Der Seelenbrecher - Sebastian Fitzek - E-Book
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Der Seelenbrecher E-Book

Sebastian Fitzek

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Beschreibung

Sebastian Fitzek auf Nervenkitzel-Kurs: Sein bisher härtester Psychothriller! Sie wurden nicht vergewaltigt. Nicht gefoltert. Nicht getötet. Ihnen geschah viel Schlimmeres ... Drei Frauen – alle jung, schön und lebenslustig – verschwinden spurlos. Nur eine Woche in den Fängen des Psychopathen, den die Presse den »Seelenbrecher« nennt, genügt: Als die Frauen wieder auftauchen, sind sie psychisch gebrochen – wie lebendig in ihrem Körper begraben. Kurz vor Weihnachten wird Der Seelenbrecher wieder aktiv, ausgerechnet in einer psychiatrischen Luxusklinik. Ärzte und Patienten müssen entsetzt feststellen, dass man den Täter unerkannt eingeliefert hat, kurz bevor die Klinik durch einen Schneesturm völlig von der Außenwelt abgeschnitten wurde. In der Nacht des Grauens, die nun folgt, zeigt Der Seelenbrecher, dass es kein Entkommen gibt … Mit psychologischer Raffinesse und atemberaubender Spannung entführt Sebastian Fitzek seine Leser in die dunklen Abgründe der menschlichen Seele.

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Seitenzahl: 366

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Sebastian Fitzek

Der Seelenbrecher

Psychothriller

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Sie wurden nicht vergewaltigt. Nicht gefoltert. Nicht getötet. Ihnen geschah viel Schlimmeres ...

Drei Frauen – alle jung, schön und lebenslustig – verschwinden spurlos. Nur eine Woche in den Fängen des Psychopathen, den die Presse den »Seelenbrecher« nennt, genügt: Als die Frauen wieder auftauchen, sind sie psychisch gebrochen – wie lebendig in ihrem Körper begraben. Kurz vor Weihnachten wird der Seelenbrecher wieder aktiv, ausgerechnet in einer psychiatrischen Luxusklinik. Ärzte und Patienten müssen entsetzt feststellen, dass man den Täter unerkannt eingeliefert hat, kurz bevor die Klinik durch einen Schneesturm völlig von der Außenwelt abgeschnitten wurde. In der Nacht des Grauens, die nun folgt, zeigt der Seelenbrecher, dass es kein Entkommen gibt …

Inhaltsübersicht

Widmung

Motto

71 Tage vor der Angst

Heute, 10.14 Uhr – Sehr viel später, viele Jahre nach der Angst

17.49 Uhr, einen Tag vor Heiligabend – Neun Stunden und neunundvierzig Minuten vor der Angst

17.56 Uhr

Echorausch

»… oder was meinen Sie?«, [...]

18.07 Uhr

18.17 Uhr

18.23 Uhr

18.31 Uhr

18.39 Uhr

18.56 Uhr

19.06 Uhr

19.10 Uhr

19.18 Uhr

19.24 Uhr

00.26 Uhr, Heiligabend – Drei Stunden und zwölf Minuten vor der Angst

00.34 Uhr

00.36 Uhr

00.41 Uhr

00.43 Uhr

00.47 Uhr

01.12 Uhr – Zwei Stunden und sechsundzwanzig Minuten vor der Angst

01.22 Uhr

01.31 Uhr

01.33 Uhr

01.37 Uhr

Heute, 12.34 Uhr – Sehr viel später, viele Jahre nach der Angst

01.41 Uhr – Hundertsiebzehn Minuten vor der Angst

01.49 Uhr

Echorausch

01.58 Uhr

02.07 Uhr

02.10 Uhr

02.16 Uhr

02.18 Uhr

02.20 Uhr

02.22 Uhr

02.26 Uhr

Echorausch

02.31 Uhr

02.36 Uhr

02.39 Uhr

02.43 Uhr

Heute, 13.32 Uhr – Sehr viel später, viele Jahre nach der Angst

Echorausch

02.58 Uhr – Vierzig Minuten vor der Angst

03.01 Uhr

03.03 Uhr

03.06 Uhr

03.09 Uhr

03.11 Uhr

03.12 Uhr

03.13 Uhr – Außerhalb der Klinik

03.15 Uhr – Innerhalb der Klinik

Echorausch

03.20 Uhr

03.23 Uhr

03.25 Uhr

03.26 Uhr

03.29 Uhr

03.31 Uhr

03.32 Uhr

03.34 Uhr

03.37 Uhr – Eine Minute vor der Angst

05.13 Uhr – Fünfundneunzig Minuten seit Beginn der Angst

Heute, 14.56 Uhr – Sehr viel später, viele Jahre nach der Angst

Heute, 15.07 Uhr

Heute, 15.13 Uhr

Heute, 15.15 Uhr

Heute, 15.42 Uhr

Ergänzung, Danksagung und Entschuldigung

Leseprobe »Die Einladung«

Das Quiz für dein nächstes Fitzek-Abenteuer

Für Gerlinde

Ich habe keine Angst vor dem Tod.

Ich möchte nur nicht dabei sein, wenn es passiert.

Woody Allen

71 Tage vor der Angst

Seite 1ff. der Patientenakte Nr. 131071/VL

Zum Glück war alles nur ein Traum. Sie war nicht nackt. Und ihre Beine waren auch nicht an diesen vorsintflutlichen Gynäkologenstuhl gefesselt, während der Wahnsinnige auf einem verrosteten Beistelltisch seine Instrumente sortierte. Als er sich umdrehte, konnte sie zunächst nicht erkennen, was er in seiner blutverkrusteten Hand hielt. Dann, als sie es sah, wollte sie die Augen schließen, doch es gelang ihr nicht. Sie konnte den Blick nicht von dem glühenden Lötkolben wenden, der sich langsam ihrer Körpermitte näherte. Der Fremde mit dem verbrühten Gesicht hatte ihre beiden Lider nach oben geklappt und mit einem Drucklufttacker in den Augenhöhlen fixiert. Sie dachte, größere Schmerzen würde sie in dem kurzen Rest ihres Lebens nicht mehr spüren. Doch als der Lötkolben aus ihrem Gesichtsfeld verschwand und es zwischen ihren Beinen immer heißer wurde, ahnte sie, dass die Qualen der letzten Stunden nur ein Vorspiel gewesen waren.

Dann, in einem Moment, in dem sie bereits glaubte, den Geruch versengten Fleisches zu riechen, wurde alles durchsichtig. Der nasskalte Keller, in den man sie verschleppt hatte, die zitternde Halogenlampe über ihrem Kopf, der Folterstuhl und der Metalltisch verflüchtigten sich – zurück blieb ein schwarzes Nichts.

Gott sei Dank, dachte sie, nur ein Traum.Sie schlug die Augen auf. Und begriff nichts.

Der Alptraum, in dem sie eben noch gefangen gewesen war, hatte seine Gestalt nicht verloren, sondern nur verändert.

Wo bin ich?

Der Inneneinrichtung nach war es ein heruntergekommenes Hotelzimmer. Die fleckige Tagesdecke auf dem altersschwachen Doppelbett war ähnlich verdreckt und mit ebenso vielen Brandlöchern übersät wie die grün-bräunliche Auslegeware. Die Tatsache, dass sie die rauhen Teppichfasern unter ihren Füßen spüren konnte, ließ sie auf dem unbequemen Holzstuhl noch mehr verkrampfen.

Ich bin barfuß. Warum trage ich keine Schuhe? Und wieso sitze ich in einer Hinterhofabsteige und starre auf das verschneite Testbild eines Schwarzweißfernsehers?

Die Fragen knallten wie Billardkugeln an die Banden ihrer Schädeldecke. Plötzlich zuckte sie zusammen, als hätte ihr jemand einen Schlag verpasst. Dann sah sie zur Lärmquelle. Zur Zimmertür. Sie bebte einmal, dann erneut, und schließlich flog sie auf. Zwei Polizisten stürmten herein. Beide uniformiert, beide bewaffnet, so viel konnte sie erkennen. Zuerst zielten ihre Waffen auf ihren Oberkörper, doch dann senkten sie sie langsam, und die angespannte Nervosität in ihren Gesichtern wich fassungslosem Entsetzen.

»Verdammt, was ist denn hier passiert?«, hörte sie den kleineren der beiden fragen, der die Tür eingetreten hatte und zuerst hereingestürmt war. »Sanitäter«, brüllte der andere. »Ein Arzt. Wir brauchen sofort Hilfe!«

Gott sei Dank, dachte sie nun zum zweiten Mal innerhalb weniger Sekunden. Sie konnte vor Angst kaum atmen, der ganze Körper tat ihr weh, und sie roch nach Kot und Urin. Das alles und die Tatsache, dass sie nicht wusste, wie sie hierhergekommen war, ließ sie fast wahnsinnig werden, aber immerhin standen jetzt zwei Polizisten vor ihr und wollten medizinische Hilfe holen. Das war nicht gut, aber immer noch wesentlich besser als der Irre mit dem Lötkolben.

Es dauerte nur wenige Sekunden, da stürmte ein kahlköpfiger Rettungsarzt mit einem Ohrring in das Zimmer und kniete neben ihr nieder. Offenbar waren die Einsatzkräfte bereits mit einem Unfallwagen angerückt. Auch kein gutes Zeichen.

»Können Sie mich hören?«

»Ja …«, antwortete sie dem Arzt, dessen Augenringe so aussahen, als wären sie auf ewig in sein Gesicht tätowiert. »Sie scheint mich nicht zu verstehen.«

»Doch, doch.« Sie wollte ihren Arm heben, doch ihre Muskeln gehorchten ihr nicht.

»Wie heißen Sie?« Der Arzt nahm eine Kugelschreibertaschenlampe aus der Brusttasche seines Hemdes und leuchtete ihr in die Augen.

»Vanessa«, krächzte sie und ergänzte dann: »Vanessa Strassmann.«

»Ist sie tot?«, hörte sie einen der Polizisten von hinten fragen.

»Verdammt, die Pupillen reagieren kaum auf Licht. Und sie scheint uns weder zu hören noch zu sehen. Sie ist katatonisch, vielleicht komatös.«

»Aber das ist doch Blödsinn«, schrie Vanessa jetzt und wollte aufstehen, doch sie konnte noch nicht einmal ihren Arm heben.

Was geht hier vor?

Sie wiederholte den Gedanken laut und gab sich Mühe, so deutlich wie möglich zu sprechen. Niemand schien ihr zuhören zu wollen. Stattdessen wandten sich alle von ihr ab und redeten mit jemandem, den sie bislang noch gar nicht gesehen hatte.

»Und wie lange, sagten Sie, hat sie dieses Zimmer nicht mehr verlassen?«

Der Kopf des Rettungsarztes versperrte ihr die Sicht zur Tür. Von dort kam jetzt die Stimme einer jungen Frau: »Bestimmt seit drei Tagen. Vielleicht auch länger. Hab mir schon gedacht, dass mit der was nicht stimmt, als die eincheckte. Aber sie hat gesagt, sie will nicht gestört werden.«

Was erzählt die für einen Quatsch? Vanessa schüttelte den Kopf. Ich würde nie freiwillig hier absteigen. Nicht eine Nacht!

»Ich hätte sie ja auch nicht gerufen, aber dieses schreckliche Röcheln wurde immer lauter, und …«

»Schauen Sie mal!« Das war die Stimme des kleineren Polizisten, direkt neben ihrem Ohr.

»Was?«

»Da ist doch was. Da.«

Vanessa spürte, wie der Arzt ihre Finger auseinanderbog und vorsichtig mit der Pinzette etwas aus ihrer linken Hand entfernte.

»Was ist das?«, fragte der Polizist.

Sie war ebenso erstaunt wie alle anderen im Zimmer. Vanessa hatte gar nicht gemerkt, dass sie überhaupt etwas gehalten hatte.

»Ein Notizzettel.«

Der Arzt öffnete das in der Mitte gefaltete Papier. Vanessa verdrehte die Augen, so dass sie einen Blick darauf werfen konnte, doch sie sah nur unverständliche Hieroglyphen. Der Text war in einer ihr völlig fremden Sprache verfasst.

»Was steht drauf?«, fragte der andere Beamte von der Tür aus.

»Komisch.« Der Arzt runzelte die Stirn und las vor: »Man kauft es nur, um es gleich wieder wegzuwerfen.«

Um Himmels willen. Die Tatsache, dass der Rettungsarzt die wenigen Worte ohne zu zögern abgelesen hatte, machte ihr das ganze Ausmaß des Alptraums deutlich, der sie gefangen hielt. Aus irgendeinem Grund war ihr jegliche Kommunikationsfähigkeit abhandengekommen. Vanessa konnte in diesem Augenblick weder sprechen noch lesen, und sie ahnte, dass sie sogar das Schreiben verlernt hatte.

Der Arzt leuchtete ihr wieder direkt in die Pupillen, und auf einmal schienen auch ihre restlichen Sinne betäubt zu sein: Sie konnte den Gestank ihres Körpers nicht mehr riechen, den Teppich unter ihren nackten Füßen nicht mehr spüren, sie merkte nur noch, wie die Angst in ihr immer größer und das Stimmengewirr um sie herum immer leiser wurde. Denn kaum hatte der Arzt den kurzen Satz auf dem Zettel vorgelesen, hatte eine unsichtbare Macht von ihr Besitz ergriffen.

»Man kauft es nur, um es gleich wieder wegzuwerfen.«

Eine Macht, die ihre kalte Hand nach ihr ausstreckte und sie hinabzog. Zurück an den Ort, den sie niemals im Leben wiedersehen wollte und den sie erst vor wenigen Minuten verlassen hatte.

Es war kein Traum. Oder doch?

Sie versuchte, dem Arzt ein Zeichen zu geben, doch als sich dessen Konturen langsam auflösten, begann sie zu begreifen, und nacktes Grauen ergriff sie. Man hatte sie wirklich nicht gehört. Weder der Arzt, noch die Frau noch die Polizisten hatten mit ihr reden können. Denn sie war nie in dieser Absteige aufgewacht. Im Gegenteil. Als die Halogenlampe über ihr wieder zu flackern begann, wusste sie es: Sie war ohnmächtig geworden, als die Folter begann. Nicht der Irre, sondern das Hotelzimmer war Teil eines Traums gewesen, der jetzt vor der grausamen Realität die Flucht ergriff.

Oder irre ich mich schon wieder? Hilfe. Helft mir! Ich kann nichts mehr unterscheiden. Was ist real? Was nicht?

Und schon war alles wieder so wie zuvor. Der nasse Keller, der Metalltisch, der gynäkologische Stuhl, auf dem sie gefesselt lag. Nackt. So nackt, dass sie den Atem des Wahnsinnigen zwischen ihren Beinen spürte. Er hauchte sie an. Dort, wo sie am empfindlichsten war. Dann tauchte sein vernarbtes Gesicht kurz vor ihren Augen auf, und ein lippenloser Mund sagte: »Hab die Stelle nur noch mal markiert. Jetzt kann es losgehen.«

Er griff zum Lötkolben.

Heute, 10.14 Uhr – Sehr viel später, viele Jahre nach der Angst

Und, meine Damen und Herren, was sagen Sie zu dieser Einführung? Eine Frau wacht aus einem Alptraum auf und befindet sich sofort im nächsten. Interessant, oder?«

Der Professor stand von der langgestreckten Eichenholztafel auf und sah in die verstörten Gesichter seiner Studenten.

Erst jetzt fiel ihm auf, dass seine Zuhörer sich heute Morgen mehr Mühe mit ihrer Kleiderauswahl gegeben hatten als er selbst. Er hatte wie immer blind irgendeinen zerknitterten Anzug aus seinem Kleiderschrank gegriffen. Der Verkäufer hatte ihn damals zu dem sündhaft teuren Kauf überredet, weil der dunkle Zweireiher angeblich so hervorragend mit der Farbe seiner schwarzen Haare harmoniere, die er seinerzeit in einem lächerlichen Anflug postpubertärer Rebellion noch etwas länger trug.

Wenn er heute, viele Jahre später, wieder etwas kaufen wollte, was zu seiner Frisur passte, müsste der Anzug aschgrau sein, lichte Stellen haben und auf dem Rücken ein Loch wie eine Mönchstonsur aufweisen.

»Was sagen Sie?«

Er spürte ein brennendes Ziehen in seinem Meniskus, als er unvernünftigerweise einen Schritt zur Seite trat. Nur sechs hatten sich freiwillig gemeldet. Vier Frauen, zwei Männer. Typisch. Bei derartigen Versuchen waren die Frauen immer in der Überzahl. Entweder weil sie mutiger waren oder weil sie noch dringender das Geld benötigten, das er in dem Aushang am Schwarzen Brett für die Teilnahme an diesem psychiatrischen Experiment ausgelobt hatte.

»Entschuldigen Sie, habe ich das richtig verstanden?«

Linke Seite, zweiter Platz. Der Professor sah auf die Liste vor sich, um den Namen des Probanden zu ermitteln, der sich gerade zu Wort gemeldet hatte: Florian Wessel, 3. Semester.

Der Student hatte beim Lesen der Einführung einen perfekt gespitzten Bleistift über den Zeilen schweben lassen. Eine kleine, halbmondförmige Narbe unter dem rechten Auge deutete auf seine Mitgliedschaft in einer schlagenden Verbindung. Jetzt legte er das Schreibgerät zwischen die Seiten und schlug die Akte zu. »Das hier soll ein medizinisches Behandlungsprotokoll sein?«

»In der Tat.« Der Professor gab dem jungen Mann mit einem gutmütigen Lächeln zu verstehen, dass er seine Verwunderung gut nachvollziehen konnte. Sie war sozusagen Bestandteil des Experiments.

»Lötkolben? Folter? Polizei? Mit Verlaub, aber das liest sich eher wie der Beginn eines Thrillers und nicht wie eine Patientenakte.«

Mit Verlaub? Es war lange her, dass er diese antiquierte Phrase gehört hatte. Der Professor fragte sich, ob der streng gescheitelte Student immer so redete oder ob es nur die melancholische Patina ihres ungewöhnlichen Aufenthaltsorts war, die auf seinen Sprachgebrauch abfärbte. Er wusste, dass die schreckliche Geschichte des Gebäudes einige von der Teilnahme abgeschreckt hatte. Zweihundert Euro hin, zweihundert Euro her.

Aber genau darin lag ja der Reiz. Das Experiment genau hier durchzuführen und nicht woanders. Es gab für den Test keinen besseren Ort, auch wenn es im ganzen Komplex nach Schimmel roch und es so kalt war, dass sie kurzfristig überlegt hatten, ob sie nicht den Kamin von dem Müll befreien und in Gang setzen sollten. Immerhin war heute der dreiundzwanzigste Dezember, und die Temperaturen lagen deutlich unter dem Gefrierpunkt. Schließlich hatten sie zwei Ölradiatoren gemietet, die den hohen Raum jedoch nur unzureichend aufheizten.

»Sie sagen, es liest sich wie ein Thriller?«, wiederholte der Professor. »Nun, damit liegen Sie gar nicht so falsch.«

Er presste seine Handflächen in spitzer Gebetshaltung zusammen und roch an seinen verschrumpelten Fingerspitzen. Sie erinnerten ihn an die groben Hände seines Großvaters. Doch der hatte, im Gegensatz zu ihm, sein Leben lang im Freien arbeiten müssen.

»Der Arzt, in dessen Praxisnachlass man das Dokument gefunden hat, das Sie gerade in Händen halten, war einer meiner Kollegen, ein Psychiater. Viktor Larenz. Sein Name dürfte Ihnen im Laufe Ihres Studiums bereits begegnet sein.«

»Larenz? Ist der nicht tot?«, wollte ein Student wissen, der sich erst gestern für den Versuch angemeldet hatte.

Der Professor sah wieder auf die Liste und identifizierte den Mann mit den schwarzgefärbten Haaren als Patrick Hayden. Er und seine Freundin Lydia saßen dicht nebeneinander. Die Lücke zwischen ihren Körpern war so schmal, dass man selbst mit Zahnseide nur schwer dazwischengekommen wäre, was vor allem auf Patricks Initiative zurückzuführen war. Wann immer Lydia sich etwas mehr Bewegungsfreiheit verschaffen wollte, legte er den Arm noch fester um ihre Schultern und zog sie besitzergreifend wieder an sich zurück. Er trug ein Sportsweatshirt mit dem intelligenten Aufdruck »Jesus liebt dich«. Knapp darunter stand kaum leserlich: »Jeder andere denkt, du bist ein Arschloch.« Patrick hatte es schon einmal getragen, als er zu ihm gekommen war, um sich über eine schlechte Klausurnote zu beschweren.

»Viktor Larenz tut hier nichts zur Sache«, winkte der Professor ab. »Seine Geschichte ist für den Test heute Abend nicht von Relevanz.«

»Und worum geht es dann?«, wollte Patrick wissen. Er schlug die Beine unter dem Tisch zusammen. Die Schnürsenkel seiner Lederstiefel waren nicht zugebunden, damit die professionell zerrissene Jeans nicht einfach so über die umgeklappte Lasche fallen konnte. Sonst würde ja niemand das Designerlabel am Knöchel sehen.

Der Professor musste lächeln. Offene Schuhe, zerrissene Hosen, blasphemische Sweatshirts. Irgendjemand in der Modeindustrie musste es sich zur Aufgabe gemacht haben, die Alpträume seiner konservativen Eltern zu Geld zu machen.

»Nun, Sie müssen wissen …« Er setzte sich wieder an seinen Platz am Kopfende der Tafel und öffnete eine zerschlissene Ledertasche, die so aussah, als würde sie von einem Haustier als Kratzbaum benutzt.

»Das, was Sie gerade gelesen haben, ist wirklich geschehen. Die Handakten, die ich Ihnen ausgeteilt habe, sind nur einfache Kopien eines wahren Tatsachenberichts.« Der Professor zog ein altes Taschenbuch hervor. »Das hier ist das Original.« Er stellte den dünnen Band auf den Tisch.

Der Seelenbrecher stand in roten Lettern auf dem grünlichen Einband. Darüber zog das schemenhafte Bild eines Mannes die Aufmerksamkeit auf sich, der durch einen nebelartigen Schneesturm in ein dunkles Gebäude zu flüchten schien.

»Lassen Sie sich von der äußeren Form nicht täuschen. Es wirkt auf den ersten Blick wie ein herkömmlicher Roman. Aber es steckt sehr viel mehr dahinter.«

Er ließ die etwa dreihundert Seiten des Buches von hinten nach vorne durch seine Finger fächern.

»Viele glauben, dieses Protokoll stamme aus der Feder eines seiner Patienten. Larenz hat früher viele Künstler behandelt, darunter auch Schriftsteller.« Der Professor blinzelte. Dann fügte er leise hinzu: »Es gibt aber auch eine andere Theorie.«

Alle Studenten sahen ihn aufmerksam an.

»Eine Minderheit ist der Meinung, Viktor Larenz selbst habe das hier zu Papier gebracht.«

»Aber wieso?«

Diesmal hatte sich Lydia zu Wort gemeldet. Das Mädchen mit den dunkelblonden Haaren und dem mausgrauen Rollkragenpulli war seine beste Studentin. Was sie an dem unrasierten Langzeitstudenten neben sich anziehend fand, konnte er sich nicht erklären. Ebenso wenig begriff er, warum man ihr trotz Einserabitur ein Stipendium verwehrt hatte.

»Dieser Larenz hat seine Aufzeichnungen zu einem Thriller umgedichtet? Warum sollte er sich diese unglaubliche Mühe machen?«

»Das gilt es heute Abend herauszufinden. Das ist das Ziel des Experiments.«

Der Professor machte sich eine Notiz auf dem Schreibblock neben der Teilnehmerliste und sprach dann die Frauengruppe zu seiner Rechten an, die noch kein einziges Wort gesagt hatte.

»Wenn Sie zweifeln, dann habe ich dafür volles Verständnis, meine Damen.«

Eine Rothaarige hob den Kopf, die anderen beiden starrten weiter auf die Akte vor ihnen.

»Sie alle hier können es sich gerne noch einmal überlegen. Der eigentliche Versuch hat noch nicht begonnen. Sie können abbrechen und jetzt nach Hause gehen. Noch ist Zeit.«

Die Frauen nickten unschlüssig.

Florian beugte sich nach vorne, dann fuhr er sich nervös mit dem Zeigefinger über die Haarnarbe seines Seitenscheitels.

»Aber was ist dann mit den zweihundert Euro?«, fragte er.

»Die gibt es nur bei aktiver Teilnahme. Und auch nur dann, wenn Sie sich an den vorgeschriebenen Ablauf halten, wie er im Aushang beschrieben war. Sie müssen die gesamte Akte lesen und dürfen dabei nur wenige kurze Pausen machen.«

»Und danach? Was passiert, wenn wir durch sind?«

»Auch das ist Teil des Versuchs.«

Der Psychiater bückte sich erneut und tauchte dann mit einem kleinen Stapel Formulare wieder auf, die das Wappen der Privatuniversität schmückte.

»Alle, die bleiben, bitte ich, das hier zu unterschreiben.«

Er teilte die Einverständniserklärungen aus, mit denen die Probanden die Universität von jeder Haftung für etwaige psychosomatische Schäden freisprachen, die in dem Zusammenhang mit der freiwilligen Teilnahme an dem Versuch entstehen könnten.

Florian Wessel nahm das Blatt entgegen, hielt es gegen das Licht und schüttelte beim Anblick des Wasserzeichens der Medizinischen Fakultät energisch den Kopf. »Das ist mir zu heikel.«

Er zog seinen Bleistift wieder aus der Akte, griff sich seinen Rucksack und stand auf.

»Ich glaube, ich weiß, worauf das hier hinausläuft. Und wenn es das ist, was ich vermute, dann habe ich davor viel zu große Angst.«

»Ihre Offenheit ehrt Sie.« Der Professor sammelte Florians Vordruck wieder ein und griff nach seiner Akte. Dann sah er zu den drei Studentinnen hinüber, die gerade ihre Köpfe zusammengesteckt hatten.

»Wir wissen zwar nicht, worum es geht, aber wenn Florian abbricht, dann lassen wir besser auch die Finger davon.«

Wieder war es die Rothaarige, die als Einzige mit ihm kommunizierte.

»Wie Sie wünschen. Kein Problem.«

Er sammelte auch hier die Plastikordner ein, während die jungen Frauen ihre Wintermäntel von den Stuhllehnen nahmen. Florian stand bereits in Kapuzenjacke und Handschuhen am Ausgang und wartete.

»Und was ist mit Ihnen?«

Er sah auf Lydia und Patrick hinab, die noch unschlüssig in den Akten blätterten.

Schließlich zuckten beide synchron mit den Achseln.

»Was soll’s. Hauptsache, mir wird kein Blut abgenommen«, sagte Patrick.

»Ja, was soll’s.« Lydia gelang es endlich, etwas von ihrem Freund abzurücken.

»Sie sind doch die ganze Zeit bei uns, oder?«

»Ja.«

»Und wir müssen nichts weiter tun als lesen? Nicht mehr?«

»So ist es.«

Hinter ihnen fiel die Tür ins Schloss. Die Abbrecher waren grußlos gegangen.

»Dann mach ich mit. Ich kann das Geld gut gebrauchen.«

Lydia schenkte dem Professor einen Blick, der ihr nie offen ausgesprochenes Schweigegelübde erneut besiegelte.

Ich weiß, sagte er in Gedanken und nickte ihr zu. Nur knapp. Nicht zu auffällig.

Natürlich brauchst du das Geld.

Es war an einem viel zu heißen Aprilwochenende gewesen, als ihn eine Welle des Selbstmitleids in ihr Privatleben gespült hatte.

Sein einziger Freund hatte ihm den Rat gegeben, aus seinen üblichen »Erlebnisschemata« zu springen, wenn er die Vergangenheit endlich vergessen wollte. Er müsse etwas tun, was er in seinem Leben noch nie getan habe. Drei Gläser später waren sie in diese Bar gegangen. Nichts Aufregendes. Es war nur eine harmlose, langweilige Show gewesen. Abgesehen davon, dass die Mädchen oben ohne tanzten, bewegten sie sich nicht viel anzüglicher als die meisten Teenager in einer Disco. Und, soweit er es erkennen konnte, gab es auch kein Hinterzimmer.

Dennoch kam er sich wie ein asozialer alter Mann vor, als Lydia plötzlich mit der Cocktailkarte vor ihm stand. Ohne Rollkragenpulli und Haarreif, sondern im Rock einer Schulmädchenuniform. Sonst trug sie nichts.

Er bezahlte einen Cocktail, ohne ihn zu trinken, ließ seinen Freund sitzen und freute sich, sie in der nächsten Vorlesung wieder in der ersten Reihe zu sehen. Sie hatten nie ein Wort darüber verloren, und er war sich sicher, dass Patrick nichts von der Nebenbeschäftigung seiner Freundin wusste. Obwohl er selbst wie jemand aussah, der in derartigen Clubs den Barkeeper beim Namen kannte, wirkte er nicht sehr tolerant, wenn es um seine eigenen Interessen ging.

Lydia seufzte leise und setzte ihren Namenszug unter die Haftungsfreizeichnung.

»Was kann schon passieren?«, fragte sie beim Schreiben. Der Professor räusperte sich, sagte aber nichts. Stattdessen warf er einen prüfenden Blick auf beide Unterschriften und sah dann auf seine Uhr.

»Schön, dann wären wir also soweit.«

Er lächelte, obwohl ihm nicht danach zumute war.

»Das Experiment beginnt. Bitte blättern Sie auf Seite acht der Patientenakte.«

17.49 Uhr, einen Tag vor Heiligabend – Neun Stunden und neunundvierzig Minuten vor der Angst

S. 8ff. der Patientenakte Nr. 131071/VL Nur weiterlesen unter medizinischer Aufsicht.

»Stellen Sie sich folgende Situation vor …«

Caspar hörte die Stimme der alten Dame, zu deren Füßen er kniete, nur dumpf, wie durch eine geschlossene Tür hindurch.

»Vater und Sohn fahren nachts auf einer verschneiten Straße durch den dunklen Wald. Der Vater verliert die Kontrolle über seinen Wagen. Die beiden prallen gegen einen Baum, und der Vater ist sofort tot. Der Junge überlebt schwerverletzt und wird in ein Krankenhaus gebracht, wo man ihn sofort in die Unfallchirurgie bringt. Der Chirurg kommt, erstarrt und sagt panisch: ›O mein Gott, diesen Jungen kann ich nicht operieren. Das ist mein Sohn!‹«

Die alte Dame auf dem Bett machte eine kurze Pause, dann fragte sie triumphierend: »Wie ist das möglich, wenn der Junge nicht zwei Väter hat?«

»Ich habe keine Ahnung.«

Caspar hielt die Augen geschlossen und verließ sich voll und ganz auf seinen Tastsinn, während er versuchte, den Fernseher zu reparieren. Daher konnte er ihr schelmisches Lächeln hinter seinem Rücken nur ahnen.

»Ach kommen Sie. Das Rätsel ist doch gar nicht so schwer für einen Mann mit Ihrer Intelligenz.«

Er zog die Hand hinter dem klobigen Röhrengerät hervor und drehte sich kopfschüttelnd zu Greta Kaminsky herum.

Die neunundsiebzigjährige Bankierswitwe hatte erst vor fünf Minuten an seine Tür geklopft und ihn gebeten, ob er nicht mal nach ihrem »Quatschkasten« schauen könne. So nannte sie den monströsen Standfernseher, der für ihr kleines Krankenzimmer im Dachgeschoss der Teufelsbergklinik viel zu groß dimensioniert war. Natürlich hatte er ihr den Gefallen getan, obwohl Professor Raßfeld ihm das strengstens untersagt hatte. Der Klinikleiter wollte nicht, dass Caspar ohne Aufsicht sein Einzelzimmer verließ.

»Ich fürchte, Rätsel sind nicht ganz so mein Ding, Greta.« Er atmete etwas Staub ein, der sich hinter dem Fernseher angesammelt hatte, und musste husten.

»Außerdem bin ich keine Frau. Ich kann nicht zwei Dinge auf einmal erledigen.«

Er presste den Kopf wieder seitlich gegen den Fernseher und versuchte blind auf der Rückseite die winzige Steckdose für das Antennenkabel zu finden. Das klobige Ding ließ sich nicht einen Millimeter von der Wand rücken.

»Papperlapapp!«

Greta klopfte zweimal mit der flachen Hand auf die Matratze. »Stellen Sie sich nicht so an, Caspar!«

Caspar.

Die Pfleger hatten ihm diesen Spitznamen verpasst.

Irgendwie musste man ihn ja ansprechen, solange man nicht wusste, wie er wirklich hieß.

»Versuchen Sie es doch mal! Vielleicht entpuppen Sie sich noch als Rätselkönig. Wer weiß, Sie können sich doch an nichts mehr erinnern!«

»Falsch«, stöhnte er und schob seine Hand noch etwas weiter in den Spalt zwischen Fernseher und Rauhfasertapete.

»Ich weiß, wie man sich eine Krawatte bindet, ein Buch liest oder Fahrrad fährt. Nur meine Erlebnisse sind nicht mehr da.«

»Ihr Faktenwissen ist zum größten Teil unversehrt«, hatte ihm Dr. Sophia Dorn, seine behandelnde Psychiaterin, gleich zu Beginn ihrer ersten Sitzung erklärt. »Aber alles, was Sie emotional definiert, also das, was Ihre Persönlichkeit ausmacht, ist leider verschwunden.«

Retrograde Amnesie. Gedächtnisverlust.

Er konnte sich weder an seinen Namen noch an seine Familie oder seinen Beruf erinnern. Er wusste noch nicht einmal, wie er überhaupt in dieses luxuriöse Privatkrankenhaus gelangt war. Das alte Gebäude der Teufelsbergklinik stand am Rand der Stadt, auf dem höchsten Berg Berlins, künstlich aufgeschüttet aus den Trümmern der Häuser, die den Bomben des Zweiten Weltkrieges zum Opfer gefallen waren. Heute war der Teufelsberg eine begrünte Deponie, auf dessen Spitze die US-Armee in den Zeiten des Kalten Krieges ihre Abhöranlagen installiert hatte. Die vierstöckige Krankenhausvilla, in der Caspar behandelt wurde, hatte als Offizierscasino der Geheimdienstangehörigen fungiert, bis es nach dem Fall der Mauer von dem renommierten Psychiater und Neuroradiologen Professor Samuel Raßfeld ersteigert, luxusmodernisiert und zu einem der führenden Krankenhäuser für psychosomatische Störungen umgebaut worden war. Jetzt thronte die Klinik wie eine von Zugbrücken abgeschirmte Burg hoch über dem Grunewald und war nur durch eine schmale private Zufahrtsstraße erreichbar, auf der man Caspar vor knapp zehn Tagen gefunden hatte. Bewusstlos, von einer dünnen Schneeschicht bedeckt und unterkühlt.

Dirk Bachmann, der Hausmeister der Teufelsbergklinik, hatte Raßfeld an jenem Abend zu einem Termin ins Westend-Krankenhaus gefahren. Wäre er nur eine Stunde später zurückgekehrt, wäre Caspar am Wegesrand erfroren. Manchmal fragte er sich, ob das einen Unterschied gemacht hätte.

Denn was ist ein Leben ohne Identität im Vergleich zum Tod?

»Sie dürfen sich nicht so quälen«, mahnte Greta leicht tadelnd, als hätte sie seine düsteren Gedanken gelesen. Sie klang dabei wie eine Ärztin und nicht wie eine Mitpatientin, die selbst unter Angstpsychosen litt, wenn sie zu lange alleine war.

»Die Erinnerung ist wie eine schöne Frau«, erklärte sie ihm, während er immer noch nach der verdammten Buchse für das Antennenkabel suchte.

»Wenn Sie ihr hinterherlaufen, wird sie sich gelangweilt abwenden. Beschäftigen Sie sich aber mit etwas anderem, wird die eifersüchtige Schönheit ganz alleine zu Ihnen zurückkommen.«

Sie kicherte hell.

»So wie unsere hübsche Therapeutin, die sich so liebevoll um Sie kümmert.«

»Wie meinen Sie das denn jetzt?«, fragte Caspar erstaunt.

»Na ja, das sieht doch selbst eine alte Oma. Ich finde Sophia und Sie passen ganz gut zusammen, Caspaarrr.«

Caspaarrr.

Mit dem langgezogenen A und dem rollenden R erinnerte Gretas Stimme an die Filmdiven der Nachkriegszeit. Seit ihr Mann vor sieben Jahren nach einem Schlaganfall auf dem Golfplatz gestorben war, verbrachte sie jedes Weihnachtsfest in der Privatklinik. Hier war sie nicht allein, wenn die Feiertagsdepression über sie hereinbrach. Und deshalb war es auch eine mittlere Katastrophe, wenn ihr Fernseher nicht mehr funktionierte. Sie ließ den »Quatschkasten« ununterbrochen laufen, um sich nicht zu einsam zu fühlen.

»Also, wenn ich noch jünger wäre, würde ich mich auch mal mit Ihnen zum Tanztee verabreden«, kicherte sie.

»Herzlichen Dank«, lachte er.

»Ich meine es ernst. Als mein Mann in Ihrem Alter war, also irgendwas Anfang vierzig, schätze ich jetzt mal, fielen ihm seine dunklen Haare auch so neckisch in die Stirn. Zudem hatte er genauso ebenmäßige Hände wie Sie, Caspar. Und …«, Greta musste schon wieder kichern, »und er teilte meine Rätselleidenschaft!«

Sie klatschte zweimal in die Hände, als wäre sie eine Klassenlehrerin, die die Pause beendet.

»So, und deshalb versuchen wir es jetzt noch einmal …«

Caspar stöhnte belustigt auf, während Greta ihr Rätsel wiederholte.

»Vater und Sohn haben einen Autounfall. Der Vater ist tot, der Sohn überlebt.«

Trotz des gekippten Fensters begann Caspar zu schwitzen.

Der Vormittag war im Schneeregen versunken, und gegen Mittag war die Temperatur unter den Gefrierpunkt gefallen. Hier draußen, mitten im Grunewald, musste es sogar noch zwei Grad kälter sein als in der Innenstadt. Doch davon spürte er im Moment nichts.

Ha!Sein Zeigefinger strich über einen runden Metallring im Plastikgehäuse. Jetzt muss ich hier nur noch das Kabel einstöpseln und …

»Der schwerverletzte Sohn wird in die chirurgische Notaufnahme eingeliefert. Doch der Chirurg will ihn nicht operieren, weil der Junge sein Sohn ist.«

Caspar kroch hinter der klobigen Mattscheibe hervor, stand auf und griff sich die Fernbedienung.

»Wie geht das?«, fragte Greta spitzbübisch.

»So geht das«, sagte Caspar und schaltete den Fernseher ein.

Zuerst flimmerte es, dann erfüllte die sonore Stimme eines Nachrichtensprechers das Zimmer. Als sich schließlich auch das dazu passende Bild aufbaute, klatschte Greta quietschvergnügt in die Hände.

»Er funktioniert wieder. Wunderbar, Sie sind genial.«

Ich weiß nicht, was ich bin, dachte Caspar und klopfte den Staub von seiner Jeans.

»Ich geh dann mal wieder auf mein Zimmer, bevor die Schwester sauer wird …«, wollte er ansetzen, doch Greta hob ihre Hand und gebot ihm zu schweigen.

… gibt es wieder erschütternde Neuigkeiten von dem sogenannten Seelenbrecher, der jetzt schon seit mehreren Wochen die weibliche Bevölkerung in Angst und Schrecken versetzt …

Greta stellte mit der Fernbedienung die Nachrichten lauter.

17.56 Uhr

Soeben erreicht uns die Meldung, dass sein erstes Opfer, die 26-jährige Schauspielschülerin Vanessa Strassmann, heute Nachmittag auf der Intensivstation des Westend-Krankenhauses verstorben ist. Sie war vor zweieinhalb Monaten spurlos nach dem Unterricht verschwunden und wurde exakt eine Woche später in einem heruntergekommenen Autobahnmotel aufgegriffen. Nackt, verwahrlost und paralysiert.

Das Bild einer strahlenden Schönheit wurde eingeblendet, so als reichten die dramatischen Worte des Nachrichtensprechers nicht aus, um das gesamte Ausmaß der Tragödie zu verdeutlichen. Ihr Foto wich zwei weiteren Aufnahmen. Auch hier hatte sich jemand die Mühe gemacht, besonders attraktive Bilder aus dem Familienalbum zu organisieren.

Wie die beiden späteren Opfer, Doreen Brandt, eine erfolgreiche Anwältin, und die Grundschullehrerin Katja Adesi, war auch Vanessa Strassmann äußerlich nahezu unversehrt. Nach Aussagen der behandelnden Ärzte wurde sie weder vergewaltigt noch geschlagen oder gefoltert. Dennoch war sie innerlich zerstört und seelisch gebrochen. Bis zu ihrem heutigen Todestag reagierte sie ausschließlich auf extreme Licht- und Schallreflexe und blieb ansonsten in einem wachkomaähnlichen Zustand.

Die Fotos verschwanden und wurden durch die Außenansicht eines modernen Krankenhauskomplexes ersetzt.

Die Todesursache gibt den Medizinern ein zusätzliches Rätsel auf, weiterhin kann man sich nicht erklären, was mit den jungen Frauen in der Gewalt des Täters geschieht. Einen Hinweis könnten die kleinen Zettel geben, die man in den Händen aller drei Opfer fand, über deren Inhalt die Polizei sich aber in Schweigen hüllt. Bislang gibt es zum Glück keine weiteren Vermisstenmeldungen, und wir können nur hoffen, dass diese grauenhafte Serie nicht nur vorübergehend über die Feiertage unterbrochen ist, sondern endgültig. Das größte Weihnachtsgeschenk wäre sicherlich die Meldung über die Verhaftung des Seelenbrechers, nicht wahr, Sandra?

Der Nachrichtensprecher drehte sich mit einem professionellen Grinsen zu seiner Co-Moderatorin und leitete damit zum Wetter über.

So ist es, Paul. Jetzt drücken wir aber erst einmal die Daumen, dass auch die anderen Geschenke sicher und rechtzeitig unter den Baum kommen, denn nach den stärksten Schneefällen der letzten zwanzig Jahre bringt Blitzeis in vielen Großstädten den Verkehr zum Erliegen. Zusätzlich ist mit heftigen Stürmen zu rechnen …

Blitzeis, dachte Caspar, als er die grafischen Warnzeichen über Berlin auf der Wetterkarte sah. Und dann geschah es zum ersten Mal.

Die Wucht der Erinnerung traf ihn so unvermittelt und heftig, dass er sie kaum festzuhalten vermochte.

Echorausch

»Du kommst doch bald wieder, oder?«

»Ja. Keine Angst.« Er berührte ihre verschwitzten Haare, die ihr während der Krämpfe vor die Augen gerutscht waren.

»Du lässt mich nicht lange allein, hab ich recht?«

»Nein.«

Natürlich konnte er ihre Worte nicht hören. Die Kleine war schon seit geraumer Zeit nicht mehr in der Lage, ihre Zunge zu bewegen. Aber er spürte das wortlose Flehen des elfjährigen Mädchens in dem matten Druck ihrer Finger. Er verdrängte die quälende Frage, ob das eine bewusste Reaktion war oder nur ein Reflex, ähnlich dem des unkontrollierten Zuckens ihres rechten Augenlids.

»Ich hab solche Angst. Bitte hilf mir.«

Ihr gesamter zerbrechlicher Körper schrie nach Hilfe, und er musste sich zwingen, die Tränen zurückzuhalten. Um sich abzulenken, fixierte er einen kreisrunden Leberfleck, der wie der Punkt eines Ausrufezeichens über ihrem rechten Jochbein schwebte.

»Ich hol dich hier wieder raus«, flüsterte er. »Vertrau mir.«

Dann küsste er ihre Stirn und betete, dass es noch nicht zu spät war.

»Okay!«, flüsterte das Mädchen, ohne die Lippen zu bewegen.

»Du bist so tapfer, Liebes. Viel zu tapfer für dein Alter.«

»Ich weiß.« Ihre Finger lösten sich aus seiner Hand.

»Aber beeil dich«, stöhnte sie stumm.

»Natürlich. Ich verspreche es dir. Ich werde dich befreien.«

»Ich habe Angst. Bist du denn schnell wieder zurück, Papi?«

»Das bin ich. Ich komm bald wieder, und dann wird alles gut werden, mein Schatz. Alles wird so wie früher. Mach dir keine Sorgen, Süße, okay? Ich habe einen Fehler gemacht, aber ich werde dich da wieder rausholen, und dann …«

»… oder was meinen Sie?«, fragte Greta laut und riss Caspar damit aus seinem beängstigenden Tagtraum. Er blinzelte hektisch, schluckte den Speichel hinunter, der sich in seinem Mund gesammelt hatte, und öffnete schließlich die Augen. Sie begannen sofort zu tränen, als das Licht des Fernsehers auf seine Pupillen traf. Offenbar hatte Greta seinen kurzen Aussetzer gar nicht wahrgenommen.

»Wie bitte?«

In seiner Nase hing der Geruch verbrannten Papiers, als hätte der Einschlag dieses ersten Erinnerungsfetzens eine Rauchfahne erzeugt.

Was war das? Wirklich eine Erinnerung? Ein Traum? Noch immer schockiert von den Bildern, die vor seinem geistigen Auge vorbeigezogen waren, griff er sich unbewusst an die Brust. An die Stelle, wo sich unter seinem T-Shirt die frisch verheilten Brandnarben abzeichneten, die er beim ersten Duschen in der Klinik an sich entdeckt hatte und deren Ursache ihm ebenso unerklärlich war wie seine Vergangenheit.

»Interessant«, sagte Greta aufgeregt. »Was mag da wohl draufstehen?«

Sie stellte den Ton leiser, und der Gestank in seiner Nase ließ nach.

»Worauf?«

»Na, auf den Zetteln. Die man bei den Opfern des Seelenbrechers gefunden hat. Was mag das wohl bedeuten?«

»Keine Ahnung«, sagte er abwesend. Er musste unbedingt hier raus. Sich sammeln. Überlegen, was das eben zu bedeuten hatte, und sich mit seiner Ärztin besprechen.

Habe ich eine Tochter? Wartet sie da draußen auf mich? Krank? Und allein?

»Vielleicht machen Sie jetzt besser den Fernseher aus. Bei solchen Schauermeldungen können Sie sonst nicht mehr einschlafen.« Bemüht, sich seine Verwirrung nicht anmerken zu lassen, ging er langsam zur Tür.

»Ach was. Mich wird der Seelenbrecher kaum holen.« Greta lächelte verschmitzt und legte ihre Lesebrille mit den stark angeknabberten Plastikbügeln auf den Nachttisch. »Selbst ohne das Gestell dürfte ich kaum in sein Beuteschema fallen, oder? Sie haben es doch gehört: Seine Opfer sind alle zwischen zwanzig und vierzig Jahre alt, schlank, blond und ledig. All das, was ich vielleicht vor fünfzig Jahren einmal von mir behaupten konnte.«

Sie lachte.

»Aber keine Sorge, mein Lieber. Ich lasse heute beim Einschlafen einen kuscheligen Tierfilm laufen. Die zeigen ›Das Schweigen der Lämmer‹ …«

»Das ist kein …«, setzte Caspar zu einer Erklärung an, doch dann sah er in ihren Augen, dass sie ihn zum Narren hielt.

»Touché«, sagte er und musste trotz seines verwirrten Gemütszustands lächeln.

»Damit steht es eins zu eins.«

Er griff nach der Türklinke.

»Gleichstand? Wieso das?«, rief Greta ihm verblüfft hinterher.

»Nun, Sie haben mich reingelegt. Aber dafür habe ich Ihr Rätsel geknackt.«

»Lügner, haben Sie gar nicht.«

»Doch, der Chirurg ist eine Frau«, sagte Caspar lächelnd. »Der Chirurg im Krankenhaus ist die Mutter des Jungen. Deshalb will sie ihren Sohn nicht operieren.«

»Das gibt’s nicht.« Greta kicherte und klatschte wieder wie ein Schulmädchen in die Hände. »Woher wissen Sie das?«

Keine Ahnung, dachte Caspar und verabschiedete sich mit einem unsicheren Lachen.

Ich habe wirklich überhaupt keine Ahnung.

Sein Lächeln erstarb bereits in dem Moment, als er die Tür hinter sich zugezogen hatte und den Flur betrat. Kurz überlegte er, ob er es noch rechtzeitig zurück zu Greta schaffen würde, bevor sie ihn hier draußen entdeckten. Doch dann hörte er seinen Namen fallen und entschied sich, den beiden Ärzten unauffällig zu folgen, die gerade mit wütenden Blicken aus seinem Zimmer gekommen waren.

18.07 Uhr

Raßfeld und Sophia waren so sehr in ihr Streitgespräch vertieft, dass sie ihn nicht bemerkten, obwohl er nur wenige Meter hinter ihnen stand. Noch hatte Caspar große Mühe, sie zu verstehen.

»… ich finde, das ist viel zu früh«, zischte Raßfeld mit rauchiger Stimme. »Es könnte Caspar zu sehr erschüttern.«

Der Klinikleiter war stehengeblieben und nestelte an seinem Wollschal, der ihm um den Hals schlackerte. Wie immer war die Erscheinung des Chefarztes ein einziger Widerspruch. Selbst im Hochsommer trug er einen dicken Schal aus Angst vor Erkältungen, was ihn jedoch nicht davon abhielt, im Winter barfuß in Ledersandalen vor die Tür zu treten. Der Professor achtete auf manikürte Fingernägel und einen perfekt sitzenden Scheitel, ignorierte dafür aber seine restliche Gesichtsbehaarung. Der Vollbart zeigte ähnliche Wildwuchstendenzen wie die Härchen, die ihm aus Nase und Ohren sprossen. Und obwohl er sich über psychisch bedingte Fettleibigkeit habilitiert hatte, stapelten sich in seinem Büro leere FastFood-Schachteln zwischen den Bücher- und Aktenbergen. Er kam zwar noch lange nicht an die Leibesfülle von Bachmann heran, aber trotzdem reichte sein Bauchumfang aus, um Sophia neben ihm wie eine magersüchtige Patientin erscheinen zu lassen.

»Sie dürfen es ihm nicht zeigen!«, befahl er. Mit diesen Worten zog er die Psychiaterin den Gang hinunter, fort von dem Patientenzimmer, aus dem sie eben herausgekommen waren.

»Auf gar keinen Fall. Ist das klar? Ich verbiete es Ihnen.«

Caspar folgte ihnen vorsichtig.

»Ich sehe das anders«, flüsterte Sophia etwas weniger energisch. Sie hob ihre Hand, in der sie eine dünne Patientenakte hielt.

»Er hat ein Recht darauf, es zu sehen …«

Der Chefarzt blieb abrupt stehen und wirkte für einen Moment so, als wolle er sich umdrehen. Caspar kniete sich rasch nieder und löste seine Schnürsenkel. Doch dann öffnete Raßfeld die Tür zur Kaffeeküche und zog Sophia mit in das kleine Nischenzimmer hinein, die Tür blieb einen Spalt offen. Von seiner knienden Position im Gang aus konnte Caspar durch den Türschlitz spähen. Raßfeld stand außerhalb seines Blickfelds.

»Also schön, es tut mir leid, Sophia«, hörte er den Professor sagen. »Ich habe mich im Ton vergriffen und überreagiert. Aber wir wissen wirklich nicht, welche Schäden diese Informationen bei ihm auslösen können.«

»Oder welche Erinnerungen.« Sophia stützte sich mit ihrer flachen Hand auf die Arbeitsplatte neben der Spüle. Wie immer war sie ungeschminkt und wirkte dadurch weniger wie eine leitende Ärztin, sondern mehr wie eine Medizinstudentin im dritten Semester. Caspar wunderte sich, weshalb er sich so zu ihr hingezogen fühlte, dass er ihr jetzt sogar heimlich hinterherschlich. Nichts an ihr war perfekt. Jedes Detail schien mit einem Makel behaftet: die Augen zu groß, die Haut zu blass, die Ohren einen Tick zu weit abstehend, und auch die Nase fand sich mit Sicherheit in keinem Katalog eines Schönheitschirurgen. Und dennoch konnte er sich an dem Gesamtbild einfach nicht sattsehen. Bei jeder Therapiesitzung entdeckte er etwas Neues an ihr, das ihn faszinierte. In diesem Augenblick war es eine einzige lockige Strähne, die ein Fragezeichen unter ihrer Schläfe formte.

»Sie sind zu ungeduldig, Sophia«, hörte er Raßfeld brummen.

Caspar überlief es kalt, als er sah, wie sich die leberfleckige Hand des Klinikleiters langsam der von Sophia nähern wollte.

Der Professor hatte jetzt einen Ton angeschlagen, der nicht nur verschwörerisch, sondern wohl auch verführerisch klingen sollte. »Alles zu seiner Zeit«, sagte er leise, »alles zu seiner …«

Als Raßfeld mit der behaarten Rückseite seines Zeigefingers über Sophias Handgelenk strich, handelte Caspar instinktiv.

Er sprang hoch, riss die Tür auf und wich mit gespieltem Erstaunen sofort wieder in den Flur zurück.

»Was … was haben Sie hier zu suchen?«, blaffte Raßfeld, der sich nach einer Schrecksekunde sofort wieder im Griff hatte.

»Ich wollte mir einen Kaffee holen«, erklärte Caspar und zeigte auf die silberne Thermoskanne neben Sophia.

»Habe ich Ihnen nicht verboten, Ihr Zimmer zu verlassen?«

»Hm, richtig. Muss ich wohl vergessen haben.« Caspar griff sich an den Kopf. »Sorry. Aber so was passiert mir öfter in letzter Zeit.«

»Ach so, Sie finden das also lustig, ja? Und was, wenn Sie einen Rückfall haben und unbemerkt aus der Klinik stolpern? Haben Sie mal nach draußen gesehen?«

Caspar folgte Raßfelds Handbewegung zu dem beschlagenen Küchenfenster.

»Da türmen sich zwei Meter hohe Schneeberge. Ein zweites Mal wird Bachmann Sie nicht retten können.«

Zu Caspars Überraschung sprang ihm Sophia zur Seite.

»Das ist meine Schuld«, sagte sie bestimmt. Sie griff sich die Krankenakte und trat aus der Küche. »Ich habe es ihm erlaubt, Herr Professor.«

Caspar versuchte sich seine Verblüffung nicht anmerken zu lassen. Tatsächlich hatte Sophia das Gegenteil von ihm verlangt. Er sollte immer die Schwestern verständigen, selbst wenn er nur auf die Toilette wollte.

»Wenn das wahr ist …«, Raßfeld zog ein Stofftaschentuch aus seinem Kittel und tupfte sich ärgerlich die Stirn ab, »… dann habe ich diese Entscheidung hiermit wieder aufgehoben.«

Unwirsch drängte er sich an den beiden vorbei.

»Das wird ein Nachspiel haben« hing unausgesprochen in der Luft, während der Professor wortlos zum Fahrstuhl ging.

Sophias Gesichtsausdruck entspannte sich mit jedem Schritt, den er sich von ihnen entfernte. Als er endlich um die Ecke verschwand, atmete sie aus.

»Kommen Sie. Wir müssen uns beeilen«, sagte sie nach einer kurzen Pause.

»Warum?« Caspar folgte ihr den Gang hinunter zu seinem Zimmer. »Wir hatten doch heute schon unsere Sitzung.«

»Ja, aber Sie haben Besuch bekommen.«

»Von wem?«

Sophia drehte sich zu ihm um.

»Von jemandem, der vielleicht weiß, wer Sie wirklich sind.« Caspar verkrampfte innerlich und blieb abrupt stehen.

»Wer?«

»Sie werden schon sehen.«

Sein Puls beschleunigte sich, obwohl er nun langsamer ging. »Weiß Raßfeld davon?«

Die Ärztin zog erstaunt ihre Brauen zusammen und musterte ihn misstrauisch. Ihr stechend prüfender Blick erinnerte ihn an seine ersten bewussten Sekunden auf der Intensivstation. Er war aufgewacht und hatte in das Bild eines Fremden gestarrt, das sich in Sophias wasserblauen Augen widerspiegelte. Zuerst war er von den bernsteinfarbenen Einschlägen abgelenkt gewesen, die wie Kieselsteine am Grunde eines klaren Sees ihren Pupillen zusätzliche Tiefe verliehen.

»Wer sind Sie?«, hatte sie ihn gefragt mit einer warmen Stimme, der man trotz aller Professionalität ihre Besorgnis anhörte.

Das war seine erste Erinnerung. Seitdem lebte er nur noch in der Gegenwart.

»Ich dachte, der Professor will nicht, dass Sie mich zu schnell mit der Wahrheit konfrontieren?«, fragte er.

Sophia neigte den Kopf leicht zur Seite und musterte ihn intensiv.

»Und ich glaube, Sie haben Ihren Kaffee vergessen, Caspar«, sagte sie schließlich und bemühte sich ein Lächeln zu unterdrücken. Als es ihr nicht gelang, drehte sie sich wieder um und öffnete seine Zimmertür.

18.17 Uhr

»Na, was ist?«

Er beugte sich aus dem bequemen Clubsessel nach vorne. So wie das Bett, die edle Auslegeware und die hellen Vorhänge würde man auch dieses Möbelstück eher in einem englischen Schlosshotel als in dem Krankenzimmer einer Psychoklinik erwarten.

»Erkennen Sie ihn wieder?«

Er wünschte es sich. Caspar wünschte es sich so sehr, dass er beinahe gelogen und einfach ja gesagt hätte, nur damit er endlich nicht mehr alleine wäre. Verzweifelt versuchte er sich an irgendein gemeinsames Erlebnis zu erinnern, während er dem ungewöhnlichen Besuch in sein rechtes Auge starrte. Das linke war nicht mehr vorhanden. Vermutlich ausgestochen, wenn er die Narbe richtig interpretierte.

Im Gegensatz zu ihm selbst schien der Hund keinen Zweifel zu haben. Die wuschelige Promenadenmischung erstickte beinahe vor Wiedersehensfreude an seinem eigenen Gehechel.

»Ich weiß es nicht«, seufzte Caspar und nahm die dicke Pfote, die auf seinem Knie lag, zwischen seine Hände. Das sandfarbene Fellknäuel vor ihm hatte große Schwierigkeiten, das Gleichgewicht auf seinen Hinterläufen zu halten, weil es so wild mit dem Schwanz wedelte.

»Gar nicht?«