Der Köder - Rosemary Tonks - E-Book
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Der Köder E-Book

Rosemary Tonks

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Beschreibung

Min ist eine junge Britin, die um die Erotik blassgelber Baumwollpyjamas weiß, nach Ananas in der Oper verlangt und eine männliche Putzkraft beschäftigt. Ihre Welt entwirft sie um eine Handvoll wenig begehrenswerter, aber umso anziehenderer Männer. Da sind ein übergewichtiger Tenor, ein alternder Katzenliebhaber und ein manikürter Musikwissenschaftler. Zur Teatime im Ritz, durch Londoner Parks spazierend oder beim Käsesandwich zum Lunch – Min zeigt sich als skeptische, aber doch ergebene Jüngerin heterosexueller Zweisamkeit. Die eigene Person, die Charakterstudien ihrer Freundinnen – alles ist mit Blick auf die Beziehung zum Mann entworfen: Sie arbeitet bei der BBC als Tontechnikerin und ist zwar verheiratet, doch ihr Mann George ist so unsichtbar, dass sie versehentlich das Licht ausschaltet, während er noch im selben Raum ist. Zum Glück hat sie ihre Freundinnen und Liebhaber, die sie ablenken. Jüngst wird sie etwa von einem international bekannten Opernsänger umworben. Gleichermaßen von ihm angewidert und angezogen, kreisen ihre Gedanken fortan darum, ob sie mit ihm schlafen soll oder nicht. Mit ihrem ungeheurem Witz und ihrem feinen Gespür für menschliche Sehnsüchte hat Rosemary Tonks einst die britische Literatur geprägt. Nach Jahren im Rampenlicht zog sie aufs Land, änderte ihren Namen und vernichtete verbliebene Exemplare ihrer Bücher. Erst nach ihrem Tod neu aufgelegt, begeistert ›Der Köder‹ nun zum zweiten Mal eine ganze Generation von Leserinnen.

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Der Köder

ROSEMARY TONKS

Der Köder

Roman

Aus dem Englischen von Eva Bonné

Mit einem Nachwort von Neil Astley

MÄRZ

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Nachwort

Anmerkungen

1

»Hallo?!«

Fritz betritt den abgedunkelten Flur und macht sich schüchtern bemerkbar. Eigentlich gilt das »Hallo« nur ihm selbst, denn obwohl ich zu Hause bin, lasse ich mir mit der Antwort eine gute halbe Minute Zeit: »Ja! Komme gleich runter!« Die Sache ist nämlich die: Es ist erst Viertel nach zwei am Nachmittag, aber ich liege auf dem Bett und spüre meine Müdigkeit wie einen Vollrausch. Alles dreht sich, und ich versinke in immer neuen Schichten einer grenzenlosen Erschöpfung. Wenn ich lange genug stillhalte, kann ich bis zum Grund vordringen, zum Meeresboden. Aber kaum, dass ich mich unter Kissen und Gedanken vergraben und in der Stockfinsternis ausgestreckt habe, ruft jemand mit deutschem Akzent: »Hallo?!« Da gönne ich mir doch aus Prinzip eine weitere halbe Minute in Dunkelheit und Vergessen, bevor ich an die Oberfläche zurückkehre. Sobald ich oben angekommen bin, antworte ich mit souveräner Stimme, die perlt wie Asti Spumante: »Schon gut! Ich komme!«

Denn eins weiß ich genau: Wenn ich nicht reagiere, wird er dort unten stehen bleiben. Er wird den Kopf neigen, in die Stille lauschen und sich auf Überraschungen in Gestalt von Menschen oder Gegenständen gefasst machen. Manchmal schnüffelt er herum und findet heraus, was ich getrieben habe. Riecht die Luft trocken und holzig, denkt er: »Oh, sie hat gearbeitet. Wir müssen einen Krankenwagen rufen.« Beim schwächsten Hauch von Parfum – ich besitze einen Duft in einem kleinen, hellbraunen Flakon, der auf der Haut keine zwanzig Minuten überdauert, sich in meinem Mantel an der Garderobe aber bis zu zwei Tage hält – denkt er: »Eine Party! Ich bin leider nur ein armer Student, aber die anderen gehen aus und kriegen Sex, das volle Leben und der Himmel weiß was …« Ganz selten riecht es nach Möbelpolitur, in dem Fall spielt Fritz den Gekränkten: »Wollen Sie mir den Job wegnehmen? Das ist nicht gut. Sie nehmen meine Arbeit, so sieht’s aus.« Nie kann ich es ihm recht machen, außerdem findet er alles, was ich tue, schändlich und faszinierend. Seine Meinung zum Thema Frauen steht fest, bei ihm kommen sie gar nicht gut weg: »Das gibt Verdresche.« Aber eigentlich ist er nett, geduldig, unvoreingenommen und herzensgut.

Heute riecht es nach Politur. Den Grund wird Fritz allerdings nie erraten, und ich könnte ihm die Sache nicht erklären, ohne vor Lachen zu platzen. Ja, ich habe den kleinen afrikanischen Hocker im Wohnzimmer poliert, das aber nicht, weil ich meine Möbel gewissenhaft pflegen würde; genau genommen habe ich auch nur die Sitzfläche behandelt. Es musste sein, weil auf dem Sofa ein riesiger Mann mit weit von sich gestreckten Beinen saß. Der riesige, zahme, exotische Mann las ein Buch, als warte er in einer Flughafenlounge, und er schenkte mir so wenig Beachtung, als wäre ich eine Hilfskraft in einer bunten, pyjamaähnlichen Kunstfaseruniform, die Kaffee serviert und mit einem Fensterleder das Marmorimitat abwischt. Nicht bloß, dass dieser faule, selbstgefällige Kugelfisch mich ignoriert hat – er hat gestunken! Ja, und wie! Ich persönlich kann ihn schon von der Küchentür aus riechen. Ich möchte ihn nicht in Schutz nehmen, aber ich sehe ein, dass ein Mensch seiner Größe zum Waschen viel Zeit braucht, außerdem ist er oft auf Reisen und beruflich sehr eingespannt (er ist Sänger, ein Bariton). Trotzdem finde ich ihn rücksichtslos, und er bringt mich auf die Palme wie kein Mann zuvor. Manchmal steht er mit einem Gastgeschenk vor der Tür (was mich umso wütender macht), oder er folgt mir durch die Zimmer und bietet mir seine »Hilfe« an. Vor allem mit Bettenmachen kennt er sich anscheinend gut aus. Ich habe ihn noch nie eilen sehen, außer ins Schlafzimmer. Ich beziehe ein Bett für ihn, weil er hin und wieder bei uns übernachtet. Bevor er das Gästezimmer betritt, ist es einfach nur ein schlichtes, für Gäste bestimmtes Zimmer. Aber dann plötzlich – Achtung! – ist es ein Boudoir, eine gefährliche Falle, die vierte Etage eines Lissabonner Bordells; es ist das erste Treffen von Madame de Pompadour und Louis XV. in der ungelüfteten Höhle des Lüstlings (dieses ungestüme bourbonische Temperament usw.), damals, als die Affäre noch stillos und chaotisch war.

Besagter Mann steht also neben dem Bett, in den Händen seine Reisetasche und den nassen Regenschirm, während ich die Laken glattstreiche und ihn insgeheim beschimpfe. Manchmal überkommt mich eine teuflische Energie, und dann verspüre ich den Wunsch, ihn samt Reisetasche, Regenschirm, Buch, Stimme und Ego aus dem Fenster zu schubsen. Er spürt das, doch statt vor meiner Boshaftigkeit zurückzuschrecken, lächelt er unbeirrt weiter. Er suhlt sich darin, und der Raum wird mehr denn je zu einem Schlafzimmer.

Die Möbelpolitur war nur eine weitere Boshaftigkeit, die meinem Selbsterhalt dienen sollte. (Er bringt meine schlechtesten Charakterzüge hervor, ich winde mich vor Entsetzen angesichts meines eigenen, immer unglaublicheren Verhaltens.) Ich bin in die Küche gelaufen und habe die kleine Dose gesucht, die sich durch eine dieser altmodischen, am Rand angebrachten Flügelschrauben öffnen lässt. Das Politurwachs ist blasslila, glitschig und parfümiert. Es riecht so angenehm wie frisches, weißes Harz, das aus einem Gummibaum tröpfelt. Anschließend habe ich mir einen Putzlappen geschnappt, und dergestalt bewaffnet war ich endlich bereit für ihn. Er saß immer noch im Wohnzimmer (er hat so eine Art, mich reglos aus den Augenwinkeln zu beobachten), der Hocker war unter dem Gewicht seiner Füße in Schräglage geraten. Am seltsamsten finde ich, dass nichts ihn überraschen kann. Jeder andere Mensch würde doch ein starkes Unbehagen verspüren, wenn die Gastgeberin abends um halb sieben hereinkommt, sich hinkniet und anfängt, verbissen einen Hocker zu polieren? Sein einziges Zugeständnis war ein flüchtiger Blick in meine Richtung, und dann hat er seelenruhig weitergelesen, ganz so, als wäre es das Normalste von der Welt, dass ich niedere Hausarbeiten verrichte, während er seinen Bariton auf dem Sofa ausruht. Sie sehen also, zu welcher Sorte Mann er gehört. Immerhin roch das Zimmer danach viel besser, und ich hatte mich auf vornehme Weise gerächt. Ich weiß, was Maler empfinden, die in einem gewissen Tonfall über ihre »Modelle« sprechen; immer ist da diese Abneigung gegen die Modell sitzende Person, dieser angestaute Groll.

Aber die Sache mit dem exotischen Mann, der nach Fisch riecht und dessen Präsenz mit Möbelpolitur getilgt werden muss, kann ich Fritz unmöglich erklären. Und exotisch ist er in der Tat, trotz allem. Aus seiner Brusttasche ragt ein rotes Seidentuch mit grünen Punkten, der Knoten der passenden Seidenkrawatte hängt leicht nach links verrutscht unter dem Kragen. Der oberste Hemdknopf fehlt (oder wurde abgerissen), deshalb kann man sehen, wie der Hals in die breite, weiße Marmorplatte von Brust übergeht. (Wie sie so weiß bleibt, ist mir ein Rätsel.) Sein Hals ist nicht unattraktiv und beherbergt seinen größten Schatz, die wahre Ursache seines arroganten Auftretens: seine Singstimme. Ehrlich gesagt habe ich sie nie gehört, denn schon beim kleinsten Geräusch aus seiner Kehle, und sei es nur ein Brummen wie von einem Auspuff, erstarre ich am ganzen Leib. Er hat es bemerkt und hält sich ausnahmsweise zurück. Wahrscheinlich wäre er in der Lage, zu dröhnen wie eine Orgelpfeife, und wenn er im Wohnzimmer das tiefe C anstimmen würde, wäre die Klaustrophobie für mich nicht auszuhalten. Mir reicht seine Art zu lesen, zu sitzen und mich aus den Augenwinkeln zu beobachten.

Fritz sagt:

»Sie haben poliert und gearbeitet, so sieht’s aus.«

»Sei nicht albern. Ich habe dir das Gästeklo im Erdgeschoss übriggelassen, da hast du etwas, worauf du dich freuen kannst. Erzähl mir bloß nicht, ich wäre nicht großzügig. Übrigens, wie geht es dir?«

»Oh, ganz gut. In der Schule« – er meint seine Sprachenschule – »nehmen wir gerade Othello durch. Ich soll etwas über seine Frau schreiben, Sie wissen schon, Des …«

»Desdemona. Gar nicht so leicht, in einer Fremdsprache.«

»Man soll schreiben, was für eine Frau diese Desdemona ist, denn sie ist gar nicht gut.«

»Ach, Fritz, nicht schon wieder! Mach bitte nicht alle Frauen schlecht, bloß weil du eine unglückliche Affäre hinter dir hast.«

»Darum geht es nicht. Ich sage es Ihnen, ich habe sie durchschaut. Diese Frauen sind Tiere! Neulich abends war ich mit einem Mädchen zusammen, und sie redet und redet« – sein Gesicht verfinstert sich, er reckt den hammerförmigen Staubsaugerkopf in die Höhe – »und ich habe gefragt: ›Warum nicht?‹ Aber sie wollte nicht, wissen Sie. Sie sieht mich nur an und sagt: ›Nein.‹«

»Und warum auch nicht, um Gottes Willen.«

»Weil sie geredet und geredet hat, darum. Sie redet, und dann ist es zu spät, und dann will sie aufhören.«

»Ja, aber warum hörst du nicht auf, Fritz?«

»Weil der Mann der Jäger ist, darum. Die Frau weiß Bescheid, sie weiß, wann es Zeit zum Aufhören ist.«

»Wie bitte? Du willst mir erzählen, ein junges, unerfahrenes Mädchen von siebzehn Jahren würde sich besser auskennen als du, der große Fritz, der erfahrene Verführer?«

Er fängt an zu lachen. Sein Lachen ist arglos und ansteckend. Er ist erst zweiundzwanzig, in dem Alter findet man alles mehr oder weniger lustig, aber sobald es um Frauen, Religion oder Politik geht, setzt er seine finstere Miene auf. Er ahnt nicht, dass er einer der anständigsten und rücksichtsvollsten Menschen ist, die ich je kennengelernt habe. Er ist immer noch fest entschlossen, sich wegen des Mädchens, das nicht aufhören wollte, zu rechtfertigen.

»Sie wissen es«, wiederholt er so eifrig wie ein heimlicher Bibelleser auf der Flucht vor der Psychoanalyse. »Sie kommen mit dem Wissen auf die Welt.«

»Ach, Fritz! So etwas Egoistisches habe ich noch nie gehört. Deine Moralvorstellungen hast du wohl von der Straße aufgelesen, und sie scheinen dir gut zu gefallen. Aber jetzt ist Schluss damit. Sie stehen dir nicht. Du sollst nicht wider deine Natur reden, das passt nicht zu dir. Hör mal, wenn du doch so ein harter Kerl bist – warum bringst du nicht ein paar Läufer nach draußen und klopfst sie aus?«

Er willigt ein. Wir schleppen die weichen, verstaubten Perserteppiche auf den kleinen Rasen hinter dem Haus, und kurze Zeit später steigen bernsteingelbe Schwaden im Sonnenlicht auf. Fritz bevorzugt konkrete Arbeitsaufträge. Er nimmt meine Anweisungen entgegen wie ein Frontoffizier, klemmt sich seine Pfeife zwischen die Zähne und erfüllt alle Missionen wortgetreu. Andererseits lässt er manche Möbelstücke mitten im Zimmer stehen, weil sie, sobald er sie geputzt hat, für ihn nicht mehr existieren und er mit der Gestaltung eines ganzen Raumes überfordert wäre. Also muss ich die schweren Sessel eigenhändig an ihren alten Platz wuchten, Vasen verrücken und Läufer zurück in ihre Senken schieben. Aber das ist immer noch besser, als sich jemanden ins Haus zu holen, der alles nach Gutdünken umdekoriert und den Eindruck hinterlässt, die komplette Einrichtung wäre gegen den Strich gebürstet worden.

Heute Nachmittag gehe ich nicht ins Studio. Eigentlich müsste ich ein paar Aufnahmen für morgen vorbereiten, aber ehrlich gesagt werde ich gar nichts tun. Ich werde mit Fritz Tee trinken und über Kommunismus – die gute Idee, aus der nichts wurde – diskutieren. Danach schiebt er den Staubsauger durch den Flur im Obergeschoss. Das Gerät schabt über den Holzboden rechts und links des Läufers und heult in den Ecken laut auf. Als ich es nicht mehr aushalte, gehe ich hoch, bleibe auf halber Treppe stehen, verziehe das Gesicht und gestikuliere übertrieben: »Fritz, ich bitte dich.«

Weil er einen solchen Lärm macht, hat er mich nicht heraufkommen hören, und jetzt erschrickt er und legt sich eine Hand aufs Herz (an die falsche Stelle).

»Meintamotter« – so hört es sich zumindest an – »ich muss hier fertig werden!«

Ich schwöre mir, mich künftig an Frauen und vom Kommunismus fernzuhalten; zu schade, dass ich das immer wieder vergesse, nachlässig werde und am Ende doch Interesse entwickle.

Also gut. Wenn er politische Streitgespräche mit dem Staubsauger gewinnen will, werde ich eben ein paar Fitnessübungen machen. Das Tonbandgerät steht unter dem Lichtschalter am Boden, genau dort, wo der Lieferant es abgestellt hat. Vermutlich könnte ich es in einem Schrank verschwinden oder in ein Mahagoniregal einbauen lassen, aber darüber würde mir mein Leben entgleiten. Gekonnt spiele ich daran herum, schalte es mit dem Fuß ein und aus und stelle mir vor, ich wäre ein Affe. Brahms eignet sich gut für Sport, es sei denn, man ist verliebt. Wer verliebt ist, würde schon bei der ersten Kniebeuge in Ohnmacht fallen. Bei Beethoven geht es zu viel auf und ab; die Musik ist zu schräg und zu spannend, was bedeutet, dass man sich den Rücken zerren und wahnwitzige Pläne schmieden würde, die anschließend stundenlang das Gehirn lähmen. Mozart ist ideal, ebenso elegant wie besonnen, und nie treibt er es zu weit, nur manchmal, wenn er einen mit der Fingerspitze über die Abgrundkante stupst, aber in dem Fall wird man sofort wieder aufgefangen. Es ist, als trainierte man in einem Uhrgehäuse oder in einem Klavier.

Puh! Mir wird warm, mein Herz hämmert, doch kaum, dass ich abgeschlossen und mich ausgezogen habe, klingelt es an der Haustür. Fritz hat sich der Musik geschlagen gegeben, der Staubsauger ist verstummt, aber jetzt schaltet er ihn sofort wieder ein. Ist er nicht wirklich unerträglich? (Nie wieder werde ich in diesem Hause Marx erwähnen.) Ich ziehe mir etwas über: ein dauerhaft zerknittertes Aertex-Shirt und eine Denimhose, die aussieht, als wäre sie für die chinesische Handelsmarine geschneidert worden. Modisch gekleidet, zumindest von der Taille abwärts, öffne ich die Tür.

Davor steht mein guter Freund Claudio. Er wollte nur kurz vorbeischauen, angelockt vom Lärm, vom Lachen zweier Menschen, von Sonnenschein, Intrigen und derben Scherzen; von allem, was nach Spaß riecht und eine Gelegenheit bietet, mit beiden Füßen vom Boden abzuheben, zu schweben und herzlich über den Unbill des Lebens zu lachen. Ich habe nie herausfinden können, ob er einen guten oder einen schlechten Einfluss auf mich hat, aber dafür ist es ohnehin zu spät, weil ich mittlerweile an ihm hänge. Er ist um die Sechzig und hat dunkelrote, von wolligen, hellgrauen Koteletten gerahmte Wangen. Er besitzt Immobilien, weiß alles und erzählt mir hin und wieder eine Halbwahrheit über mich selbst. Ihn zum Verbündeten zu haben ist anstrengend, denn er spielt die Rolle so überzeugend, dass man irgendwann dazwischengehen und ihm in aller Strenge sagen muss, dass es vorbei ist. In der Hinsicht ähnelt er Fritz, außer dass er Frauen liebt und ihnen keine »Verdresche« androhen, sondern sanft übers Haar streichen will. Aber vielleicht war das auch nur so dahingesagt. Vielleicht werde ich nie erfahren, ob er jemals geliebt hat (was er ständig behauptet), oder ob er, falls die Antwort ja lautet, tatsächlich der erfahrene, einfallsreiche, spontane und geniale Liebhaber ist, für den er sich ausgibt. Manchmal habe ich da meine Zweifel; ich könnte mir vorstellen, dass er viel Zeit mit Glotzen und dummen Grimassen verplempert. Doch heute ist er ein Napoleon. Er hat sich die rechte Hand unter das linke Frackrevers geschoben und hält anscheinend nach der französischen Armee Ausschau. (Dass er Fritz ähnelt, sagte ich ja bereits.)

Ich reiße die Tür auf und strahle ihn an. Er stutzt über die freudige Begrüßung, tritt aber sofort ein. Als er merkt, dass ich barfuß und außer Atem bin, wird er argwöhnisch.

»Was geht hier vor? Um Himmels willen, was treibt sie nun schon wieder?«

Jetzt sucht er den Flur nach Hinweisen auf Männerbesuch ab. Fritz’ Jacke hängt im Schrank versteckt, aber mein süßlich verzerrtes Lächeln sollte ihm auch so vermitteln, dass er danebenliegt.

»Claudi, ich bin absolut verzweifelt.«

»Wirklich, Liebes?«

Er lässt die Augen leicht wässrig werden, damit sein Blick verschwommen und gleichgültig wirkt, mit anderen Worten offen für Vertraulichkeiten. (»Wenn ich mich zu plump anstelle, bekomme ich kein Wort aus ihr heraus.«)

»Ja, siehst du das nicht?«

Oben lässt Fritz den Staubsaugerkopf fallen. Claudi blickt zur Deckenleiste empor und wartet geduldig. Als nichts weiter passiert, geht er das Risiko ein, das nächste Geräusch zu verpassen, und flötet:

»Was ist denn, Liebes?«

»Das Ding will wieder hier übernachten. Ich drehe noch durch!«

»Wer?«

»Der Kugelfisch. Die dunkle Gewitterwolke. Erinnerst du dich nicht? Ich habe die Haustür geöffnet und konnte nichts mehr sehen, weil er den Rahmen komplett ausgefüllt hat! Und Claudi« – jetzt rege ich mich wirklich auf – »wenn du nur hören könntest, wie er am Telefon Ähhh macht! Glaub mir, es würde dich in den absoluten Wahnsinn treiben. Man fragt etwas und muss zehn Minuten auf eine Antwort warten, und dann hebt er den Kopf und macht Ähhh. Unerträglich!« Claudi versteht sofort und beißt sich mitfühlend auf die Unterlippe. »Ja, das ist wirklich schrecklich.«

»Er schleicht auf Socken durchs Haus, um mich nicht zu stören, und weckt mich damit erst recht. Und dann muss ich um sieben Uhr aufstehen und die Alleinunterhalterin spielen, falls du weißt, was ich meine. Letztes Mal habe ich ihm einen Zettel unter der Tür durchgeschoben und ihm verboten, vor neun aus dem Zimmer zu kommen.«

»Und?«

»Er war furchtbar leise. Zwei Monate später hat er mir dann erzählt, er habe eine Privatstunde bei einem berühmten Meistersänger verpasst, für die er eigens angereist war.«

»Wie böse von dir, Min!«

»Ist es meine Schuld, wenn dieses hinterlistige Ungetüm unbedingt singen muss?«

»Nein, Liebes, aber du hast doch George. Er könnte dir helfen. Ihr müsst euch irgendetwas überlegen, damit der Kerl nicht wiederkommt.«

George ist der Mann, mit dem ich verheiratet bin. Alle, die ihn kennen, lieben ihn, außerdem ist er meistens auf dem Weg ins Britische Museum oder er kehrt gerade von dort zurück. Er bezahlt die Rechnungen und hat mich von Herzen gern, doch außerhalb unseres Hauses führt er, wie ich vermute, ein Doppel- oder Dreifachleben. Im Museum fungiert er ganz offiziell als Hüter der ungedruckten Bücher. Er und der Kugelfisch haben sich beim letzten Mal ziemlich gut verstanden, sie haben spätabends bei Hine-Cognac im Wohnzimmer gesessen und laut gelacht.

George neigt manchmal selbst zu einem Ähh, doch seins ist nicht annähernd so hochentwickelt wie das des Kugelfischs; er besitzt nicht den Kehlkopf dafür und knöpft sich das Hemd immer bis obenhin zu. Ich bin mir sehr sicher, dass er mir in diesem Fall weder beistehen kann noch will. Außerdem ist der Kugelfisch mein Kugelfisch – ja, das ist mein Geheimnis! Der Mann gehört mir, folglich habe ich allein das Recht, ihn zu beschimpfen. Es ist meine Aufgabe, ihn leiden zu lassen, und obwohl ich bereit bin, mich mit Claudi zu verbünden, werde ich zu George kein Wort sagen. Ich weiß ganz genau, was ich will.

Unterdessen probiert Claudi im Wohnzimmer einige Posen aus. Er setzt sich und arrangiert seine Knie. Er steht wieder auf, geht ein paar Schritte und rückt sich die Krawatte zurecht. Der Frack, natürlich! Fast hatte ich es vergessen.

»Du siehst heute wirklich sehr schick aus. Kommst du endlich unter die Haube?«

»Nein, Liebes. Ich trage meine alte Richterhose und die alte Richterkrawatte.«

»Und dein Kopf sieht heute auch sehr gut aus. Ein wirklich schöner, alter Richterkopf.«

»Danke, Liebes.« Claudi übertreibt es mit dem »Liebes«, aber immerhin lässt er es jedes Mal erfrischend anders klingen: abfällig, tolerant, bedrohlich.

Nun, da ich ihm ein halbes Kompliment gemacht habe, kann ich ihn um einen Gefallen bitten.

»Übrigens. Findest du mich attraktiv?«

»Ja, ich war immer der Meinung, dass du eine sehr attraktive Frau bist.« Seine Zunge stolpert über das Wort wie über ein Möbelstück: at-trak-tiv.

»Hm. Dass du ›der Meinung warst‹, gefällt mir nicht. Warum sprichst du in der Vergangenheit? Vielleicht kannst du dich künftig ein bisschen anschaulicher ausdrücken. Und bitte, lass das.« Claudi zeigt immer wieder an die Decke, über der es unablässig dröhnt. »Du hast Dreck unter den Nägeln. Du willst doch nicht etwa deine dreckigen Krallen in die Braut schlagen?«

»Ich kann nichts dafür! Ich gärtnere, meine Hände sauber zu halten ist absolut unmöglich. Nein, ich werde mich von der Braut fernhalten. Ich verspüre kein Verlangen, mich ihr zu nähern.« Er wendet sich ab, wie um eine liebestolle Braut abzuwehren. »Ach, habe ich dir eigentlich die Geschichte von dem kleinen Jungen erzählt, der einmal mitten im Gottesdienst mit durchdringender, glockenheller Stimme gefragt hat: ›Mami, wann schenkt er ihr den Samen?‹«

»Für meinen Geschmack wird derzeit viel zu viel Samen verschenkt. Was nur an den unausgegorenen Penguin-Büchern über Freud liegt.«

»Oho! Die kleine Puritanerin hat gesprochen. Während da oben sonst was vor sich geht! Ja, schon gut, wir nehmen einen Samen von jedem Lebemann. George Brown soll ihn segnen, und Barbara Castle setzt ihn ein.«

Er fängt an, durchs Wohnzimmer zu tänzeln. Ganz schön mitreißend, das muss ich zugeben. Ich rufe:

»Und nicht vergessen, für die Chemie brauchen wir einen Bunsenbrenner!«

»Na, so was. Jetzt will sie auch noch einen Bunsenbrenner!«

Plötzlich verstummt er so abrupt, als hätte jemand in seinem Kopf die Rollläden heruntergelassen.

»Und wie komme ich jetzt zur Cadogan Street?«

»Warte, ich schaue nach.« Schon blättere ich im Straßenverzeichnis mit der winzig kleinen Schrift. Seite dreiundsechzig, meine Londoner Lieblingsgegend, ist voller gelblicher Flecken und kurz davor, aus dem Buch herauszufallen. »Da ist sie ja. Du nimmst die Sloane Street und biegst dann rechts ab.«

»Ach ja, da gibt’s eine kleine Grünfläche, und dahinter geht es nach rechts. Aber wo soll ich parken?« Wieder ist er so todtraurig, als müsste er eine Kröte schlucken.

»Kopf hoch! Schließlich ist es keine Hinrichtung. Spätestens beim Sektempfang wirst du betrunken sein und eine nette Frau in Weiß und Rosa kennenlernen, das weißt du doch selbst.«

»Nein, werde ich nicht. Die Frauen dort sind alle so alt wie ich. Ich werde an irgendeiner kleinen, alten Frau hängenbleiben. O je. Bei Gott, manchmal wünsche ich mir wirklich, es gäbe einen schnellen Ausweg.« (Er spricht vom Leben.) »Meine Freunde liegen im Sterben, oder sie sind so langweilig geworden, dass ich nicht mehr mit ihnen reden kann.«

»Armer Claudi. Wie wäre es mit Tee im Ritz, im September?«

»Du bist ein Schatz! Eine gute Idee! Ich will seit Jahren da hin. Wusstest du, dass ich bis heute in keinem einzigen der großen Hotels war? Weder im Dorchester noch im Savoy oder im Claridge’s. Und es ist mir verdammt egal.«

»Aber das Ritz ist wunderbar. So proustisch.«

2

In einem der düsteren, braunen Flure vor dem Tonstudio treffe ich einen Bekannten. Er ist Musiker, und im Vorbeigehen tauschen wir Sätze aus, wie sie heutzutage Bemerkungen über das Wetter ersetzen:

»Hallo, Ron. Wie geht’s?«

»Ach, ich bin so sexuell frustriert wie immer.«

Im Studio tut sich nichts. Die Wände sind lückenlos mit Maschinen zugestellt, davor stehen weitere, bewegliche Maschinen auf Rollen. Das Licht ist so hell, dass die Leute nicht einmal mehr hässlich erscheinen. Alle sehen einfach so aus wie sie selbst. Fred beugt sich nachdenklich über einen kleinen Zettel, Jenny sitzt vor einer Instrumententafel voller Schalter und Knöpfe. Heute ist sie extrem zurechtgemacht: enger, sexy Pullover in Grün, eleganter brauner Lederrock mit Kratzern, die die Echtheit des Materials beweisen sollen, und dazu irgendwelchen Schmuck am Handgelenk, den ich nicht erkennen kann, weil sie ihn zu schnell schüttelt. Das schwarze, schulterlange Haar hat sie geglättet und mit glänzendem Sprühkleber fixiert. Vielleicht ist Fred deswegen so mürrisch. Wenn Jenny auf der Jagd ist, bestehen ihre Teepausen aus halbstündigen Telefonaten und das Mittagessen dauert ewig. Ihr langes, blauschwarzes Haar blendet mich, und sofort wandern meine Mundwinkel abwärts. Fast kann ich Claudis Stimme hören: »Mein Gott, für dieses blauschwarze Haar würde ich sterben!«

Jenny hebt den Kopf, lächelt aber nur andeutungsweise, weil sie erst zur Hälfte geschminkt ist und das Gesicht mehr oder weniger stillhalten möchte, bevor sie am Abend die fehlende Hälfte ergänzt. Hinter der Fassade ist sie lustig, temperamentvoll und clever.

Wir sind in der stickigen Studioluft eingeschlossen wie Sardinen in einer Dose. Die Wanduhr ist lautlos, doch die Zeiger bewegen sich schnell und ruckeln vorwärts wie ein anfahrender Zug. Ich komme selbstverständlich zu spät, deshalb hat jemand den silbernen Notenständer für mich aufgebaut. Ich ordne meine Unterlagen und höre auf, ein Mensch zu sein. Hier drinnen haben wir keine Zeit für Fehler; sie wären einfach zu teuer. Heute unterlegen wir ein Gedicht über Orestes mit elektronischer Musik. Das Gefühl soll ungefiltert erhalten bleiben, ohne Ironie und ohne Missklänge. Aber egal, wie gut wir uns anstellen, eins wissen wir jetzt schon: Fünfzig »Experten« (Menschen mit theoretischen Kenntnissen, die nie zur Anwendung kommen) werden das Resultat mit Eiswasser übergießen. In fünf Jahren werden sie es widerwillig und in zehn Jahren ganz ungeniert aus dem Archiv holen und unablässig als Beispiel zitieren, um aufstrebende Komponisten elektronischer Musik zu entmutigen.

Heute leiden wir alle an schlechter Laune und streiten uns. Fred hat einen seiner »Unsauberer Ton« Tage; was wir ihm auch vorspielen, er hört unsaubere Töne, und dann müssen wir immer wieder Pausen einlegen, damit er sie auf seiner Maschine reinigen kann. Wir geben eine Stimme hinzu und lauschen. Ein überdrehter Mann schmettert Kauderwelsch. Alle erschaudern; an diesem Ort ist die falsche Stimme nicht bloß eine Geschmacksverirrung, sie ist grotesk.

»Versuch es mal mit weniger Bass«, sagt Jenny.

Eine Maschine entfernt die Tiefen, woraufhin uns ein nölender Zwerg dasselbe Kauderwelsch entgegenschleudert. Ich muss lachen, werde aber von einem silbrigen Klirren an Jennys Handgelenk zurechtgewiesen (mein Gott, Claudi!).

»Höhen raus«, sagt Fred streng.

Die Höhen werden fachmännisch entfernt und der Hall wird verstärkt. Die Stimme klingt jetzt noch überdrehter, aber irgendwie glaubwürdig. Ganz offensichtlich bringt es wenig, das Vulgäre nur anzudeuten; man muss ganz und gar vulgär sein. In der Kunst und im Theater sollte man Geschmack nie mit »gutem Geschmack« verwechseln, denn der ist unflexibel und mittelmäßig. Wir behandeln die Stimme wie einen Brotlaib: Erst die obere Kruste runter, dann die untere, und anschließend schneiden wir sie in Scheiben … hoffentlich. Aber nein – Jenny lässt die Schultern hängen.

»Jenny!«

»Ich habe Durst.«

»Dann trink einen Schluck Wasser.«

»Auf Tee.«

Ihre Gesten sind lustlos. Gütiger Himmel, allein das Tempo, in dem die Kräfte sie verlassen, ist ein Vorwurf an den Schöpfer.

Eben noch hat sie munter auf den Schaltern herumgedrückt, aber jetzt schafft sie es kaum, den kleinen schwarzen Hebel umzulegen, an dem die Stromversorgung des Studios hängt.

»Hast du nicht gut geschlafen?« Ich möchte herausfinden, ob sie verkatert ist, denn nur so kann ich entscheiden, welchen Kurs ich einschlagen muss.

»Oh, doch! Wie ein Stein.«

Nun ist es an mir, die Schultern hängen zu lassen.

»O je, du Glückliche. Ich schlafe praktisch gar nicht mehr. Dabei habe ich es schon mit Hatha-Yoga, Eiswasser trinken und Krieg und Frieden lesen versucht. Vergeblich.«

»Wirklich? Ich habe ganz wunderbar geschlafen. Ich bin mitten in Janáčeks Sinfonietta eingedöst« – affektierte Pute – »und habe so tief und fest geschlafen, dass ich mich kaum bewegt habe. Ich habe mir nicht einmal die Mühe gemacht zu träumen!«

Eine kalte Depression sinkt auf mich nieder. Ist es nicht merkwürdig, dass die anderen, sobald man eine Weile schlecht schläft, immerzu ihren Schlaf preisen? Ihre Stimmen vibrieren förmlich vor Energie.

»Und dann bin ich in einer so bequemen Haltung aufgewacht! Keine Ahnung, wie ich da hineingefunden habe.«

Tja, dann sollte es für eine weitere Stunde Arbeit reichen. Selten habe ich etwas so Selbstgefälliges gehört. Jenny sitzt da, als hätte sie gerade ein Ei gelegt. Ich bin fest entschlossen, den Moment zu nutzen. Wir arbeiten weiter, und ich rede mich am Notenständer immer wieder kurz in Rage, um die Aufmerksamkeit wachzuhalten. So gehe ich meistens vor, wenn ich Überblendungen oder Feedback brauche. Angeblich sind das meine Schwächen, deshalb bin ich gezwungen, in den Zeugenstand zu treten und mich für sie starkzumachen.

»Aber Fred, es passt doch perfekt, wenn im Hintergrund ein gehauchtes ›Orestes‹ erklingt.«