Der Mitternachtspalast - Carlos Ruiz Zafón - E-Book
SONDERANGEBOT

Der Mitternachtspalast E-Book

Carlos Ruiz Zafón

0,0
8,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 8,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

»Es gibt zwei Dinge im Leben, die du dir nicht aussuchen kannst. Das eine sind deine Feinde. Das andere ist deine Familie. Manchmal ist der Unterschied zwischen beiden schwer zu erkennen.« Carlos Ruiz Zafón, ›Mitternachtspalast‹ In der verblassten Kolonialschönheit Kalkutta begegnet Ben in den 30er Jahren der geheimnisvollen Sheere, von der er sich magisch angezogen fühlt. Beide sind ohne Eltern aufgewachsen; er im Internat, sie bei ihrer Großmutter. Nun können sie nicht mehr ohne einander sein. Doch als hätte eine dunkle Macht nur auf ihr Zusammentreffen gewartet, geraten die beiden bald in einen mörderischen Strudel und müssen erkennen, dass sie weit mehr verbindet als große Gefühle … Mit dem dunkel schillernden Kalkutta hat Carlos Ruiz Zafón ein Traumgespinst von einer Stadt geschaffen, das seinem unvergleichlichen Barcelona in nichts nachsteht – Ben und Sheeres große, tragische Geschichte wird man lange nicht vergessen.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 326

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Carlos Ruiz Zafón

Der Mitternachtspalast

Roman

Aus dem Spanischen von Lisa Grüneisen

FISCHER E-Books

Inhalt

[Widmung]PrologDie Rückkehr der FinsternisBevor ich mit meiner [...]Die letzte Nacht der Chowbar SocietyIm Rückblick war dieser [...]Die Stadt der PalästeDer FeuervogelWas soll ich sagen? [...]Der Name der MitternachtGespenster- und Geistergeschichten finden [...]

Für MariCarmen

Nie werde ich die Nacht vergessen, in der es schneite über Kalkutta. Der Kalender des Waisenhauses St. Patrick’s zeigte die letzten Maitage des Jahres 1932 an, und die Monate zuvor waren die heißesten gewesen, an die sich die Stadt der Paläste erinnerte.

Mit jedem Tag sahen wir traurig und ängstlich dem Beginn jenes Sommers entgegen, in dem wir unser sechzehntes Lebensjahr vollenden würden, was gleichbedeutend war mit unserer Trennung und der Auflösung der Chowbar Society, jenes auf sieben Mitglieder beschränkten Geheimbundes, der uns während unserer Jahre im Waisenhaus Heimat gewesen war. Wir hatten keine andere Familie als uns selbst und keine anderen Erinnerungen als die Geschichten, die wir uns nachts am Feuer im Hof des alten verlassenen Hauses erzählten, das an der Ecke Cotton Street und Brabourne Road stand, ein verfallenes Anwesen, dem wir den Namen Mitternachtspalast gegeben hatten. Damals wusste ich nicht, dass ich den Ort nicht wiedersehen sollte, an dem ich aufgewachsen war und dessen Zauber mich bis heute verfolgt.

Seit jenem Jahr bin ich nie wieder nach Kalkutta zurückgekehrt, doch ich blieb stets dem Versprechen treu, das wir uns stillschweigend unter dem weißen Regen am Ufer des Hooghly River gaben: niemals zu vergessen, was wir erlebt hatten. Die Jahre haben mich gelehrt, alles, was in jenen Tagen geschah, in Erinnerung zu behalten. Ich habe die Briefe aufbewahrt, die ich aus der verfluchten Stadt erhielt und die das Feuer meiner Erinnerungen nährten. So erfuhr ich, dass unser alter Palast abgerissen wurde, um auf seinem Schutt ein Bürogebäude zu errichten, und dass Mr Thomas Carter, der Leiter von St. Patrick’s, schließlich starb, nachdem er seit dem Brand, der seine Augen für immer verschloss, die letzten Jahre seines Lebens in Dunkelheit verbracht hatte.

Nach und nach erfuhr ich vom Verschwinden der Orte, an denen wir damals lebten. Der Furor einer Stadt, die sich selbst verschlang, und das Trugbild der Zeit verwischten die Spuren der Mitglieder der Chowbar Society.

So musste ich zwangsläufig lernen, mit der Angst zu leben, diese Geschichte könne für immer verlorengehen, weil niemand mehr da ist, um sie zu erzählen.

Die Ironie des Schicksals hat es gewollt, dass nun ich, der ich am wenigsten dafür geeignet bin, die Aufgabe übernehme, das Geheimnis zu enthüllen, das uns vor so vielen Jahren vereinte und uns gleichzeitig in dem alten Bahnhof Jheeter’s Gate für immer trennte. Ich hätte mir gewünscht, es wäre einem anderen zugefallen, diese Geschichte vor dem Vergessen zu bewahren, doch wieder einmal hat mir das Leben gezeigt, dass meine Rolle die eines Zeugen ist, nicht die des Protagonisten.

Über all die Jahre habe ich die wenigen Briefe von Ben und Roshan aufbewahrt, Dokumente aufgehoben, die Aufschluss über die Schicksale der Mitglieder unserer besonderen Gesellschaft gaben, und sie mir immer wieder in der Einsamkeit meiner Wohnung vorgelesen. Vielleicht, weil ich das Gefühl hatte, das Schicksal habe mich zum Bewahrer unserer gemeinsamen Erinnerung bestimmt. Vielleicht, weil mir klar wurde, dass ich von jenen sieben Jugendlichen immer derjenige gewesen bin, der am wenigsten riskierte, der nicht so brillant und wagemutig war und der deshalb die größten Chancen hatte zu überleben.

In diesem Geist und im Vertrauen darauf, dass mich die Erinnerung nicht trügt, will ich versuchen, die geheimnisvollen und schrecklichen Vorfälle zum Leben zu erwecken, die sich in jenen vier glutheißen Maitagen des Jahres 1932 ereigneten.

Es wird keine leichte Aufgabe werden, und so möchte ich an meine Leser appellieren, wohlwollend über meine ungeschickte Feder hinwegzusehen, wenn ich versuche, der Vergangenheit die Erinnerung an jenen finsteren Sommer in Kalkutta zu entreißen. Ich habe alles darangesetzt, die Realität zu rekonstruieren und mich in die düsteren Ereignisse zurückzuversetzen, die unauslöschliche Spuren in unserem Leben hinterlassen sollten. Bleibt mir nun, die Szene zu verlassen und die Geschichte für sich sprechen zu lassen.

Nie werde ich die verängstigten Gesichter dieser Jugendlichen vergessen, als es nachts schneite über Kalkutta. Aber fangen wir von vorne an, wie es mir mein Freund Ben einst beibrachte …

Die Rückkehr der Finsternis

Kalkutta, Mai 1916

Kurz nach Mitternacht tauchte ein kleines Boot aus dem nächtlichen Nebel auf, der von der Oberfläche des Hooghly River aufstieg wie ein Fluch. Im Vorschiff war im schwachen Schein einer verlöschenden Laterne, die am Mast baumelte, die Gestalt eines in einen Umhang gehüllten Mannes zu erkennen, der mühsam dem fernen Ufer entgegenruderte. Westlich des Maidan lag Fort William unter einer aschgrauen Wolkendecke, umgeben von den Lichtern eines schier endlosen Leichentuchs aus Laternen und Häusern, das sich so weit erstreckte, wie das Auge reichte. Kalkutta.

Der Mann hielt kurz inne, um Luft zu schöpfen und die schemenhaften Umrisse des Bahnhofs Jheeter’s Gate zu betrachten, der nun endgültig in der Dunkelheit versank, die das andere Flussufer einhüllte. Mit jedem Meter, den der Mann weiter durch den Nebel glitt, verschwamm der Bahnhof aus Stahl und Glas mit all den anderen Gebäuden, die von vergangener Größe kündeten. Sein Blick glitt zurück über diesen Dschungel marmorner Mausoleen, die in Jahrzehnten der Verwahrlosung schwarz geworden waren, und nackten Mauern, an deren ockerfarbener, blauer oder gelber Haut der Monsun mit Macht gefressen hatte, bis sie verblasst waren wie Aquarellfarben in einem See.

Einzig die Gewissheit, dass ihm nur noch wenige Stunden, vielleicht Minuten, zu leben blieben, ließ ihn weiterrudern, während er tief in dieser verfluchten Stadt die Frau zurückließ, die mit seinem eigenen Leben zu schützen er geschworen hatte. In jener Nacht, als Leutnant Peake in einem alten Boot seine letzte Reise nach Kalkutta antrat, zerrannen die Sekunden seines Lebens im Regen, der im Schutz der Dunkelheit eingesetzt hatte.

Während er versuchte, das Boot ans Ufer zu bringen, konnte der Leutnant die beiden Kinder weinen hören, die im Kielraum versteckt waren. Peake blickte zurück und stellte fest, dass die Lichter der Barkasse knapp hundert Meter hinter ihm aufblitzten und immer näher kamen. Er konnte sich das Grinsen seines Verfolgers vorstellen, während er die unerbittliche Jagd genoss.

Er achtete nicht auf das Gebrüll der Kinder, die vor Hunger und Kälte weinten, sondern verwandte alle Kraft, die ihm geblieben war, darauf, das Boot ans Ufer des Flusses zu bringen, welcher an dem unergründlichen, gespenstischen Labyrinth der Straßen Kalkuttas leckte. Zweihundert Jahre hatten genügt, um aus dem dichten Dschungel, der rings um den Kalighat-Tempel wucherte, eine Stadt zu machen, in die Gott sich niemals hineingewagt hätte.

Binnen Minuten war das Unwetter mit der Wucht eines zerstörerischen Geistes über die Stadt hereingebrochen. Von Mitte April bis in den Juni hinein war die Stadt in der Gewalt des sogenannten indischen Sommers. In diesen Tagen ächzte Kalkutta unter Temperaturen von vierzig Grad und einer Luftfeuchtigkeit von nahezu hundert Prozent. Aber unter dem Einfluss heftiger Gewitter, die den Himmel in eine Wand aus Pulverdampf verwandelten, konnte das Thermometer innerhalb von Sekunden um dreißig Grad fallen.

Der wolkenbruchartige Regen verhinderte die Sicht auf die altersschwachen Stege aus modrigem Holz, die auf dem Fluss schwankten. Peake ruderte immer weiter, bis er spürte, wie der Bootsrumpf gegen die Fischermolen stieß. Erst jetzt bohrte er das Ruder in den morastigen Grund und holte rasch die Kinder, die in eine Decke gewickelt waren. Als er sie auf den Arm nahm, drang das Weinen der Babys durch die Nacht wie eine Blutspur, die das Raubtier zu seiner Beute führt.

Durch den dichten Wasserschleier hindurch war das andere Boot zu sehen, das langsam auf das Ufer zuglitt wie ein Totenschiff. Von Panik getrieben, rannte Peake durch die Straßen, die südlich am Maidan entlangführten, und verschwand in der Dunkelheit jenes Stadtbezirks, den seine privilegierten Bewohner, hauptsächlich Europäer und Briten, die Weiße Stadt nannten.

Es gab nur noch eine Hoffnung, das Leben der Kinder zu retten, aber er war noch weit vom Herzen jenes Viertels im Norden von Kalkutta entfernt, wo Aryami Bosé wohnte. Die alte Frau war die Einzige, die ihm jetzt noch helfen konnte. Peake hielt einen Augenblick inne und spähte in die gewaltige Finsternis des Maidan, auf der Suche nach den fernen Lichtpunkten der kleinen Laternen, die wie Sterne über dem Norden der Stadt blinkten. Die finsteren, unter dem Schleier des Sturms verborgenen Straßen waren sein bestes Versteck. Der Leutnant drückte die Kinder fest an sich und wandte sich wieder in Richtung Osten, um im Schatten der großen Paläste im Stadtzentrum zu verschwinden.

Kurz darauf legte die schwarze Barkasse, die ihn verfolgt hatte, an der Mole an. Drei Männer sprangen an Land und vertäuten das Boot. Die Kajütentür öffnete sich langsam, und ohne auf den Regen zu achten, trat eine dunkle, in einen schwarzen Umhang gehüllte Gestalt hervor und ging über die Planke, die die Männer von der Mole herangeschoben hatten. Auf festem Grund angekommen, streckte sie die in einen schwarzen Handschuh gehüllte Hand aus und deutete dorthin, wo Peake verschwunden war. Ein Lächeln erschien auf ihrem Gesicht, das die Männer in dem Wolkenbruch nicht sehen konnten.

 

Die dunkle, unheimliche Straße, die durch den Maidan Park und an der Festung entlangführte, hatte sich durch den prasselnden Regen in einen sumpfigen Morast verwandelt. Peake erinnerte sich vage daran, schon einmal in diesem Teil der Stadt gewesen zu sein, als er unter Oberst Llewelyn gegen die Aufständischen in den Straßen gekämpft hatte. Damals allerdings war es heller Tag gewesen und er zu Pferde, eine Armeeeinheit hinter sich, die nach Blut dürstete. Die Ironie des Schicksals wollte es nun, dass er dieses offene Feld überqueren musste, das Lord Clive 1758 hatte anlegen lassen, damit die Kanonen von Fort William frei in alle Richtungen schießen konnten. Nur dass diesmal er der Gejagte war.

Der Leutnant rannte verzweifelt auf die Bäume zu, während er die heimlichen Blicke stummer Beobachter spürte, nächtliche Bewohner des Maidan, die sich in der Dunkelheit verbargen.

Er wusste, dass niemand versuchen würde, ihn zu überfallen und ihm den Umhang oder die Kinder zu entreißen, die in seinen Armen weinten. Die unsichtbaren Bewohner dieses Ortes konnten die Spur des Todes riechen, die er hinter sich herzog, und keine Menschenseele würde es wagen, sich seinem Verfolger in den Weg zu stellen.

Peake sprang über das Eisengitter, das den Maidan von der Chowringhee Road trennte, und rannte die Hauptverkehrsader der Stadt entlang. Die breite Allee folgte dem Verlauf der alten Straße, die vor knapp dreihundert Jahren durch den bengalischen Dschungel in Richtung Süden zum Tempel der Kali geführt hatte, dem Kalighat, der der Stadt ihren Namen verlieh. Das nächtliche Treiben, das sonst in Kalkutta herrschte, war angesichts des Regens erstorben, und die Stadt machte den Eindruck eines verlassenen, schmutzigen Basars. Peake wusste, dass sich der undurchdringliche Wasservorhang, der ihm in der stockfinsteren Nacht Schutz bot, genauso schnell wieder auflösen konnte, wie er gekommen war. Die Stürme, die sich vom Meer her dem Gangesdelta näherten, zogen rasch nach Norden oder Westen weiter, nachdem sie ihre reinigenden Wasserfluten über der bengalischen Halbinsel abgeladen hatten. Zurück blieben Nebelschwaden und von giftigen Pfützen überschwemmte Straßen, in denen die Kinder hüfttief im Wasser planschten und Karren feststeckten wie auf Grund gelaufene Schiffe.

Der Leutnant lief zum nördlichen Ende der Chowringhee Road, bis er merkte, dass seine Beine zitterten und er kaum noch in der Lage war, die Kinder in den Armen zu halten. Ringsum flimmerten die Lichter von Nord-Kalkutta unter dem samtigen Regenvorhang. Peake wusste, dass er dieses Tempo nicht mehr lange durchhalten konnte und dass es noch weit war bis zu Aryami Bosés Haus. Er musste eine Pause machen.

Er versteckte sich unter der Treppe eines ehemaligen Stoffgeschäfts, an dessen Mauern Zettel mit der offiziellen Mitteilung klebten, dass es demnächst abgerissen würde. Er erinnerte sich vage, das Gebäude vor Jahren durchsucht zu haben, weil ein reicher Händler behauptet hatte, dort befinde sich eine berüchtigte Opiumhöhle.

Jetzt sickerte schmutziges Wasser durch die ausgetretenen Stufen. Es sah aus wie schwarzes Blut, das aus einer tiefen Wunde quoll. Das Haus wirkte leer und verlassen. Der Leutnant hob die Kinder hoch und sah in ihre erstaunten Augen. Sie weinten nicht mehr, aber sie zitterten vor Kälte. Die Decke, in die sie gewickelt waren, war klatschnass. Peake nahm ihre winzigen Händchen, um sie zu wärmen, während er durch die Ritzen der Treppe in Richtung der Straßen spähte, die rings um den Maidan lagen. Er wusste nicht, wie viele Mörder sein Verfolger angeheuert hatte, aber er wusste, dass sich nur noch zwei Kugeln in seinem Revolver befanden. Zwei Kugeln, die er so klug wie möglich nutzen musste. Die übrigen hatte er in den Tunnels des Bahnhofs verfeuert. Er wickelte die Kinder in den Teil der Decke, der am wenigsten durchnässt war, und legte sie für einen Moment in eine Mauernische des Geschäfts, wo der Boden trocken war.

Dann zog Peake seinen Revolver und schob langsam seinen Kopf unter der Treppe hervor. Nach Süden glich die verlassene Chowringhee Road einer gespenstischen Bühne, die auf den Beginn der Vorstellung wartete. Der Leutnant kniff angestrengt die Augen zusammen und erkannte die ferne Lichterkette am anderen Ufer des Hooghly River. Hastige Schritte auf dem regennassen Pflaster ließen ihn zusammenzucken, und er zog sich wieder in die Dunkelheit zurück.

Drei Gestalten tauchten aus der Finsternis des Maidan auf, einem blassen Abklatsch des Hyde Parks, den jemand mitten in den tropischen Dschungel verpflanzt hatte. Messer blitzten in der Dunkelheit auf wie Zungen aus glühendem Silber. Peake nahm rasch die Kinder auf den Arm und atmete tief durch. Er wusste, wenn er jetzt die Flucht ergriff, würden die Männer in Sekundenschnelle über ihn herfallen wie Bluthunde.

Der Leutnant presste sich reglos an die Wand des Ladens und beobachtete seine drei Verfolger, die kurz stehen geblieben waren, um seine Fährte wieder aufzunehmen. Die drei Mörder wechselten ein paar unverständliche Worte, dann wies einer von ihnen die anderen beiden an, sich zu trennen. Peake erschrak, als er sah, wie derjenige, der den Befehl gegeben hatte, genau auf die Treppe zukam, unter der er sich versteckte. Für einen kurzen Moment befürchtete der Leutnant, der Geruch der Angst könne ihn zu seinem Versteck führen.

Verzweifelt glitt sein Blick über die Mauer hinter der Treppe, auf der Suche nach einer Öffnung, durch die er fliehen konnte. Er kniete neben der Nische nieder, wo er kurz zuvor die Kinder abgelegt hatte, und versuchte die losen, von Feuchtigkeit zerfressenen Bretter zu lockern. Das morsche Holz gab ohne weiteres nach, und Peake spürte, wie ein ekelerregender Luftzug aus dem Keller des verfallenen Gebäudes drang. Er blickte sich um und sah, dass der Mörder keine zwanzig Meter mehr vom Fuß der Treppe entfernt war. Das Messer blitzte in seinen Händen.

Er wickelte die Kinder in seinen Umhang, um sie zu schützen, und kroch ins Innere des Ladens. Plötzlich durchfuhr ein stechender Schmerz sein rechtes Bein oberhalb des Knies. Peake tastete mit zitternden Händen danach, und seine Finger berührten den rostigen Nagel, der sich schmerzhaft in sein Fleisch bohrte. Einen verzweifelten Schrei unterdrückend, packte Peake das Ende des kalten Metallstifts, zog ihn mit einem Ruck heraus und spürte, wie die Haut aufriss und warmes Blut zwischen seinen Fingern hervorquoll. Vor Schmerz und Übelkeit wurde ihm für einige Sekunden schwarz vor Augen. Schwer atmend nahm er die Kinder und richtete sich mühsam auf. Vor ihm lag ein gespenstischer Raum mit Hunderten leerer, mehrstöckiger Regale, die ein seltsames Muster bildeten, das sich in der Dunkelheit verlor. Ohne einen Moment zu zögern, lief er ans andere Ende des Ladens, dessen tödlich verwundetes Gebälk im Sturm ächzte.

 

Als Peake wieder ins Freie kam, nachdem er endlose Meter im Inneren des baufälligen Gebäudes zurückgelegt hatte, stellte er fest, dass er sich nur knapp hundert Meter vom Tiretta Basar entfernt befand, einem der vielen Märkte im Nordteil der Stadt. Er war froh über sein Glück und machte sich durch das Gewirr enger, dunkler Gassen, die das Herz dieses unübersichtlichen Viertels von Kalkutta bildeten, auf den Weg zu Aryami Bosés Haus.

Er brauchte zehn Minuten bis zum Anwesen des letzten Mitglieds der Familie Bosé. Aryami lebte allein in einer alten Villa im bengalischen Stil. Das Haus lag hinter dichtem Grün verborgen, das seit Jahren ungehindert im Patio wucherte und dem Gebäude einen verlassenen, verwunschenen Anstrich gab. Doch kein Bewohner von Nord-Kalkutta, auch als die Schwarze Stadt bekannt, hätte es gewagt, über die Schwelle dieses Patios zu treten und sich in Aryami Bosés Reich zu begeben. Sie war ebenso geschätzt und geachtet wie gefürchtet. Es gab keine Menschenseele in den Straßen von Nord-Kalkutta, die nicht irgendwann in ihrem Leben von ihr und ihrer Familie gehört hätte. Für die Leute in der Gegend war sie so etwas wie ein Geist, mächtig und unsichtbar.

Peake rannte zu dem schwarzen, schmiedeeisernen Portal, von dem aus ein Weg durch die Büsche im Patio führte, und hastete die Marmortreppe zur Eingangstür hinauf. Die beiden Kinder auf dem Arm, hämmerte er mit der Faust gegen die Tür, in der Hoffnung, dass sein Klopfen nicht im tosenden Sturm unterging.

Der Leutnant klopfte minutenlang, den Blick unverwandt auf die verwaisten Straßen hinter sich gerichtet, weil er befürchtete, jeden Augenblick seine Verfolger dort auftauchen zu sehen. Als sich die Tür schließlich öffnete, drehte er sich um. Das Licht einer Laterne blendete ihn, und eine Stimme, die er seit fünf Jahren nicht mehr gehört hatte, sagte leise seinen Namen. Peake legte eine Hand vor die Augen und erkannte das undurchschaubare Gesicht von Aryami Bosé.

Die Frau sah ihn forschend an, dann fiel ihr Blick auf die Kinder. Ein schmerzlicher Schatten huschte über ihr Gesicht. Peake sah zu Boden.

»Sie ist tot, Aryami«, murmelte er. »Sie war schon tot, als ich kam …«

Aryami schloss die Augen und atmete tief durch. Peake merkte, dass sich die Bestätigung ihrer schlimmsten Befürchtungen in die Seele der Frau fraß wie Säure.

»Komm herein«, sagte sie schließlich, trat zur Seite und schloss dann die Tür hinter ihm.

Peake legte die Kinder auf einem Tisch ab und befreite sie von der durchnässten Kleidung. Aryami holte schweigend trockene Tücher und wickelte die Kinder darin ein, während Peake das Feuer schürte, damit ihnen warm wurde.

»Ich werde verfolgt«, sagte er. »Ich kann nicht hierbleiben.«

»Du bist verletzt«, stellte die Frau fest und deutete auf die klaffende Wunde, die er sich an dem Nagel in dem Geschäft zugezogen hatte.

»Nur ein Kratzer«, log Peake. »Es tut nicht weh.«

Aryami trat zu ihm und strich mit der Hand über sein schweißnasses Gesicht.

»Du hast sie immer geliebt …«

Peake wandte wortlos den Blick ab und sah zu den Kindern.

»Es hätten deine sein können«, sagte Aryami. »Vielleicht hätten sie dann mehr Glück gehabt.«

»Ich muss gehen, Aryami«, erklärte der Leutnant. »Wenn ich hierbleibe, werden sie nicht eher ruhen, bis sie mich gefunden haben.«

Die beiden wechselten einen verzweifelten Blick. Sie wussten, welches Schicksal Peake erwartete, wenn er auf die Straße zurückkehrte. Aryami ergriff die Hände des Leutnants und drückte sie fest.

»Ich bin nicht gut zu dir gewesen«, sagte sie. »Ich hatte Angst um meine Tochter, vor dem Leben, das sie an der Seite eines britischen Offiziers führen würde. Aber ich habe mich geirrt. Wahrscheinlich wirst du mir nie vergeben können.«

»Das hat jetzt keine Bedeutung mehr«, antwortete Peake. »Ich muss jetzt gehen.«

Peake trat ein letztes Mal zu den Kindern, die am wärmenden Feuer lagen. Die Babys lächelten ihn neugierig und mit strahlenden Augen an. Sie waren in Sicherheit. Der Leutnant ging zur Tür und seufzte tief. Nach den Minuten der Ruhe kehrten nun die bleierne Müdigkeit und der rasende Schmerz im Bein mit voller Wucht zurück. Er hatte seine Kräfte bis zum letzten Atemzug verbraucht, um die Babys hierherzubringen, und nun zweifelte er, ob er in der Lage sein würde, sich dem Unvermeidlichen zu stellen. Draußen peitschte nach wie vor der Regen durch die Sträucher. Von dem Verfolger und seinen gedungenen Mördern war nichts zu sehen.

»Michael …«, sagte Aryami hinter ihm.

Der Mann blieb stehen, ohne sich umzudrehen.

»Sie wusste es«, log Aryami. »Sie hat es immer gewusst, und ich bin sicher, dass sie deine Gefühle in gewisser Weise erwiderte. Es war meine Schuld. Trag es ihr nicht nach.«

Peake nickte schweigend und schloss dann die Tür hinter sich. Er blieb einige Sekunden im Regen stehen, dann ging er, innerlich ruhig, seinen Verfolgern entgegen. Er ging auf demselben Weg zurück bis zu der Stelle, wo er aus dem verlassenen Geschäft gekommen war, und verschwand erneut in den Schatten des alten Hauses, um nach einem Versteck zu suchen und abzuwarten.

Während er sich in der Dunkelheit verbarg, wurden die Erschöpfung und der Schmerz allmählich zu einem berauschenden Gefühl von Einsamkeit und Frieden. Auf seinen Lippen erschien ein Lächeln. Er hatte keinen Grund und keine Hoffnung mehr, weiterzuleben.

 

Die langen, spitzen Finger in dem schwarzen Handschuh strichen über die blutbefleckte Spitze des Nagels, der unter dem zersplitterten Holz am Kellereingang des Geschäfts lag. Während die Männer schweigend warteten, führte die hagere Gestalt, die ihr Gesicht unter einer schwarzen Kapuze verbarg, langsam den Zeigefinger an die Lippen und leckte genüsslich den zähflüssigen, dunklen Blutstropfen ab, als sei es ein Tropfen Honig. Dann wandte der Verhüllte sich zu den Männern um, die er vor Stunden für ein paar Münzen und die Aussicht auf eine weitere Zahlung nach Vollendung des Auftrags angeworben hatte, und deutete ins Innere des Gebäudes. Die drei kletterten rasch durch den Zugang, den Peake kurz zuvor geschaffen hatte. Der Mann mit der Kapuze lächelte in die Dunkelheit.

»Einen merkwürdigen Ort hast du dir zum Sterben ausgesucht, Leutnant Peake«, murmelte er vor sich hin.

Hinter einen Stapel leerer Kisten weiter hinten im Keller gekauert, beobachtete Peake die drei Gestalten, die in das Gebäude krochen. Obwohl er ihn von dort nicht sehen konnte, wusste er genau, dass ihr Auftraggeber auf der anderen Seite der Mauer wartete. Er spürte seine Gegenwart. Peake zog seinen Revolver und drehte die Trommel, bis sich eine der beiden Patronen in der Kammer vor dem Lauf befand, wobei er das Klacken der Waffe durch die durchnässte Tunika dämpfte, die er trug. Er hatte keine Angst mehr, in den Tod zu gehen, aber er würde sich nicht alleine auf den Weg machen.

Das Adrenalin, das durch seine Adern jagte, dämpfte den wütenden Schmerz im Bein, bis er nur noch ein leises, dumpfes Pochen war. Überrascht von seiner eigenen Ruhe, lächelte Peake erneut und blieb reglos in seinem Versteck hocken. Er sah, wie seine Häscher langsam durch die Gänge zwischen den leeren Regalen auf ihn zukamen, bis sie etwa zehn Schritte von ihm entfernt stehen blieben. Einer der drei Männer hob die Hand und deutete dann auf einige Fußspuren auf dem Boden. Peake hob die Waffe auf Höhe der Brust, zielte und spannte den Hahn.

Auf ein weiteres Handzeichen hin teilten sich die drei Männer auf. Zwei von ihnen gingen in einem langsamen Bogen in Richtung des Kistenstapels, der dritte kam genau auf Peake zu. Der Leutnant zählte lautlos bis fünf und stieß dann den Kistenstapel auf den Angreifer. Die Kisten stürzten über seinem Gegner zusammen, und Peake rannte zu der Maueröffnung, durch die sie gekommen waren.

Einer der Mörder stürzte durch einen Quergang auf ihn zu und hielt ihm das Messer knapp vors Gesicht. Bevor der Kerl siegesgewiss grinsen konnte, bohrte sich der Lauf von Peakes Revolver unter sein Kinn.

»Lass das Messer fallen«, zischte der Leutnant.

Der Mann sah Peakes eiskalten Blick und tat wie geheißen. Peake packte ihn brutal bei den Haaren und wandte sich, ohne die Waffe sinken zu lassen, den Komplizen zu, wobei er seine Geisel als Schutzschild benutzte. Die beiden anderen Mörder kamen lauernd näher.

»Leutnant, erspar uns die Szene und gib uns, was wir suchen«, murmelte eine vertraute Stimme hinter ihm. »Diese Männer sind brave Familienväter.«

Peake wandte sich zu dem Mann mit der Kapuze um, der ein paar Meter von ihm entfernt in der Dunkelheit stand und grinste. Es war noch nicht lange her, da hatte er dieses Gesicht als das eines Freundes geschätzt. Jetzt konnte er in ihm seinen Mörder sehen.

»Ich puste dem Kerl den Kopf weg, Jawahal«, stieß Peake hervor.

Seine Geisel schloss zitternd die Augen.

Der Mann mit der Kapuze verschränkte geduldig die Arme und seufzte gelangweilt.

»Nur zu, Leutnant«, erwiderte er, »aber das wird dich nicht hier rausbringen.«

»Ich meine es ernst«, entgegnete Peake und bohrte die Mündung des Revolvers in das Kinn des Mannes.

»Natürlich, Leutnant«, sagte Jawahal versöhnlich. »Schieß nur, wenn du den Mumm hast, kaltblütig und ohne den Befehl Seiner Majestät einen Mann zu ermorden. Sonst lass die Waffe fallen, und wir können eine Lösung finden, mit der uns beiden gedient ist.«

Die beiden bewaffneten Mörder waren reglos stehen geblieben, bereit, sich auf das erste Zeichen des Manns mit der Kapuze auf ihn zu stürzen. Peake lächelte.

»Also gut«, sagte er schließlich. »Wie findest du diese Lösung?«

Peake stieß seine Geisel zu Boden und fuhr mit erhobenem Revolver zu dem Mann mit der Kapuze herum. Der erste Schuss hallte durch den Keller. Die ausgestreckte, behandschuhte Hand des Mannes mit der Kapuze tauchte aus der Pulverwolke auf. Peake sah das verformte Projektil in der Dunkelheit aufblitzen, wo es sich langsam in einen Faden flüssigen Metalls verwandelte und zwischen den spitzen Fingern zerrann wie eine Handvoll Sand.

»Schlecht gezielt, Leutnant«, sagte der Mann mit der Kapuze. »Versuch’s noch einmal, aber diesmal von näher.«

Bevor Peake auch nur einen Muskel rühren konnte, packte der Mann mit der Kapuze seine Hand mit der Waffe und hielt sich die Mündung vors Gesicht, genau zwischen die Augen.

»Hat man dir das nicht in der Militärakademie beigebracht?«, zischte er.

»Wir waren einmal Freunde«, sagte Peake.

Jawahal grinste verächtlich.

»Diese Zeiten, Leutnant, sind vorbei«, antwortete er.

»Gott, vergib mir«, stieß Peake hervor, dann drückte er erneut ab.

Für Augenblicke, die ihm wie eine Ewigkeit vorkamen, sah Peake, wie die Kugel Jawahals Schädel durchschlug und ihm die Kapuze vom Kopf riss. Licht fiel durch die Wunde in dem zur grinsenden Fratze erstarrten Gesicht. Dann schloss sich die rauchende Öffnung, die das Projektil gerissen hatte, ganz langsam wieder, und Peake spürte, wie ihm der Revolver aus den Händen glitt.

Die glühenden Augen seines Gegners hefteten sich auf ihn, und eine lange, schwarze Zunge erschien zwischen den Lippen.

»Du kapierst es immer noch nicht, stimmt’s, Leutnant? Wo sind die Kinder?«

Es war keine Frage. Es war ein Befehl.

Starr vor Angst schüttelte Peake den Kopf.

»Ganz wie du willst.«

Jawahal zerquetschte die Hand des Leutnants, und Peake spürte, wie seine Fingergelenke unter dem Fleisch zersplitterten. Der Schmerz raubte ihm den Atem und ließ ihn in die Knie gehen.

»Wo sind die Kinder?«, fragte Jawahal noch einmal.

Peake wollte etwas sagen, doch der rasende Schmerz, der von der blutigen Masse ausging, die gerade eben noch seine Hand gewesen war, raubte ihm die Sprache.

»Willst du etwas sagen, Leutnant?«, flüsterte Jawahal und kniete sich neben ihn.

Peake nickte.

»Gut. Gut«, sagte sein Gegner lächelnd. »Offen gestanden macht es mir keinen Spaß, dich leiden zu sehen. Hilf mir, das Ganze zu Ende zu bringen.«

»Die Kinder sind tot«, behauptete Peake stöhnend.

Der Leutnant bemerkte die unwillige Miene, die auf Jawahals Gesicht erschien.

»Nein, nein. Du hast das gerade sehr gut gemacht, Leutnant. Mach es jetzt nicht kaputt.«

»Sie sind tot«, beteuerte Peake noch einmal.

Jawahal zuckte mit den Schultern und nickte dann langsam.

»Also gut«, sagte er. »Du lässt mir keine andere Wahl. Aber bevor du gehst, lass mich dich daran erinnern, dass du es nicht geschafft hast, Kylian zu retten, als ihr Leben in deinen Händen lag. Männer wie du sind schuld daran, dass sie gestorben ist. Aber die Tage dieser Männer sind gezählt. Du bist der letzte. Die Zukunft gehört mir.«

Peake sah flehend zu Jawahal auf und stellte fest, dass sich dessen Pupillen zu einem schmalen Schlitz in einem goldfarbenen Kreis verengten. Der Mann lächelte und streifte unendlich langsam den Handschuh ab, der seine rechte Hand umhüllte.

»Bedauerlicherweise wirst du nicht mehr lange genug leben, um es zu sehen«, setzte Jawahal hinzu. »Glaub nicht, dass deine Heldentat irgendeinen Sinn hatte. Du bist ein Dummkopf, Leutnant Peake. Ich hatte schon immer den Eindruck, und nun, in deiner Todesstunde, bestätigst du mich darin. Ich hoffe, es gibt eine Hölle für die Dummen, Peake, denn dorthin werde ich dich schicken.«

Peake schloss die Augen und hörte das Knistern von Feuer wenige Zentimeter vor seinem Gesicht. Dann, nach einem schier endlosen Augenblick, schlossen sich glühende Finger um seinen Hals und drückten ihm den letzten Atem ab. In der Ferne hörte er das Pfeifen jenes verfluchten Zuges und die gespenstischen Schreie Hunderter Kinder in den Flammen. Dann wurde es dunkel um ihn.

 

Aryami Bosé ging durchs Haus und löschte nacheinander alle Kerzen. Nur die schwache Glut im Kamin, die flüchtige Lichtkreise auf die kahlen Wände warf, ließ sie brennen. Die Kinder schliefen vor dem wärmenden Feuer, und nur das Trommeln des Regens auf den geschlossenen Fensterläden und die knisternden Funken durchbrachen die Grabesstille, die im ganzen Haus herrschte. Stumme Tränen liefen über Aryamis Gesicht und tropften auf ihr goldfarbenes Kleid, als sie mit zitternden Händen das Bild ihrer Tochter Kylian nahm, das sie zusammen mit anderen Schätzen in einem Kästchen aus Bronze und Elfenbein aufbewahrte.

Ein alter Straßenfotograf aus Bombay hatte es einige Zeit vor der Hochzeit aufgenommen, ohne eine Bezahlung dafür anzunehmen. Das Bild zeigte das Mädchen so, wie Aryami es in Erinnerung hatte, umgeben von diesem seltsamen Leuchten, das von Kylian auszugehen schien und alle in seinen Bann zog, die ihr begegneten. Auch das Expertenauge des Fotografen schien sie verzaubert zu haben, denn er hatte ihr den Namen gegeben, unter dem alle sie kannten: die Prinzessin des Lichts.

Natürlich war Kylian keine richtige Prinzessin. Ihr Königreich waren die Straßen, in denen sie aufgewachsen war. Als Kylian das Haus der Bosés verließ, um mit ihrem Mann zu leben, und eine weiße Kutsche die Prinzessin der Schwarzen Stadt für immer davontrug, verabschiedeten sich die Leute vom Machua Basar mit Tränen in den Augen von ihr. Sie war noch fast ein Kind, als das Schicksal sie mitnahm und nie wieder zurückbrachte.

Aryami hockte sich zu den Kindern vors Feuer und presste die alte Fotografie an ihre Brust. Der Sturm heulte erneut auf, und Aryamis Zorn gab ihr die Kraft, zu entscheiden, was sie nun tun sollte. Leutnant Peakes Verfolger würde sich nicht damit zufriedengeben, ihn zu töten. Peakes Mut hatte ihr einige kostbare Minuten geschenkt, die sie unter keinen Umständen verschwenden durfte, auch nicht, um ihre Tochter zu beweinen. Die Erfahrung hatte sie gelehrt, dass die Zukunft ihr unerträglich viel Zeit geben würde, die Fehler der Vergangenheit zu bereuen.

 

Sie legte die Fotografie in das Kästchen zurück und nahm das Medaillon, das sie vor Jahren für Kylian hatte anfertigen lassen, ein Schmuckstück, das sie nie getragen hatte. Das Medaillon bestand aus zwei Goldscheiben, einer Sonne und einem Mond, die genau aufeinanderpassten und so eine Einheit bildeten. Als sie auf das Medaillon drückte, trennten sich die beiden Teile. Aryami befestigte an jeder der beiden Scheiben ein Goldkettchen und legte sie den Kindern um den Hals.

Während sie damit beschäftigt war, dachte die Frau darüber nach, welche Entscheidungen sie nun treffen sollte. Es schien nur einen Weg zu geben, damit die Kinder überlebten: Sie musste sie trennen, ihre Vergangenheit auslöschen und ihnen selbst und der Welt ihre Identität vorenthalten, so schmerzhaft das auch sein mochte. Sie konnte sie nicht zusammenlassen, ohne dass sie sich früher oder später verrieten. Es war ein Risiko, das sie um keinen Preis eingehen durfte. Und sie musste unbedingt noch vor dem Morgen eine Lösung für dieses Problem finden.

Aryami nahm die beiden Babys auf den Arm und küsste sie zärtlich. Die kleinen Händchen streichelten ihr Gesicht, und winzige Finger tasteten nach den Tränen, die ihre Wangen hinabrannen, während fröhliche Augen sie ansahen, ohne zu begreifen. Sie drückte die Kinder noch einmal an sich und legte sie dann in das Bettchen zurück, das sie für sie hergerichtet hatte.

Gleich nachdem sie sie hingelegt hatte, entzündete sie eine Lampe und griff zu Papier und Feder. Die Zukunft ihrer Enkelkinder lag nun in ihren Händen. Sie seufzte und begann dann zu schreiben. In der Ferne konnte sie den Regen hören, der allmählich nachließ, und das Heulen des Sturms, der nach Norden davonzog und eine nicht enden wollende Sternendecke über Kalkutta breitete.

 

Mit seinen nunmehr fünfzig Jahren hatte Thomas Carter geglaubt, dass Kalkutta, das seit dreiunddreißig Jahren seine Heimat war, keine Überraschungen mehr für ihn bereithalte.

Doch am Morgen jenes Maitages im Jahre 1916, nach einem der heftigsten Stürme außerhalb der Monsunzeit, an den er sich erinnern konnte, erwartete ihn eine Überraschung vor der Tür des Waisenhauses St. Patrick’s: ein Korb mit einem Kind und ein gesiegelter, an ihn persönlich gerichteter Brief.

Es war eine doppelte Überraschung. Zum einen hielt sich in Kalkutta niemand damit auf, ein Kind vor der Tür eines Waisenhauses auszusetzen; überall in der Stadt gab es Gassen, Müllkippen und Brunnen, wo man das viel bequemer tun konnte. Und zum anderen schrieb niemand Erklärungen wie diese, samt Unterschrift, die keinen Zweifel an ihrem Absender ließ.

Carter hielt seine Brille gegen das Licht und hauchte auf die Gläser, um sie dann mit einem groben, alten Baumwolltuch blankzuputzen, das er mindestens fünfundzwanzig Mal am Tag für diesen Zweck benutzte, in den Monaten des indischen Sommers sogar noch öfter.

Das Kind befand sich unten im Zimmer von Oberschwester Vendela, die es aufmerksam bewachte, nachdem Dr. Woodward den Kleinen untersucht hatte. Man hatte den Arzt kurz vor Tagesanbruch aus dem Schlaf gerissen und ihn auf seinen hippokratischen Eid hingewiesen, ohne ihm weitere Erklärungen zu geben.

Der Junge war kerngesund. Er zeigte Anzeichen von Austrocknung, schien aber nicht an einer der vielen Fiebererkrankungen zu leiden, die das Leben so vieler Kinder auslöschten und ihnen das Recht verweigerte, alt genug zu werden, um den Namen ihrer Mutter aussprechen zu lernen. Alles, was er bei sich hatte, war ein goldenes Medaillon in Form einer Sonne, das Carter nun in Händen hielt, und dieser Brief. Ein Brief, der ihn in eine vertrackte Situation brachte, falls er echt war, und es fiel ihm schwer, zu einem anderen Schluss zu kommen.

Carter schloss das Medaillon in der obersten Schreibtischschublade ein, nahm dann erneut den Brief zur Hand und las ihn zum wiederholten Mal.

Sehr geehrter Mr Carter,

ich sehe mich gezwungen, Sie unter äußerst traurigen Umständen um Ihre Hilfe zu bitten und dabei an die Freundschaft zu appellieren, die Sie mehr als zehn Jahre lang mit meinem verstorbenen Mann verband. In dieser Zeit wurde mein Mann nicht müde, wahre Loblieder auf Ihre Ehrenhaftigkeit zu singen und zu beteuern, wie sehr er Ihnen vertraue. Deshalb flehe ich Sie heute an, meiner Bitte mit der größten Dringlichkeit und größtmöglichen Vertraulichkeit zu entsprechen.

Der Junge, den ich Ihnen anvertrauen muss, hat seine Eltern durch die Hand eines Mörders verloren, der sich geschworen hat, beide zu töten und auch ihre Nachkommen zu vernichten. Ich kann und will Ihnen die Gründe nicht darlegen, die ihn dazu bewegten, ein solches Verbrechen zu begehen. Es muss genügen, wenn ich Ihnen sage, dass der Fund des Jungen geheim bleiben muss und Sie unter keinen Umständen die Polizei oder die britischen Behörden davon in Kenntnis setzen dürfen, denn der Mörder verfügt über Beziehungen zu beiden Organisationen, die ihn in kürzester Zeit hierherführen würden.

Aus offensichtlichen Gründen kann ich den Jungen nicht bei mir großziehen, ohne ihn der Gefahr auszusetzen, dasselbe Schicksal zu erleiden wie seine Eltern. Deshalb bitte ich Sie, sich seiner anzunehmen, ihm einen Namen zu geben und ihn nach den hehren Grundlagen Ihres Hauses zu erziehen, damit er ein ebenso geachteter und achtbarer Mensch wird, wie es seine Eltern waren.

Mir ist bewusst, dass der Junge niemals von seiner Vergangenheit erfahren wird, aber genau das ist von lebenswichtiger Bedeutung.

Ich habe nicht die Zeit, Ihnen weitere Einzelheiten mitzuteilen, und sehe mich ein weiteres Mal gezwungen, Sie an Ihre Freundschaft zu meinem Mann zu erinnern und an das Vertrauen, das Sie zu ihm hatten, um meine Bitte zu legitimieren.

Ich bitte Sie, dieses Schreiben nach dem Lesen zu vernichten, ebenso jeden Hinweis, der den Aufenthaltsort des Jungen verraten könnte. Es tut mir leid, dass ich diese Bitte nicht persönlich vorbringen kann, doch der Ernst der Lage hindert mich daran.

In dem Vertrauen, dass Sie die richtige Entscheidung treffen, versichere ich Sie meiner ewigen Dankbarkeit.

Aryami Bosé

Ein Klopfen an der Tür riss ihn aus der Lektüre. Carter nahm die Brille ab, faltete sorgfältig den Brief, legte ihn in die Schreibtischschublade und schloss ab.

»Herein!«, rief er dann.

Vendela, die Oberschwester von St. Patrick’s, lugte mit ihrer ewig mürrischen, geschäftigen Miene in sein Büro. Ihr Blick verhieß nichts Gutes.

»Unten ist ein Herr, der Sie sprechen möchte«, sagte sie kurz angebunden.

Carter runzelte die Stirn.

»Wer ist es?«

»Das wollte er mir nicht sagen«, antwortete die Schwester, aber ihr Gesichtsausdruck machte deutlich, dass das alles irgendwie verdächtig roch.

Nach kurzem Zögern betrat Vendela das Büro und schloss die Tür hinter sich.

»Ich glaube, es hat etwas mit dem Jungen zu tun«, sagte sie beunruhigt. »Ich habe ihm nichts davon gesagt.«

»Haben Sie mit sonst jemandem darüber gesprochen?«, fragte Carter.

Vendela schüttelte den Kopf. Carter nickte und ließ den Schlüssel zu seinem Schreibtisch in die Hosentasche gleiten.

»Ich könnte ihm sagen, dass Sie im Moment nicht da sind«, schlug Vendela vor.

Carter dachte kurz über diese Option nach und kam dann zu dem Schluss, dass es nur den Eindruck erwecken würde, als hätte St. Patrick’s etwas zu verbergen – falls Vendelas Vermutungen in die richtige Richtung gingen, und das taten sie eigentlich immer. Damit stand sein Entschluss fest.

»Nein. Ich werde ihn empfangen, Vendela. Lassen Sie ihn raufkommen, und achten Sie darauf, dass niemand vom Personal mit ihm spricht. Absolutes Stillschweigen über diese Sache. Klar?«

»Verstanden.«

Während er erneut seine Brille putzte, hörte Carter Vendela den Gang hinuntergehen und stellte fest, dass der Regen wieder heftiger gegen die Fensterscheibe prasselte.

 

Der Mann trug einen langen schwarzen Umhang, und um seinen Kopf war ein Turban geschlungen, an dem ein schwarzes Medaillon mit einer Schlange zu erkennen war. Sein gemessenes Auftreten legte die Vermutung nahe, dass es sich um einen reichen Händler aus Nord-Kalkutta handelte. Seine Gesichtszüge waren die eines Hindus, doch seine Haut wirkte krankhaft blass. Es war die Haut eines Mannes, der nie das Sonnenlicht sah. In den buntgemischten Straßen Kalkuttas tummelten sich Bengalen, Armenier, Juden, Angelsachsen, Chinesen, Muslime und so viele andere, die im Land der Göttin Kali ihr Glück oder Zuflucht suchten. Dieses Gesicht konnte jeder und keiner dieser Gruppen angehören.

Carter spürte den bohrenden Blick des Besuchers im Rücken, der ihn musterte, während er auf dem Tablett, das Vendela ihnen gebracht hatte, zwei Tassen Tee einschenkte.

»Nehmen Sie doch bitte Platz«, forderte Carter den Fremden höflich auf. »Zucker?«

»Ich trinke ihn wie Sie.«

Die Stimme des Unbekannten war völlig ausdruckslos. Carter schluckte, dann setzte er ein freundliches Lächeln auf, drehte sich um und reichte dem Mann die Teetasse. Lange, spitze Finger in einem schwarzen Handschuh schlossen sich ohne zu zögern um das heiße Porzellan. Carter nahm in seinem Sessel Platz und rührte den Zucker in seiner Tasse um.

»Es tut mir leid, dass ich Sie um diese Zeit störe, Mr Carter. Ich kann mir vorstellen, dass Sie viel zu tun haben, also werde ich mich kurz fassen.«

Carter nickte höflich.

»Was ist der Grund Ihres Besuchs, Herr …«