mich zu halten und steigt aus. Ich höre das Meer rauschen, den wilden Klang der Wellen, die an den Strand schlagen. Durch das geöffnete Fenster treibt mir eine frische Brise salzige Luft ins Gesicht. Noch ist der Tag nicht angebrochen, aber die Nebel der Nacht lösen sich auf und am Horizont zeigt sich ein schmaler Lichtstreif. Der Mann schaut in die Ferne. „Ich bin am Meer“, flüstert er und geht ohne sich noch einmal nach mir umzuwenden hinaus in die Morgendämmerung. Für eine Sekunde bin ich abgelenkt und blicke zum Himmel. Das Morgenrot kämpft gegen die dunklen Wolken der Nacht. Als ich noch einen Blick auf den Fremden werfen will, ist er im Zwielicht verschwunden. Mir ist ganz seltsam zumute. Ich bin irgendwie traurig über sein Verschwinden und zugleich auch froh.

Als ich zu Hause aus dem Wagen steigen will, bemerke ich den Füllfederhalter auf der Schmutzmatte und einen zerknüllten Zettel daneben. Der Fremde scheint ihn verloren zu haben. Auf dem Zettel steht nur der Name Lars Winter, und der ist fein durchgestrichen. Dahinter ein dicker roter Tintenklecks. Ich nehme den Füllhalter in die Hand. Wieder spüre ich dieses eigenartige Gefühl, das mich überkam, als der Fremde meinen Wagen verließ. Obwohl ich den Schreiber schon einige Zeit in der Hand halte, bleibt er kalt. Auch scheint die silberne Kuppe ihr Leuchten verloren zu haben. Seltsam. Im Auto hatte ich nur den eingravierten Mond wahrgenommen. Doch da gibt es noch eine ganze Reihe feiner Schriftzeichen, die sich um die Kappe ziehen. Aber ich bin jetzt zu müde, um noch genauer hinzuschauen. Ich gehe zu Bett, um noch ein paar Stündchen zu schlafen.

Am Vormittag trödele ich herum. Gut geschlafen habe ich nicht, und das Erlebte hat mich im Traum verfolgt. „Ich muss unbedingt mit Laura sprechen“, denke ich. „Ob der Fremde wohl gut zuhause angekommen ist?“ Da fällt mir der Füllhalter wieder ein und die geheimnisvollen Schriftzüge auf der Kappe. Aber er ist verschwunden. Ich hatte ihn doch auf den Esstisch gelegt. Wieso liegt er dort nicht mehr? Ist er runtergerollt? Ich bücke mich. Nein, er liegt auch nicht darunter. Eigenartig.

Ich gehe in die Küche, um mir einen Kaffee aufzusetzen. Der Morgen ist klar, als hätte es die Nebel der Nacht nie gegeben. Die Sonne scheint träge durch die Fensterscheiben. Ich schließe einen Moment die Augen, um Licht und Wärme zu empfangen. Dann schlage ich die Zeitung auf.

BEKANNTER SCHRIFTSTELLER TÖDLICH VERUNGLÜCKT!

Darunter ein Foto. Sein Gesicht! Die Nacht hat mich wieder eingeholt. Meine Augen fliegen über den Artikel. Lars Winter, der bekannte Schriftsteller, kam heute Nacht aus unerklärlichen Gründen von der Landstraße ab. Sein Wagen überschlug sich mehrmals und stürzte die Böschung hinunter. Lars Winter war sofort tot. Die Buchstaben verschwimmen vor meinen Augen und ein Schauer durchströmt meinen Körper. Ich höre noch, wie er sagte: „Bald bin ich zuhaus.“

Da fällt mein Blick auf den Füllhalter. Er liegt direkt vor mir auf dem Schreibblock. Mein Atem fliegt und eine Übelkeit steigt in mir hoch. Was hat das zu bedeuten? Werde ich verrückt? Der Stift ist aus einem seltsamen Metall gearbeitet und scheint je nach Lichteinfall seine Farbe zu verändern. Hat er in der Nacht noch bläulich geschimmert, so glänzt er bei Tageslicht schwarzrot. Blitzend spiegelt sich die Kappe in der Sonne. War sie gestern nicht silbern? Jetzt leuchtet sie golden! Ich greife nach dem Füllhalter. Er fühlt sich an wie Samt. In Gedanken sehe ich Lars Winter, wie er immer wieder diese Oberfläche streichelt. Mit zitternden Händen nehme ich eine Lupe aus der Schublade, um die Worte zu entziffern. Seltsam. Die Schrift windet sich spiralförmig um die Kappe und leuchtet umso intensiver, je mehr ich sie betrachte. Sie entwickelt ein Eigenleben. Die Worte ziehen an meinen Augen wie ein Fließtext vorüber. Ich kann mich nicht bewegen, nur lesen:

Die Nebel haben sich gelichtet, und auf dich ist mein Blick gerichtet. Wer du auch bist, wie du auch heißt, einerlei sei’s, gib auf den Geist, denn du berührst verbotnes Gut, dein Leben will ich zum Tribut, mach dich bereit, bald bist du bleich und kommst zu mir ins dunkle Reich! REFIZUL

Der Füllfederhalter gleitet mir aus der Hand. Sacht sinkt er auf den Schreibblock. Rubinrote Tinte fließt auf das weiße Papier und formt sich wie von Geisterhand geschrieben zu Buchstaben.

D-A-R-I-A

Daria, das ist mein Vorname!

Ist das ein Albtraum? Dann will ich jetzt aufwachen. Bitte … Meine Hände ballen sich zu Fäusten. Kalter Schweiß bricht mir aus. Ich bin wie gelähmt und kann mich nicht bewegen. Das Grauen nimmt mir die Luft.

Der Füller schreibt weiter:

M-E-H-A-L-U-D*

Mehalud, mein Nachname!

Dann fließt ein Klecks heraus und eine feine Linie bewegt sich langsam auf meinen Namen zu.

*

Thomas Sedlmeyr

Le stylo de la mort

Es ist der 1. September 1870. Um Sedan kommt es zu schweren Kämpfen zwischen der französischen Armee unter Führung des Kaisers Napoleon III. und den deutschen Heeresverbänden unter dem Oberbefehl Graf Moltkes.

Leutnant Lefort inspizierte die linke Flanke. Die Lage war schlimmer, als er gedacht hatte: Eine Mörserbatterie des Feindes hackte Loch um Loch in die Reihen der Infanterie. Lefort vermochte zu spüren, wie das Entsetzen dort mit jeder neuen Lücke wuchs. Wenn der Feind diese mörderische Feuerrate aufrecht erhielt, würde die Moral binnen kürzester Zeit brechen. Nur ein Kavallerieangriff konnte das feindliche Feuer eindämmen und die Männer im letzten Augenblick dem Klammergriff des Todes entreißen. Er musste dem General unverzüglich Bericht erstatten! Entschlossen riss er den Zügel herum. Sein treues Ross wieherte auf, Schaum troff aus seinem Maul. Zur Rechten explodierte eine Granate. Erdreich wurde in die Luft geschleudert und prasselte auf Ross und Reiter herab. Lefort fluchte laut. Einige Soldaten rannten mit aufgepflanztem Bajonett an ihm vorbei, es waren die Seinigen, trotz des dichten, beißenden Pulverdampfs erkannte er die Uniformen. Eine Salve ertönte, Schmerzensschreie, dann erneut das Donnern der Batterie. Er konnte nun fast nichts mehr sehen. Verzweifelt versuchte er die Schwaden zu durchdringen, schrie die Parole in den stinkenden Nebel. Verdammt, er musste den Kommandostand erreichen! Die linke Flanke, wie lange würde sie sich halten können? Wie lange hielt der Mut eines Mannes, dessen Kameraden neben ihm einer nach dem anderen in Stücke gerissen wurden?

Er musste sich ungefähr in der Mitte der Schlachtreihe befinden. Die Mündungen der Eisenrohre spuckten ihre tödliche Ladung im Sekundentakt und das Knattern der Gewehrsalven wurde nur unterbrochen von den mächtigeren, dumpfen Explosionen der Kanonen. Endlich glaubte er den Hügel zu erkennen, als ihn ein Schlag fast aus dem Sattel hob. Die Kugel durchschlug seinen Hüftknochen, zerfetzte die Eingeweide. Schmerz setzte seinen Unterleib in Brand. In feurigen Wellen stieg er empor und presste ihm den Schweiß aus allen Poren. Lefort keuchte, seine Augen traten weit hervor. Dann sackte der schwere Körper des Leutnants im Sattel zusammen. Das Pferd schien ebenfalls getroffen. Es machte einen weiten Satz nach vorne und galoppierte blind drauflos. Mit letzter Kraft suchte der junge Soldat sich zu halten. Sein Stiefel tastete vergebens nach der Sattelschlaufe, seine Hand fuhr über den Kopf des Tieres, über nasse Haut und gespannte Sehnen, krallte sich in die Mähne. Er roch das Fell des Pferdes, spürte seine Wärme und seinen Pulsschlag.

Nach einer Weile wurde das Pferd langsamer und blieb schließlich ganz stehen. Müde hob Lefort den Kopf. Sie befanden sich an einer abgelegenen Stelle des Schlachtfeldes. Der Pulverdampf war hier weniger dicht, hing in kleinen Wolken über zerstapftem Gras und brennenden Büschen. Gierig sog der Leutnant die frische Luft in seine Lungen und versuchte sich aufzurichten. Ein stechender Schmerz warf ihn zurück. In hilfloser Wut über seinen zerschundenen Körper wollte er aufschreien, doch etwas hielt ihn zurück. Er war nicht alleine ...

Nur wenige Meter vor ihm, umgeben von wogenden Schwaden, saß eine Gestalt an einem kleinen hölzernen Pult. Sie trug eine schwarze Mönchskutte, das Gesicht war unter einer schweren Kapuze verborgen. Gebeugt über einen Stapel Pergament kritzelte das Männlein vor sich hin.

Der Leutnant keuchte. Überdeutlich vernahm er das Kratzen und Schaben des Federhalters. Es vermischte sich mit dem Schlag seines eigenen Herzens. Ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren. Mit einem Mal stockte die dürre Hand, holte schwungvoll aus und bohrte den Federhalter zielsicher in  einen Homunkulus, der als Tintenfass diente. Schmatzend saugte das Schreibgerät sich voll schwarzen Blutes. Dann richtete es sich geradewegs auf den entsetzten Lefort. Ein Tropfen perlte von der Feder ab und zerfloss auf dem Pergament. Lefort schnappte nach Luft. Die Spitze des Federhalters schien zu wachsen, einer Speerspitze gleich zielte sie auf seine pochende Brust. Langsam schob sich die Kapuze des Schreibers nach hinten und gab den Blick frei auf bleich schimmernde Knochen.

„Leutnant Lefort?“ Die Stimme klang, als riebe man zwei Grabsteine aneinander.

Lefort nickte stumm.

„Lefort mit t?“

Ein weiteres ungläubiges Nicken. Flink wie eine Maus huschte der Federhalter über das Pergament. Der Leutnant warf einen hilfesuchenden Blick auf einen Trupp fliehender Soldaten.

Das Männlein schüttelte traurig den Kopf, wobei seine Augäpfel bedenklich hin und her rollten. „Sie können uns nicht sehen, du Dummerchen. Du bist seit eben tot, und ich bin ... Nein, ich will jetzt keine Possen reißen. Für die meisten kommt es doch überraschend, und der Tod ist schließlich ein bedeutender Moment im Leben.“ Das Männlein kicherte über seine Worte.

Lefort starrte ihn mit dumpfem Blick an und ließ seine Hand über das Schlachtfeld schweifen.

„Ja, eine Menge Arbeit. Du fragst dich wahrscheinlich, wie ich das alles bewältige. Nun, nach dem Leben hat die Zeit keine Bedeutung mehr. Leben ist begrenzte Zeit. Auf den Tod folgt die Ewigkeit. Endlose Zeit. Es handelt sich um zwei völlig getrennte Bereiche, weshalb sich auch kein Lebender die Ewigkeit vorstellen kann. Im Gegenzug fällt es mir schwer, mich in Belange des Lebens hineinzudenken. Was mir oft den Vorwurf der Herzlosigkeit einbringt. Hältst du mich für herzlos, Jungchen?“

Lefort blieb ihm die Antwort schuldig.

„Egal. Das wirst du alles bald selbst erfahren.“

Der Leutnant schwieg beharrlich und es entstand eine peinliche Stille. Das Männlein begann mit seinen Fingern ungeduldig auf dem Pult zu trommeln.

Nach einer Weile brach es das Schweigen. „Du vermisst die Sense, nicht wahr? Alle fragen sie nach der Sense.“ Das Männlein deutete auf einen nahen Hügel, der mit einer Batterie schwerer Kanonen bestückt war. „Glaubst du etwa, ich komme mit meiner Sense gegen so etwas an? Nein, so was Albernes ...“ Das Männlein kicherte. „Es wäre unangemessen, wenn ich heute noch als Bauersmann auftreten würde. Die Zeit der Bauern ist vorbei. In diesen Tagen gewinnt eine neue Kaste an Einfluss. Und das ist der Beamte.“ Es seufzte leise. „Jaja, in mancher Hinsicht muss auch der Tod mit der Zeit gehen. Symbolik verändert sich mit den Dingen. Heutzutage tötet man am effektivsten damit ...“ Stolz hob er seinen Federhalter empor. „Eine Unterschrift vermag Hunderttausende in den Tod zu schicken. Nun, ich mache es mir nicht so einfach wie die großen Staatsmänner und Generäle. Alles wird fein säuberlich notiert. Ordnung muss sein. Jeder Name kommt auf ein Stück Pergament. Mit Hilfe dieses Instrumentes wird ein Schicksal besiegelt. All diese Mären von Fäden, Kerzen und dergleichen. Humbug.“ Das Männlein erhob sich ächzend. Ein dutzendfaches Knacken begleitete seine Bewegung. „Die neue Arbeitsweise birgt leider ihre ganz eigenen Belastungen. Früher, ja, da war ich ganz anders in Form.“ Wie um seine Worte zu bestätigen, schwenkte er seinen Torso einige Male hin und her.

Der Homunkulus flatterte auf und ließ sich krächzend auf der Schulter des Todes nieder. Dieser klemmte sich seinen Pergamentstapel unter den Arm, nahm Lefort an der Hand und führte ihn fort.

Zurück blieb der Federhalter, vergessen auf dem blutgetränkten Boden des Schlachtfelds. Eine Kompanie Husaren ritt, eine Abteilung Füsiliere marschierte, die Zeit strich über ihn hinweg. Und dort ruht er noch, bis zu jenem verfluchten Tag, an dem ein unwissender Narr ihn der schützenden Umarmung der Erde entreißen wird.

Nicole Dallinger

Bis in alle Ewigkeit

Die düsteren Mythen und Legenden um seinen Heimatort übten bereits in der Zeit, als er noch ein kleiner Junge war, eine große Faszination auf Lukas aus. Vor allem die Geheimnisse um den mysteriösen Füllfederhalter zogen ihn in ihren Bann. Gar manchem soll der Füller Wunscherfüllung, Reichtum und Segen gebracht haben, bevor er ihn ins Verderben stürzte. Diese Geschichten wurden beinahe totgeschwiegen. Nur selten hörte man jemanden davon reden, flüsternd hinter vorgehaltener Hand, oder wenn ein Gläschen zu viel getrunken wurde. Jeder glaubte jemanden zu kennen, der wieder jemanden kannte, der Erlebnisse mit dem rätselhaften Schreibwerkzeug zu erzählen vermochte oder es gar in seinem Besitz hatte.

An besonderen Tagen, wenn Lukas innig darum bat, ließ sein Großvater ihn an den Legenden teilhaben. Stets flüsterte der Großvater und riss während des Erzählens die Augen so weit auf, dass man denken konnte, er habe Angst, wenn das Wort „Füllfederhalter“ über seine Lippen kam. „Das rabenschwarze Schreibwerkzeug mit den geheimnisvollen goldenen Zeichen, die bis heute niemand zu deuten vermag, ist das Werkzeug des Leibhaftigen. Und wer diesem Werkzeug auch nur einmal verfällt, opfert seine Seele dem Teufel.“ Sobald er die Geschichten beendet hatte, fügte er jedes Mal hinzu: „Hüte dich, mein Junge, jemals den Füller zu begehren, hüte dich!“, wobei er Lukas eindringlich, fast drohend in die Augen schaute. Dann pflegte er den Zeigefinger auf seine Lippen zu legen, während er den Blick still zu Boden senkte.

In seinen Kindestagen schrieb Lukas alle Geschichten nieder, die sein Großvater über den Füllfederhalter erzählte. In der alten Dorfbücherei neben der Kirche lieh er Bücher aus, in denen er vereinzelt Hinweise über den Füllhalter fand, die er ebenfalls niederschrieb und aufbewahrte.

Viele Jahre waren seither vergangen und Lukas zählte inzwischen fünfundzwanzig Lenze. Er war zu einem schlaksigen Burschen herangewachsen. Im Dorf ließ er sich nur selten blicken, weshalb er als Eigenbrödler abgestempelt wurde. Sein Gang war mühsam und sein Rücken gekrümmt wie ein alter Stock. Sein Haupt hielt er gesenkt und niemals drehte er es zur Seite. Das fahlblonde, schüttere Haar hing ihm tief in die Stirn, so dass man seine Augen und das eingefallene Gesicht kaum erkennen konnte.

Tief in seinem Herzen trug er einen Wunsch, dessen Erfüllung ihm alles bedeutete. Er hatte sich in die schöne Bäckerstochter Elena verliebt. Sie hatte ein reines Gemüt und sie war ein Abbild göttlicher Vollkommenheit, dessen er sich nicht würdig fand. Noch nie hatte er in ihrer Gegenwart ein Wort über seine Lippen gebracht. Doch begehrte er sie so sehr, dass er alles in seiner Macht stehende tun würde, um ihre Gunst zu erlangen. In seiner Not fielen ihm die Legenden um den mythenumwobenen Füllfederhalter wieder ein. Er musste das Teufelsgerät in seinen Besitz bringen, damit er sich seinen Herzenswunsch erfüllen konnte.

Also machte er sich auf den Weg, um alle Legenden zusammenzusuchen, die er damals als Junge gesammelt hatte. Vielleicht fand er heute einen Zusammenhang, vielleicht konnte er etwas über den Verbleib des Füllers herausfinden. Die alten Schriften mussten noch auf dem Dachboden seines Elternhauses zwischen seinen Schulbüchern liegen. Voller Hoffnung stieg er die wacklige Holzstiege hinauf. Wie viele Jahre mochte es her sein, dass jemand den Dachboden des uralten, halbverfallenen Bauernhauses betreten hatte? Es roch muffig und überall hingen dichte Spinnweben von den Balken. Jeder Schritt hinterließ eine Spur im Staub des Bodens. Er ging auf den Bauernkasten zu, in dem die Schachtel mit seinen Schulsachen aufbewahrt war. Vorsichtig ließ er sich auf den brüchigen Holzsessel neben dem Kasten nieder und öffnete die Schachtel.