Der Klang der Erinnerung - Jo Browning Wroe - E-Book

Der Klang der Erinnerung E-Book

Jo Browning Wroe

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Beschreibung

Birmingham, 1966: William feiert gerade seinen Abschluss als Einbalsamierer, als ihn die Nachricht erreicht, dass im walisischen Aberfan ein Haldenrutsch unzählige Menschen unter sich begraben hat und freiwillige Helfer gesucht werden. Er macht sich umgehend auf den Weg, und während er gemeinsam mit den Bestattern vor Ort arbeitet, ruft ein Musikstück im Radio schmerzhafte Erinnerungen in ihm wach: Erinnerungen an seine Zeit als Chorknabe in Cambridge, die er versucht hatte, zu vergessen. Damals hatte er nur einen Wunsch gehabt: in der King’s College Chapel das berühmte Solo in Allegris Miserere zu singen, das in ihm schon als kleines Kind die Liebe zur Musik entfacht hatte. Doch an dem großen Tag kommt es zu einem tiefen Zerwürfnis mit seiner Mutter und einer Entscheidung, die seinen weiteren Weg bestimmen wird.
Als er nun aus Aberfan nach Birmingham zurückkehrt, mit Bildern im Kopf, die ihn sein Leben lang nicht loslassen werden, ist er bereit, sich seiner Vergangenheit zu stellen und sich mit seiner Mutter, mit der ihn einst eine liebevolle Beziehung verband, zu versöhnen.

Ein bewegender Coming-of-Age-Roman über die fragilen Bande, die uns mit geliebten Menschen verbinden – darüber, dass es möglich ist, die Vergangenheit und die eigene Schuld zu überwinden und Vergebung und Trost zu finden.

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Seitenzahl: 485

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Titel

Jo Browning Wroe

Der Klang der Erinnerung

Roman

Aus dem Englischen von Claudia Feldmann

Insel Verlag

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Die Originalausgabe erschien erstmals 2022 unter dem Titel A Terrible Kindness bei Faber & Faber Ltd, London.Die Übersetzung wurde im Rahmen des Programms »Neustart Kultur« aus Mitteln der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien vom Deutschen Übersetzerfonds gefördert.Der Brief im 2.Teil, Cambridge Choir: Eisen, Cliff et al. Mit Mozarts Worten, Brief 176 http://letters.mozartways.com Version 1.0, herausgegeben von HRI Online, 2011. ISBN 9780955787676

eBook Insel Verlag Berlin 2022

Der vorliegende Text folgt der deutschen Erstausgabe, 2022.

© der deutschsprachigen Ausgabe Insel Verlag Anton Klippenberg GmbH & Co. KG, Berlin, 2022© Jo Browning Wroe 2022

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Umschlaggestaltung: Rothfos & Gabler, Hamburg

Umschlagfoto: Hulton Deutsch/Corbis Historical/Getty Images, München

eISBN 978-3-458-77486-0

www.suhrkamp.de

Widmung

Für die Einbalsamierer, die in Aberfan waren, und für die Menschen, denen sie geholfen haben

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Inhalt

Informationen zum Buch

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Inhalt

1. Teil

Aberfan

1 Oktober 1966

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

2. Teil

Cambridge Choir

12 September 1957

13

14

15

16

17

18

19

20

21

22

23

24 Februar 1959

25 Januar 1961

26

27

28

29

30

3. Teil

Familienangelegenheiten

31 September 1965

32

33

34

35

36

37

38

39

40

41

42

43

44 November 1970, Sutton Coldfield

45

46 März 1972

47

48

49 Zwei Jahre später

4. Teil

Midnight Choir

50

51

52

53

54

55

56

57

58

5. Teil

Aberfan

59

60

61

62

63

64

65

Danksagung

Informationen zum Buch

1. TeilAberfan

1

Oktober 1966

Gestern ist in Wales etwas Furchtbares passiert, aber es war Williams Abschlusstag, deshalb war er abgelenkt. Er hat seine Ausbildung am Thames College of Embalming mit den besten Noten abgeschlossen, die dort je erzielt wurden. Heute findet der alljährliche gesellschaftliche Höhepunkt des Institute of Embalmers, Bezirksgruppe Midlands, statt: der große Dinnerball in Nottingham. Zur Feier von Williams Erfolg und damit er für diesen besonderen Anlass passend angezogen ist, hat Onkel Robert ihm ein Dinnerjacket und eine Fliege gekauft. Mit seinen neunzehn Jahren ist William ein wenig aufgeregt, aber vor allem nervös, weil sein Onkel ihm gesagt hat, dass ihr Vorsitzender David Melling ihn ins Rampenlicht stellen will.

Siebzig Kilometer von seinem Zuhause in Birmingham entfernt, wird William zum ersten Mal in einem Hotel übernachten, dem Lace Market, zusammen mit Onkel Robert und dessen Geschäftspartner Howard. Mit ihnen am Tisch sitzen die Strouds, eine Bestatterfamilie aus Solihull, und zu seiner Linken die einzige andere Person seines Alters, Gloria Finch, ebenfalls aus einer Bestatterfamilie, bei der William während seines Ausbildungsjahrs in Stepney gewohnt hat. Die wunderbare Gloria, die William seit ihrem ersten Gespräch vor einem Jahr liebt, als sie in der gemütlichen kleinen Küche der Finchs Kakao getrunken haben, während ihre Eltern im Wohnzimmer fernsahen. An diesem Abend trägt sie ein enges, mit Pailletten besticktes schwarzes Kleid, in dem ihr ganzer Körper William zuzuzwinkern scheint.

Als »piekfein« hat Robert die Veranstaltung bezeichnet, und das war nicht übertrieben. Die leuchtend bunt gekleideten Frauen mit ihren funkelnden Hälsen, Handgelenken und Fingern heben sich deutlich vom schlichten Schwarz und Weiß der Männer ab – obwohl Howards Manschettenknöpfe auch funkeln. Howard liebt festliche Anlässe und das ganze Drumherum. Er hat beim Aussuchen von Williams Dinnerjackett und Fliege geholfen und sich hinter ihn gestellt, um ihm zu zeigen, wie man die Fliege bindet. Dabei hat seine Wange ein paarmal Williams Wange gestreift, sodass beide lachen mussten.

William betrachtet die hohe Decke des Ballsaals mit den Stuckverzierungen in Rosa und Weiß, die sich durch die Nischen schlängeln. Mächtige Kristalllüster hängen schwer und herrschaftlich über den Tischen. Rechts und links von Williams Teller liegen vermutlich mehr Messer und Gabeln als in der gesamten Besteckschublade zu Hause – er muss sich von außen nach innen vorarbeiten. Das Messer ist schwer, die Serviette aus weißem Leinen, die er auseinanderfaltet und über seinen Schoß breitet, überraschend steif.

Es ist eine Weile her, dass William so elegant hergerichtete Tische und Leute gesehen hat. Zuletzt in seiner Zeit als Chorknabe in Cambridge, wo er beim Formal Hall oder bei besonderen Anlässen gesungen hat. Rasch schiebt er die Erinnerung beiseite, doch ein Unterschied fällt ihm auf. Selbst als Zehnjähriger hat William verstanden, dass diejenigen, die dort am High Table saßen, nicht angekommen waren; sie waren immer schon dort gewesen, und Opulenz war für sie nichts Besonderes. Heute Abend jedoch ist die Aufregung und die Zufriedenheit dieser Einbalsamierer spürbar, die sich einen Abend der Opulenz verdient haben, als Belohnung für ihre Hingabe an eine anspruchsvolle, wichtige Arbeit; die Arbeit ihrer Großväter, ihrer Väter und für einige von ihnen die ihrer Söhne.

Nach der Schufterei und Lernerei des letzten Jahres freut sich William, seinen Platz in einer Welt einzunehmen, in der man eine schwierige, aber ehrenwerte Aufgabe erfüllt, so gut man kann, und abgesehen von der eigenen Freude an der Arbeit kaum Lob oder Dank erhält. Aber ab und an bekommt man die Gelegenheit, einander auf die Schulter zu klopfen und sich einen piekfeinen Abend zu gönnen.

Die Fischsuppe ist salzig, aber köstlich zusammen mit dem winzigen Brötchen, auf das er eine Butterflocke gesetzt hat. William benutzt den vollkommen runden Löffel und kippt die Schale von sich weg, als nur noch ein Rest darin ist. Er merkt, dass Gloria ihn beobachtet, und ihre lebendigen grünen Augen strahlen voller Wärme.

»Ich bin froh, dass du mitgekommen bist«, sagt er leise.

»Ich bin froh, dass du mich gefragt hast.« Sie lächelt und sieht ihm so lange in die Augen, dass William sich traut, unter dem Tisch sanft sein Bein an ihres zu schmiegen.

Der Schweinebraten mit Kruste und Apfelsauce wandert leicht von seinem Teller in seinen Mund und in seinen Magen, und es freut ihn zu sehen, wie sehr Onkel Robert den Abend genießt. Doch während des Nachtischs bekommt er mit, wie David Melling am Haupttisch einen Zettel aus der Brusttasche seines Jacketts zieht, ihn auseinanderfaltet und über seine Brille hinweg mustert. Die Biskuitrolle, die er gerade kaut, quillt plötzlich auf, und das schwere Besteck rutscht in seinen schwitzigen Händen.

Gloria blickt zum Haupttisch, dann wieder zu William und zwinkert ihm zu. »Mach dich bereit für das Rampenlicht«, flüstert sie, so dicht zu ihm gebeugt, dass er ihren Atem an seinem Ohr spürt und ihr Parfüm riecht. Vorher haben sie darüber gefrotzelt, wie das wohl aussehen würde. Gloria meinte, sie würden vielleicht »For He’s a Jolly Good Fellow« für ihn singen, und William erwiderte in dem verzweifelten Versuch, lässig und witzig zu erscheinen, er hoffte, sie würden ihn auf ein ganz hohes Podest stellen und sich vor ihm verneigen.

Howard nimmt sich eine Zigarette aus der Schale auf dem Tisch und zündet sie an, Gloria ebenfalls. William, der seine Lunge immer noch als den kostbarsten Teil seines Körpers betrachtet, obwohl er seit fünf Jahren nicht mehr gesungen hat, ist noch nie auf die Idee gekommen, sich eine anzustecken. Dennoch ist etwas Verlockendes an den bläulichen Rauchwolken, die durch den Saal schweben – wie ein gemeinsames Ausatmen und Entspannen. Als aus schlanken Silberkannen Kaffee eingeschenkt wird, lehnen sich die Leute in ihren Stühlen zurück. William will nur noch, dass es vorbei ist. Er sieht, wie Onkel Robert erst zum Haupttisch blickt, dann zu ihm und ganz leicht nickt.

2

»Meine Damen und Herren, ich hoffe, Sie haben das Festessen genossen.« David Melling lächelt. »Sieht ganz so aus, den leeren Tellern nach zu urteilen.« Er hält ein Blatt Papier hoch. »Meine Tanzkarte liegt schon bereit, meine Damen, aber ich fürchte, es wird eine Schlange geben, also haben Sie bitte etwas Geduld.«

Nachdem das Gelächter verstummt ist, spricht Mr Melling genau acht Minuten und zehn Sekunden über die hohen Standards des Instituts, seine Wohltätigkeitsarbeit und seine wachsende internationale Bekanntheit. William unterdrückt den Impuls, sich den Schweiß aus dem Nacken zu wischen.

»Doch nun«, sagt der Vorsitzende, legt den Zettel weg und verschränkt die Hände vor dem Bauch, »zu etwas Persönlicherem. In einem Berufszweig, der im Wesentlichen aus Familienunternehmen besteht, obwohl es heutzutage nicht mehr üblich ist, Druck auf die nächste Generation auszuüben, ist es dennoch überaus erfreulich, von einem jungen Mann zu erfahren, der nicht nur den Staffelstab übernimmt, sondern obendrein eine Goldmedaille einheimst.«

Gloria zwinkert ihm zu. »Wo bleibt das Siegertreppchen?«, flüstert sie. Onkel Robert strahlt ihn an. Ihm wird eng in der Kehle. »Unser langjähriges Mitglied Robert Lavery von Lavery & Sons ist diese Woche ein sehr stolzer Onkel.«

Die Vorstellung, dass ihn alle ansehen, ist plötzlich unerträglich. Am liebsten würde William davonlaufen. Aber das kann er Onkel Robert nicht antun. Nicht noch einmal. Er muss seinen Mund zwingen zu lächeln, seinen Blick beruhigen. Sein Herz pocht so heftig, dass er überzeugt ist, sein Hemd wölbt sich bei jedem Schlag vor.

»Der junge William Lavery hat diese Woche seinen Abschluss am Thames College of Embalming gemacht, und damit ist er nicht nur der jüngste Einbalsamierer des Landes …«

William starrt zu Boden. Wird er aufstehen müssen? Sollte er winken? Sich verneigen? Etwas sagen? David Melling hat aufgehört zu sprechen. William studiert das unruhige gelb-orange Muster des Teppichbodens, den spitzen Brotkrümel neben Glorias hohem Absatz. Warum ist es so still geworden? Er zwingt sich, den Kopf zu heben. Ein Kellner hat David Melling eine Notiz zugesteckt, die er gerade liest.

»Danke«, sagt er zu dem Mann, der durch die große Doppeltür des Ballsaals hinausgeht.

Die Stille ist ohrenbetäubend. Onkel Robert runzelt die Stirn. Mellings Schnurrbart glänzt im Schein des Lüsters, während er auf das rosafarbene Papier blickt.

»Ich bitte um Entschuldigung.« Er hält es kurz hoch. »Das ist ein Telegramm von Jimmy Doyle aus der Bezirksgruppe Nordirland, und es erfordert leider unsere sofortige Aufmerksamkeit.« William sieht aus dem Augenwinkel, wie Onkel Robert verärgert auf seinem Stuhl herumrutscht. »Zunächst aber herzlichen Glückwunsch an William Lavery, den ersten Studenten, der in sämtlichen Fächern, Theorie und Praxis, mit Auszeichnung bestanden hat«, fährt Mr Melling, nun wieder mit munterer Miene, fort und lehnt das Telegramm an eine kleine Vase, die vor ihm steht. »Das hat einen ordentlichen Applaus verdient.« William starrt auf sein Kristallglas, lächelt und nickt ein paarmal. Schweiß rinnt ihm über die linke Schläfe. Gloria tätschelt ihm unter dem Tisch das Knie. »Wir erwarten große Dinge von Ihnen, William.« Melling schweigt einen Moment, dann greift er wieder nach dem Telegramm. »Doch leider müssen wir uns nun einer anderen wichtigen Sache zuwenden. Es geht um die Tragödie in Aberfan gestern, von der Sie sicher gehört haben.« Er liest den Text vor: »›Bitte an versammelte Institutsmitglieder weitergeben.‹« William sieht Streifen von David Mellings Kopfhaut zwischen dem sorgfältig mit Brillantine drapierten Resthaar hindurchschimmern. »›Dringend Einbalsamierer in Aberfan benötigt. Ausrüstung und Särge mitbringen. Polizei hat Dorf abgesperrt; Passwort Summers.‹« Er legt das Telegramm hin und starrt einen Moment darauf. Ein kalter, süßlicher Geruch steigt William in die Nase; es ist die Vanillesauce in seinem Schälchen. »Ich schlage vor, meine Herren, diejenigen unter Ihnen, die sich imstande fühlen, diesem Hilferuf zu folgen, trinken einen starken Kaffee und machen sich auf den Weg. Wir Übrigen werden versuchen, den Rest des Abends in Ihrem Namen zu genießen.«

William weiß, dass sein Onkel sich von diesem Moment des Ruhmes mehr versprochen hat, aber er ist froh, dass er nicht mehr im Zentrum der Aufmerksamkeit steht, und spürt, wie in seinem Herzen Entschlossenheit wächst.

»Ich werde hinfahren«, sagt er.

Onkel Robert sieht ihn überrascht an. »Ich glaube, sie brauchen dort Männer mit Erfahrung, William.« Er blickt zu Howard. »Vielleicht auch solche, die Erfahrung mit Unglücken haben.«

»Davon haben sie nichts gesagt«, wendet William ein. Gloria sieht ihn aufmerksam an.

»Vielleicht sollte ich hinfahren?«, sagt Onkel Robert.

»Das würde dein Rücken nicht mitmachen«, entgegnet Howard sofort. »Kein Schlaf, eine lange Fahrt und dann Gott weiß was.« Er weist mit dem Kopf auf William, ohne den Blick von Onkel Robert zu wenden. »Der Junge ist ein ausgezeichneter Einbalsamierer, und er ist stärker als du oder ich. Lass ihn fahren.«

»Bei allem Respekt«, hört sich William sagen, »ich brauche keine Erlaubnis. Ich fahre hin.«

Alle am Tisch sehen ihn an – Onkel Robert, Howard, die Strouds, Gloria –, doch das kümmert William nicht.

»Tapfer von dir, Junge.« Mr Stroud klopft mit den Händen auf den Tisch. »Das sagt mehr über dich als alle Abschlussnoten. Zeig’s ihnen!«

Eine halbe Stunde später steht William, in seinen Wintermantel gehüllt, mit seinem Onkel auf dem Gehweg. Er wird zusammen mit zwei weiteren Einbalsamierern zurück nach Birmingham fahren, wo sie sich umziehen und ihre Autos mit der nötigen Ausrüstung und so vielen Särgen wie möglich beladen werden.

»Du wirst Dinge sehen, die du nie wieder vergessen wirst.« Onkel Robert wirft William einen besorgten Seitenblick zu. Dann wendet er den Kopf wieder und schaut geradeaus. »Deine Mutter wohnt nicht weit von Aberfan.« Er steckt einen Zettel in Williams Manteltasche. »Du könntest sie besuchen.«

»Nein, kann ich nicht. Das weißt du.«

Die Mundwinkel seines Onkels wandern nach unten, wie jedes Mal, wenn sie von ihr sprechen. Er atmet langsam ein und aus. »Und du weißt, dass ich das nie akzeptiert habe, und ich werde es auch nie akzeptieren.«

3

Es ist halb eins, als William mit seinen beiden Kollegen Nottingham verlässt und über größtenteils leere Straßen heimwärts fährt. Roy Perry, ein Einbalsamierer aus Erdington, liest ihnen die Berichte aus dem Haufen Zeitungen vor, die der Mann an der Hotelrezeption ihnen beim Hinausgehen gegeben hat.

Kurz nach 9.15 Uhr am Freitagmorgen war die Halde Nummer sieben der Merthyr Vale Colliery, aufgeschwemmt durch tagelange starke Regenfälle, ins Rutschen geraten, und eine halbe Million Tonnen Kohleabraum donnerten die Bergflanke hinunter und rissen Bäume, Felsblöcke und Steine mit sich. Oben auf dem Berg hatte die Sonne geschienen, aber unten in dem kleinen Dorf Aberfan war es neblig gewesen. Während die Arbeiter mitbekommen hatten, wie sich die Lawine in Bewegung setzte, hatten die Dorfbewohner keine Ahnung, dass eine fünfzehn Meter hohe Schuttwoge mit über achtzig Stundenkilometern auf sie zurollte. Nachdem sie Bahngleise, einen Kanal und einen Bauernhof zerstört hatte, mähte sie die Pantglas Junior School und zwei Häuserreihen nieder.

Die entsetzten Eltern gruben mit bloßen Händen in der schwarzen Masse. Wie durch ein Wunder konnten in den ersten zwei Stunden einige Kinder lebend herausgezogen werden, doch seit 11.00 Uhr an dem Morgen hatte es keinen Grund zum Feiern mehr gegeben. Über 140 Tote mussten geborgen werden.

Während noch immer Wasser und Schlamm den Berg hinunterflossen, kamen die Minenarbeiter, mit Schaufeln bewaffnet, direkt von ihrer Schicht. Freiwillige strömten in das Dorf und kletterten über den Kohlenschlamm. Die Polizei äußerte die Sorge, dass sie bei allem guten Willen die Arbeit der Rettungsmannschaften behinderten, die mittlerweile eingetroffen waren.

Die Leichen der gefundenen Kinder wurden in Decken gehüllt und in die nahe gelegene Bethania Chapel gebracht. Die Polizei versuchte, den zähen Schlamm zu entfernen, damit die Kinder identifiziert werden konnten, aber ohne Strom, Wasser und entsprechende Erfahrung war es äußerst mühsam.

Nachdem Roy geendet hat, fahren sie schweigend weiter, und bald darauf machen es sich Williams Mitfahrer so bequem wie möglich, um ein wenig zu schlafen, solange sie es noch können. Er ist hellwach, das Blut rauscht durch seine Adern. Dafür hat der süße schwarze Kaffee gesorgt. Und Gloria.

Jedes Mal wenn er sich daran erinnert, was passiert ist, reagiert sein Körper, als würde es hier und jetzt passieren, während er am Steuer sitzt. Als entschieden war, dass William nach Aberfan fahren würde, stand Gloria auf, nahm seine Hand und führte ihn aus dem Ballsaal in den üppigen Garten des Hotels, wo sie einen Kuss auf seine überraschten Lippen setzte. Er fragt sich, ob es, nachdem seine Zurückhaltung während des vergangenen Jahres so viele mögliche Augenblicke der Intimität mit Gloria boykottiert hat, seine spontane Entscheidung zu helfen war, die sie dazu gebracht hat, ihn zu küssen.

»Danke«, sagte er, während dieses schmelzende Gefühl durch seinen Körper strömte und er ihre Hände in seinen hielt, ohne zu wissen, wie sie dort hingekommen waren.

»Gern geschehen.« Sie lachte, die Augen so funkelnd und lebendig, so voller Hoffnung. »Du dummer Kerl.«

»Können wir das noch mal machen?«, fragte er und beugte sich bereits zu ihren wundervollen Lippen hinunter, sein ganzer Körper erfüllt vom Jubel einer Zukunft mit Gloria.

Um 3.35 Uhr kommt er in Merthyr Vale an, den Bestattungswagen von Lavery & Sons beladen mit einhundertvierzig Litern Formaldehyd, Einbalsamierungsinstrumenten und vier Kindersärgen. Dank des Passworts »Summers« – der Name des größten Bestattungsinstituts in Cardiff – hat er bereits zwei Polizeisperren passiert. Obwohl er die ganze Zeit im Dunkeln gefahren ist, verraten ihm die dicken, rauchenden Schornsteine und die schmalen Straßen, dass er sich in einem anderen Land befindet.

Er kann die Aufregung nicht leugnen, obwohl seine Augen während der letzten Stunde so müde waren, dass jedes Blinzeln wehtat. Er fühlt sich edelmütig, sogar heldenhaft, wie er da allein durch die Nacht fährt, gerüstet mit all den Fähigkeiten, die er während seiner Ausbildung gelernt hat. Vielleicht ist das seine Zukunft: Einbalsamierung an Unglücksstätten. Vielleicht werden die nächsten vierundzwanzig Stunden sein Leben verändern. Wenn Gedanken an seine Mutter auftauchen, die ihm jetzt zumindest räumlich näher ist als in den vergangenen fünf Jahren, scheucht er sie weg.

Für die letzten paar Hundert Meter nach Aberfan öffnet er das Seitenfenster, um wach zu bleiben. Die gewundenen Straßen werden immer wieder von gelbem Licht überflutet, und er muss ausweichen, um Lastwagen mit glitzernden schwarzen Haufen auf der Ladefläche vorbeizulassen. Über dem Dorf strahlt ein grelles weißes Licht wie ein unheilverkündender Stern. Wieder hält ihn ein Polizist im Regenmantel an.

»Einbalsamierer?« Er späht durch das Fenster des Bestattungswagens. Fast hätte William gelacht; der Mann klingt genau wie Tom Jones.

»Ja. Passwort: Summers.«

Der Polizist beugt sich näher zu ihm. »Sie müssen zur Bethania Chapel, dort bringen sie die Leichen hin.« Überrascht bemerkt William, dass der Polizist weint. Im Scheinwerferlicht eines herannahenden Lastwagens schimmert sein Regenmantel plötzlich silbrig weiß. »Fahren Sie mal kurz ran.« William lenkt den Bestattungswagen an den Straßenrand, und der Polizist winkt den Lastwagen vorbei. »Sie sehen sie gleich auf der rechten Seite.«

»Danke.« William fährt wieder an, und jetzt spürt er die Dringlichkeit, das Bedürfnis zu tun, wofür er hergekommen ist.

Aberfan ist hell erleuchtet und voller Menschen. Auf einem riesigen, unförmigen Hügel sind lauter Männer; manche bilden lange Reihen und reichen Eimer um Eimer von Mann zu Mann, bis der letzte den Inhalt in den wartenden Lastwagen kippt; andere bücken sich und stoßen ihre Schaufeln in den dunklen Berg, auf dem sie stehen, die Gesichter wie schwarzer Granit. Beim Anblick des Schuldachs, das in bizarren Winkeln aus dem Schlamm ragt, flucht William leise.

Langsam, wegen all der Leute, fährt er weiter, bis er ein trist aussehendes, schmuckloses Gebäude sieht, vor dem eine Reihe von Frauen wartet, einige davon auf Metallstühlen. Sofort taucht ein weiterer Polizist an seinem Seitenfenster auf.

»Ich muss Einbalsamierungsflüssigkeit und Ausrüstung ausladen«, sagt er rasch. Der Polizist tritt zurück und deutet auf den Gehweg direkt vor der Kapelle und die wartenden Frauen. Voller Energie springt William aus dem Wagen. Die Frauen starren ihn aus schweren, dunklen Augen an, und plötzlich durchzuckt ihn heiß die Erkenntnis, dass sie Mütter von toten Kindern sind. Er öffnet die Hecktür des Bestattungswagens und beginnt, die Behälter mit Formaldehyd auszuladen. Der Polizist packt mit an, und ein weiterer Mann taucht auf und hilft ebenfalls. Niemand sagt etwas.

Die Tür der Kapelle schwingt auf, und ein Mann kommt heraus. William schätzt ihn auf Anfang dreißig, älter als er selbst, aber jünger als sein Onkel. Er kommt direkt auf den Bestattungswagen zu.

»Ich bin Jimmy. Jimmy Doyle.« Er sieht dabei nicht William an, sondern das, was er mitgebracht hat. »Gott sei Dank«, sagt er leise, als er die kleinen Särge erblickt. »Wir haben eine Ladung aus Irland mitgebracht. Die Fluggesellschaft hat sogar die Sitze ausgebaut, damit wir mehr einladen konnten, aber es sind nicht mal annähernd genug.«

Da William nicht weiß, was er darauf erwidern soll, hievt er weiter die Behälter aus dem Wagen und stellt sie auf den Gehweg.

»Sobald du ausgeladen hast, brauche ich dich da drinnen, um bei der Identifizierung zu helfen.«

4

»Danke, dass du gekommen bist.« Jimmy legt William die Hand auf die Schulter und führt ihn ein paar Schritte von den wartenden Frauen weg. Williams Sohlen kleben am Pflaster. »Wie heißt du?«

»William Lavery.«

»Warst du bei dem Bankett?« William nickt. »Wir haben hier nur das Allernötigste.« Jimmy hat einen starken Belfaster Akzent. Er spricht leise, damit die Frauen ihn nicht hören können. »Strom und Wasser sind durch das Unglück ausgefallen. Die Feuerwehr tut, was sie kann, aber im Moment gibt es nur ein paar Sturmlampen und Eimer mit Wasser. Als Tische benutzen wir aufgebockte Türen.

Die Leichen werden in Decken gehüllt hier reingebracht. Bevor wir da waren, hat die Polizei sie, so gut es ging, gesäubert, damit die Eltern sie identifizieren konnten. Zum Glück haben wir die Erlaubnis des Coroners, die Leichen ohne Autopsie zu versorgen. Wir haben in der Sakristei ein paar Tische aufgebaut, und einige weitere sind in der anderen Kapelle hier im Ort. Wir waschen sie, lassen sie identifizieren, behandeln sie und sargen sie ein. Dann werden sie in die andere Kapelle gebracht.« Jimmy hat immer noch die Hand auf Williams Schulter, aber er spricht zu einem Punkt auf dem Boden ein Stück vor ihnen. William versucht sich zu konzentrieren; später wird es keine Zeit für Fragen geben. »Das Schwierigste ist der Kohlenschlamm. Der ist zäh wie Teer, und wir haben nur kaltes Wasser und Seife. Tu einfach, was du kannst.« Jimmy fährt sich durch sein rotes Haar. »Hör zu, William – William ist doch richtig, oder?« William nickt erneut. »Was wir für diese Leute tun können, ist schlicht das: Wir machen unsere Arbeit. Wir machen sie gut, wir machen sie schnell, und dann gehen wir. Wir sind keine Priester, keine Freunde und keine Verwandten. Wir sind Einbalsamierer. Konzentrier dich auf deine Arbeit und halte dein Herz da raus. Das ist der beste Dienst, den du ihnen erweisen kannst.« Er drückt Williams Schulter. »Alles klar?«

»Ja, Sir.«

»Noch etwas.«

»Ja, Sir?« William will endlich anfangen. Wenn es nicht bald losgeht, wird der Drang wegzulaufen vielleicht übermächtig.

»Es könnte sein, dass noch mehr von dem Zeug runterkommt. Vor allem wenn es weiter so regnet. Falls du den Alarm hörst, nichts wie weg hier. Verstanden?«

»Ja, Sir.«

»Gut, dann wollen wir mal.«

Sie kehren zum Eingang der Kapelle zurück, eindringlich beobachtet von den wartenden Frauen.

Im trüben Licht der Kapelle kann William nur kokonartige Umrisse auf den Bänken oben und unten erkennen. Im Vergleich zu der mächtigen, mit prachtvollen Buntglasfenstern geschmückten Kapelle aus seiner Zeit als Chorknabe erscheint es ihm geradezu grotesk, dass dieses schlichte Gebäude dieselbe Bezeichnung trägt. Dort könnten sie so viele Einbalsamierungstische aufbauen, wie sie wollten, und der Chor könnte trotzdem proben, ohne im Weg zu sein.

»Die Leichen, die zuerst gefunden wurden, waren relativ unversehrt, und die meisten von ihnen sind bereits identifiziert, einbalsamiert und eingesargt«, sagt Jimmy. »Jetzt wird es schwieriger. Die Kohlenschlammlawine ist mit enormer Geschwindigkeit auf die Schule gedonnert, sie sind also nicht nur mit dem Zeug zugedeckt. Du kannst dir sicher vorstellen, was bei so einem Aufprall passiert …«

William blickt auf die Deckenbündel um ihn herum; es müssen mindestens fünfzig sein. »Wie viele fehlen denn noch?«

»Ich weiß es nicht genau« – Jimmy geht hinüber in die Sakristei, und William folgt ihm –, »aber insgesamt gelten einhundertsechzehn Kinder als vermisst, plus mehrere Erwachsene.«

Eine Paraffinlampe wirft mattes Licht in den Raum, von dessen Wänden die weiße Farbe abblättert. Zwei Türen sind als Tische aufgebockt. Als William die kleinen Leichname darauf erblickt, zuckt sein Herz zusammen. Während der Ausbildung hat er einmal ein Kind versorgt, einen zehnjährigen Jungen, der von einem Auto überfahren worden war. Damals hat er gedacht, ihn könnte nichts mehr erschüttern. Aber jetzt sieht es so aus, als würden seine Kollegen mit Puppen arbeiten. Zwei Männer stehen über einen Leichnam gebeugt; der eine pumpt mit der Hand Einbalsamierungsflüssigkeit in den Körper, der andere befestigt ein Schild am großen Zeh. Auf dem Fußboden steht ein Eimer, in den das Blut fließt. Daneben türmen sich Haufen mit schwarzen Lumpen.

Am zweiten Tisch sieht einer der Männer sofort zu William herüber und öffnet die Arme in einer erleichterten Willkommensgeste.

»Harry, das ist William«, sagt Jimmy. »Dein Partner für die nächsten Stunden. Ich überlasse ihn dir, ja?«

»Danke, Jimmy«, sagt der Mann, dann wendet er sich zu William. »Bist du bereit für das hier, Junge?«

»Ja, bin ich«, erwidert William, der nicht noch einen Vortrag hören will.

»Na, dann.« Harry nimmt eine Schere und gibt sie William. »Ich habe ihn sauber gemacht, so gut es ging.«

Das braune Haar des Jungen liegt glatt auf seiner Stirn. Das Gesicht hat noch graue Streifen, aber auf seiner Nase sind deutlich Sommersprossen zu erkennen, die William unvermittelt an seinen alten Chorfreund Martin erinnern. Seine Arme sind ebenfalls mit Sommersprossen übersät, und seine Shorts sind zerknittert. Dann bemerkt William, dass beide Beine unterhalb der Knie zerschmettert sind.

»Hast du die Frauen draußen gesehen?« William nickt. »Sie warten, weil sie wissen wollen, ob ihr Kind hier liegt.« Unter Harrys Auge zuckt ein winziger Muskel. »Schneide als Erstes das Hemd auf. So ordentlich, wie es geht.«

»Mache ich«, sagt William und beugt sich über den Leichnam. Die eine Seite des Hemds ist voller Kohlenschlamm, die andere eigenartig sauber. Vorsichtig schneidet er durch den Stoff und löst ihn von dem kleinen Körper. Die eine Hälfte fühlt sich in seiner Hand leicht an, fast unwirklich, während die andere schwer nach unten zieht. »Wo soll ich es hinlegen?«

Harry schüttelt leicht den Kopf. »Du gehst damit nach draußen« – er deutet zur Kapellentür –, »hältst es hoch und fragst, welcher kleine Junge Freitagmorgen darin zur Schule gegangen ist. Dann bringst du sie hier rein.«

5

Es ist kurz vor fünf Uhr morgens, und der Himmel färbt sich violett; ein müdes Licht, als widerstrebe es ihm, den dritten Tag von Aberfans Leid anbrechen zu lassen. Unablässig ist der Motorlärm der Lastwagen zu hören, die den Abraum aus dem Dorf transportieren, und William spürt den Luftzug, als einer davon an ihm vorbeidröhnt.

Die Wartenden – zumeist sind es Frauen – richten sich auf, als William auf sie zukommt. Er kämpft gegen den Drang, das Hemd zusammenzuknüllen und hinter dem Rücken zu verstecken. Er mag es nicht, wenn er beobachtet wird. Und noch nie zuvor, nicht mal als Solist in Cambridge, hat er sich so beobachtet gefühlt. Doch in dem Moment hat er plötzlich das seltsame Gefühl, leer zu werden, als würde alles, was bisher wichtig war, durch seine Schuhsohlen in das schlackig-schmierige Pflaster rinnen. An diesem Tag geht es einzig und allein um diese Menschen: um die Frau im Tweedmantel mit den zerrissenen Strümpfen, den Mann mit dem schmutzigen Hemd und den angsterfüllten Augen und den kleinen Jungen drinnen auf dem Tisch mit den zertrümmerten Beinen. William ist hier, weil er eine Fähigkeit besitzt, die niemand brauchen möchte. Doch sie brauchen sie, und er wird sie einsetzen.

Sein Atem stockt, als er Luft holt, als wäre seine Kehle mit einem Mal zu eng. Er hält das Hemd hoch und versucht mit allen Mitteln, die er je gelernt hat, seine Stimme zu beherrschen.

»Welcher Junge hatte Freitagmorgen dieses –«

»Owen!«

Ein dumpfer Schlag und ein Knacken ertönen, als die Frau mit den Knien auf das Pflaster sackt. Andere eilen zu ihr, fassen sie an den Armen und ziehen sie hoch. Ein Regentropfen schlägt gegen Williams Wange. Eine Frau wendet sich von der Kapelle ab und ruft: »Holt Evan Thomas!« Eine Reihe männlicher Stimmen trägt den Ruf weiter zu dem Berg, aus dem das Schuldach ragt.

Die Mutter löst sich aus dem Pulk von Eltern, als träte sie durch einen Vorhang. Sie kommt mit ausgestreckten Armen auf William zu, und es dauert einen Moment, bis er versteht, dass sie nicht nach ihm greift, sondern nach dem Hemd. Lange Sekunden vergehen, während sie es an ihre Wange drückt. Ein Mann erscheint keuchend, die Ärmel hochgekrempelt, das Weiß seiner Augen seltsam grell im Gegensatz zur dreckverschmierten Haut. Er legt seinen schmutzigen, starken Arm um die Schultern der Frau. Sie ist jetzt ganz ruhig. Das Gesicht ausdruckslos, das eine Knie blutig. Die beiden blicken sich nicht an, sondern an William vorbei zur Kapelle. Sie wollen ihren Jungen sehen.

»Kommen Sie«, sagt William leise, als sie nah genug sind, und öffnet die Tür.

Er ist es. Es ist ihr Sohn.

»Owen Elgar Thomas«, antwortet der Vater auf Harrys Frage. Schweigend und mit trockenen Augen berührt die Mutter sanft die Hand, den Kopf und die Brust des kleinen Jungen. Harry erklärt ihnen, dass sie ihren Sohn noch einmal sehen werden, wenn er einbalsamiert und in einen Sarg gebettet ist.

»Vielleicht sollten Sie versuchen, sich ein wenig auszuruhen«, sagt William, während er sie aus der Sakristei und durch die Kapelle führt, vorbei an den übrigen, noch in Decken gehüllten Leichnamen. Er hält ihnen die Tür auf. »Ich verspreche Ihnen, wir kümmern uns um Owen.«

»Gut gemacht, William«, sagt Harry leise, als er an den Tisch zurückkehrt.

In dem Maße, wie die Stunden vergehen, verschlechtert sich der Zustand der Leichen. Immerhin hat die Feuerwehr rechtzeitig vor der früh einsetzenden Dämmerung für Strom und Licht gesorgt. Manchmal kann William nur einen Fetzen Stoff, eine Haarspange, einen Schuh mit hinausnehmen. Doch es braucht nicht viel, damit eine der Wartenden auf ihn zustürzt, gerettet und zerstört zugleich. Diese adleräugigen, herzenshungrigen Mütter könnten ihre Kinder anhand eines Fingernagels identifizieren.

Als William auf die Straße gehen und fragen muss, wessen kleines Mädchen blondes Haar hat, treten zwei Frauen und ein Paar vor. Und das sind vielleicht die schlimmsten Momente, wenn sie sich voller Angst, die William schmecken kann, dem Leichnam nähern und sehen, dass es doch nicht ihre Tochter ist. Nach den letzten sieben Stunden versteht er, wie erleichternd und tröstlich es sein kann, endlich zu wissen, wo ihr Kind ist und dass ihm nichts Schlimmes mehr zustoßen kann. In was für einer schrecklichen Welt ist er hier, in der diejenigen glücklich zu nennen sind, die den Leichnam ihres Kindes identifizieren können.

Es regnet wieder. Die Straße zischt unter den Rädern der Lastwagen. Die Tropfen schlagen wie Schrotkugeln auf das Dach der Kapelle. Neunzehn Jahre alt, frisch vom Thames College of Embalming, mit Bestnoten in sämtlichen praktischen und theoretischen Fächern, blickt William auf die Überreste des kleinen Mädchens, das, wie er gerade erfahren hat, Valerie heißt, und ihm wird klar, dass all das überhaupt nichts zählt, wenn er es hier und jetzt nicht schafft, seine Arbeit zu tun und den zerstörten Körper dieses Kindes für dessen Eltern herzurichten, die da draußen im Regen auf dem Gehweg stehen.

Normalerweise ist der Raum, in dem er sich befindet, eine Sakristei, aber nichts ist mehr normal, und William nimmt nichts von seiner Umgebung wahr, weder den Haufen schwarzer Bibeln in der Ecke noch die abgewetzten Kniepolster, die neben der Tür gestapelt sind, den schweren Geruch nach altem Holz, der mit dem stechenden des Formaldehyds ringt, oder die kleinen Särge, die sich an der Rückwand türmen. Nichts davon dringt zu ihm durch, denn mit einem Mal taucht eine Erinnerung auf, scharf wie das Skalpell in seiner Hand.

Vom buttrigen Duft nach Gebackenem, der die Wohnung erfüllt, aus seinem Mittagsschlaf geweckt, tapst William mit seiner Decke in die Küche, kuschelt sich in den alten Sessel und sieht seiner Mutter zu. Wärme wallt über seine Beine, als sie das verzogene alte Backblech aus dem Ofen nimmt und auf dem Resopaltisch abstellt. Sie schiebt den Tortenheber unter den größten Keks, legt ihn auf eine Untertasse und schneidet ihn in der Mitte durch. Gemeinsam sehen sie zu, wie der Dampf kräuselnd in die Luft steigt. »Für Seine Lordschaft.« Sie macht einen tiefen Knicks und reicht ihm die Untertasse mit beiden Händen. Der Goldrand funkelt ihm zu, und Williams verschlafenes Gesicht verzieht sich zu einem Lächeln, als er die Hand danach ausstreckt. »Verbrenn dir nicht den Mund«, sagt sie leise.

In dem Moment bemerkt William Valeries unversehrte linke Hand. Nichts abgerissen oder zerschmettert, kein Blut, kein blauer Fleck, nicht mal ein Kratzer. Das verdrehte Bein, die fehlenden Zehen und die eingedrückte Schädelseite sind jetzt unwichtig. Wenn ihre Eltern sich erinnern müssen, werden sie sich an ihre unversehrte Hand erinnern.

Vorsichtig löst er die Schlagader aus dem sauberen Schnitt an ihrem Hals und legt sie flach auf den Separator aus Edelstahl, wobei er die winzigen Kapillaren bemerkt, die sich zart durch das Blutgefäß winden. Anschließend führt er die kleine Arterienkanüle in die Öffnung ein und wiederholt das Ganze dann an der inneren Drosselvene. Nachdem er die erste Kanüle an den Kanister mit der Formaldehydlösung und die zweite an einen Schlauch angeschlossen hat, der zu einem Eimer neben seinen Füßen führt, ergreift William die Handpumpe. Drücken – loslassen, drücken – loslassen, drücken – loslassen. Der künstliche Herzschlag treibt die Flüssigkeit durch die Arterien des Mädchens und das Blut in den Eimer. Williams Hand schmerzt vom vielen Pumpen, und sein Rücken schmerzt von der vornübergebeugten Arbeit an den toten kleinen Körpern, doch er lässt nicht nach, streckt sich nicht, lockert nicht seine Finger.

Als das Blut vollständig durch die Einbalsamierungslösung ersetzt ist und die Schnitte vernäht sind, atmet William tief durch. Er nimmt die linke Hand des Mädchens, massiert sie und bewegt die Gelenke, um die Flüssigkeit bis in die Fingerspitzen zu transportieren, damit sie wieder rosig aussehen.

»So, Valerie«, sagt er. »Jetzt sind wir fertig.« Es stört ihn nicht, dass Harry, der am nächsten Tisch arbeitet, ihn hören kann. Er hält ihre Hand in seinen beiden und beginnt, ohne es recht zu merken, ganz leise zu singen.

»I forget all your words of promise

You made to someone, my pretty girl

So give me your hand, my sweet Myfanwy,

For no more but to say ›farewell‹.«

Das letzte Mal, als er das gesungen hat, lag eine andere Hand in seiner. Die von Martin, seinem besten Freund in Cambridge, wie immer, wenn sie das Lied zusammen gesungen haben. »Sie ist Waliserin, du Dussel«, murmelt er vor sich hin. »Sing es auf Walisisch.« Er blickt zu Harry, doch der näht gerade und scheint nichts von seiner leisen Serenade mitzubekommen.

»Anghofia’r oll o’th addewidion

A wneist i rywun, ’ngeneth ddel,

A dyro’th law, Myfanwy dirion

I ddim ond dweud y gair ›Ffarwél‹.«

William geht zu dem Stapel Särge. Der oberste ist weiß, einer von denen, die die irischen Kollegen eingeflogen haben. Das freut ihn. Valerie würde bestimmt gerne einen weißen haben. Er bettet sie hinein, zieht ihren Kopf auf die Seite, breitet eine der gespendeten Decken über sie und legt ihre unversehrte Hand obendrauf.

Dann trägt er den Sarg in die Kapelle und stellt ihn auf eine der Bänke, beunruhigt, dass Aberfan ausgerechnet Erinnerungen an die zwei Menschen wachruft, die zu vergessen er sich so hartnäckig bemüht hat.

Die wachsartigen Lampenschirme wippen und schwingen, als die Tür aufgeht. Jimmys schmale Gestalt kommt eilig herein, einen in eine Decke gehüllten Leichnam in den Armen. Noch einer. Und danach wird noch einer kommen. Und je später sie kommen, desto schwerer ist es. Je länger sie unter dem Kohlenschlamm gelegen haben, desto schneller setzt die Verwesung ein, sobald sie an die Luft gelangen. Nun, da Bagger im Einsatz sind, werden manche Körper ein zweites Mal verletzt. Jimmy trägt das Bündel in die Sakristei.

»Also, eins sag ich euch.« Jimmy steht atemlos neben Harrys Tisch, die Hände in die Seiten gestemmt. »Ich hab’s ja nicht so mit der Religion, aber von jetzt an lasse ich nichts mehr auf die Heilsarmee kommen.«

»Die waren schon vierundzwanzig Stunden im Einsatz, bevor wir auch nur angefangen haben«, sagt Harry und geht nach hinten, um einen Sarg zu holen. »Hatten bestimmt schon zahllose Tassen Tee gekocht und waren immer noch mit voller Kraft dabei.«

»Tee und Sandwiches sind ja nichts Ungewöhnliches«, erwidert Jimmy, »aber wisst ihr, was sie auch haben?«

Harry nickt. »Whisky.«

»Und Zigaretten.« Jimmy schüttelt den Kopf.

»Nett von ihnen.« Harry legt vorsichtig den Leichnam von seinem Tisch in den Sarg. »Einige von den Minenarbeitern sind Freitagmorgen direkt von der Schicht gekommen und graben immer noch. Und jetzt haben wir Sonntagmittag!«

Mit einem Mal hat William einen Riesenhunger. Er hat nicht geschlafen, und bisher war nicht von einer Pause die Rede, obwohl Jimmy ihnen ab und zu ein paar Sandwiches gebracht hat. An einem vollen Arbeitstag hat er vielleicht drei Leichname zu versorgen. Valerie war schon sein siebter. Um ihn herum stehen jetzt fünf Einbalsamierungstische, an denen es genauso aussieht. Der Formaldehydgeruch, den er sonst mag, ist übermächtig, obwohl alle bleiverglasten Fenster trotz der Kälte geöffnet sind.

»Jimmy?«, fragt er. »Kann ich rausgehen und was essen?«

»Klar. Nach der letzten Zählung fehlen noch fünf.«

Auf dem Weg hinaus blickt William zu Valerie und sieht, dass unter dem Nagel ihres Zeigefingers noch ein wenig Schmutz sitzt. Er holt sein Schweizer Taschenmesser heraus, klappt die kleinste Klinge auf, nimmt sanft ihre Hand und schabt das Schwarze unter dem Nagel hervor. Er wischt die Klinge an seiner Hose ab und wiederholt das Ganze noch einmal.

Am Ausgang streift er seine Jacke über und bindet sich den Schal um den Hals. Während die kalte Luft durch die Ritze unter der schweren Tür hereinweht, hört er Jimmys Stimme in der Sakristei.

»Hoffentlich kriegt der Junge hier keinen Knacks fürs Leben. Er ist ein echtes Naturtalent.«

»Und eine schöne Stimme hat er auch«, sagt Harry.

Die Schultern gegen die Kälte hochgezogen, denkt er, ein Gutes hat es immerhin, dass er seit fünf Jahren nicht mehr mit seiner Mutter gesprochen hat. So kommt er nicht in Versuchung, ihr von alldem hier zu erzählen. Sie würde es nicht ertragen. Erleichtert kommt er zu dem Schluss, dass es weder ihr noch ihm guttun würde, sie zu besuchen, wenn er hier fertig ist, obwohl er ihr noch nie so nahe war, seit sie fortgegangen ist.

6

Die Luft draußen ist bitter und feucht. Das Licht schwindet, aber William hat kein Zeitgefühl. Er versucht sich Aberfan als ganz normalen Bergbauort vorzustellen, mit lebenden, munteren Kindern und Erwachsenen, deren Welt noch heil ist. Er schlängelt sich zwischen Absperrungen, Polizisten, Minenarbeitern und Sandsäcken hindurch, um zum Posten der Heilsarmee zu gelangen. Seine Schuhsohlen sind klebrig. Bei der Vorstellung, wie er versucht, sie wieder sauberzukriegen, wenn er nach Hause kommt, schaudert es ihn.

Schmeiß sie weg, William. Es ist doch bloß ein verdammtes Paar Schuhe.

Das ist das erste Mal seit seiner Ankunft hier, dass er an Gloria denkt, und bei der Erinnerung an das Gefühl ihrer selbstbewussten, vollen Lippen auf seinen schlägt sein Magen einen Salto. Ihr cremiger roter Lippenstift, das kurze Tick ihrer Zähne gegen seine, Knochen auf Knochen inmitten der warmen Weichheit von Lippen, Mund und Zahnfleisch. William überlegt, ob er eine Telefonzelle suchen und sie anrufen soll, aber bisher hat er noch keine gesehen, und er hat auch kein Kleingeld dabei. Lass es, denkt er. Iss was, trink was und dann wieder an die Arbeit.

Der Geruch nach Gerbsäure und der Dampf, der von der Teemaschine auf den Sandsäcken aufsteigt, erinnert ihn daran, wie ausgelaugt er ist.

»Wollen Sie was Stärkeres dazu?« Der hochgewachsene uniformierte Mann reicht ihm einen Becher. »Vielleicht einen kleinen Schuss in den Tee?«

»Ja, warum nicht.« William hält ihm den Becher wieder hin.

Der Mann schraubt einen Flachmann auf, und eine bernsteinfarbene Flüssigkeit plätschert in seinen Tee. »Gönnen Sie Ihren Füßen mal ’ne Pause.« Er deutet auf einen Klappstuhl.

Erst als er sitzt, merkt William, wie müde seine Beine sind.

»Sie müssen einer von den Einbalsamierern sein«, sagt der Mann und gibt ihm ein Sandwich mit Ei und Kresse.

William nickt kauend.

»Dafür sehen Sie aber jung aus.« Er nimmt William den leeren Becher ab und füllt ihn erneut.

»Ich habe diese Woche meinen Abschluss gemacht.« William greift nach dem zweiten Sandwich, dessen weißes Brot sich unter dem Gewicht des Belags biegt. Sein Körper ist so gierig, dass er das erste kaum geschmeckt hat.

Der Mann trinkt ebenfalls aus seinem Becher. »Familienunternehmen?«

William beginnt die Kälte zu spüren. Seine Beine zittern. Er stellt den Becher auf dem Stapel Sandsäcke ab und zieht den Reißverschluss seines Anoraks hoch, bis der Metallschieber die weiche Haut unter seinem Kinn berührt. »Ja. Dritte Generation.«

»Dann wussten Sie sicher schon immer, was Sie mal machen würden?«

Er schüttelt den Kopf. »Dad wollte es gerne, aber Mum war dagegen.«

Zwei Minenarbeiter treten schweigend an die Teemaschine. Während sie versorgt werden, isst William noch ein Sandwich. Mit einem Nicken als Dank gehen sie wieder und schlingen das Essen genauso hinunter, wie er es getan hat.

»Dann hat Ihr Dad sich also durchgesetzt?« Der Mann öffnet eine Packung KitKat und gibt William eins davon.

»Nein. Er ist gestorben, als ich acht war.«

»Das tut mir leid. Aber Ihre Mutter ist jetzt bestimmt stolz auf Sie, nicht?«

»Keine Ahnung.« William steht auf, trinkt den Rest Tee und gibt seinen Becher zurück. »Ich muss jetzt mal wieder. Danke für das Essen.« Er hält kurz inne und überlegt, ob er den Mann bitten soll, Onkel Robert anzurufen und ihm auszurichten, dass es ihm gut geht, doch dann hebt er nur die Hand und nickt.

»Alles Gute, junger Mann. Gott schütze Sie.«

»Danke.« William winkt noch einmal, dann schiebt er die Hände in die Taschen und geht, so schnell er kann, zwischen den Leuten und dem Dreck und den Lastwagen hindurch zurück zur Kapelle. Und bei jedem Schritt nimmt er sich vor, keine einzige Träne zu vergießen, bis er von hier fort ist.

7

Am Nachmittag legt William gerade einen deckenumhüllten Leichnam auf den Tisch, als die Tür der Sakristei aufspringt. Er blickt auf, Jimmy und Harry ebenfalls. Vor ihnen steht ein Polizist, die Hand auf der Schulter einer rundlichen, kleinen Frau in einem roten Kleid und einem viel zu großen Männerpullover. Sie atmet schwer, als wäre sie hierhergerannt. Sie sieht jedem von ihnen in die Augen, aber am längsten verweilt ihr Blick auf William.

»Das ist Betty Jones«, sagt der Polizist. »Sie bittet darum –«

»Ich hab keine Ruhe«, unterbricht sie ihn, die Hände um den dicken Griff ihrer Handtasche geklammert. »Unser Haus ist unter diesem mörderischen Dreck begraben, deshalb sind wir bei Verwandten untergekommen.« Sie wendet sich zu dem Polizisten, dann wieder zu ihnen. »Meine Herren, bitte lassen Sie mich helfen«, fleht sie. »Ich tue alles, ganz egal, was. Aber ich halte es keinen Moment länger aus, bei meiner Schwägerin zu hocken und nichts zu tun!«

Ihr braunes Haar ist in ordentliche Wellen gelegt. Der rote Streifen, der unter der grünen Wolle hervorschaut, ist aus hübschem Stoff, so etwas, was seine Mutter tragen würde, aber mit dem riesigen Pullover und den Gummistiefeln sieht sie geradezu kindlich aus. Ihre Beine sind stämmig, und ihr ganzer Körper vibriert vor Energie. »Bitte«, wiederholt sie, bevor Jimmy etwas erwidern kann. »Lassen Sie mich helfen.«

»Danke, Betty«, sagt Jimmy schließlich. »Alles, was hier drinnen zu tun ist, ist extrem belastend. Vor allem, wenn Sie eines der Kinder kennen.«

»Ich kenne sie alle«, entgegnet sie sofort. »Und ihre Eltern auch. Wenn das zehn Jahre früher passiert wäre, lägen jetzt meine beiden da auf den Tischen.« Sie senkt die Stimme. »Ich möchte etwas für diese armen Eltern tun.«

»William?« Jimmy nickt ihm zu. »Betty kann dir helfen, sie für die Identifizierung vorzubereiten.«

Betty stellt ihre Tasche in der Ecke neben den Särgen ab und holt gelbe Gummihandschuhe heraus.

»Ich dachte mir, dass ich die brauchen würde.« Sie stellt sich William gegenüber und sieht ihn mit einem tapferen, zupackenden Lächeln an. »Na, dann sagen Sie mir mal, was ich tun soll.«

Betty sieht seiner Mutter überhaupt nicht ähnlich; sie ist älter und kleiner, und ihre Bewegungen haben nichts Elegantes, aber etwas an ihr erkennt er wieder. Sie ist voller Angst und Schmerz, aber zugleich mutig und entschlossen.

»Das wird hart«, sagt er, als er nach der grauen Wolldecke greift, und fragt sich, wie lange er warten soll, bevor er sie wegzieht. Bettys direkter Blick macht es ihm leichter. »Zum einen ist da der Kohlenschlamm, und zum anderen sind das jetzt die Letzten, die geborgen werden. Sie sind in einem schlechten Zustand.« Bettys rote Lippen sind eine feste, gerade Linie, und sie sieht ihn unverwandt an. Sie nickt kurz und schluckt, und William bemerkt eine pulsierende Ader an ihrem Hals. Er muss ihr zeigen, dass er weiß, was er tut, damit sie ihm vertraut. »Wir ziehen die Kleider aus. Ich untersuche den Zustand des Leichnams. Dann säubern wir ihn. Zusammen.« Bettys Augen glänzen plötzlich wie zwei Saphire. »Ich zeige Ihnen, wie.« Sie nickt erneut und blinzelt. »Gut, dann los«, sagt William.

Er zieht die Decke mit einer schnellen, aber sanften Bewegung weg und lässt sie zu Boden fallen. Bettys kompakter Körper zuckt, aber William lässt sich nicht anmerken, dass er es mitbekommen hat. Gemeinsam sehen sie hin. Gemeinsam riechen sie Blut und Teer und den Beginn der Verwesung.

Im schwachen, gelblichen Schein der geborgten Lampen stöhnt Betty auf und legt die Hand auf die unversehrte Wange des Mädchens. »Alles ist gut, Helen«, flüstert sie. »Betty ist hier.«

Der Raum ist vollkommen still; William weiß, dass die anderen Einbalsamierer zu ihnen herübersehen. Betty richtet sich auf und holt tief Luft, sodass das kleine Kreuz an ihrem Hals aufschimmert. »So, meine Kleine«, sagt sie ein wenig lauter und berührt mit ihren Gummifingern den Arm des Mädchens. »Deine Mum und dein Dad kommen gleich zu dir, deshalb machen dieser nette junge Mann und ich dich ein bisschen sauber. Es ist alles vorbei, meine Kleine.«

Als Betty ihr Gesicht, in dem Entschlossenheit und Fassungslosigkeit miteinander ringen, schließlich wieder William zuwendet, hat er Mühe, seine eigene Mimik unter Kontrolle zu halten, so mächtig ist die Woge von Intimität, die sie ausgelöst hat.

»Sie zerschneiden die Kleider« – er reicht ihr die Schere –, »und ich ziehe sie ihr aus.«

Mit ruhiger Hand schneidet Betty durch den Bund des Baumwollrocks und dann diagonal durch die Bluse. Bald sind ihre Gummihandschuhe fast vollständig von zähem schwarzem Teer bedeckt. In einem Bruchteil der Zeit, die er vorher für die Prozedur gebraucht hat, lässt William den Stoff auf den Haufen neben dem Tisch fallen. Er hat Angst, dass der linke Fuß sich vom Körper löst, wenn sie ihn abwaschen.

Er nimmt den frischesten Eimer Wasser, den freiwillige Helfer hereingebracht haben, und taucht seinen Schwamm hinein. »Immerhin haben wir jetzt warmes Wasser.« Mit festen, langen Strichen fährt er über den linken Arm, reibt und zieht an dem Schmutz, taucht den Schwamm erneut ein, drückt ihn aus und wieder von vorn. Betty sieht ihm zu.

»Sie waschen die Arme, ich die Beine.« Er gibt ihr einen Schwamm, und sie taucht ihn sofort ins Wasser. Noch nie hat William jemanden so konzentriert an etwas arbeiten sehen wie Betty an diesem kleinen Arm. Nach ihren ersten Worten zu Helen schweigt sie nun, vollkommen mit den kleinen Streifen Haut unter dem schmutzigen Rechteck des Schwamms beschäftigt.

Plötzlich verspürt er den Drang, das Schweigen zu füllen. »Wie war sie so?«, fragt er, während er zur anderen Seite des Tisches geht.

Sie hält inne, sieht ihn an. »Lieber nicht.« Sie beginnt wieder zu reiben.

»Natürlich, entschuldigen Sie«, sagt William peinlich berührt und umfasst vorsichtig den zerquetschten Fuß, während er das Schienbein säubert.

Ein kalter Luftzug und das Hupen eines Lastwagens lassen ihn aufblicken. Der hochgewachsene Mann von der Heilsarmee, der ihn vorhin bedient hat, kommt herein, eine schwarze Kiste in den Händen.

»Ich dachte mir, Sie könnten vielleicht ein bisschen was im Hintergrund gebrauchen«, sagt er. »Die Batterien sind neu, und ich habe noch mehr, falls sie leerlaufen.«

»Das ist sehr nett.« Jimmy hält in seiner Arbeit inne und deutet auf die Fensterbank hinter Williams Rücken. »Können Sie es da hinstellen und etwas anmachen?«

»Na klar.« Der Mann geht zum Fenster, das Radio mit etwas Abstand vor sich. »So, das hätten wir.«

Seine tiefe Stimme und die kollernden Vokale erinnern William erneut an Tom Jones, und als das Radio knisternd und fiepend zum Leben erwacht, hofft er beinahe, »What’s New Pussycat?« oder »It’s Not Unusual« zu hören.

»Ich nehme an, Musik wäre wohl am besten«, sagt der Mann und späht auf die Anzeige.

Plötzlich ertönt Orchestermusik, klarer und lauter, als William es von so einem kleinen Transistor erwartet hätte.

»Wunderbar, vielen Dank«, sagt Jimmy.

»Hauptsache, wir können helfen«, erwidert der Mann im Hinausgehen.

Zu zweit brauchen sie nur die Hälfte der Zeit, um den Leichnam zu säubern. Als Helens Eltern hereinkommen, die Mutter mit dem Stück Rockstoff in der Hand, und ihre Tochter dort liegen sehen, ist Betty mit ihren starken Armen da. Während der nächsten zweieinhalb Stunden waschen sie noch die Leichen von zwei weiteren Mädchen und einem Jungen.

8

»Ihr zwei holt euch jetzt mal was zu essen und eine wohlverdiente Tasse Tee«, sagt Harry, als William wieder hereinkommt, nachdem er ein weiteres Elternpaar nach draußen zurückbegleitet hat. »Um die hier kümmere ich mich.«

William und Betty schlüpfen in ihre Mäntel und gehen durch die Dunkelheit zum Erfrischungsstand am Ende der Straße. Obwohl es aufgehört hat zu regnen, trieft die Oktoberluft vor Feuchtigkeit. Aberfan ist schwarz, weiß oder grau. Die Strahler an der Unglücksstelle leuchten wieder, und in ihrem grellen Licht wirken die weißen Mauern der benachbarten Reihenhäuser wie gebleckte Zähne. In der Reihe direkt gegenüber der Schule gähnt ein riesiges Loch.

Betty bleibt stehen, hakt sich bei ihm ein und starrt auf den glänzenden Schutt.

»Das da war mein Zuhause. Fünfundzwanzig Jahre haben wir dort gewohnt.«

»Das tut mir leid«, sagt William.

Sie zieht an seinem Arm, um ihn zum Weitergehen zu bewegen. »Immerhin waren wir nicht drinnen.«

Während sie an den Häusern vorbeigehen, kann er hinter den Fenstern dunkle Schatten sehen; kleine Berge aus Kohlenschlamm in den Wohnzimmern. Aus einem ragt die Lehne eines Stuhls und daneben ein hochhackiger Absatz. Sie passieren gerade die Schule zu ihrer Linken, als ein schriller Schrei sie innehalten lässt. Ein Mann bricht beim Anblick von etwas, das aus dem Schutt gezogen wird, zusammen. Die Frau hinter ihm, wahrscheinlich die Mutter des Kindes, presst die Hand vor den Mund, und da ist Jimmy, der den Leichnam bereits hochnimmt, um ihn zur Kapelle zu bringen, bevor er sich zu zersetzen beginnt.

»Wenn ich ein Zuhause hätte, würde ich Sie auf einen Tee einladen«, sagt Betty und nimmt seinen Arm fester. »Aber meine Schwägerin hat schon das ganze Haus voll.« Sie hebt ihr kurzes Bein, um William ihre Gummistiefel zu zeigen. »Das sind ihre, sie sind zwei Nummern zu groß.«

»Macht nichts, wir können sowieso nicht lange wegbleiben.«

Die Lastwagen fahren immer noch unablässig hin und her. Die Rettungsleute sind weiter im Einsatz, auch wenn es jetzt weniger sind als bei seiner Ankunft. Das Geräusch der Schaufeln, die sich in den Kohlenschlamm graben, ist leiser geworden, aber nach wie vor allgegenwärtig. William und Betty bleiben einen Moment stehen und sehen zu. Er nimmt an, dass der ursprüngliche Adrenalinschub des Entsetzens, der die Männer angetrieben hat, nach zwei Tagen versiegt sein muss. Obwohl keine Hoffnung mehr besteht, Lebende zu finden, können sie nicht aufhören. In den Hinterhöfen der Häuser hängt Wäsche, die schon vor Tagen hätte abgenommen werden sollen. Bettlaken blähen sich geisterhaft im Wind, dazwischen Blusen und Pullover, Röcke und Hosen, die nicht mehr gebraucht werden.

»Danke, Betty«, sagt William, als sie sich mit ihren Bechern und Sandwiches an die Sandsäcke lehnen. »Sie sind mir eine große Hilfe.«

Sie trinken Tee mit Whisky, stark und ölig. Betty pustet auf ihren, aber William lässt sich die Kehle verbrühen.

»Sie war ein freches kleines Ding.« Im ersten Moment weiß William nicht, wovon Betty spricht. Sie dreht sich zu ihm und stützt sich mit der Hüfte an den Säcken ab. »Helen. Letzte Woche gab es Ärger, weil sie am Kiosk eine Rolle Drops stibitzt hatte, und letztes Jahr Weihnachten hat sie beim Krippenspiel den Stuhl weggezogen, auf den Maria sich setzen wollte, sodass die mit einem lauten Rumms auf den Boden geknallt ist und sich das Steißbein angeknackst hat.« Von Bettys Lippenstift ist nur noch ein schmaler Rand übrig, der ihr Lächeln einrahmt. »Und sie war eine richtige Kichertrine.« Sie starrt an William vorbei und nippt an ihrem Tee. »Ich hoffe, jetzt kichert sie auch.« Bettys Augen werden wieder feucht. »Was kann schlimmer sein, als sein Kind zu verlieren?« Ihr Blick sinkt zu Boden, dann atmet sie scharf ein und sieht ihn wieder an. »Wie alt sind Sie, William?«

»Neunzehn.«

»Nun, ich hoffe, Ihre Eltern wissen, was für einen großartigen Sohn sie haben.«

William schüttelt den Kopf und blickt nach unten. Gott, ist er müde! »Ich sollte wieder zurückgehen.« Er stellt seinen Pappbecher auf die Säcke. »Lassen Sie sich Zeit, aber ich muss zurück.«

»Habe ich etwas Falsches gesagt, William?« Sie richtet sich ebenfalls auf.

»Nein«, sagt er über die Schulter. »Kommen Sie, wenn Sie so weit sind.«

9

»Letzte Runde«, sagt Jimmy, als William in die Sakristei tritt. »Ich nehme an, du musst heute noch zurück?«

»Nicht, wenn ich noch gebraucht werde.« William geht zu seinem Tisch. Als er am Radio vorbeigeht, registriert er eine murmelnde Stimme. Der Haufen schmutziger, zerschnittener Kleider in der Ecke ist mittlerweile hüfthoch.

»Jetzt fehlen nur noch drei«, fährt Jimmy fort und schrubbt seinen Tisch mit einer Energie, die nichts von der Erschöpfung verrät, die er spüren muss. »Harry bleibt noch bis morgen und ich, bis wir hier fertig sind.«

»Sind Sie sicher?« William wird ganz schwach vor Erleichterung. Bald kann er hier wegfahren, zurück in das ruhige Bestattungsinstitut seines Onkels und zu einem Leben mit Gloria. Gloria, die ihn geküsst hat.

»Ja, bin ich«, sagt Jimmy. »In der Kapelle liegt noch ein Leichnam. Kümmere dich darum, schlaf ein bisschen im Auto, und dann mach dich auf den Weg.« Er wendet sich zu Harry. »Jetzt bist du dran mit Pause.«

»Da sag ich nicht nein.« Harry geht zur Tür. »Was hast du mit Betty gemacht, William?«

In dem Moment schwingt die Tür auf und trifft Harry um ein Haar.

»Hoppla.« Betty lächelt Harry zu, der zur Seite tritt und dann den Raum verlässt. Sie stellt sich an den Tisch und sieht William an. Er hat das Gefühl, er müsste sich entschuldigen, doch ihr ruhiger Blick verrät ihm, dass sie nichts von ihm erwartet.

»Wir haben nur noch einen vor uns«, sagt er. »Können Sie die Eimer und Schwämme holen?«

»Natürlich.« Sofort dreht sie sich um und geht zur Wand, wo die Eimer bereitstehen.

Särge, nicht eingehüllte Leichen, füllen jetzt die Bänke der Kapelle. Einige sind schmutzig, mit Kohlenschlamm beschmiert, obwohl sie sich bemüht haben, das zu vermeiden. Es dauert einen Moment, bis er das braune Bündel entdeckt. Als er das nachgiebige Fleisch, den Winkel eines Beines spürt, fragt er sich, was ihn erwartet, ob er es schafft, das alles noch einmal zu verkraften, und staunt über Jimmys und Harrys Durchhaltevermögen. Immerhin gibt Betty ihm einen Grund, sich nichts anmerken zu lassen und zu tun, was getan werden muss.

Die Eimer und Schwämme sind bereit, und Betty steht abwartend an der einen Seite des Tisches.

»Danke«, sagt er.

»Keine Ursache.«

Er gibt ihnen beiden noch einen Moment, Zeit, ein paarmal ein- und auszuatmen.

»Es muss eins von dreien sein«, sagt Betty sachlich. »Ich habe die Eltern gesehen, die noch draußen warten.«

William zieht zum letzten Mal eine Decke weg. Sie schauen hin. William sieht Betty an. Sie schürzt die Lippen und schüttelt den Kopf. »Bin mir nicht sicher.«

Fast synchron tauchen sie ihre Schwämme ins Wasser und machen sich an die Arbeit. In William breitet sich Ruhe aus, weil er weiß, dass er es fast hinter sich hat. Er und Betty arbeiten gut zusammen; sie weiß intuitiv, welche Körperteile sie säubern kann und welche sie besser seiner Erfahrung überlässt.

Neben ihnen pumpt Jimmy die Einbalsamierungsflüssigkeit in einen Leichnam. Einige Sekunden lang hört William nichts außer dem Saugen und Zischen der Handpumpe und dem Plätschern des schmutzigen Wassers, das sie aus ihren Schwämmen drücken. Dann eine gepflegte Stimme hinter ihm: »… Chapel Choir, Cambridge, mit dem ›Miserere‹ von Allegri.«

William fährt herum, packt das Radio und fingert mit seinen Gummihandschuhen daran herum, bis die Musik verstummt. Dann dreht er sich wieder um, das Radio in beiden Händen. Jimmy und Betty starren ihn an.

»Tut mir leid.« Er stößt den Atem aus, lässt es wie ein Lachen klingen. »Ich kann diesen Klassikkram nicht leiden.« Er stellt das Gerät zurück auf die Fensterbank. »Soll ich irgendwas anderes anmachen?«

Jimmy deutet mit dem Kinn auf Williams Tisch. »Mach lieber weiter, die Eltern warten draußen.«

Das seidige schwarze Haar des Kindes sieht aus wie frisch gekämmt, aber das Gesicht ist völlig zerstört. Betty reibt mit dem ausgelaugten, weichen Schwamm über den linken Unterarm. William ist froh, dass sie nicht versucht, mit ihm zu reden. Sie hat ihren einen Handschuh ausgezogen, um mit dem Fingernagel einen widerspenstigen Teerfleck wegzukratzen. Er wirft ihr alle paar Sekunden einen Blick zu, aber sie sieht nicht auf.

Als Harry von seiner Teepause zurückkommt, ist der Raum gerade vom vertrauten Dröhnen eines abfahrenden Lastwagens erfüllt. Jimmy, Betty und William sind auf ihre Arbeit konzentriert und bekommen nicht mit, dass Harry im Vorbeigehen das Radio wieder einschaltet. Als der Gesang erklingt – Amplius lava me ab iniquitate mea: et a peccato meo munda me