Der Tote im Schnee - Kjell Eriksson - E-Book
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Der Tote im Schnee E-Book

Kjell Eriksson

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Beschreibung

Ann Lindell, die forsche und ein bisschen unkonventionelle Kommissarin, steckt mitten in den Weihnachtsvorbereitungen, als Ola Haver bei ihr zu Hause vorbeischaut. Er leitet die Untersuchungen im Mordfall Jonsson und hofft auf den Rat der erfahrenen Kollegin. Lindell, die ihre Arbeit ebenso vermisst wie ihre Kollegen, mischt sich wider besseres Wissen ein und ermittelt auf eigene Faust ...

"Kjell Eriksson schlägt Henning Mankell. Sein neuer Roman kommt düster daher, nebelverhangen und mit einem klirrend kalten Ton." Darmstädter Echo.

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Kjell Eriksson

Der Tote im Schnee

Ein Fall für Ann Lindell

Roman

Aus dem Schwedischenvon Paul Berf

Inhaltsübersicht

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Informationen zum Buch

Über Kjell Eriksson

Impressum

Wem dieses Buch gefallen hat, der liest auch gerne …

1

Der Teller rutschte ihr aus der Hand und stieß gegen ein Glas, das umkippte. Milch ergoss sich über das Wachstuch.

Dabei haben wir nur noch so wenig Milch, schoss es ihr durch den Kopf. Sie stellte das Glas schnell wieder hin und wischte die Flüssigkeit mit einem Lappen weg.

»Wann kommt Papa?«

Sie fuhr herum. Justus lehnte am Türrahmen.

»Ich weiß es nicht«, antwortete sie und warf den Lappen in die Spüle.

»Was gibt es zu essen?«

In der Hand hielt er ein Buch, den Zeigefinger an der Stelle hineingeschoben, an der er aufgehört hatte zu lesen. Sie wollte fragen, was er las, aber plötzlich fiel ihr etwas ein, und sie ging zum Fenster.

»Gulasch«, sagte sie abwesend. Ihr Blick schweifte über den Parkplatz. Es hatte wieder angefangen zu schneien.

Hatte er vielleicht Arbeit gefunden? Er wollte doch mit Micke sprechen. Zum Schneeräumen müssten eigentlich Leute gebraucht werden. Es schneite immer weiter, Tag für Tag. Und schwindelfrei war er auch.

Berit lächelte bei der Erinnerung daran, wie er am Fallrohr hochgeklettert war, zu ihrem Balkon, der zwar nur im zweiten Stock lag, aber immerhin. Wenn er gefallen wäre, hätte er sich das Genick gebrochen. Wie sein Vater, dachte sie, und ihr Lächeln erlosch.

Sie war damals wahnsinnig wütend geworden, aber er hatte bloß gelacht. Dann hatte er die Arme um sie gelegt und sie so fest an sich gedrückt, wie man es ihm angesichts seines schmächtigen Körpers nicht zugetraut hätte.

Später pflegte sie, durchaus geschmeichelt, diese Anekdote über seinen Eifer zu erzählen. Es war ihre erste große gemeinsame Erinnerung.

Schneeräumen. Ein kleiner Traktor fuhr über den Parkplatz und schob noch mehr Schnee auf die bereits herabgedrückten Sträucher an der Stirnseite des Platzes. Das war Harry. Sie erkannte ihn an seiner roten Zipfelmütze, die in der Fahrerkabine leuchtete.

Harry hatte Justus Arbeit verschafft, ihm einen Sommerjob gegeben, als kein anderer zu bekommen war. Gras schneiden, Müll aufsammeln, Unkraut jäten. Justus hatte zwar gejammert, war jedoch maßlos stolz auf seinen ersten Lohn gewesen.

Berits Augen folgten dem Traktor. Schneeräumen. Der Schnee trieb in Wehen heran. Die Rundumleuchte auf dem Dach des Traktors quirlte ihr oranges Licht. Dunkelheit senkte sich auf die Häuser und den Parkplatz herab. Harry musste hart schuften.

Wie viele Stunden hatte er in den letzten Tagen wohl gearbeitet?

»Die Schneeräumerei bringt mir einen Trip auf die Kanaren ein«, hatte er ihr zugerufen, als sie sich vor dem Haus begegnet waren.

Er hatte sich auf seine Schaufel gelehnt und sich erkundigt, wie es Justus ging. Das tat er immer.

Sie wandte sich zur Küche um und wollte von Harry grüßen, aber der Junge war verschwunden.

»Was tust du?« rief sie in die Wohnung hinein.

»Nichts!« rief Justus zurück.

Berit ahnte, dass er am Computer saß. Seit August, als John die Kartons angeschleppt hatte, klebte Justus am Bildschirm, sooft er dazu kam.

»Ist doch klar, dass der Junge einen Computer haben muss. Sonst ist man ja heutzutage völlig hinter dem Mond«, hatte John gesagt, als sie darin einen Luxus sah.

»Was hat er denn gekostet?«

»Ich habe ihn billig bekommen«, hatte er erwidert und sich beeilt, die Quittung aus dem Elektrogroßmarkt herauszuholen, als er ihren Blick sah.

Auf der Suche nach etwas, das sie tun konnte, sah sie sich in der Küche um, aber für das Abendessen war alles vorbereitet. Sie ging zum Fenster zurück. Er hatte gesagt, dass er gegen vier nach Hause kommen würde. Jetzt war es fast sechs. Er rief eigentlich immer an, wenn er sich verspätete, aber das war vor allem so gewesen, als er noch in der Werkstatt gearbeitet hatte und viele Überstunden machen musste. Es hatte ihm nie gefallen, so spät noch zu arbeiten, aber Sagge hatte eine Art zu fragen, die es einem im Grunde unmöglich machte, nein zu sagen. Es klang immer, als würde das Schicksal der Firma von genau diesem Auftrag abhängen.

Nach seiner Entlassung war John immer schweigsamer geworden. An und für sich hatte er nie besonders viel geredet, es war Berit, die für Unterhaltung sorgte, aber nach Sagges Bescheid war er noch wortkarger geworden.

Das hatte sich erst im Herbst wieder geändert. Berit war überzeugt, dass es mit den Fischen zusammenhing. Das neue Aquarium, von dem er jahrelang gesprochen hatte, war endlich Wirklichkeit geworden.

Er brauchte die Arbeit an seinem Aquarium. Zwei Wochen im September hatte er geschuftet. Harry hatte ihm geholfen, als es aufgestellt werden sollte. Er und Gunilla waren bei der Einweihung dabeigewesen. Berit hatte es etwas albern gefunden, ein Aquarium einzuweihen, aber es war ein schöner Abend geworden.

Ihr nächster Nachbar, Stellan, hatte hereingeschaut, genau wie Johns Mutter, und sogar Lennart war nüchtern und guter Dinge gewesen. Stellan, der sonst ziemlich zurückhaltend war, hatte den Arm um sie gelegt und eine Bemerkung darüber gemacht, wie süß sie war. John hatte nur gegrinst, denn von Stellan ging keine Gefahr aus. Ansonsten konnte John empfindlich auf so etwas reagieren, vor allem wenn er ein paar Gläser intus hatte.

Harry war inzwischen fertig mit dem Parkplatz. Das alarmierende Licht wurde in neuen Kaskaden über den Fußweg zur Waschküche und zum Gemeinschaftsraum der Siedlung geschleudert. Schneeräumen. Berit hatte nur diffuse Vorstellungen davon, was das bedeutete. Kletterte man heute noch wie früher auf die Dächer hinauf? Aus ihrer Kindheit kannte sie dick vermummte Männer mit riesigen Schneeschaufeln und Seilen, die sie in großen Schleifen über der Schulter trugen. Sie konnte sich sogar an die Warnschilder erinnern, die sie auf dem Hof und der Straße aufstellten.

War er vielleicht bei Lennart? Bruder Tuck, wie John ihn nannte. Sie mochte das nicht. Es erinnerte sie an jene vergangene Zeit mit Lennarts polternder Selbstsicherheit und Johns verbissenem Schweigen, das sie so schlecht einschätzen konnte.

Berit war erst sechzehn gewesen, als sie den beiden begegnet war. Erst lernte sie John kennen, bald aber auch Lennart. Die Brüder schienen damals unzertrennlich zu sein. Lennart, der seine langen schwarzen Haare zurückwarf, unberechenbar in seinen Bewegungen, immer auf dem Sprung, nervös fingernd und plappernd. John, blond, mit schmalen Lippen und etwas Sanftem in seiner Art, das Berit vom ersten Moment an angesprochen hatte. Eine Narbe über dem linken Auge bildete einen eigenartigen Kontrast zur hellen Haut in seinem leicht femininen Gesicht. Die Narbe stammte von einem Mopedunfall, natürlich mit seinem Bruder als Fahrer.

Berit konnte kaum glauben, dass John und Lennart den gleichen Vater hatten. So verschieden waren ihre Art und ihr Aussehen. Einmal hatte sie Aina, die Mutter der beiden, darauf angesprochen, zu später Stunde bei einem feuchtfröhlichen Krebsessen, aber Aina hatte nur den Mund verzogen und eine spitze Bemerkung gemacht.

Es dauerte nicht lange, bis Berit begriff, dass die Brüder sich ihren Lebensunterhalt nicht immer auf traditionelle Weise verdienten. Zwar arbeitete John gelegentlich in der Werkstatt, aber sie hatte das Gefühl, dass er es nur tat, um so den Schein zu wahren, vor allem Albin gegenüber, seinem Vater.

John konzentrierte sich mehr auf kriminelle Machenschaften. Nicht aus Bösartigkeit oder Gier. Es war vielmehr, als würde ihm das konventionelle Leben nicht wirklich ausreichen. Dieses Gefühl teilte er mit vielen in seiner näheren Umgebung, oberflächlich betrachtet waren sie leidlich angepasste Jugendliche, die abends und nachts jedoch wie unruhige Tiere durch die östlichen Stadtteile Uppsalas streiften, stahlen, sich Handtaschen griffen, Mopeds und Autos klauten, in Keller einbrachen und ein paar Schaufenster einschlugen, wenn ihnen gerade danach war.

Einige gehörten ständig zur Gang, darunter John und Lennart, andere kamen und gingen, die meisten von ihnen verschwanden nach einem halben oder einem Jahr wieder.

Manche besuchten die Berufsschule und machten eine Ausbildung zum Maler, Betonbauer, Kfz-Mechaniker, oder was sonst für Arbeiterkinder Anfang der siebziger Jahre im Angebot war. Andere bekamen direkt nach der Schule einen Job. Niemand besuchte das Gymnasium. Es fehlte am Willen und an den entsprechenden Noten.

John fing in einer Werkstatt an und machte eine Ausbildung als Schweißer. Wenn viel zu tun war, musste er einspringen, und er entwickelte sich zu einem tüchtigen Fachmann. Er war sorgfältig und wurde gelobt, nicht so sehr von Sagge, seinem Chef, aber dafür um so mehr von seinen drei Arbeitskameraden.

»Wenn es meine Kollegen nicht gegeben hätte, wäre alles den Bach runtergegangen«, hatte er einmal zu Berit gesagt.

Als er in der Werkstatt fest angestellt war, kam er weg von der Straße und der Gang. Er erhielt neben der Anerkennung ein regelmäßiges Gehalt und hatte außerdem Berit getroffen.

Abends hingen John und Lennart oft in der Billardhalle des »Sivia« herum. John war der geschickteste Spieler, aber das machte Lennart nicht viel aus, denn er trieb sich die meiste Zeit eine Etage tiefer bei den Flipperautomaten herum.

Dort im »Sivia« hatte Berit die beiden auch kennengelernt. Sie verliebte sich augenblicklich in John. Er schlich mit dem Queue in der Hand um den Billardtisch und konzentrierte sich in einer Weise auf das Spiel, die Berit sehr gefiel. Er sagte nur selten etwas.

Er hatte schmale Hände. Sie studierte seine gespreizten Finger auf dem grünen Filz. Sein Blick war auf das Queue fokussiert und sehr ernst. Diese Ernsthaftigkeit fiel ihr auf. Und seine Wimpern. Sein Blick. Sein intensiver Blick.

Warum sie an die Billardhalle denken musste, wusste sie nicht. Sie war seit Jahren nicht mehr dort gewesen. Wahrscheinlich lag es daran, dass sie an Bruder Tuck gedacht hatte. Vielleicht war John bei ihm. Sie zögerte jedoch, ihn anzurufen. Sie tranken bestimmt. Manchmal redete John sich ein, er müsse sich mal wieder mit Lennart ordentlich einen hinter die Binde kippen. Das passierte zwar nicht mehr so oft, aber wenn er es einmal beschlossen hatte, gab es nichts, was ihn daran hindern konnte. Nicht einmal Justus. Der Junge wusste das, er kannte seinen Vater sehr gut und protestierte dementsprechend selten besonders laut oder lange.

Ein einziges Mal, Justus war damals ungefähr zwölf gewesen, hatte John sich erweichen lassen, nach Hause zu kommen. Justus hatte selber seinen Onkel angerufen und darum gebeten, mit John sprechen zu dürfen. Berit durfte nicht zuhören, der Junge schloss sich mit dem schnurlosen Telefon in der Toilette ein. John erschien eine halbe Stunde später, zwar schwankend, aber er war zu Hause.

Es kam ihr so vor, als bewirkten die seltenen Abende und Nächte mit Lennart eine sporadische Rückkehr in das frühere Leben der beiden. Es waren diese Saufabende, die die beiden Brüder zusammenschweißten. Worüber sie sich unterhielten, wusste Berit nicht. Sprachen sie über die alten Zeiten, die Kindheit im Stadtteil Almtuna, oder sonst was? Sie hatten sich ansonsten nichts großartig mitzuteilen. Sie hingen aneinander, weil sie eine gemeinsame Vergangenheit hatten.

Berit war manchmal eifersüchtig auf diese Rückentwicklung in eine Welt, die ihr teilweise fremd war. Johns und Lennarts Kindheit – die frühen Jahre – erschienen immer wie die einzig wirklich glücklichen, wenn die beiden auf sie zu sprechen kamen. Sogar in Lennarts Stimme schlich sich eine Wärme, die ihm ansonsten abging.

»Wann kommt er?«

»Er kommt sicher bald«, rief sie als Antwort.

Sie war froh, dass Justus in seinem Zimmer war.

»Er hilft bestimmt beim Schneeräumen. Es ist unglaublich, was da runterkommt.«

Der Junge sagte nichts. Sie wartete auf eine zweite Frage. Sie wollte seine Stimme hören, aber er blieb stumm. Was tut er? Was denkt er? Sollte sie es wagen, die Küche verlassen und in sein Zimmer gehen? Aber das Halbdunkel der Küche war, was sie in diesem Moment ertragen konnte. Kein Licht, keine schnellen Computerbilder, keine fragenden Blicke von Justus.

»Vielleicht kannst du Harry helfen«, rief sie. »Dir was außer der Reihe verdienen.«

Keine Reaktion.

»Er könnte bei den Kellereinfahrten bestimmt Hilfe gebrauchen.«

»Sein Schnee kann mir gestohlen bleiben.«

Justus stand plötzlich wieder in der Tür.

»Das ist nicht nur seiner«, sagte Berit leise.

Der Junge schnaubte und streckte sich nach dem Lichtschalter an der Wand.

»Nein, lass aus!«

Sie bereute ihre Worte sofort.

»Es ist gemütlich, wenn es ein bisschen dunkel ist. Ich kann statt dessen ein paar Kerzen anzünden.«

Sie spürte seinen Blick.

»Du würdest ein bisschen Geld verdienen«, sagte sie.

»Ich brauche kein Geld. Übrigens hat Papa Geld.«

»Sicher, aber nicht sehr viel. Du hast doch davon gesprochen, dass du dir einen Fotoapparat kaufen willst.«

Justus schaute sie abweisend an. War es Triumph, was sie in seinem Blick sah?

»Ich finde, du solltest ihn auf jeden Fall fragen«, fuhr sie fort.

»Kannst du nicht endlich damit aufhören«, sagte er, drehte den Körper, wie nur er es konnte, und verschwand wieder in seinem Zimmer.

Sie hörte, wie er die Tür zuschlug, das Knacken, als er sich auf sein Bett warf. Sie trat wieder ans Fenster. Harry war mit seinem Traktor verschwunden. Im Haus gegenüber waren die meisten Fenster beleuchtet. Sie sah Familien, die sich um den Esstisch versammelt hatten. Hinter einigen Scheiben schien bläuliches Fernsehlicht.

Ein Schatten bewegte sich zwischen den Garagen, und sie schrie vor Freude fast auf, aber kein John tauchte beim Verschlag mit den Mülltonnen auf. Hatte sie sich das nur eingebildet, oder wohin war der Schatten verschwunden? Wenn man zwischen den Garagen ging, tauchte man beim Müllverschlag wieder auf, aber niemand kam. Kein John. Berit starrte in die Dunkelheit hinaus. Plötzlich erschien er wieder. Einen Moment lang hatte sie etwas gesehen. Einen Mann in grüner Kleidung, aber es war nicht John.

Wer könnte das sein? Warum blieb er hinter dem Müllverschlag? Dann fiel ihr ein, dass es vielleicht Harrys Bruder war, der des öfteren beim Schneeräumen half. Kein John. Der Moment der Erleichterung wich einem Gefühl von Einsamkeit.

Der Topf mit den Kartoffeln war noch lauwarm. Sie drehte die Platte mit dem Gulasch an. Unterste Stufe. Bald kommt er, redete sie sich ein und legte die Hand an den Topf.

Um halb acht rief sie Lennart an. Johns Bruder ging beim fünften Klingeln an den Apparat. Er klang nüchtern. Er hatte seit Tagen nichts von John gehört.

»Er wird schon wieder auftauchen«, sagte er leichthin, aber sie hörte Besorgnis in seiner Stimme.

Berit konnte ihn vor sich sehen, wie er im Flur auf und ab tigerte.

»Ich telefonier mal rum«, sagte er. »Er sitzt bestimmt irgendwo und trinkt ein paar Bier.«

Berit verabscheute ihn für diese Worte. Ein paar Bier. Sie knallte den Hörer hin.

Sie rief Johns Mutter an, sagte ihr jedoch nicht, dass sie schon seit mehreren Stunden auf ihn wartete. Sie hatte gehofft, dass er vielleicht dort vorbeigeschaut hatte und bei ihr hängengeblieben war. Sie plauderten ein wenig, während Berit in der Wohnung umherging.

Um Viertel nach acht rief Lennart zurück.

»Es war verdammt unnötig, einfach aufzulegen«, begann er, und sie hörte, dass er ein paar Bier getrunken hatte.

»Wo kann er nur sein?« fragte sie, und jetzt brach sich ihre Verzweiflung Bahn.

Justus kam aus seinem Zimmer.

»Ich habe Hunger«, sagte er.

Sie gab ihm ein Zeichen mit der Hand, dass er still sein sollte, und beendete das Gespräch mit Lennart.

»Hast du eine Ahnung, wo der Papa sein könnte?« fragte sie.

Sie wollte es nicht zeigen, aber die Sorge ließ sie zittern. Justus machte eine unbeholfene Geste.

»Weiß nicht, aber er kommt sicher bald«, antwortete er.

Berit begann zu weinen.

»Mama, er kommt!«

»Ja, er kommt bestimmt«, sagte sie und versuchte zu lächeln; es wurde eher eine Grimasse daraus. »Ich finde es nur so ärgerlich, wenn er nichts von sich hören lässt. Die Kartoffeln sind ganz zerkocht.«

»Wir können ja schon mal essen, oder?«

Plötzlich wurde sie maßlos wütend. Lag es an Justus’ Worten, die sie als eine Art Illoyalität empfand, oder war es eine Ahnung, dass etwas Schreckliches geschehen sein könnte?

Sie setzten sich an den Küchentisch. Harry war mit dem Traktor auf den Hof zurückgekehrt, und Berit wollte das Schneeräumen erneut zur Sprache bringen, verstummte jedoch, als sie den Gesichtsausdruck des Jungen sah.

Die Kartoffeln hatten eine Haut bekommen, und die Fleischstücke waren mürbe, aber nur lauwarm. Justus räumte schweigend den Tisch ab. Sie verfolgte seine mechanischen Bewegungen. Die zwei Nummern zu große Jeans hing um die mageren Beine und den kaum vorhandenen Po. Im Laufe des Herbstes hatte er Stück für Stück seine Art, sich zu kleiden, und den Musikgeschmack gewechselt, von englischer Popmusik, die Berit oft durchaus gefiel, zu einer wüsten und abgehackten Rapmusik, die in ihren Ohren einfach nur aggressiv klang. Der Kleidergeschmack hatte sich parallel zur Musik verändert.

Sie schaute auf die Wanduhr. Neun. Jetzt wusste sie, dass es spät werden würde. Sehr spät.

2

Er beobachtete die Busfahrerin. Sie fuhr zu dicht auf, beschleunigte zu schnell und musste zu heftig abbremsen. »Weiber«, murmelte er unzufrieden.

Der Bus war halbvoll. Vor ihm saß eine Ausländerin. Bestimmt eine Iranerin oder Kurdin. Manchmal kam es ihm vor, als würden im ganzen Viertel nur noch Kanaken wohnen. Drei Plätze weiter saß Gunilla. Er lächelte in sich hinein, als er ihren Nacken sah. Sie, die mit ihren langen, lockigen, hellen Haaren und ihren Augen, die unter dem Pony leuchteten, immer eine der schönsten gewesen war. Die Augen hatten Gunilla immer geheimnisvoll aussehen lassen, vor allem wenn sie lachte. Jetzt hatten die Haare all ihren früheren Glanz verloren.

Vor dem Kreisverkehr war der Bus viel zu schnell; das heftige Bremsmanöver brachte einen Fahrgast, der sich an die Tür gestellt hatte, ins Wanken und ließ ihn nach vorne stolpern. Seine Umhängetasche traf Gunillas Kopf, und sie drehte sich um.

Sie sieht aus wie früher, doch irgendwie auch anders, dachte er, als er ihren erschreckten, aber gleichzeitig aufgebrachten Gesichtsausdruck sah. Wie oft hatte er sie so gesehen, das Gesicht schräg nach hinten gewandt? Damals hatte etwas Lässiges und Spöttisches in ihrer Miene gelegen, als wollte sie denjenigen einladen, den sie ansah, aber ihn, Vincent, hatte sie kaum wahrgenommen und nie zu etwas eingeladen. »Zu nichts«, murmelte er.

Ihm war schlecht. Steig aus, damit ich dich nicht mehr sehen muss! Die Iranerin vor ihm hatte Schuppen. Der Bus schaukelte weiter. Gunilla war dick geworden. Ihre Lässigkeit war einer bleiernen Müdigkeit gewichen.

Steig aus! Vincent Hahns Augen starrten auf ihren Kopf. Als der Bus an der Stelle vorbeifuhr, wo in seiner Kindheit der Schrotthandel von Uno Lantz gelegen hatte, heute jedoch ein modernes Bürogebäude stand, kam ihm die Idee. So krank, so verdammt krank, dachte er, aber auch so verdammt schön.

Er lachte auf. Die Iranerin drehte sich zu ihm um und lächelte.

»Du hast Schuppen«, sagte Vincent.

Die Iranerin nickte und lächelte breiter.

»Schuppen«, sagte Vincent noch lauter.

Gunilla drehte sich ebenso um wie eine Handvoll der übrigen Fahrgäste. Vincent senkte den Kopf. Er schwitzte. Beim Buscafé stieg er aus und blieb auf dem Bürgersteig stehen. Der Bus fuhr weiter, die Kungsgatan hinunter. Er schaute auf seine Füße. Er stieg immer zu früh aus. Ihr armen Füße, dachte er, meine armen Füße, ich Armer.

Die Füße trugen ihn über die Bangårdsgatan zum Fluss und anschließend zur Nybron. Dort blieb er mit hängenden Armen stehen. Bloß seine Augen bewegten sich. Alle schienen es eilig zu haben. Nur Vincent Hahn konnte es ruhig angehen lassen. Er starrte in das schwarze Wasser hinab. Es war der 17. Dezember 2001.

Wie kalt es ist, dachte er, und der Schweiß auf seinem Rücken ließ ihn erschauern.

»Die armen Taliban«, sagte er laut. »Die armen Menschen.«

Der Verkehr hinter ihm wurde dichter. Immer mehr Menschen bewegten sich über die Brücke. Er hob den Kopf und schaute zum Kino Spegeln hinüber. Zahlreiche Menschen hatte sich auf der Straße versammelt. Ging es um eine Protestaktion oder war ein Unglück geschehen? Eine Frau lachte laut. Es war nichts anderes als ein beliebter Film, der im Kino lief und viele Zuschauer anzog. Lachen. Wenn sie sich auf der Straße bewegten, sah es aus wie eine lachende Demonstration.

Die Glocken des Doms schlugen sechs, und er kontrollierte seine Armbanduhr. Vincent lächelte triumphierend zur Kirchturmspitze hinauf. Die Kirchturmuhr ging fünfzehn Sekunden vor. Die Kälte – der kalte Luftzug vom Fluss ließ ihn die Straße überqueren und den Weg zum Stora Torget einschlagen.

»Es war so schlimm, dass ich mich nicht getraut habe …«, hörte er einen Passanten sagen, und er wandte sich eifrig nach ihm um. Er hätte so gerne die Fortsetzung hören wollen. Was ist denn so schlimm, dachte er.

Er blieb stehen und sah dem Mann nach, von dem er glaubte, dass er die Worte geäußert hatte. Bald wird es noch schlimmer, hatte er Lust zu schreien, viel schlimmer.

3

Ola Haver hörte amüsiert lächelnd seiner Frau zu.

»Was ist denn so komisch?«

»Nichts«, sagte Haver vorsichtig.

Rebecka Haver schnaubte.

»Red weiter, ich will es hören«, sagte er und streckte sich nach dem Salzstreuer.

Sie warf ihm einen Blick zu, als wollte sie entscheiden, ob sie wirklich weitersprechen sollte.

»Er ist eine Bedrohung für die Volksgesundheit«, sagte sie und zeigte auf die Fotografie in der Mitarbeiterzeitung der Provinzialregierung.

»Jetzt übertreibst du.«

Rebecka schüttelte den Kopf, während sie erneut auf das bärtige Gesicht des Lokalpolitikers zeigte.

Unter dem Finger möchte ich lieber nicht sein, dachte Haver.

»Es geht um die Alten, die Schwachen in der Gesellschaft, die sich kein Gehör verschaffen können oder sich nicht trauen.«

Das hörte er nicht zum ersten Mal, und er hatte die alte Leier allmählich satt. Er salzte erneut sein Ei.

»Zu viel Salz ist nicht gesund«, sagte Rebecka.

Er sah sie an, stellte den Salzstreuer ab, griff nach dem Löffel und aß schweigend den Rest des allzu hart gekochten Eis.

Haver stand auf, deckte den Tisch ab und räumte Kaffeetasse, Untersetzer und Eierbecher in die Spülmaschine, wischte schnell die Spüle ab und löschte das Licht über dem Herd. Nach diesen Routinehandgriffen pflegte er auf das Thermometer zu schauen, aber an diesem Morgen blieb er mitten in der Küche stehen. Irgend etwas hemmte seine Bewegung zum Fenster, als ob eine unsichtbare Hand ihn zurückhalten würde. Rebecka sah flüchtig auf, las aber gleich weiter. Dann wusste er es. Nach dem Blick auf das Thermometer beugte er sich stets zu seiner Frau herab, küsste ihren Scheitel und sagte ihr, wie gern er sie hatte. Jeden Morgen, den sie gemeinsam am Frühstückstisch saßen.

Diesmal zögerte er, oder vielmehr sein Körper, der sich weigerte, die beiden Schritte ans Fenster zu machen. Diese Entdeckung verwirrte ihn.

Rebecka hatte aufgehört zu lesen und beobachtete ihn mit einer Art professioneller Wachsamkeit, die sie sich in ihren Jahren auf verschiedenen Pflegestationen angeeignet hatte. Er machte eine Bewegung, als wollte er die Spülmaschine schließen, aber sie war bereits zu.

»Geht es dir gut?«

»Alles in Ordnung«, antwortete er. »Ich habe nur nachgedacht.«

»Hast du Kopfschmerzen?«

Er machte eine abwehrende Bewegung. Im Herbst hatten ihn immer wieder furchtbare Schmerzen hinter dem Stirnbein gequält. Seitdem waren mehrere Wochen vergangen. Hatte sie sein Zögern bemerkt? Wohl eher nicht.

»Heute fängt ein Neuer in unserem Kommissariat an«, sagte er. »Aus Göteborg.«

»Entwaffne ihn«, meinte Rebecka kurz angebunden.

Er erwiderte nichts, sondern hatte es plötzlich eilig, verließ die Küche und verschwand im angrenzenden Zimmer, das sie als Büro und Bibliothek nutzten.

»Es wird spät werden«, sagte er halb im Wandschrank stehend. Er warf einen Trainingsanzug, ein Paar Schuhe und einen Pullover, den Rebecka gestrickt hatte, zur Seite. Unter einigen Kartons lag eine Plastiktüte von H & M. Die nahm er mit, zog die Tür zu und ging schnellen Schritts durch die Küche.

»Es wird spät werden«, wiederholte er und blieb noch ein paar Sekunden im Flur stehen, ehe er die Haustür öffnete und in den kalten Dezembermorgen hinaustrat, ein paarmal tief Luft holte, mit leicht gebeugtem Kopf gleichsam Anlauf nahm.

Dezember. Die Zeit der Dunkelheit. Für Rebecka schien die Dunkelheit so undurchdringlich zu sein wie schon seit langem nicht mehr. Haver konnte sich nicht erinnern, sie jemals so niedergeschlagen gesehen zu haben. Er hatte ihre krampfhaften Versuche beobachtet, den Schein zu wahren, aber unter der abbröckelnden Fassade lauerte die Herbstangst.

Ein paar Schneeflocken schwebten herab. Er begegnete Josefsson mit dem Pudel aus Hausnummer 3. Der Nachbar, der Polizisten bewunderte und diesem Gefühl stets überschwenglich Ausdruck verlieh, lächelte und sagte etwas über den bevorstehenden Winter. Haver war Josefssons stets enthusiastische Forschheit unangenehm, und er murmelte, er habe viel zu tun.

Er dachte an Rebecka. Sie sollte wieder arbeiten gehen. Sie brauchte Menschen um sich herum, den Stress auf Station, den Kontakt mit Patienten und Arbeitskollegen. Die kleinen Plaudereien am Abend, wenn sie ein paar Worte darüber wechselten, was sich am Tag auf der Arbeit ereignet hatte, waren einer trüben Stimmung gewichen, und einem angespannten Warten darauf, dass etwas geschehen würde. Etwas Neues, das ihrem Leben wieder Schwung gab. Seit Sara, ihr zweites Kind, geboren worden war, hatte ihr Zusammensein viel von der Spannung verloren, die ihm bis dahin die Würze gegeben hatte.

Haver fühlte, dass die Routine auf der Arbeit nun durch eine Art einschläfernden Leerlauf daheim ergänzt wurde. Es hatte einmal eine Zeit gegeben, in der er voller Freude vom Dienst nach Hause gefahren war, voller Sehnsucht nach Rebecka, danach, ihr einfach nahe zu sein.

Lag das wirklich nur an ihr? Haver hatte lange darüber nachgedacht. Sammy Nilsson, sein Kollege im Kommissariat, meinte, es sei eine Frage des Alters. »Ihr seid in die Midlifecrisis geraten, die Zeit, in der Paare entdecken, dass sie in ihrem Leben nichts Großartiges mehr zu erwarten haben«, hatte er mit einem Lächeln gesagt. »Unsinn«, hatte Haver ihn abgetan. Er liebte Rebecka und hatte dies vom ersten Augenblick an getan. Liebte sie ihn? Er hatte einen kritischen Zug in ihrem Gesicht bemerkt, so als sehe sie ihn mit neuen Augen. Sicher, er arbeitete im Moment viel mehr als sonst, weil Ann Lindell ihren Erziehungsurlaub in Anspruch nahm, aber es hatte auch vorher schon Perioden gegeben, in denen er fast genauso viel gearbeitet und Rebecka keine ernsthaften Einwände dagegen erhoben hatte.

Das Handy klingelte.

»Morgen, ich bin’s«, sagte Ottosson, der Leiter des Kriminalkommissariats. »Die Schießübung heute kannst du vergessen. Wir haben eine Leiche.«

Haver blieb stehen. Josefssons Pudel bellte etwas weiter weg. Er hatte wahrscheinlich das Labradorweibchen von Hausnummer 5 getroffen.

»Wo?«

»Librobäck. Ein Jogger ist über einen Körper gestolpert.«

»Ein Jogger?«

Die Sonne hatte es gerade erst über den Horizont geschafft. Liefen die Leute schon so früh am Morgen und bei diesem Wetter?

»Die Spurensicherung ist unterwegs«, sagte Ottosson.

Er klang müde, fast ein wenig desinteressiert und abwesend, als ob dies reine Routine wäre, als würden Jogger jeden zweiten Morgen über eine Leiche stolpern.

»Ermordet?«

»Wahrscheinlich«, antwortete Ottosson, berichtigte sich jedoch unmittelbar darauf. »Auf jeden Fall. Das Opfer ist verstümmelt.« Jetzt hörte Haver die Hoffnungslosigkeit in der Stimme seines Chefs.

Es war nicht Müdigkeit, es war Niedergeschlagenheit angesichts der Bösartigkeit der Menschen, was den durch und durch liebenswerten Ottosson so uninspiriert klingen ließ.

»Wo in Libro?«

»Gleich, wenn du aus der Stadt fährst, auf der rechten Seite, hinter den Lagerhallen der Stadtverwaltung.«

Haver dachte nach, während er sein Auto aufschloss, versuchte sich zu erinnern, wie die Verlängerung der Börjegatan aussah.

»Beim TÜV?«

»Weiter draußen. Die Stadt kippt dort immer Schnee ab.«

»Dann weiß ich wo«, sagte Haver. »Wer ist noch da?«

»Fredriksson und Bea.«

Sie beendeten das Gespräch. Er hatte Rebecka bereits angekündigt, dass es spät werden würde, was mit Sicherheit stimmte, allerdings jetzt aus einem ganz anderen Grund, als er vor einer Viertelstunde angenommen hatte. Die Versammlung der örtlichen Polizeigewerkschaft würde durch eine Besprechung oder eine andere Arbeitsaufgabe ersetzt werden. Die Gewerkschaft musste warten. Ebenso wie das Übungsschießen.

John Harald Jonsson hatte stark geblutet. Die ursprünglich helle Jacke war über und über mit eingetrocknetem Blut verschmiert. Der Tod war sicher eine Erlösung für ihn gewesen. Drei Finger fehlten an der rechten Hand, gekappt beim zweiten Glied. Die Brandmale und blauschwarzen Blutergüsse am Hals und im Gesicht bezeugten John Jonssons Leiden.

Eskil Ryde von der Spurensicherung stand einen Meter von der Leiche entfernt, schaute jedoch nach Norden. Haver fand, dass er mit seinen verbissenen Gesichtszügen, den Bartstoppeln und dem hohen Haaransatz an Sean Connery erinnerte. Ryde blickte in die Ebene von Uppsala hinaus, als wäre dort die Antwort zu finden. Tatsächlich beobachtete er jedoch einen Düsenjäger, der von seinem Stützpunkt abhob.

Beatrice und Fredriksson hockten bei der Leiche. Der Wind kam von Westen. Ein uniformierter Kollege sperrte den Tatort mit einem Band ab. Es roch auf schwer bestimmbare Art süßlich, was Haver dazu veranlasste, sich umzusehen.

Fredriksson schaute auf, nickte Haver zu.

»Der kleine John«, sagte Fredriksson.

Auch Haver hatte den Ermordeten sofort erkannt. Vor einigen Jahren hatte er John in einem Fall verhört, in den sein Bruder verwickelt gewesen war. Der Bruder hatte John als Zeugen für sein Alibi angegeben. Soweit Haver sich erinnern konnte, war er ein recht netter Kerl gewesen, ein ehemaliger Kleinganove, der niemals gewalttätig geworden war. Wie nicht anders zu erwarten, hatte er die Aussage seines Bruders bestätigt. Haver war fest überzeugt, dass John log, fand jedoch keinen Weg, Lennart Jonssons Alibi platzen zu lassen.

Sie hatten sich über Fische unterhalten, erinnerte sich Haver. Der kleine John interessierte sich leidenschaftlich für Zierfische und von denen war es nicht weit zum Angeln.

»Oh, verdammt«, sagte Beatrice und richtete sich mit einer angestrengten Bewegung auf.

Ottossons Auto hielt am Straßenrand. Die drei Kriminalpolizisten sahen, dass der Leiter des Kommissariats mit ein paar Schaulustigen sprach, die sich bereits auf der Landstraße 272 in etwa fünfzig Meter Entfernung versammelt hatten. Er machte eine Handbewegung, um anzuzeigen, dass sie mit ihren Autos nicht einfach so am Straßenrand parken konnten.

»Wo ist der Jogger?« fragte Haver und sah sich um.

»Im Krankenhaus«, antwortete Bea. »Als er auf die Straße laufen wollte, um einen Wagen anzuhalten, ist er übel ausgerutscht. Sein Arm ist eventuell gebrochen.«

»Ist er verhört worden?«

»Ja, er wohnt in Luthagen und läuft diese Strecke jeden Morgen.«

»Und was hat er da im Schnee gemacht?«

»Er läuft auf dem Fahrradweg bis hierhin und kehrt dann wieder um. Aber vorher macht er noch ein paar gymnastische Übungen. Dafür will er etwas von der Straße wegkommen. So hat er es uns jedenfalls erklärt.«

»Hat er etwas gesehen?«

»Nein, nichts.«

»John hat bestimmt schon seit gestern abend hier gelegen«, mischte Ryde sich ein.

»Reifenspuren?«

»Massenhaft«, sagte Beatrice.

»Es ist eine Schneekippe«, meinte Fredriksson.

»Das ist mir auch schon aufgefallen«, sagte Haver.

Er betrachtete den kleinen John genauer. Der Tote war von jemandem gründlich in die Mangel genommen worden, der entweder sehr zielstrebig oder völlig außer sich vor Wut gewesen war. Die Brandmale, wahrscheinlich von einer Zigarette, waren tief. Haver bückte sich und studierte die Handgelenke des kleinen John. Dunkelrote Male deuteten auf ein fest zugezogenes Seil hin.

Die Stümpfe der gekappten Finger waren schwarz. Die Schnitte waren präzise durchgeführt worden, wahrscheinlich mit einem sehr scharfen Messer, einer Schere, vielleicht auch einer Zange.

Ottosson trottete heran. Haver ging ihm entgegen.

»Der kleine John«, sagte er bloß, und der Leiter des Kommissariats nickte.

Er sah überraschend wach aus. Vielleicht hatte die frische Luft Ottosson munter gemacht. »Ich habe gehört, dass er verstümmelt worden ist.«

»Was wusste der kleine John, das so wichtig war?«

»Wie meinst du das?«

»Ich glaube, dass er gefoltert wurde«, antwortete Haver, dem die Zierfische des Ermordeten in den Sinn kamen. Piranhas, dachte er, und es schauderte ihm bei dem Gedanken.

Ottosson zog die Nase hoch. Es kam ein Windstoß, der beide aufblicken ließ. Havers Nachdenklichkeit vom frühen Morgen war noch nicht von ihm abgefallen. Er kam sich teilnahmslos und unprofessionell vor.

»Eine Abrechnung«, meinte er.

Ottosson holte ein kariertes Taschentuch heraus und schneuzte sich lautstark. »Dieser verdammte Wind«, sagte er. »Habt ihr was gefunden?«

»Bisher noch nicht. Er dürfte mit einem Auto hierher verfrachtet worden sein.«

»Sie ist offen«, stellte Ottosson fest und nickte in Richtung einer Schranke. »Ich komme hier ziemlich oft vorbei und sehe nie jemanden hereinfahren, außer im Winter, wenn die Wagen der Stadt Schnee abkippen.«

Haver wusste, dass Ottosson etwa zwanzig Kilometer außerhalb der Stadt ein Wochenendhaus besaß, und glaubte gehört zu haben, dass es am Gysingevägen lag.

Ottosson drehte sich plötzlich um und nahm Kurs auf Fredriksson und Ryde, die sich bei der Leiche unterhielten. Bea hatte die beiden verlassen und durchstreifte die Umgebung.

»Warum bist du hergekommen?« rief Haver seinem Chef nach.

Ottosson tauchte sonst nie so schnell an einem Tatort auf. »Ich habe den kleinen John verhaftet, als er sechzehn war. Es war sein erster Kontakt mit uns.«

»Wie alt ist er jetzt?«

»Zweiundvierzig«, sagte Ottosson und ging zu seinem Auto.

4

Sie war völlig überrascht. Sie hatte sich umgeschaut, weil es klang, als hätte auf dem Parkplatz jemand aufgeschrien. Es war der Schrei einer Frau.

Als Ann Lindell wieder nach vorne sah, stand vor ihr der Weihnachtsmann mit einem überdimensionalen Bart und einer makabren Maske.

»Gott, haben Sie mich erschreckt!«

»Frohe Weihnachten«, polterte der Weihnachtsmann und versuchte wie eine Walt-Disney-Figur zu klingen.

Fahr zur Hölle, dachte sie, lächelte jedoch.

»Nein danke«, sagte sie, so als wollte der Weihnachtsmann ihr etwas aufschwatzen, was vermutlich auch seine Absicht gewesen war, denn er verlor augenblicklich das Interesse an ihr und stürzte sich auf ein Paar mit drei Kindern im Schlepptau.

Sie betrat das Einkaufszentrum. Er sollte lieber Schnee schippen, dachte sie, damit man besser reinkommt. Sie stampfte den Schnee von den Schuhen und holte die Einkaufsliste heraus. Sie war ellenlang. Ann Lindell war bereits jetzt erschöpft.

Zuoberst standen Kerzen, dann folgte eine wüste Mischung aus Lebensmitteln und Zutaten. Sie wollte nicht, aber ihr blieb nichts anderes übrig. Es war das erste Mal, dass ihre Eltern Weihnachten in Uppsala feiern würden. Zwar hatte ihre Mutter versprochen, einige traditionelle Weihnachtsgerichte mitzubringen, aber die Liste war dennoch umfangreich.

Schon in der Gemüseabteilung geriet Ann Lindell ins Schwitzen.

»Haben Sie Grünkohl?« beeilte sie sich eine Angestellte zu fragen, die an ihr vorbeilief und als Antwort in eine unbestimmte Richtung zeigte.

»Danke«, sagte Lindell mit Nachdruck. »Danke für die präzise Auskunft.«

Eine Hand legte sich auf ihren Arm. Sie drehte sich um, und vor ihr stand Asta Lundin.

»Ann, wir haben uns ja ewig nicht gesehen«, sagte sie.

Sie ließ ihre Hand liegen, und Ann Lindell spürte den Druck. Die Vergangenheit wurde schlagartig lebendig. Asta war die Witwe von Tomaten-Anton, einem alten Gewerkschaftsfreund von Edvard Risberg. Ann war ihr ein paarmal zusammen mit Edvard begegnet. Sie hatten Kaffee in Astas Küche getrunken, und Edvard hatte der Frau später beim Umzug in die Stadt geholfen.

»Asta«, sagte sie nur und war nicht in der Lage, klar zu denken.

»Wie ich sehe, hast du was Kleines bekommen«, sagte die Frau und nickte zum Tragesack auf Anns Rücken.

»Er heißt Erik«, sagte Ann.

»Geht es dir gut?« Astas graue Haare umhüllten ihr mageres Gesicht wie eine Wolke.

Ann hätte weinen mögen. Sie erinnerte sich an Edvards Worte, dass Tomaten-Anton und Asta zwei der feinsten Menschen seien, denen er je begegnet war.

»Es geht mir gut«, antwortete Ann Lindell, aber ihr Gesicht drückte etwas anderes aus.

»Der Einkaufswagen wird ganz schön voll«, meinte Asta. »Was für ein fürchterliches Gehetze.«

Ann wollte nach Edvard fragen. Sie hatte seit anderthalb Jahren nicht mehr mit ihm gesprochen, seit jenem Abend im Krankenhaus von Östhammar, als sie ihm eröffnet hatte, dass sie ein Kind von einem anderen Mann erwartete. Sie hatte auch von anderen nichts über ihn erfahren. Es kam ihr vor, als wäre er ausgelöscht worden. Wohnte er noch auf Gräsö, als Mieter in Violas Obergeschoss? Was für einer Arbeit ging er nach? Hatte er Kontakt zu seinen Söhnen? Und, bei dem Gedanken wurde ihr schwindlig, hatte er eine neue Frau kennengelernt?

»Du siehst gut aus«, sagte Asta, »hast rote Wangen und schaust hübsch aus.«

»Danke, und wie geht es dir?«

»Meine Schwester kommt Weihnachten zu Besuch.«

»Wie schön. Meine Eltern kommen auch. Sie wollen sehen, wie groß Erik schon ist. Hast du …«, begann Ann, konnte jedoch nicht weitersprechen.

»Ich verstehe, unser Edvard«, sagte Asta und legte wieder ihre Hand auf Anns Arm, die dadurch daran erinnert wurde, was Edvard über Asta und Anton erzählt hatte, wie sie voneinander angezogen waren, wie oft sie sich umarmt, sich geküsst hatten, auch wenn andere Menschen um sie herumstanden. In Edvards Augen verkörperten die Eheleute Lundin ein Idealbild von gegenseitiger Treue und Treue zu ihrem Leben.

»Du hörst vielleicht nichts von Gräsö«, meinte Asta.

»Wohnt er noch da?«

»Das tut er. Viola ist ein bisschen kränklich, ich glaube, sie hatte eine Thrombose letzten Herbst, aber jetzt ist sie wieder auf den Beinen.«

»Wie schön«, sagte Ann tonlos.

»Sollen wir eine Tasse Kaffee trinken?« fragte Asta.

Sie setzten sich an einen Tisch und tranken aus kleinen Pappbechern Kaffee, der gratis ausgeschenkt wurde. Erik maulte; Ann löste die Tragegurte und machte seine Jacke ein bisschen auf.

»Er sieht propper aus«, sagte Asta.

Es gab so viel, wonach Ann fragen wollte, aber sie hielt sich zurück. Es war ein seltsames Gefühl, mit der alten Frau zusammenzusitzen. Außerdem schämte sie sich. Sie hatte Edvard betrogen und damit auch seine engsten Freunde. Sie hatte ihn verletzt, ihm weh getan, das wusste sie, aber Asta ließ nichts von Verbitterung oder Wut über den Betrug spüren.

»Edvard geht es gut«, sagte Asta. »Er ist vor einem Monat bei mir gewesen. Er schaut öfter mal vorbei.«

Er ist in der Stadt gewesen, dachte Ann. Sind wir vielleicht aneinander vorbeigelaufen, hat er mich etwa gesehen?

»Ich glaube, er hat alle Hände voll zu tun«, fuhr Asta fort. »Er rackert sich ab wie eh und je. Die Risbergs sind immer schon Arbeitstiere gewesen. Ich kannte ja auch seinen Vater und seinen Großvater.«

Ann nickte. Sie erinnerte sich an Albert Risberg, den Alten im ersten Stock auf Ramnäs Gård, wo Edvard gearbeitet hatte, als sie einander zum ersten Mal begegnet waren.

»Er ist ein richtiger Schärenbewohner geworden.«

Asta verstummte, nahm einen Schluck Kaffee und sah Ann Lindell an.

»Das ist ja ganz schön schiefgelaufen«, fuhr sie fort. »Das war sehr schade.«

»Ja, das war nicht so toll«, erwiderte Ann.

»Edvard ist kein starker Mensch, das hat Anton mir oft gesagt.«

Ann wollte nichts mehr hören, und Asta schien dies zu merken, denn sie verstummte.

»Das Leben entwickelt sich nicht immer so, wie man sich das vorgestellt hat«, sagte sie und lächelte schief.

»Hat er …«

»Nein, er lebt allein«, unterbrach Asta sie.

»Du liest meine Gedanken«, sagte Ann.

»Du bist für mich wie ein offenes Buch. Du liebst ihn immer noch?«

Ann nickte stumm. Sie wollte nicht weinen. Nicht in einem Einkaufszentrum, umgeben von zahlreichen Menschen. Sobald sie allein war, würden die Tränen kommen. Natürlich liebte sie ihn noch.

»Es muss etwas Zeit vergehen«, sagte Asta. »Du wirst sehen, dann sieht das Leben auch wieder freundlicher aus.«

Etwas Zeit, dachte Ann, hat sie mit Edvard gesprochen? Will er mich treffen, kann er mir vielleicht verzeihen? Sie wollte die Frau fragen, was sie mit ihren Worten gemeint hatte, fürchtete jedoch die Antwort.

»Kann schon sein«, sagte sie statt dessen und stand auf. »Jetzt werde ich weiter einkaufen. Danke für das Plauderstündchen.«

Asta sagte nichts, blieb sitzen und saß auch noch da, als Ann wenig später unterwegs zur Fleischtheke war. Das graue Haar, die mageren Hände auf dem Tisch. Ann nahm an, dass sie an Anton dachte.

5

Er mochte das Moos, das unter dem Schnee hervorlugte. Wäre es Sommer gewesen, hätte er sich hingelegt. Nur für einen Moment. Sich ausgeruht. Er atmete tief ein. Einmal, zweimal. Sie hatte im Wohnzimmer Licht gemacht. Er hatte sie einen Augenblick lang sehen können.

»Ich bin ein Waldkrieger«, sagte er laut.

Der Gedanke gefiel ihm, dass er ein Wesen war, das von außen kam, aus dem Moos und der Dunkelheit, zu den warmen Fenstern.

Plötzlich ging im zweiten Zimmer das Licht an. Bis auf einen hellen BH hatte sie den Oberkörper entblößt. Sie öffnete die Schranktür, holte einen Pullover heraus und zog ihn in einer einzigen Bewegung über Kopf und Arme.

Er fluchte. Er wollte sie sehen. Wie oft hatte er von diesen Brüsten geträumt.

Sie blieb im Zimmer stehen, drehte sich, spiegelte sich, zupfte etwas zurecht. Sie trat näher an den Spiegel heran, beugte sich vor. Er musste das gleiche tun, um sie gründlich studieren zu können. Zwischen dem Fenster und dem Baum, hinter dem er sich versteckte, lagen fünf Meter. Er roch an dem Stamm. Nässe, sonst nichts.

Sie löschte das Licht und verließ den Raum. Er wartete noch zehn Minuten, ehe er sich vorsichtig der Terrasse näherte und hinter dem großmaschigen Zaun in die Hocke ging. Wie lautete sein Plan? Die Ungewissheit darüber ließ ihn zögern. Er hatte geglaubt, eine Idee zu haben, aber einmal an Ort und Stelle, in unmittelbarer Nähe eines seiner Quälgeister, erschien sie ihm nicht mehr besonders verlockend.

Vincent Hahn hatte das Gefühl, fünfundzwanzig, dreißig Jahre zurückversetzt zu werden. Auch damals gab es große Momente, Momente, in denen er Beschlüsse fasste. Beschlüsse, die jedoch stets verwitterten, wenn sie mit der Wirklichkeit konfrontiert wurden. Sie verunsicherte ihn immer noch, was ihn innerlich vor Wut kochen ließ, aber er konnte das Gefühl von Unterlegenheit und Abhängigkeit nicht abschütteln.

6

Messer, dachte Haver. Wer tötet mit einem Messer? Die Verletzungen an Brust und Armen, die gekappten Finger, die Brandmale, er ist gefoltert worden, das steht außer Zweifel. Er kritzelte etwas in seinen Notizblock, ehe er mit dem Stuhl zum Computer rollte und anfing, einen Bericht zu schreiben. Als er die ersten Angaben eingetippt hatte, klopfte jemand an die Tür. Fredriksson schaute herein.

»Der kleine John«, sagte Fredriksson.

»Ich habe die Informationen herausgesucht.«

»Verdammt, ist das kalt geworden.« Fredriksson sah verfroren aus. »Sein Bruder ist ab und zu noch aktiv«, sagte er und setzte sich.

Haver schob seinen Stuhl vom Computer weg und schaute den Kollegen an. Er wollte den Bericht gerne fertig schreiben, sah aber ein, dass Fredriksson reden wollte.

»Aber das ist doch schon was her«, wandte er ein.

»Lennart Albert Jonsson ist noch im Frühjahr wegen Diebstahls und Androhung von Gewalt verhört worden.«

»Verurteilt?«

»Das Verfahren wurde eingestellt«, sagte Fredriksson. »Die Zeugen haben kalte Füße bekommen.«

»Sind sie bedroht worden?«

»Wir denken, ja.«

»Wir werden den Bruder wohl verhören müssen.«

»Es ist nur seltsam, dass John sich viele Jahre nichts hat zuschulden kommen lassen«, meinte Fredriksson. Er stand auf, lehnte sich an einen Aktenschrank und sah nun ausgesprochen entspannt aus, so als wäre ein Mord mit einem Messer genau das, was er in der Vorweihnachtszeit brauchte. »Du weißt, dass er verheiratet war? Ich habe die Frau mal kennengelernt, ein echter Volltreffer. Sie haben einen Jungen. Er heißt Justus.«

»Wie zum Teufel kannst du dir das alles nur merken?«

»Da war was an dieser Familie, das mir gefallen hat. Die Frau des kleinen John war eine spezielle Donna. Hübsch, meine ich, aber nicht nur das. Da war noch mehr.«

Haver wartete auf eine Erläuterung, was dieses »mehr« bedeutete, aber Fredriksson hatte den Gedanken offenbar bereits wieder fallenlassen.

»Dann sind Volltreffer und Donna also das gleiche?«

»So ungefähr«, erwiderte Fredriksson und lächelte.

»Bea ist dort«, sagte Haver. Er war froh, dass ihm das erspart blieb, obwohl er Bea eigentlich hätte begleiten sollen. Die erste Begegnung mit einem nahen Angehörigen konnte wichtige Informationen und Einsichten bringen.

Er erinnerte sich noch an die Frau eines Selbstmörders. Der Mann hatte sich hinter einer Scheune in der Nähe von Hagby in die Luft gesprengt, und als Haver und eine Kollegin, Mia Rosén, bei der frischgebackenen Witwe an die Tür klopften, um ihr die traurige Nachricht zu überbringen, begann sie schallend zu lachen. Sie hatte eine halbe Minute lang ununterbrochen gelacht, bis Rosén sie packte und ordentlich schüttelte. Daraufhin beruhigte sie sich ein wenig und murmelte etwas Entschuldigendes, konnte die Genugtuung über den Tod ihres Mannes jedoch nicht verbergen.

Es stellte sich heraus, dass der Mann vollkommen betrunken gewesen war, 2,8 Promille, und es nicht auszuschließen war, dass jemand die Sprengladung an seinem Körper angebracht hatte. Es gab Reifenspuren auf einem schmalen und lehmigen Feldweg hinter der Scheune. Ein Auto war dorthin gefahren und hatte anschließend zurückgesetzt. Wahrscheinlich handelte es sich um einen blau lackierten Wagen, denn es gab Lackspuren an einer beschädigten, jungen Kiefer am Wegrand.

Als sie einige Tage später die Frau ein weiteres Mal verhörten, war ein Mann im Haus. Er besaß einen roten Audi.

Havers Gedankengang wurde von Fredriksson unterbrochen.

»Wer mordet mit einem Messer?« fragte er und griff damit Havers Überlegungen auf.

»Entweder jemand, der betrunken ist, bei einer Schlägerei, die ausartet, oder bei einem Kampf zwischen zwei Gangs.«

»Oder aber ein eiskaltes Schwein, das zu viel Lärm vermeiden will«, sagte Fredriksson.

»Er ist vor seinem Tod mit einem Messer traktiert und geschlagen worden.«

»Was sollen wir von den Fingern halten?«

»Das erste, woran ich gedacht habe, war Erpressung«, sagte Haver. »Ich weiß, ich gucke zuviel Fernsehen«, ergänzte er, als er Fredrikssons Blick bemerkte. »Ich glaube, dass der kleine John über Informationen verfügte, die jemand furchtbar gerne haben wollte.« Er rollte noch ein Stück zurück.

»John war ein schweigsamer und zäher Bursche«, meinte Fredriksson. Er ging ein paar Schritte auf das Fenster zu, drehte sich jedoch unmittelbar darauf wieder um und sah Haver an. »Hast du was von Ann gehört?«

»Ist schon ein paar Wochen her. Sie lässt grüßen.«

»Vor ein paar Wochen, na vielen Dank. Du bist mir ja ein schneller Bote. Wie geht es ihr?«

»Es ist nicht gerade ihr Ding, zu Hause zu sein.«

»Aber dem Kleinen geht es gut?«

»Denke schon. Wir haben vor allem über die Arbeit geredet. Ich glaube, Ann hat den Bruder des kleinen John einmal verhört.«

Fredriksson verließ Haver, der an die Worte seines Kollegen über Johns Frau denken musste. Er war neugierig auf Beas Kommentar. Wie er sie kannte, würde es dauern, bis sie zurückkam. Sie konnte vielleicht am besten von ihnen mit Menschen umgehen, war freundlich, ohne aufdringlich und rührselig zu sein, gründlich, ohne kleinlich zu werden. Sie baute ein Vertrauensverhältnis auf, und das brauchte Zeit, aber dann gelang es ihr in der Regel auch, den Leuten Informationen zu entlocken, die vielen anderen Kollegen entgingen.

Haver rief Ryde auf dem Handy an. Wie er vermutet hatte, war der Kriminaltechniker noch draußen in Libro.

»Was Interessantes?«

»Nicht viel, außer dass es wieder schneit.«

»Ruf mich an, wenn ihr was findet«, sagte Haver, der ungeduldig war. Ryde musste einfach etwas aufstöbern. Irgendwas. Haver wollte rasch Ergebnisse haben.

Lass es gut gehen, dachte er in der frommen Hoffnung, dass die Ermittlungen in einem Mordfall, die er zum ersten Mal verantwortlich leitete, mit einer schnellen Ergreifung des Täters endeten. Er war nicht unerfahren. Bei mehreren Fällen hatte er eng mit Lindell zusammengearbeitet und glaubte der Aufgabe gewachsen zu sein, spürte aber dennoch Unsicherheit und Ungeduld wie ein Kribbeln in allen Gliedern.

Erneut griff Haver nach dem Telefon, rief den Staatsanwalt an und versuchte anschließend, einen gewissen Andreas Lundemark zu erreichen, der für die Schneekippe in Libro verantwortlich war. Haver wollte sich ein Bild davon machen, wie die Arbeitsabläufe da draußen geregelt waren. Etliche LKW-Fahrer waren dort gewesen, davon zeugten die gigantischen Schneemassen. Vielleicht hatte einer von ihnen etwas gesehen. Sie mussten alle verhört werden.

Die Telefonzentrale der Stadtverwaltung gab ihm Lundemarks Handynummer, aber der Mann ging nicht dran. Haver sprach eine Nachricht auf die Mailbox.

Er legte den Hörer auf und wusste, jetzt musste er in die Gänge kommen. Er hatte Johns Akte vor sich, und die seines Bruders. Er sah das Register durch. Die Akte über Lennart Jonsson war ein ordentlicher Wälzer. Haver notierte sich die Namen der Personen, die in den verschiedenen Ermittlungsverfahren auftauchten, insgesamt zweiundfünfzig. Alle mussten verhört werden. Am wichtigsten waren die Personen um Lennart, die als sein engster Bekanntenkreis angeführt wurden: Diebe, Hehler, Saufkumpane und andere, bei denen sich Lennart unter Umständen aufhielt.

Als Haver fertig war, blieb er sitzen und dachte wieder an Rebecka. Er war ein guter Ermittler, aber zu Hause biss er auf Granit. Er konnte nicht richtig erkennen, was sie quälte. Sie war doch schon einmal mit einem Kind zu Hause gewesen, und damals war alles wunderbar gelaufen.

Vielleicht sollte er sie ganz einfach fragen? Sich mit ihr zusammensetzen, wenn die Kinder eingeschlafen waren, sie regelrecht verhören? Nichts dem Zufall überlassen, systematisch sein und versuchen davon abzusehen, dass er selber der Schuldige sein könnte.

»Heute abend«, sagte er laut und stand auf, wusste aber im gleichen Moment, dass er sich selber belog. Er hätte nie im Leben die Kraft zu einem Gespräch mit ihr, wenn er nach dem ersten Arbeitstag an einem Mordfall nach Hause kommen würde. Und wann würde er überhaupt nach Hause kommen?

»Ich darf nicht vergessen, sie anzurufen«, murmelte er.

Beatrice blieb eine Weile im Hauseingang stehen, las die Namen der Mieter und stellte fest, dass es zwei Anderssons, einen Ramirez und einen Oto gab. Woher kommt Oto? Aus Westafrika, Malaysia oder einem anderen fremden Land? Und dann gab es noch J. und B. Jonsson, oberster Stock.

Sie war allein und froh darüber. Die Nachricht vom Tod eines Menschen zu überbringen, war das Schwerste überhaupt. Kollegen störten Beatrice in solchen Situationen nur. Sie hatte genug mit ihren eigenen Gefühlen zu kämpfen und konnte darauf verzichten, einen Kollegen mitzuschleppen, der vielleicht munter drauflos redete oder aber nur verbissen den Mund hielt und Verunsicherung verbreitete.

Die Tür war frisch gestrichen, es roch noch nach Farbe. Sie versuchte sich vorzustellen, dass sie hier war, um eine gute Freundin zu besuchen, vielleicht jemanden, den sie seit Jahren nicht mehr gesehen hatte. Die Spannung und Freude des Wiedersehens.

Sie strich mit der Hand über die mattgrüne, rauhe Wand. Der Farbduft vermischte sich mit Küchendünsten, es roch nach Zwiebeln. Weil ich zu Besuch komme, kocht Oto sein Nationalgericht, dachte sie. Oto, wie schön, dich wiederzusehen. Oh, gedünstete Zwiebeln, mein Leibgericht!

Sie machte einen Schritt, zögerte dann jedoch. Das Handy surrte in ihrer Tasche. Sie sah nach, wer anrief: Ola.

»Wir haben gerade eine Vermisstenmeldung reinbekommen«, sagte er. »Berit Jonsson hat angegeben, dass ihr Mann John seit gestern abend verschwunden ist.«

»Ich stehe im Treppenhaus«, sagte Bea.

»Wir haben ihr gesagt, wir würden einen Polizeibeamten vorbeischicken.«

»Und das bin ich?«

»Das bist du«, antwortete Ola Haver mit großem Ernst.

Verdammt, dachte Beatrice, sie weiß, dass einer von uns unterwegs ist. Sie glaubt, dass ich eine Vermisstenanzeige aufnehmen will, und dann komme ich mit einer Todesnachricht.

Beatrice ging Schritt für Schritt weiter. »John, Berit und Justus Jonsson.« Das Klingelzeichen war von der Art, die sie verabscheute, ein dumpfes Glockenspielklingeln. Sie trat einen Schritt zurück. Die Tür wurde praktisch sofort geöffnet.

»Beatrice Andersson von der Polizei«, sagte sie und streckte die Hand aus.

Berit Jonsson griff danach. Ihre Hand war warm und feucht.

»Das ging aber schnell«, sagte sie und räusperte sich. »Kommen Sie herein!«

Der Flur war lang, schmal und dunkel. Eine Menge Schuhe und Stiefel lagen gleich hinter der Tür. Beatrice zog die Jacke aus und musste sich selber nach einem Kleiderbügel umsehen, während Berit vollkommen passiv neben ihr stand. Beatrice drehte sich um und versuchte ein Lächeln, das ihr jedoch misslang.

Berits Gesicht war ausdruckslos. Wortlos gingen sie in die Küche. Berit zeigte auf einen Stuhl, blieb selber aber an die Arbeitsplatte gelehnt stehen. Sie war ungefähr Mitte Dreißig. Ihr ursprünglich helles Haar war braunrot gefärbt, Mahagoni, schätzte Beatrice, und zu einem schlampigen Pferdeschwanz gebunden. Links schielte die Frau ein ganz klein wenig. Ihre Hände umklammerten die Arbeitsplatte. Sie war ungeschminkt, und ihr Gesicht wirkte nackt. Sie war sehr müde.

»Ich nehme an, Sie sind Berit Jonsson. Ich habe gesehen, dass auf der Tür auch ein Justus steht. Ist das Ihr Sohn?«

Berit Jonsson nickte.

»Er ist der Junge von John und mir.«

»Ist er zu Hause?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Sie haben John als vermisst gemeldet«, sagte Beatrice und wusste einen Moment lang nicht, wie sie weitermachen sollte, obwohl sie es im stillen vorher durchgegangen war.

»Er wollte gestern nachmittag nach Hause kommen, gegen vier, aber er ist nicht gekommen.«

Bei »nicht« begann sie zu zittern. Sie löste eine Hand von der Arbeitsplatte und fuhr sich über das Gesicht.

Beatrice fand sie trotz ihrer Angst schön, trotz der großen dunklen Ringe unter den Augen und der starren, erschöpften Gesichtszüge.

»Es tut mir sehr leid, aber ich muss Ihnen mitteilen, dass John nicht mehr unter uns ist. Wir haben ihn heute morgen tot aufgefunden.«

Berits Hand erstarrte im Gesicht, so als wollte sie sich verstecken, nicht hören, nicht sehen, aber Beatrice erkannte, dass sie langsam begriff. Es zuckte um ihre Augen, die Pupillen weiteten sich, und Berit schluckte. Beatrice stand auf und nahm Berits Hand in ihre. Jetzt war die Hand der Frau eiskalt.

»Es tut mir sehr leid«, wiederholte die Polizistin, »aber John ist von uns gegangen.«

Berit blickte forschend in das Gesicht der Polizistin, wie um zu ergründen, ob dort noch eine Spur Ungewissheit zu erkennen war. Sie zog ihre Hand wieder zurück, legte sie vor den Mund, und Beatrice wartete auf einen Schrei, der jedoch nicht kam.

Beatrice schluckte. Sie sah den verstümmelten, grün und blau geprügelten und verbrannten Körper des kleinen John vor sich, niedergetrampelt in eine Wehe schmutzigen Schnees.

Berit schüttelte den Kopf, erst fast unmerklich, dann immer kraftvoller. Sehr langsam öffnete sie den Mund, und ein Speichelfaden lief aus ihrem Mundwinkel. Beatrices Worte setzten sich fest, bohrten sich tief in das Bewusstsein der Frau. Berit erstarrte, nicht ein Muskel bewegte sich, sie schottete sich ab, während sie die Nachricht verarbeitete, dass ihr John nie mehr nach Hause kommen, sie nie mehr umarmen, nie mehr diese Küche betreten würde.

Sie wehrte sich nicht, als Beatrice sie an den Schultern fasste, zu einem Stuhl am Fenster führte und sich selber an die andere Seite des Tischs setzte. Beatrice ertappte sich dabei, dass sie hastig registrierte, was alles auf dem Tisch stand: eine Azalee, die zu wenig Wasser bekommen hatte, die Tageszeitung, ein Adventskranz mit drei zur Hälfte abgebrannten Kerzen sowie ein Messer und eine Gabel, über Kreuz auf einem leeren Teller.

Beatrice beugte sich über den Tisch, ergriff von neuem die Hand der Frau und drückte sie sachte. Dann kam eine Träne, eine einzige, die Berits Wange hinablief.

»Können wir jemanden anrufen?«

Berit wandte ihr Gesicht Beatrice zu. »Wie?« fragte sie heiser und flüsternd.

»Er ist ermordet worden«, sagte Beatrice leise, so als wolle sie sich Berit anpassen.

Der Blick, der sie traf, erinnerte sie an die Schlachtung eines Schafs, die sie als Kind einmal erlebt hatte. Ein Mutterschaf sollte zum Schlachthof transportiert werden. Es wurde blökend aus seiner Box auf den Hof hinausgeführt. Es war widerspenstig, wurde jedoch von Beatrices Onkel beruhigt.

Der Blick des Mutterschafs in diesem Moment, in der Zehntelsekunde, bevor es sich wieder beruhigte, das Weiß der Augen, die es verdrehte, der verletzte Ausdruck, nicht angstvoll, eher fragend. Es war ihr damals so vorgekommen, als fände die Angst keinen Platz, obwohl der Hof so groß war.

»Ermordet«, murmelte Berit.

»Können wir jemanden anrufen? Haben Sie Geschwister?«

Berit schüttelte den Kopf.

»Eltern?«

Neuerliches Kopfschütteln. »Justus«, sagte sie, »ich muss Justus erreichen.«

»Wo ist er?«

»Bei Danne.«

»Ist das in der Nähe?«

»Salabacksgatan.«

Ich schaffe das nicht, dachte Beatrice, wusste jedoch im gleichen Moment, dass für sie das schlimmste vorbei war, denn sie hatte es gesagt. Nun würde sie alles tun, was in ihrer Macht stand, um die Qualen der Frau zu lindern, und versuchen, deren Fragen zu beantworten. Ein Gefühl von Andacht überkam sie, das sie aus ähnlichen Situationen bereits kannte. Beatrice war alles andere als religiös, aber sie konnte erahnen, was die Menschen in religiösen Botschaften und Ritualen suchten. Vieles in ihrer Arbeit als Polizistin berührte die großen Fragen, die Mythen und Träume. Ihr war aufgefallen, dass Polizisten oft die Rolle eines Beichtvaters spielen mussten, eines Menschen, mit dem man vertrauliche Gespräche führen konnte. Selbst die uniformierten Polizisten, die oberflächlich betrachtet die Behörden, die Staatsmacht und das schlechte Gewissen der Bürger repräsentierten, konnten dazu auserkoren werden. Das hatte sie in ihrer Zeit als Streifenpolizistin festgestellt. Oder war es etwa ihre Persönlichkeit, die zu dieser oftmals gefühlsseligen Nähe verleitete? Sie wusste es nicht, aber solche Momente bedeuteten ihr sehr viel. Niemals, hatte sie sich geschworen, würde sie zynisch werden.

Die Wohnungstür wurde mit einem Ruck geöffnet.

»Justus«, hauchte Berit.

Aber es war ein Mann, der in die Küche stürzte. Er erblickte Beatrice und blieb abrupt stehen.

»Bist du ne Pfarrerin oder so was?«

»Nein«, sagte Beatrice und stand auf.

Der Mann atmete schwer. Sein Blick war aggressiv.

»Wer zum Teufel bist du dann?«

»Ich bin Polizeibeamtin.«

»Sie haben meinen Bruder umgebracht.«

Er fuchtelte mit dem rechten Arm vor Beatrice herum.

»Lennart«, flüsterte Berit.