Der lange Weg zum Krieg - Günter Verheugen - E-Book

Der lange Weg zum Krieg E-Book

Günter Verheugen

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Beschreibung

Seit Februar 2022 tobt der Ukraine-Krieg, ein Ende ist nicht abzusehen, im Gegenteil: Es wird aufgerüstet statt abgerüstet, geschossen statt verhandelt. Mit Günter Verheugen und Petra Erler beziehen erstmals zwei ausgewiesene außenpolitische Experten Stellung – und sie legen eine fulminante Anklage vor: Ohne das Versagen der deutschen und der EU-Außenpolitik wäre es zu dieser verheerenden Eskalation nicht gekommen.
In ihrer ebenso klugen wie scharfen Analyse der Vorgeschichte des Ukraine-Krieges wird deutlich, wie seit Anfang der 90er Jahre die Axt an die Wurzeln der bis dahin so einzigartig erfolgreichen Entspannungspolitik gelegt wurde. Zug um Zug sind Konfrontation und Machtstreben an die Stelle von Verständigung getreten, wurde ein neuer Kalter Krieg bewusst ebenso in Kauf genommen wie das Risiko eines »heißen Krieges«, der jederzeit zum Flächenbrand werden kann. Doch es gibt Lösungen. In einem leidenschaftlichen Plädoyer fordern die Autoren: Wir müssen dringend zurückkehren zu Dialogbereitschaft, vertrauensbildenden Maßnahmen, einer neuen Entspannungspolitik!

»Dieses Buch legt die Irrtümer, aber auch die verborgenen Absichten westlicher (und deutscher) Außenpolitik offen. In ihrer Fakten basierten Analyse schildern die Autoren, dass die Weichen für den Krieg in der Ukraine lange vor der völkerrechtswidrigen militärischen Intervention Russlands gestellt wurden. Sie liefern den Nachweis, dass dieser verheerende Krieg nicht alternativlos gewesen ist. Eine unbequeme und streitbare, aber notwendige Lektüre gegen den Mainstream der deutschen Debatte.« Richard Kiessler (Publizist, Chefredakteur a.D.)

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Seitenzahl: 406

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Zum Buch:

Warum ist es zum Krieg gekommen – und welche Wege führen wieder hinaus?

Im Krieg um die Ukraine explodiert ein Konflikt, dessen Wurzeln weit zurückreichen und bei dem es um die künftige Weltordnung geht: Während die USA alles daransetzen, ihre globale Führungsrolle um jeden Preis zu behaupten, reklamieren andere Staaten mehr Teilhabe. Droht der Welt ein hochriskantes Kräftemessen mit ungewissem Ausgang?

Günter Verheugen und Petra Erler, langjährige ausgewiesene außenpolitische Experten, zeigen anhand der Geschichte des Ost-West-Verhältnisses, welche Interessen hier am Werk sind, und hinterfragen die vermeintliche Unausweichlichkeit der Entwicklung zum Krieg. Und sie werfen die Frage auf: Wird der Westen die Kraft zu einer neuen Entspannungspolitik finden? Die Zeit drängt, denn der Krieg trägt die Eskalation in sich. Mit jedem Tag wächst die Gefahr, dass er ganz Europa verschlingt.

»Wenn in Europa erneut ein Krieg ausbricht, dann ist es dringend notwendig, dass die Politik die Gefühle zurückstellt und sich nicht blinden Leidenschaften ergibt. Wir erleben aber genau das. Es wurde nicht innegehalten, nicht kühl hinterfragt, wie es so weit hatte kommen können, woran es lag, dass alles Vertrauen in Scherben lag, und was zu tun wäre, um diesen Krieg schnellstmöglich zu beenden.«

Ein leidenschaftliches Plädoyer für Dialog- und Verständigungsbereitschaft, Abrüstung und Frieden – kurzum: Entspannungspolitik!

Zu den Autoren:

Günter Verheugen (*1944) hatte in der FDP und später in der SPD zahlreiche Führungspositionen inne. Von 1983 bis 1998 war er Mitglied des Auswärtigen Ausschusses des Deutschen Bundestages, ab 1998 bis Mitte September 1999 Staatsminister im Auswärtigen Amt. Anschließend ging er als EU-Kommissar für EU-Erweiterung (und ab 2002 auch: Europäische Nachbarschaftspolitik) nach Brüssel; von 2004 bis 2010 war er Vizepräsident der EU-Kommission und zuständig für Unternehmen und Industrie. Ab 2007 war er europäischer Co-Vorsitzender des Transatlantischen Wirtschaftsrats. Er ist Honorarprofessor der Europa-Universität Viadrina, Autor und Publizist.

Petra Erler (*1958) promovierte am Institut für Internationale Beziehungen an der Akademie für Staat und Recht in Potsdam. Nach der Volkskammerwahl 1990 war sie zunächst Beraterin und Mitglied des Planungsstabs von Außenminister Markus Meckel, wurde dann zur Staatssekretärin im Amt des Ministerpräsidenten de Maizière berufen, zuständig für EG-Fragen. Nach der Deutschen Einigung arbeitete sie ab 1991 als Referatsleiterin für EG-Politik an der Vertretung des Landes Brandenburg in Bonn. 1999 wurde sie Mitglied des engsten Mitarbeiterkreises (»Kabinett«) von EU-Kommissar Günter Verheugen, den sie zwischen 2006 und 2010 leitete (»Kabinettschefin«). Sie ist seit 2010 Geschäftsführerin eines Strategieberatungsunternehmens in Potsdam und außerdem publizistisch tätig.

Günter Verheugen · Petra Erler

Der lange Wegzum Krieg

Russland, die Ukraine und der Westen – Eskalation statt Entspannung

wilhelm Heyne Verlag

München

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Originalausgabe 2024

Copyright © 2024 by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Sophie Dahmen

Umschlaggestaltung: wilhelm typo grafisch unter Verwendung eines Fotos von: Andy Spyra/laif (Ostukraine 25.10.2022, nahe der Front bei Kupjansk)

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN: 978-3-641-32010-2V001

www.heyne.de

Inhalt

Vorwort

Kapitel 1

Ein Stellvertreterkrieg als gute Investition

Europäische Friedensordnung oder nur Pax Americana?

Sanktionen: Der Plan der wirtschaftlichen Vernichtung Russlands …

… und die Bumerang-Effekte für Deutschland und die Welt

Einen schnellen Frieden wollte der Westen nicht

Ein Stellvertreterkrieg, der die Ukraine zermürbt

Die Ukraine wünscht sich den Kriegseintritt der Nato

Kapitel 2

Schritte in den Krieg

Gründung der Nato und Kalter Krieg

Eine Weltmacht auf dem Zenit: Die USA nach dem Zerfall der Sowjetunion

Auf Expansionskurs: Die erste Nato-Osterweiterung

Der Jugoslawien-Krieg als Testfall für die Nato

Russlands Versuch einer Annäherung an die Nato …

… bleibt vergebliche Mühe

Der Russland-Georgien-Krieg

Kapitel 3

Das Tauziehen um die Ukraine – die Lunte brennt

Der Euro-Maidan und seine Auswüchse

Im Osten gärt es: Krim-Annexion und Unruhen im Donbass

Präsident Selenskyjs schwieriges Erbe: Das Minsk-II-Abkommen

Der Erlass zur Rückgewinnung der Krim

Kapitel 4

Der endlose Kalte Krieg oder Wie der Westen Putin erschuf

Hörten die USA je auf, in Russland einen Feind zu sehen?

Die Systemtransformation – ein beschwerlicher Weg ohne Blaupause

Der russische Weg verläuft anders, als der Westen es vorsieht

Russland behauptet seinen Platz auf dem internationalen Parkett

Was wir dürfen, dürft ihr noch lange nicht: Zur westlichen Doppelmoral

Der Fall Skripal: plausible versus wissenschaftliche Erklärung

Die US-Wahl 2016: Gab es russische Wahlbeeinflussung?

Kapitel 5

Die politische Auflösung der Sowjetunion und ihr gefährliches Erbe

Ein Vielvölkerstaat zerbricht – alte Probleme in neuen Grenzen

Die Abkommen von Minsk und Alma-Ata: Erste Antworten und viele Fragen

Die Krim: Von Beginn an ein Zankapfel

Souveräne Staaten, aber in Abhängigkeit voneinander

Polarisierung trotz Freundschaftsvertrag: Die Orangene Revolution und die Wahl 2004

Kapitel 6

Eine Reise ins Ungewisse: Die EU und die Ukraine

Hilfe auf Distanz: Die EU und die postsowjetischen Staaten

Durch die Erweiterung der EU wendet sich der Blick nach Osten

Die EU-Mitgliedschaft der Ukraine rückt in weite Ferne

Schwanken zwischen West und Ost: Der Gipfel von Vilnius 2013

Euro-Maidan und Krim-Annexion: Die Ukraine kommt nicht zur Ruhe

Abwärtsspirale der Ukraine: Die EU-Assoziierung steht unter schlechten Vorzeichen

Kapitel 7

Vom Wandel durch Annäherung zur Zeitenwende

Die Hethiter – Ein antikes Beispiel für friedliche Koexistenz

Die spaltende Kraft der Ideologien

An Deutschland scheiden sich die Geister

Die Nichtweiterverbreitung von Atomwaffen ist ein erster Schritt zur Entspannung

Annäherung auch in Deutschland und Europa

Neue Konfrontationen: Syrien, Chemiewaffen und die Ukraine

Welche Hoffnungen gibt es für die Beziehungen zwischen Russland und dem Westen?

Kapitel 8

Eine multipolare Weltordnung

Gründung der Vereinten Nationen: Der Traum von einer friedlichen Welt

Primus inter pares: Die USA werden zur Hegemonialmacht

Die Suche nach Verbündeten: Was zählt in den internationalen Beziehungen?

Eine unterschätzte Entwicklung: Von RIC zu BRIC

Das neue Selbstbewusstsein der »restlichen« Welt

In was für einer Welt wollen wir leben?

Kapitel 9

Zur Rolle Deutschlands

Das Unternehmen Barbarossa: Deutscher Vernichtungskrieg im Osten

Die deutsche Erinnerung ist selektiv – das hat Folgen

Deutsche Einigung durch Diplomatie und Vertrauen

Die vertane Chance eines europäischen Sicherheitsbündnisses

Krieg in Europa: Nicht ohne Vorgeschichte, nicht alternativlos

Deutschland sollte seine Macht in der EU für den Frieden nutzen

Dank

Anhang

Anmerkungen

Vorwort

In den vergangenen Jahren verfolgten wir mit wachsender Sorge, wie sich das Verhältnis zwischen dem Westen und Russland immer weiter verschlechterte, und wir haben vor dieser gefährlichen Entwicklung auch immer wieder gewarnt. So wie im vorliegenden Buch beschäftigte uns immer die deutsche bzw. westliche Politik. Denn Deutschland ist unser Zuhause, hier haben wir politisches Mitspracherecht und Einflussmöglichkeiten.

Die Entscheidung Russlands zu einem völkerrechtswidrigen Krieg hat uns, wie wohl die allermeisten, tief betroffen. Wir haben ihn von Anfang an ausdrücklich verurteilt. Nicht, weil es sich um eine Aggression auf europäischem Boden handelte, sondern weil wir jede völkerrechtswidrige Kriegshandlung ablehnen. Für uns ist die Charta der Vereinten Nationen das wichtigste Regelwerk der Weltgemeinschaft und Frieden nur dann möglich, wenn die Sprache des Rechts herrscht und nicht die Sprache der militärischen Macht.

Aber wir haben uns nicht in Hass, Wut und Trauer verloren. Wenn in Europa erneut ein Krieg ausbricht, dann ist es dringend notwendig, dass die Politik die Gefühle zurückstellt und sich nicht blinden Leidenschaften ergibt. Wir erlebten aber genau das. Es wurde nicht innegehalten, nicht kühl hinterfragt, wie es so weit hatte kommen können, woran es lag, dass alles Vertrauen in Scherben lag, und was zu tun wäre, um diesen Krieg schnellstmöglich zu beenden.

Stattdessen nahmen wir einen massiven politischen Drang wahr, Russland nunmehr »zu ruinieren«, so als hätte Russland ein Tabu gebrochen, das sonst niemand brach. Es war so, als hätte es alle sonstigen Kriege und Völkerrechtsbrüche nach 1990 nie gegeben, als wäre erst wegen Russland alles anders geworden. Die ausgerufene »Zeitenwende« brach mit allen Prinzipien, die bisher deutsche Außenpolitik leiteten. Es bestürzte uns, wie bereitwillig sich auch unser Land in diesen Krieg hineinwarf, der alle Züge eines Stellvertreterkriegs aufweist. Die vielen ukrainischen Flüchtlinge, die in unser Land kamen, erfuhren zu Recht größtmögliche Solidarität, aber wo blieben die deutschen Aktionen, damit sie schnellstmöglich wieder in die Heimat, die möglichst unversehrt sein sollte, zurückkehren konnten? Wir haben einen deutschen Willen zu einem verhandelten Friedensschluss nur bis März 2022 wahrgenommen.

Im Frühling 2022 veränderte der Krieg sein Gesicht, und seitdem sind wir Zeugen anhaltender militärischer Eskalation. Mit der Strategie »Siegfrieden«, die sich die Nato auf die Fahnen schrieb, wurde alles, was in der Ukraine passiert, allein der militärischen Auseinandersetzung überlassen. Dafür wurden und werden Waffen geliefert, Soldaten ausgebildet, das Überleben des ukrainischen Staates finanziert. Mit den Wirtschaftssanktionen gegen Russland wurden weltweit negative Effekte hervorgerufen und unser Land sukzessive in die Rezession gestoßen. Umgekehrt wurden wir Zeugen, wie aus einer ursprünglichen Angriffsarmee, die – russische Truppen und Donbasskämpfer zusammengenommen – maximal 190000 Mann stark war, ein immer größer werdendes Heer entstand, die Kriegsmaschinerie in Russland anlief. Wir halten das für eine fatale Entwicklung.

Sie wurde begleitet von einem falschen Kriegsnarrativ, einem gefährlichen Kriegsziel und einer Propagandawelle, die jeden, der diesen Krieg anhalten wollte, denunziert. Noch nie hatten wir eine solche Verunglimpfung des Willens zu einem verhandelten Frieden erlebt. Eine beängstigende Einheitsfront von Meinungsführern und Meinungsmachern in Politik, Medien und Gesellschaft verweigert sich jedem Diskurs, sabotiert ihn geradezu. Wieso waren diejenigen, die einen Krieg beenden wollen, plötzlich »Putinversteher«, »nützliche Idioten«, »Handlanger Russlands« oder »Lumpenpazifisten«?

Uns zeigte das allenfalls, dass wir in einem Stellvertreterkrieg verfangen sind, der Westen mithilfe der Ukraine in dem einen Schützengraben, Russland und der Donbass/die Krim im anderen und dass in so einer Lage bedingungsloser Gehorsam gefordert wird, bis zur letzten militärischen Schlacht.

Diesen Gehorsam verweigern wir, aus Sorge um die Zukunft Deutschlands, der Europäischen Union, der Ukraine und ja, auch aus Sorge um den europäischen Kontinent insgesamt. Wir wollen dem Frieden dienen und glauben, dass wir einen Beitrag leisten können, indem wir über die Zusammenhänge und Hintergründe informieren, die zum aktuellen Krieg führten, so gut wir es vermögen. Wer die Ursachen einer Entwicklung nicht kennt, kann auch ihre Folgen nicht überschauen und korrigierend eingreifen.

Wir tun das auf der Grundlage frei zugänglicher Quellen und eigener jahrzehntelanger Erfahrungen auf dem Gebiet der Europapolitik und der internationalen Beziehungen.

Wir bieten in diesem Buch Leserinnen und Lesern Fakten. Wir stellen Zusammenhänge und Entwicklungen dar. Wir wollen zum Denken anregen und zu einer sachlichen Diskussion darüber gelangen, wie dieser lange Weg zum Krieg gegangen wurde. Wir wollen, dass klarer wird, dass fast alles auch mit Entscheidungen und Entwicklungen in unserem Land zusammenhängt.

Wir sind überzeugt, dass unsere Demokratie geschwächt wird, wenn eine Philosophie des »betreuten« Denkens vorherrscht. Das ist der Fall, wenn Politik, Medien oder Experten von oben herab erklären und es Bürgerinnen und Bürgern ersparen, sich mit Fakten auseinandersetzen zu müssen, indem sie diese verschweigen oder gar verfälscht und verkürzt darstellen. Das jüngste eklatante Beispiel dafür war der Umgang mit dem Interview, das Tucker Carlson mit dem russischen Präsidenten im Februar 2024 führte. Während es vorher beinahe zum Landesverrat erklärt worden war, dass dieser Journalist mit Putin sprach, lautete der anschließende Tenor entweder, es wäre alles absurd oder es sei nichts zu hören gewesen, was Menschen interessieren könnte, alles typische Putin-Lügen, mit denen sich niemand beschweren müsse. Das war im konkreten Fall falsch, ist aber auch prinzipiell falsch. Gerade dem erklärten Gegner sollte man immer sehr genau zuhören.

Dieses Prinzip ist über die Jahre in Verruf geraten. Wer suggeriert, dass die andere Seite immer nur lügt oder sich nur Halbsätze herauspickt, die ins eigene Weltbild passen, beraubt sich selbst der Möglichkeit, die Realität komplett wahrzunehmen. Die Realität fügt sich nicht nur aus der Wahrnehmung der eigenen Lage und der eigenen Sichtweise zusammen, sondern besteht immer auch aus ihrem Gegenstück beim anderen, gleichgültig, ob der andere nun ein Freund, ein Herausforderer oder Gegner ist, oder ob er gar als unversöhnlicher Feind wahrgenommen wird. Jede Ehe, in der wechselseitiges Verstehen stirbt und eine Seite darauf pocht, alles richtig zu sehen und richtig zu machen und beim anderen nur noch hört, was das eigene Vorurteil bestätigt, scheitert. In der sogenannten »großen« Politik ist es nicht anders.

In 9 Kapiteln befassen wir uns mit zentralen Thesen, die heute auch in unserem Land als unerschütterliche »Wahrheiten« gelten sollen. In ihrem Zentrum steht die Behauptung, dass der Ukraine-Krieg ein anlassloser Überfall des aggressiven Russlands auf ein friedvolles demokratisches Land ist, getrieben von dessen imperialen Gelüsten und Vernichtungswut. Damit versuche es, seine verlorene Großmachtstellung zurückzugewinnen. In einer reichlich grobschlächtigen Version lautet die Erzählung, der Krieg sei das Ergebnis einer für Russland seit je charakteristischen und brutalen Gewaltpolitik. In jüngerer Zeit heißt es, wenn Russland die Ukraine besiegen würde, werde es weitermarschieren und die Nato angreifen. Damit wird eine Zwangsläufigkeit suggeriert, in der jeglicher geschichtliche Zusammenhang geleugnet und alles auf behauptete russische Eigenschaften reduziert wird. Der Krieg Russlands gegen die Kiewer Zentralregierung hat aber eine Vorgeschichte, die sich über Jahrzehnte erstreckt. Diese Vorgeschichte handelt von der Entwicklung und dem letztendlichen Kollaps der Ost-West-Beziehungen. Wir erzählen sie.

Jeder kennt den Spruch, dass in der Liebe und im Krieg alles erlaubt ist und dass im Krieg als Erstes die Wahrheit stirbt. Das erleben wir nun seit mehr als zwei Jahren. War es so, wie es unmittelbar nach Kriegsbeginn von allen Seiten tönte, dass der Westen Russland gegenüber eine viel zu freundliche Politik betrieben hätte, dass er leider so naiv gewesen sei, Russland zu vertrauen? Wir gehen auch dieser Frage nach und wir zeigen, dass solche Behauptungen Kriegslügen sind. In einer zentralen Frage der internationalen Beziehungen, nämlich bezüglich der Sicherheit von Staaten, wurden legitime russische Interessen missachtet, über Jahrzehnte. Die militärische und politische Expansion verlief von West nach Ost und nicht von Ost nach West. Wir kennen die These, dass die Nato niemanden bedrohe. Manchmal wird sie sogar als rein politische Struktur porträtiert, allein der Freiheit und der Demokratie verpflichtet. Aber die Nato ist eine militärische Allianz, und ihre militärische Präsenz ist für alle, die ihr nicht angehören, ein Sicherheitsproblem. Das kann man versuchen wegzureden, aber diese Wahrnehmung existiert gleichwohl in der Realität, weil auf der ganzen Welt jeder einzelne Staat selbst definiert, was er als Sicherheitsproblem ansieht. Einvernehmen kann nur geschaffen werden, indem man sich über die legitimen Sicherheitsinteressen verständigt und an einer Struktur arbeitet, die allen Seiten genügt. Gerade das aber geschah und geschieht nicht. Deshalb befassen wir uns im Buch auch mit Erfahrungen aus der Entspannungspolitik und mit Möglichkeiten einer internationalen Friedensordnung.

Für uns ist das nicht nur ein Ost-West-Problem. Wir sind überzeugt, dass die Menschheit nur durch friedliche Zusammenarbeit das Ende des 21. Jahrhunderts als Zivilisation erreichen kann. Die Gefährdungen sind höher denn je, ob nun durch den Klimawandel, das atomare Potential oder die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich. Immer mehr Staaten verlangen eine gleichberechtigte Mitsprache in den internationalen Beziehungen, und sie vereinen die Bevölkerungsmehrheit auf unserem Planeten. Einen anderen aber haben wir nicht. Das mag als Binsenweisheit erscheinen, doch daraus ergibt sich eine zwingende Schlussfolgerung: Selbst wenn man in Russland den ewigen Feind sieht, so wie viele das heute tun, es bleibt Teil des europäischen Kontinents, es geht nirgendwo anders hin. Ein Zerstörungswille, der sich auf Russland richtet, zerstört auch uns. Er führt zwingend in die nukleare Katastrophe, denn das ist der einzige Fall, bei dem die nukleare Doktrin Russlands greift: Steht die Existenz des Landes auf dem Spiel, ist der Atomwaffeneinsatz erlaubt. Was in der Welt wäre es wert, herausfinden zu wollen, ob das nur eine leere Drohgebärde ist? Auch damit beschäftigen wir uns.

Seit Jahren wird uns eingetrichtert, dass Putin der Teufel in Menschengestalt sei, das elementar Böse, das dem Westen nur übel will. Er ist an allem schuld. So werden wir bombardiert mit »Enthüllungen« über Putins »Netz«, seinen angeblichen Reichtum, seine Herkunft, seinen Lebenswandel, Gesundheitszustand und vor allem über seinen Charakter. Er sei ein Mörder, der alles umbringt, was ihm in die Quere kommt. Die persönliche Diffamierung von Gegnern ist keine aktuelle Erfindung. Aber noch nicht einmal im Kalten Krieg kam es in der Darstellung des Gegners zu solch schweren Entgleisungen, wie sie jetzt vom Westen vorangetrieben und von der Ukraine souffliert wird.

Teil der aktuellen Kriegsführungsstrategie des Westens ist auch die Absicht, Putin zu stürzen. Wir wollen Putin in unserem Buch weder weißwaschen, noch unterstützen wir die Absicht eines westlichen regime change in Russland. Darüber mögen die Völker Russlands entscheiden.

Gewiss ist Putin der mächtigste Faktor in der russischen Politik und Russland weit davon entfernt, eine »lupenreine« Demokratie zu sein. Es ist uns jedoch viel zu billig, einen Krieg auf den Charakter eines einzigen Mannes bzw. auf Allgemeinplätze wie ein imperiales Russland, das immer schon aggressiv war, zurückzuführen. Wir bevorzugen Fakten. Wir beobachten, dass die Länder des globalen Südens, der »Rest der Welt«, wie wir ihn gerne nennen, die Dinge sehr viel rationaler betrachten und der eigentliche »Rest der Welt«, die westliche Allianz, sich in einem Feindbild verrannt hat. Feindbilder aber sind die größte Hürde auf dem Weg der Schaffung zuverlässiger Sicherheit.

Der Ukraine-Krieg ist kein Systemkonflikt zwischen Demokratien und Autokratie. Denn Russland ist bei Weitem nicht das einzige Land, in dem es keine Demokratie nach westlichen Standards gibt. Es ist aber seit Jahren, wenn nicht Jahrzehnten ein strikter Gegner einer Weltordnung, die von den USA dominiert wird. Doch auch damit steht das Land nicht allein. Die Zeit der unipolaren Herrschaft der USA hat der Welt nicht viel Gutes beschert. Sie brachte Kriege, Zerstörungen, millionenfachen Tod und zig Millionen Vertriebene und Kriegsflüchtlinge. Es hätte alles dafürgesprochen, dass die EU, angeführt von Frankreich und Deutschland, dem ihre eigenen integrativen Erfahrungen global entgegensetzt. So ist es nicht gekommen. Heute scheint es Deutschland, im weiteren Sinn die EU, vorzuziehen, als Vasall der USA deren Führungsrolle zu verteidigen. In den USA geht man von der Annahme aus, dass Anarchie und Chaos in der Welt herrschen würden, wenn sie nicht führen. Das wird als westliche Demokratie- und Werteverteidigung betrachtet. Tatsächlich gilt jedes Land als »aggressiv«, das der globalen Vormachtrolle der USA bedrohlich wird. Zuallererst gilt das für den weltpolitischen Giganten China. Deshalb wird im Ukraine-Krieg der Sieg über Russland auch als notwendige Abschreckung gegenüber China dargestellt: Gelingt er nicht, würde China noch aggressiver werden und nach der Weltherrschaft greifen. Die Schlacht um die künftige Rolle der USA wird auf dem Rücken des Landes ausgetragen, das die Armee des Westens stellt, der Ukraine. Dass sie dabei buchstäblich vor die Hunde geht, scheint den Hegemonialstrategen völlig gleichgültig.

Dass der Plan trotz allem nicht aufgeht, zeigt sich in der Realität. Wir wissen nicht, wie sich die Lage in der Ukraine zum Erscheinungszeitpunkt des Buches im Einzelnen entwickelt haben wird, aber wir wissen, wie sich die westliche Begleitmusik entwickelte: Aus dem Russland, das bald zerstört am Boden liegen würde, mit einer zerrütteten Wirtschaft und Währung, mit immer weniger werdenden, völlig untauglichen Waffen und einer demoralisierten Armee, ist nun ein Russland geworden, das demnächst die Nato bedroht. Aus der siegreichen Ukraine, die in einer erfolgreichen Gegenoffensive vorangeht und die Russen vertrieben haben wird, ist nun ein Land geworden, das ohne westliche Hilfen nicht bestehen kann. Die militärische Dominanz Russlands auf dem Schlachtfeld stellen inzwischen die wenigsten in Abrede.

Aber noch immer wird an der Schlussfolgerung festgehalten, dass die Idee eines Konzeptes gemeinsamer Sicherheit verfehlt war. Das ist die falscheste Behauptung von allen. Wir sind nicht da, wo wir jetzt stehen, weil wir gemeinsame Sicherheit mit Russland schaffen wollten, sondern weil ein gesamteuropäisches Sicherheitssystem, das im Zuge der deutschen Einigung als Option verabredet worden war, nicht verwirklicht wurde. Die Entspannung ist kein gescheitertes politisches Konzept. Gescheitert ist vielmehr eine Politik, die glaubt, auf Entspannung verzichten zu können und es notfalls auch auf einen Krieg ankommen zu lassen.

Der Ukraine-Krieg kann niemanden kaltlassen. Keiner ist nur unbeteiligter Zuschauer eines Dramas, das sich aktuell gut 2000 Kilometer östlich von Berlin abspielt. Und wir fragen, wo Werte und Moral bleiben, wenn eine Politik fortgesetzt wird, die nicht nur auf Kriegsverlängerung hinausläuft, sondern auch das Risiko in Kauf nimmt, die Eskalation bis hin zum Atomkrieg zu betreiben. Wir sind überzeugt, dass das nicht dem Friedensgebot unserer Verfassung entspricht. Nur Frieden rettet Leben, Friedensverweigerung aber begründet Schuld. Wir plädieren deshalb mit diesem Buch auch dafür, nicht durch Aufrüstung noch mehr Krieg vorzubereiten, sondern endlich damit anzufangen, dauerhaften Frieden zu suchen. Das jedoch geht nur zusammen mit Russland, ob uns das nun passt oder nicht.

Kapitel 1

Ein Stellvertreterkrieg als gute Investition

»Krieg ist kein isolierter Akt« [...,] »der urplötzlich entstünde und nicht mit dem früheren

Staatsleben zusammenhinge«. […] »Er ist ein ernstes Mittel für einen ernsten Zweck.« […]

»Der Krieg […] geht immer von einem politischen Zustande aus und wird nur durch ein politisches Motiv hervorgerufen. Er ist ein politischer Akt.«

Carl von Clausewitz, Vom Kriege1

Ein Krieg kommt nicht über uns wie ein Naturereignis, nicht in unserem Zeitalter. Früher mussten die Menschen jederzeit damit rechnen, dass eine der großen Plagen – Krieg, Hungersnot oder Seuchen, oft genug auch alle drei zugleich – sie heimsuchten. Es gab wenig, was sie dagegen tun konnten. Aber räuberische Barbarenhorden, die wie aus dem Nichts auftauchen und alles, was ihnen in den Weg kommt, morden und niederbrennen, gibt es nicht mehr. Oder doch?

Der dominierenden westlichen Erzählung über den Kriegsausbruch in der Ukraine zufolge, ist dieser Krieg genau das: ein räuberischer Eroberungsfeldzug der Russen, der wie ein brutaler Mongolensturm über die Ukraine hinwegfegt. Aggressiv und völlig unprovoziert handelt der barbarische Russe dabei und zertrümmert die jahrzehntelange europäische Friedensordnung.

Und warum? Es wird behauptet, dass sich Russland nicht mit dem Verlust des einstigen Imperiums der Sowjetunion abfindet und angetreten ist, nunmehr alles, was es verloren hat, mit Gewalt wieder an sich zu reißen. Nach der Eroberung der Ukraine wären als Nächste die baltischen Staaten und Moldawien an der Reihe. Danach würde Polen überrannt. Von dort ist es nur noch ein Katzensprung über Oder und Neiße und schon wäre Berlin im Visier russischer Geschütze. Nach dieser Erzählung ist alles, was wir erleben, Ausdruck des berühmten »Kampfs der Kulturen«: Eine aggressive Autokratie bedroht den zivilisierten, friedliebenden Westen, weil ein auf Korruption, Knute und Mord gestütztes russisches Regime nicht mehr tolerieren kann, dass sich in seiner Nachbarschaft lebendige Demokratien, vorbildliche Rechtsstaaten und blühende Marktwirtschaften entwickeln. Denn diese würden die eigene Machtbasis gefährden. Überdies seien alle westlichen Demokratien gefährdet. Nachdem Russland jahrelang mit Mitteln der verdeckten Kriegsführung seine Ziele zu erreichen versucht habe, folge nun sein militärisches Zerstörungswerk.

In dieser Erzählung ist die Ukraine Schild und Schwert von Freiheit und Frieden. Verbunden ist das mit Selbstentlastung: So viele Jahre hätte sich westliche Politik mit Russland größte Mühe gegeben, Hände ausgestreckt, Verständnis gezeigt und alle möglichen Brücken gebaut, im naiven Glauben, so Frieden bewahren zu können – was sich unglücklicherweise als vergeblich herausstellte.

Damit nun aber die westliche Öffentlichkeit nicht völlig in Angst und Schrecken erstarrt, wird versichert, dass jeder Millimeter Nato-Territorium tabu ist und tabu bleibt für das aggressive Russland. Die Nato ist stark, die Beistandsgarantie ungebrochen und das Prinzip der atomaren Abschreckung wirksam.

Das ist die offizielle Erzählung, die hierzulande dominiert und die mit nachgerade religiöser Hingabe gepredigt wird. Fast alles an ihr ist falsch, verdreht, vereinfacht, aus dem Kontext gerissen, ahistorisch.

Eine wichtige Ausnahme: Russland startete unbestreitbar am 24. Februar 2022 einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg. Nach der UN-Charta ist die Androhung oder Anwendung von Gewalt schlicht verboten. Darum darf man sich nicht herumlügen und die Generalversammlung der Vereinten Nationen hat den Völkerrechtsbruch auch wiederholt und mit großer Stimmenmehrheit bestätigt.

Daraus wird allerdings hierzulande geschlussfolgert, dass sich Russland mit diesem Aggressionsakt selbst aus der Gemeinschaft der Völker herauskatapultiert habe, militärisch vollständig besiegt und daran gehindert werden müsse, noch einmal zur Aggression fähig zu sein.

Zunächst ist unbestreitbar, dass Russland nicht als einziges Land das Kainsmal eines Aggressors und Völkerrechtsbrechers auf der Stirn trägt. Im Gegenteil, die, die heute am lautesten nach internationaler Ächtung und dauerhafter Schwächung Russlands schreien, sind mehrfach Gezeichnete, haben doch allen voran die USA Kriege aus vorgeschobenen Gründen und mit schrecklichen Folgen geführt. Das wiederum ist ihnen völlig entfallen. Sie haben sich das eigene Schuldigwerden längst vergeben, in der Hoffnung, das Gedächtnis der Welt reiche nicht weiter als das einer Eintagsfliege.

Möglicherweise, so lautet das Ergebnis ihrer Selbstbetrachtung, hätte man einige »Fehler« gemacht, »unnötige Kriege« geführt, so wie das einer der Granden des sicherheitspolitischen Establishments der USA, Graham Allison, 2023 formulierte. Er fügte später hinzu, dass das US-Verständnis, sich selbst für eine »außergewöhnliche« Nation zu halten, bedeute, dass die USA die Regeln machen, an die sich alle anderen zu halten haben, nur nicht die USA.2 Wer die Regeln macht und durchsetzt, beziehungsweise sich selbst davon befreit, muss für die passenden Geschichten sorgen, darunter solche, die westliche Aggressionen und Kriegsverbrechen wie bedauerliche Kleinigkeiten erscheinen lassen, wie einen Moment der Verirrung, bevor man wieder den rechten Pfad der Tugend erklomm, und daher alles Recht hat, vom hohen Thron des moralisch Überlegenen zu richten.

Es wird erwartet, dass die Öffentlichkeit die damit verbundene Wirklichkeitsverzerrung schluckt. Das gelingt im Großen und Ganzen auch, solange man nur den westlichen Öffentlichkeitsraum betrachtet. Der globale Süden lässt solche Geschichtsklitterung und Heuchelei nicht mehr durchgehen. Er repräsentiert mehr als sieben der über acht Milliarden Menschen, die derzeit auf der Erde leben. Er war Zeuge, oft genug Opfer oder Spielball globaler Machtkämpfe. Er hat eine eigene geschichtliche Erinnerung, an der sich westliche Geschichtenerzähler die Zähne ausbeißen. Deshalb ist Russland nicht international isoliert.

Europäische Friedensordnung oder nur Pax Americana?

Es gab nach dem Zweiten Weltkrieg keine »Friedensordnung« auf dem europäischen Kontinent oder gar in der Welt, deren Bruch jetzt mit Krokodilstränen beklagt wird. Nur kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges dominierten der Kalte Krieg und die permanente Systemrivalität. Zwar schien nach 1990 zunächst die Ansicht zu überwiegen, dass der Kalte Krieg beendet, quasi das »Ende der Geschichte« erreicht sei. Aber auch das hält einer geschichtlichen Prüfung nicht stand. Nach 1990 dominierte vielmehr die Pax Americana. Die USA waren die einzig verbliebene Supermacht. Es ist ein ganz selbstverständlicher Teil aktuellen Denkens, das für die »natürliche« Ordnung« der Dinge zu halten. Ein Spötter definierte die Pax Americana, wie einem Fragenforum im Stern von 2011 zu entnehmen ist, wie folgt: »Pax Americana bedeutet erst bombardieren und anschließend herrscht Frieden. Wird mehr oder weniger erfolgreich auf der ganzen Welt angewandt. Meist mit wenig Erfolg.«3

Die US-amerikanische Rolle, die im weiteren Sinne die Fortschreibung einer einst europäisch dominierten Weltordnung ist, ist heute nicht nur durch große Mächte, die ihr Paroli bieten können, gefährdet. Die Befreiungsbewegungen im vergangenen Jahrhundert haben eine Vielzahl neuer, selbstbewusster Akteure hervorgebracht, die auf gleichberechtigte Mitsprache in internationalen Fragen drängen.

Geschichtliche Umbruchszeiten, in denen Vorherrschaft bröckelt, waren immer gefährlich, und so ist es auch heute. Eine Macht, die daran gewöhnt ist, alles zu regieren, kann sich mit dem drohenden Verlust ihrer Dominanz nur sehr schwer abfinden. Jede aufsteigende Macht wird als Bedrohung wahrgenommen. Es ist ein unvermeidlicher Konflikt, dessen Ausgang sich nicht sicher vorhersagen lässt. Schafft es das Imperium, seine Herrschaft erneut zu stabilisieren? Wird es implodieren? Wird es im Niedergang zum Krieg greifen und womöglich, da wir im Atomzeitalter leben, die ganze Welt mit sich reißen? Oder kommt es zu einem neuen Denken in den USA bzw. im weiteren transatlantischen Raum, das der amerikanischen Hegemonie zugunsten eines kooperativen Modells der internationalen Zusammenarbeit eine Absage erteilt? Der einzige US-Präsident, der vorhatte, den Weg der kooperativen Vernunft zu gehen, um damit den Kalten Krieg zu beenden und die Menschheit aus der Geiselhaft eines drohenden Atomkrieges zu entlassen, war John F. Kennedy. Er wurde ermordet, bevor er seine Ideen, die er in einer Grundsatzrede am 10. Juni 1963 niedergelegt hatte, verwirklichen konnte.4

Der dramatischen Überhöhung des Konfliktes um die Ukraine liegt das Bestreben zugrunde, das US-Imperium zu erhalten. Es ist eine imperiale Erzählung, die dem Hirn eines globalen Alpha-Männchens entspringt, das alles, was es selbst denkt und will, zum Handlungsmaßstab macht und gleichzeitig das eigene Begehren bei allen anderen zu wittern glaubt. Schon die Kriegsbeschreibung ist nicht korrekt. Russland kämpft nicht gegen »die« Ukraine. An der Seite Russlands kämpfen Ukrainer, die Krim und der Donbass gegen die Kiewer Zentralregierung. Insofern ist der Krieg auch ein Bruderkrieg in der Ukraine, der einem ethnischen, inneren ukrainischen Konflikt entspringt. Russland ist auch nicht angetreten, die Ukraine zu vernichten. Russland versucht, mit militärischen Mitteln seine Sicherheitsinteressen durchzusetzen. Sein Griff zur Gewalt ist verdammungswürdig. Was Russland aber nicht abgesprochen werden kann, sind legitime Sicherheitsinteressen – und ja, damit ist auch die Ausdehnung der Nato bis vor Russlands Haustür gemeint, deren Bedrohlichkeit der Westen partout nicht anerkennen möchte.

Sanktionen: Der Plan der wirtschaftlichen Vernichtung Russlands …

Die unmittelbare politische Antwort des Westens auf die russische Aggression bestand in einer scharfen politischen Verurteilung des Geschehenen sowie in einer radikalen wirtschaftlichen Sanktionspolitik, die de facto ein Wirtschaftskrieg ist. In der Rede des US-Präsidenten in Warschau am 26. März 2022 wurde das auch eingeräumt. Alles zusammengenommen, so sagte Joe Biden dort, seien die westlichen Sanktionen »eine neue Art wirtschaftlicher Staatskunst mit der Macht, Zerstörungen anzurichten, die militärischer Macht gleichkommen«.5

Die unzweifelhaft drastischen Sanktionen waren unter Führung der USA über Monate hinweg ausgearbeitet worden. An dieser Stelle muss die Frage nicht beantwortet werden, warum so viel politische und intellektuelle Energie in die Sanktionsausarbeitung gesteckt wurde, statt einem sich andeutenden Kriegsunheil mit Dialog und versuchter Konfliktentschärfung zu begegnen. Sie beantwortet sich selbst. Verständigung war nie das Ziel.

Streng betrachtet, spricht die UN-Charta allein dem Sicherheitsrat das Recht zu, Sanktionen zu verhängen. Praktisch gesehen fehlt es jedoch an einem politischen und juristischen Konsens6 und in der Folge sind unilaterale Sanktionen seit Jahrzehnten Teil der Staatenpraxis. In ihrer extremen Form zielen sie darauf ab, tief in die inneren Angelegenheiten eines Landes einzugreifen und durch eine Verschlechterung der wirtschaftlichen und sozialen Lage der Bevölkerung Änderungen in der politischen Verfassung des sanktionierten Landes zu erzwingen. Nachweislich haben derartige Sanktionen fast nie zum gewünschten politischen Ergebnis geführt, aber fast überall Verelendung und sogar massenhaften Tod nach sich gezogen, was zynisch einkalkuliert wird. Prominente Fälle eines solchen Sanktionsgebarens waren die US-Sanktionen gegen den Irak in den 90er-Jahren bzw. die Sanktionen gegenüber Syrien und dem Iran. Wer so handelt, agiert aus einer Pose heraus, die der eines strafenden Gottes nicht unähnlich ist. Aktuelle westliche Politik erwartet, dass die ganze Welt die verhängten Bestrafungen akzeptiert, dass sich immer mehr Staaten derartigen Strafaktionen anschließen und niemand aus der Reihe tanzt oder gar versucht, die Sanktionen zu unterlaufen. Dem werden dann auch Sanktionen angedroht.

Das eigentliche Neue an den Wirtschaftssanktionen gegen Russland seit 2022 ist der gezielte Versuch, Russland von der globalisierten Wirtschaft abzutrennen. Die Sanktionen sollten nicht nur »wehtun«. Sie wurden entworfen, um den wirtschaftlichen Ruin Russlands herbeizuführen. Die deutsche Außenministerin sprach dieses Ansinnen am 25. Februar 2022 in Brüssel auch offen aus.7 Und auch der amerikanische Präsident erklärte ganz ohne Umschweife den Sinn und Zweck dieser beispiellosen wirtschaftlichen Strafaktion: Der Rubel würde zu Schutt und Asche werden.8

Es blieb bei der Absicht, denn Russland widerstand dem wirtschaftlichen Angriff. Voraussagen amerikanischer Russland-Experten, dass Russland 2023 die volle Wucht der Sanktionen spüren würde, traten nicht ein. Vorgesehen war folgendes Szenario: Dass »Russland nicht mehr über Halbleiter und Ersatzteile für sein verarbeitendes Gewerbe verfügt und seine Industrieanlagen schließen muss. Besonders die Ölindustrie des Landes wird Probleme haben, da sie Technologie und Software der internationalen Ölindustrie verliert.«9

Allerdings sollte das politische Ansinnen des westlichen Wirtschaftskrieges gegen Russland jeden vernünftigen Menschen schockieren: die erklärte Bereitschaft, ein instabiles Russland zu schaffen, das völlig unberechenbar werden könnte. Denn was wären mögliche Folgen eines wirtschaftlichen Zusammenbruches? Dem könnte ein Kollaps der staatlichen Ordnung folgen. Soziale Konflikte könnten bürgerkriegsähnliche Ausmaße annehmen. Der russische Vielvölkerstaat könnte sich auflösen und »balkanisieren«. Das drohende Chaos könnte extreme Kräfte auf den Plan rufen und gewaltige Flüchtlingsströme auslösen. Es wäre völlig offen, was in einem solchen Albtraumszenario aus der russischen Armee würde und wer die Verfügungsgewalt über die modernen russischen Waffen erlangt, allen voran über die Atomwaffen, aber auch über die kontinentalen und interkontinentalen Hyperschallwaffen. Was, wenn Russlands Machtelite, den drohenden Untergang vor Augen, zur Schlussfolgerung käme, dass eine Welt, in der es kein Russland mehr gibt, nicht wert ist, fortzubestehen? Denn das ist der Kern der russischen Nukleardoktrin: Nur wenn die Existenz Russlands gefährdet ist, ist der Atomwaffeneinsatz erlaubt. Daran erinnerte Putin 2018 mit den folgenden Worten: »Gewiss, das wäre eine globale Katastrophe für die Menschheit, eine Katastrophe für die ganze Welt. Als Staatsbürger Russlands und als Oberhaupt des russischen Staates muss ich mich fragen: Warum sollten wir eine Welt ohne Russland wünschen?«10

Die vom russischen Präsidenten so drastisch gestellte Frage11 lässt sich auch wie folgt stellen: Gibt es überhaupt einen Konflikt, der es wert ist, ihn so zu eskalieren, dass die Zukunft der Welt in die Waagschale gelegt würde? Alle Atommächte sind mit dieser Fragestellung konfrontiert. Noch gilt die gegenseitige politische Verabredung, dass ein Atomkrieg nicht gewinnbar ist und daher auch nicht geführt werden darf. Diese Verabredung ist in einer Welt der atomaren Abschreckung ein wichtiges, aber auch sehr fragiles letztes Aufgebot gegen den Untergang der menschlichen Zivilisation.

Mit Blick auf Russland verkalkulierten sich die Macher der Sanktionsspirale gründlich. Ein Pressebriefing des Weißen Hauses vom 22. Januar 2022 zum Stand der Vorbereitungen etwaiger Sanktionen eröffnet einen Einblick in die Gedankengänge, die offenbar die Konzeption der Sanktionen bestimmten.12 Die Wirkungen der westlichen Sanktionen auf Russland von 2014 waren genau studiert worden. Diese setzten Russland damals schwer zu. Zur Minimierung der negativen Auswirkungen hatte es Teile seines Auslandsvermögens einsetzen müssen. Also lautete offenbar die Schlussfolgerung: Wenn man genau an den neuralgischen Punkten des Jahres 2014 ansetzt und mit noch größerer Härte verfährt, wird es schon werden. Was seit 2014 in der russischen Wirtschaft an inneren Anpassungen stattgefunden hatte oder welche Handelsverträge geschlossen worden waren, schien uninteressant. Es wird nicht erwähnt. Vielleicht wusste man es auch nicht? Theoretisch ist der Westen Russland ökonomisch haushoch überlegen. Betrachtet man die geballte Wirtschaftskraft, hätte der westliche Goliath ein leichtes Spiel haben müssen. Und doch, nichts lief wie gedacht. Der Ruin Russlands blieb aus.13 Offenbar waren Vorstellung und Realität zwei verschiedene Dinge.

Das Unglück will es, dass die Sanktions-Designer gleichzeitig auch den Bumerang-Effekt auf die eigenen Wirtschaften und auf die Weltwirtschaft komplett falsch einschätzten. In der Folge wurde der seit 2021 ohnehin angespannte globale Energiemarkt noch volatiler. Es gab und gibt negative Auswirkungen auf den Zugang zu Düngemitteln und preiswerten Nahrungsmitteln, was den Ärmsten der Armen am meisten zu schaffen macht. Das von der UNO vermittelte Abkommen, laut dem ukrainisches Getreide über das Schwarze Meer verschifft werden kann, kam nicht den Ärmsten der Welt zugute.14 Das parallele Abkommen zugunsten russischen Getreides und russischer Düngemittel funktionierte nicht, da die Sanktionen auch Bankbeziehungen bzw. Transportversicherungen erfassen und die Sanktionspolitik zudem die Marktakteure verunsicherte. Die Afrikanische Union schätzt das sehr viel korrekter ein als die EU.15 Zudem scheiterte das Gesamtpaket 2023 schließlich am russischen Widerstand. Die Inflation wurde zusätzlich angeheizt. Der Dollar als Reservewährung ist geschwächt und der europäische Traum von einer stärkeren Rolle des Euro ausgeträumt. Mehr und mehr Staaten handeln inzwischen in nationalen Währungen, weil sie verstanden haben: Im westlichen Finanzsystem sind sie nicht mehr sicher, falls die Sanktionskeule auf sie einschlägt. Wer 300 Milliarden Dollar an Auslandsvermögen der russischen Zentralbank einfriert und laut darüber nachdenkt, sie zu stehlen16, muss sich nicht wundern, dass andere, statt Beifall zu klatschen, Vertrauen verlieren und anderweitig Vorsorge treffen.

… und die Bumerang-Effekte für Deutschland und die Welt

Noch herrscht in Deutschland der Optimismus, der wirtschaftliche Abschwung (Rezession) in Deutschland 2023 wäre vorübergehend, aber es gilt als ausgemacht, dass es zu einer gewissen Deindustrialisierung kommen wird, denn die Leistungsfähigkeit der deutschen Industrie beruht auch auf dem Zugang zu preiswerter Energie. Dieser Zugang ist Vergangenheit. Im Jahr 2022 war Deutschland mit einem Rekordabfluss an Kapital in Höhe von über 130 Mrd. Euro konfrontiert. Eine Schwächung Deutschlands als attraktiver Platz für Direktinvestitionen hatte sich schon vor 2020 angedeutet, aber 2022 setzte ein neues Warnzeichen. Wenn Kapital abfließt, kann das den Verlust wertvoller Industriearbeitsplätze bedeuten, was für Millionen von Deutschen einen gravierenden Lebenseinschnitt mit sich bringen könnte, wenn der Prozess nicht gestoppt wird. Sonst kommt es zum Verlust international anerkannter technologischer Kompetenz und von Marktanteilen für Spitzenprodukte. Für »Made in Germany« zahlte man weltweit gerne einen guten Preis. Nun ist der russische Markt verloren, und was in der Folge mit China werden wird, ist auch unsicher geworden. Harte Umweltauflagen, hohe Energiepreise und fehlende Facharbeiter sind eine toxische Kombination.17 Sicher ist nur, dass keiner in Deutschland mit dem Slogan, daran sei allein Putin schuld, durchkommen wird, wenn die harten Gesetze des internationalen Wettbewerbs immer wieder zuschlagen, wenn die Politik durch eine geopolitisch motivierte versuchte Neuordnung der Globalisierung (Stichwort: Risikominimierung durch Abbau von Abhängigkeiten) alles schlimmer machen sollte. Die weltweiten Interdependenzen sind heute so komplex geworden, dass niemand mehr mit Sicherheit vorhersagen kann, welches Beziehungsnetz zerstört wird, wenn man auch nur einen Faden durchtrennt. Tatsächlich spricht vieles dafür, dass diese Interdependenzen zum Nutzen aller besser gehütet werden müssten, in einer gemeinsamen und vor allem gleichgerichteten Anstrengung für das Wohlergehen des Planeten und aller seiner Bewohner. Die OECD hat sich 2021 unter dem Stichwort der Stärkung der Widerstandsfähigkeit damit befasst.18 Von einer Dominanz westlicher Vorstellungen und Doktrinen müsste man sich dann allerdings verabschieden – zugunsten gemeinsam ausgehandelter Regeln und Prioritäten in einer multipolaren Weltordnung, wie wir sie in Kapitel 8 aufzeigen.

Ein Nebeneffekt der martialischen Sanktionspolitik, die im Schulterschluss zwischen den USA und der EU ausgearbeitet und umgesetzt wird, besteht in der nun proklamierten Einheit des Westens, die als Wert an sich betrachtet wird. Auf diese Weise versucht ein Hegemon, seine Vasallen bei der Stange zu halten.19 Ganz ohne treue Fußsoldaten lässt sich die Welt nicht regieren.

Die Entscheidung der EU, sich im Konflikt mit Russland ohne Wenn und Aber auf die Seite der USA zu stellen, zeitigte schwere Folgen für ihre internationale Handlungsfähigkeit. Als sie in das Sanktionskriegs-Boot kletterte, verbaute sie sich den Weg, als politischer Mittler im Ukraine-Konflikt zu agieren oder ihre eigenen wirtschaftlichen Interessen durchzusetzen. Sie wurde Partei. Es hat nicht den Anschein, dass das der EU oder gar Deutschland von Anfang an vollständig bewusst war.

Einen schnellen Frieden wollte der Westen nicht

Zu den unmittelbaren politischen Reaktionen auf die russische Aggression sowohl in Deutschland als auch in Frankreich gehörte die Forderung nach Verhandlungen, um ein schnelles Ende der Kämpfe zu erreichen. Wie es schien, waren auch die Ukraine und Russland willens, den bewaffneten Konflikt auf dem Verhandlungswege schnell zu beenden. Eine erste Verhandlungsrunde fand bereits am 27. Februar 2022 in Minsk statt. Später wurden die Gespräche in Ankara geführt. Der ehemalige israelische Ministerpräsident Bennett und der türkische Präsident Erdoğan vermittelten.

Ein Blick in die amtlichen Pressemitteilungen des Bundeskanzlers zwischen dem 4. März 2022 und dem 23. März 2022 zeigt, dass Scholz ursprünglich einer schnellen Verhandlungslösung die Präferenz gab und dafür eine umfassende Gesprächsdiplomatie betrieb. Er telefonierte mit beiden Kriegsparteien. Er sprach mit den USA, mit dem chinesischen Präsidenten Xi Jinping, mit Frankreich, mit Bennett und mit dem türkischen Präsidenten. Exemplarisch sei die Niederschrift des Telefonats mit dem chinesischen Präsidenten vom 8. März 2022 erwähnt, das gemeinsam mit dem französischen Staatspräsidenten geführt wurde. Darin heißt es: »Bundeskanzler Scholz, Staatspräsident Macron und Staatspräsident Xi waren sich dabei einig, in vollem Umfang alle Verhandlungen zu unterstützen, die auf eine diplomatische Lösung des Konflikts gerichtet sind.«

Laut der amtlichen Mitteilungen des russischen Präsidenten gab es darüber hinaus noch zwei Telefonate mit Putin, am 18. und am 30. März 2022.20

Aber der Wind drehte sich. Am 7. März 2022 wurde als Ergebnis eines Telefonats des deutschen Bundeskanzlers mit dem US-Präsidenten Biden, dem britischen Premierminister Johnson und dem französischen Präsidenten Macron noch festgehalten: »Sie waren sich einig, dass jedwede diplomatische Anstrengung zur Überwindung der Krise Unterstützung verdiene.«21 Nach einer solchen Formulierung sucht man in der offiziellen Erklärung des G-7-Treffens am 24. März 2022, das unter deutschem Vorsitz stattfand, bereits vergeblich.22 Zwei Tage später, am 26. März, hielt dann der US-Präsident in Warschau seine bereits erwähnte und zitierte Grundsatzrede. Dort war nicht von einem schnellen, verhandelten Frieden die Rede, sondern vom unvermeidbaren Kampf der Ukrainer. Erstmals fiel die Bemerkung, dass ein regime change in Moskau notwendig sei »In Gottes Namen, dieser Mann [gemeint ist Putin, Anm. d. Aut.] kann nicht mehr an der Macht bleiben«, tönte Biden.23 Der Gedanke, der ihm damals versehentlich entschlüpfte, denn er wurde umgehend vom Weißen Haus dementiert, kroch später aus allen möglichen Winkeln der US-Politik. Am 26. April 2022 erklärte US-Verteidigungsminister Lloyd Austin nach einem Besuch in Kiew: »Wir wollen Russland militärisch so geschwächt sehen, dass es nicht die Art der Dinge tun kann, die es machte, als es die Ukraine überfiel«. Ein Vertreter des Nationalen Sicherheitsrates der USA bestätigte gegenüber CNN diese Version und erklärte, dass es zu den seit Monaten verfolgten strategischen Zielen der USA gehöre, »… diese Invasion zu einem strategischen Fehlschlag für Russland zu machen«.24

Der Sinneswandel ging von den USA und Großbritannien aus. Zunächst war das in ukrainischen Medien nachzulesen.25 Boris Johnson war der Überbringer der Nachricht, dass der Westen einen verhandelten Frieden mit Russland ablehne. Erst im Oktober 2023 legte der ehemalige Bundeskanzler Gerhard Schröder in einem Interview mit der Berliner Zeitung offen, dass auch er in die damaligen Verhandlungen involviert war. Laut Schröder konnten die Ukrainer keinen Frieden verhandeln, weil »sie nicht durften. Die mussten bei allem, was sie beredet haben, erst bei den Amerikanern nachfragen.«26 Zum Beweis für die ukrainische Bereitschaft zu einem Friedensschluss verwies Schröder auf Äußerungen von Präsident Selenskyj, die BILD am 14. März 2022 abgedruckt hatte.27 Damit bestätigte Schröder das, was seit dem 5. Mai 2022 durch eine Veröffentlichung in der Ukraine28 Interessierten zugänglich war: Es waren nicht mangelnde Fortschritte in den Verhandlungen zwischen Russland und der Ukraine, die zum Abbruch der Gespräche führten. Es waren westliche Staaten, allen voran Großbritannien und die USA, die kein Interesse an einem frühzeitigen Friedensschluss hatten. Das entspricht auch der späteren Grundaussage des ehemaligen israelischen Ministerpräsidenten Bennett. Dieser erklärte, er habe alle Schritte mit den USA, Großbritannien, Deutschland und Frankreich abgestimmt. Ein Deal zwischen Russland und der Ukraine hätte gestanden. Der Krieg hätte Ende März 2022 zu Ende gehen können. Aber der Westen habe das nicht gewollt. Er hätte diese Entscheidung für falsch gehalten. Eine Kurzfassung der von Bennett gemachten wesentlichen Aussagen (fünf Stunden Interview) wurde von einer indischen Nachrichtenagentur veröffentlicht.29

Im Herbst des Jahres 2023 erläuterte der Verhandlungsführer der ukrainischen Seite, der Abgeordnete Dawid Arachamija, in einem ukrainischen Interview den Gang der Ereignisse. Er betonte, dass die russische Seite die Neutralität der Ukraine habe erreichen wollen. Alles Übrige sei mehr oder minder »bla bla« gewesen.30 Arachamija sprach ebenfalls darüber, dass die ukrainische Seite die Verfassung hätte ändern müssen, um ihre Neutralität erklären zu können, dass sie der russischen Seite nicht getraut hätte und Sicherheitsgarantien gewollt habe. Im Dezember 2023 ergriff ein weiteres Mitglied des damaligen ukrainischen Verhandlungsteams das Wort, der ehemalige ukrainische Botschafter in Russland, Walerij Tschalyj. Nach dessen Einschätzung wären sie im März und auch noch im April 2022 sehr nah an einem echten Kompromiss gewesen. Putin hätte begriffen gehabt, dass es ein Fehler war, die Ukraine anzugreifen. Aufgrund dessen sei die russische Seite von ihren anfänglich ultimativen Forderungen abgerückt. Putin hätte eine friedliche Lösung gewollt.31 Der ehemalige Kommunikationsprofi des ukrainischen Präsidenten, Oleksij Arestowytsch, äußerte sich 2024. Die ukrainische Delegation hätte nach der letzten Verhandlungsrunde in Istanbul die Champagnerflaschen geöffnet, so gut sei alles gelaufen. Der Präsident hätte dann plötzlich seine Meinung geändert, warum, könne er nicht sagen. Der ehemalige britische Premierminister Boris Johnson bestand darauf, er hätte nichts von der Ukraine verlangt, er hätte allerdings gesagt, ein Deal mit einem Kriegsverbrecher bzw. mit Russland wäre »ziemlich schmutzig«.32

Nichts davon hat die breite westliche Öffentlichkeit erreicht, denn diese Zeugenaussagen unterminieren die Hypothese von einer quasi naturhaften russischen Aggressivität. Sie führen den Krieg auf Ursachen und Interessenlagen zurück. 

Warum machte die ukrainische Seite am 5. Mai 2022 öffentlich, dass eine Intervention des Westens die Verhandlungen zum Erliegen gebracht hatte? War das damals ein letzter Versuch des engsten Beraterkreises um Selenskyj oder des ukrainischen Präsidenten selbst, um zu testen, ob es im Westen noch einflussreiche Kräfte gab, die sich dem drohenden Auszehrungskrieg widersetzen würden? Sollte damit die sich abzeichnende Niederlage in Mariupol abgewendet werden? Für eine derartige Interpretation der Ereignisse sprechen Argumente eines Artikels aus der European Pravda vom 30. März 2022.33

Was immer das Motiv gewesen sein könnte: Niemand im Westen war bereit, die Ukraine von dem ihr zugedachten Schicksal zu entlasten, nun »als Schild und Schwert« der USA bzw. der Nato gegen Russland um »Siegfrieden« zu kämpfen. Die EU war zu einer möglichen neuerlichen Initiative zu Verhandlungen gar nicht mehr fähig.

Die der Ukraine zugedachte Rolle hatte der US-Demokrat Adam Schiff, damals Vorsitzender des Geheimdienstausschusses des Kongresses, bereits 2020 während seiner Eröffnungsrede am zweiten Tag des Impeachment-Verfahrens gegen Trump auf eine einprägsame Formel gebracht, die er von Fiona Hill, einer Mitarbeiterin im Nationalen Sicherheitsrat, entliehen hatte: »Die Vereinigten Staaten helfen der Ukraine und ihren Menschen, damit wir dort gegen Russland kämpfen können und nicht hier gegen Russland kämpfen müssen.«34

Nach der ukrainischen Version hatte Boris Johnson in Kiew im April 2022 deutlich gemacht: Das Verbrechen in Butscha schließe Verhandlungen mit einem Kriegsverbrecher aus. Dass das Geschehen von Butscha, wo Anfang April 2022 mutmaßlich Kriegsverbrechen begangen wurden, für die westliche Ablehnung eines verhandelten Friedens eine entscheidende Rolle spielte, muss man ausschließen, auch wenn sich diese Darstellung nachdrücklich in den Köpfen hält. Die westliche Ablehnung für Verhandlungen wurde bereits vor den Ereignissen von Butscha manifest. Im Übrigen hätte das Geschehen von Butscha logischerweise eigentlich dazu führen müssen, dass der Westen auf keinen Fall einer Kriegsverlängerung das Wort redet. Zu den Argumenten des deutschen Bundeskanzlers, als er sich noch für ein frühes Kriegsende aussprach, gehörte, dass jeder weitere Tag eines Kriegs zwangsläufig weitere Gräuel und auch die Möglichkeit für weitere mutmaßliche Kriegsverbrechen bedeute. Alle Diplomatie der Welt hätte in Gang gesetzt werden müssen, um wenigstens neues Unheil zu verhindern. Eine strafrechtliche Aufarbeitung des Geschehens von Butscha wäre zudem von einem verhandelten Friedensschluss unberührt geblieben. Mutmaßliche Kriegsverbrechen lassen sich nicht wegverhandeln. Sie müssen aufgeklärt werden.

Teil der Verhandlungen am 29. März 2022 in Istanbul war, dass Russland seine Truppen vor Kiew und Tschernihiw zurückziehen würde.35 Bei einem Treffen mit afrikanischen Staatschefs 2023 erklärte Putin, er habe das zum Zeichen der Vertrauensbildung veranlasst, um Frieden zu erreichen. In der westlichen öffentlichen Version der Kriegsereignisse gilt dieser Truppenrückzug als Beleg für die militärische Schwäche Russlands. Das russische Militär habe sich übernommen gehabt, wurde angesichts des erbitterten ukrainischen Widerstandes zur gängigen Lesart.36 2024 erklärte Putin im Interview mit Tucker Carlson, der Abzug der russischen Truppen sei auch auf eine Forderung von Frankreich und Deutschland zurückgegangen. Er könne nicht erwarten, dass Verhandlungen gelingen, wenn er Kiew den Revolver an die Schläfe setzt, daher sei er darauf eingegangen. Der Sprecher der Bundesregierung wies diese Darstellung auf Nachfrage zurück. Er wies allerdings ebenfalls zurück, dass der Bundeskanzler in irgendeiner Weise in die Verhandlungen involviert gewesen sei. Das wiederum steht im Widerspruch zu dessen umfangreichen diplomatischen Aktivitäten im März 2022.37

Im Licht der vorliegenden Fakten ist jedoch unbestreitbar, dass die Verhandlungen am mangelnden westlichen Interesse an ihrem Gelingen scheiterten. Damit liegt die Stellvertreternatur des Krieges offen zutage. Seither ist alles, was in der Ukraine passiert, nicht mehr ausschließlich auf den russischen Aggressionsakt zurückzuführen. Wer kein verhandeltes Kriegsende will, ist mitverantwortlich an allem Folgenden.

Die Haltung des Westens wurde zweifellos dadurch begünstigt, dass es ein Kriegsnarrativ gab, das von äußerster Inkompetenz der russischen Seite ausging. Russland hatte die Ukraine mit maximal 150000 bis 190000 Soldaten überfallen, denen etwa 400000 ukrainische Kräfte gegenüberstanden. Es war also deutlich in der Unterzahl. Mit einer solchen Truppenstärke ist weder die Vernichtung noch die Besetzung eines ganzen Landes möglich. Dennoch gilt im Westen, dass das russische Kriegsziel gescheitert sei, weil die Russen nicht mit dem Widerstand der Ukraine gerechnet hätten.38 Damit wird impliziert, dass es auf russischer Seite nur militärische Trottel gab, die selbst das elementarste Wissen nicht haben. Russland hat auch nicht tagelang Kiew zerbombt und alles in Schutt und Asche gelegt, wie es das nach Auffassung eines US-Experten laut Guardian hätte tun sollen.39 Noch immer steht Kiew weitgehend unversehrt. Das liegt daran, dass Russland nicht den Krieg führt, den der Westen ihm unterstellt.

Der Verhandlungsabbruch im Frühjahr 2022 veränderte allerdings die Kriegskonstellation. Zunächst bedeutete er, dass die russische Rechnung, sich mit einer Parallelstrategie aus militärischer Aggression und gleichzeitigen Verhandlungen durchzusetzen und der Ukraine die Neutralität abzutrotzen, nicht aufging. Insofern saß der Kreml vor den Trümmern seiner eigenen Strategie, so wie das auch Tschalyj im Dezember 2023 analysierte.

Gleichzeitig erhellte sich aber auch die westliche Interessenlage. Für den Westen war der in den Verhandlungen erreichte Kompromiss, der einen Rückzug der russischen Truppen auf die Vorkriegsposition einschloss40