Der Treibholzmann - Priska M. Thomas Braun - E-Book

Der Treibholzmann E-Book

Priska M. Thomas Braun

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Beschreibung

Befreit von den Moralvorstellungen und dem Korsett der Nachkriegszeit, brachen junge Menschen in den 70er und 80er Jahren auf, die Welt zu entdecken und neue Lebensformen auf die Probe zu stellen. Sowohl die sexuelle Revolution als auch die antiautoritäre Geisteshaltung in Europa und den USA versprachen eine freiere und friedlichere Gesellschaft, mit mehr Raum für Individualismus als je zuvor. Mit der Lebensgeschichte und den offenen Bekenntnissen eines Globetrotters und Aussteigers führt Priska M. Thomas Braun ihre Leserinnen und Leser zurück in eine Welt von Freiheit und Abenteuern, die es so längst nicht mehr gibt.

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Seitenzahl: 446

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Priska M. Thomas Braun

Der Treibholzmann

Priska M. Thomas Braun

Der Treibholzmann

Roman

Impressum

© 2023 Edition Königstuhl

Alle Rechte vorbehalten.

Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert werden, insbesondere nicht als Nachdruck in Zeitschriften oder Zeitungen, im öffentlichen Vortrag, für Verfilmungen oder Dramatisierungen, als Übertragung durch Rundfunk oder Fernsehen oder in anderen elektronischen Formaten. Dies gilt auch für einzelne Bilder oder Textteile.

Bild Umschlag: Cornelia Ziegler

Gestaltung und Satz: Stephan Cuber, diaphan gestaltung, Bern

Lektorat: Kathrin Bringold

Druck und Einband: CPI books GmbH, Ulm

Verwendete Schriften: Adobe Garamond Pro, Gaspo Slab

ISBN 978-3-907339-44-2

eISBN 978-3-907339-78-7

Printed in Germany

www.editionkoenigstuhl.com

Priska M. Thomas Braun

Die Autorin ist in Basel geboren und aufgewachsen. Mit 18 Jahren zog sie in die französische Schweiz. Später lebte und arbeitete sie in Australien, Cornwall, Israel, Kenia und in Italien. Von 1988 bis 2013 war sie als Journalistin und Redaktorin in der Region Basel tätig. Sie lebt mit ihrem Ehepartner in der Nähe von Basel und hält sich immer wieder in Cornwall, im Nördlichen Schwarzwald sowie in Italien auf.

Für Hugo und Lucie

Die Handlung dieses Romans ist frei erfunden.Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig.

Inhalt

I

II

III

IV

V

VII

VIII

Swahili

Personen

Dank

Die Welle rollte auf ihn zu

Höher als jede zuvor

Das war es! schrie er

Und gab sich ihr hin

I

Dave spürte seine Sitzknochen auf dem harten Holzstuhl. Der Tee in der leicht verfärbten Tasse war lauwarm. Er trank ihn in grossen Schlucken.

Ausser einer Afrikanerin am Nebentisch war er der einzige Gast in der Café-Bar. Die Frau trug ein bunt bedrucktes Kleid mit passendem Turban. Sie hatte eine Hornbrille auf und war genauso in ein Magazin vertieft, wie der Mann hinter der Theke in die Politur seiner Gläser. Beide mochten um die dreissig sein.

Ein Radio spielte einlullende Melodien. Er betrachtete die Aquarelle an der Wand. Schirmakazien vor einem orangefarbenen Himmel, deren filigrane Äste und feine Blätter in den breiten Holzrahmen ausliefen.

Originell. Er hatte so etwas noch nie gesehen. Immer wieder wurde sein Blick von den Bildern angezogen, bis er sich mit dem der Frau kreuzte.

«Sie sind von einer lokalen Künstlerin», sagte sie.

«Was? Die Bilder?»

«Ja, gefallen sie dir?»

«Ja, sehr.»

«Die Malerin lebt hier, in Mombasa.»

Der Mann legte sein Geschirrtuch zur Seite und nickte zustimmend.

«Sie heisst Abuya», erzählte die Frau weiter. «Ich habe sie einmal an einem Anlass kennengelernt. Sie malt Landschaften und Tiere. Für Touristen.»

Als er ihr nicht sofort antwortete, fragte sie: «Woher kommst du?»

Ihr Gesicht war offen, ihr Ausdruck fragend. Er wusste nicht, wieviel er von sich preisgeben sollte. Er brauchte dringend einen Arzt.

«Aus England, ich trampe durch Afrika. Jetzt bleibe ich ein bisschen in Kenia, um mich von den Strapazen zu erholen.»

«Bist du mit dem Bus an die Küste gekommen?», fragte der Mann mit einem Blick auf den Rucksack, der an die Wand gelehnt stand.

«Ja, vor einer halben Stunde. Wie weit ist es bis zur Jugendherberge?»

«Nicht weit. Sie liegt mitten in der Stadt», mischte sich die Frau ein, «ein Hotel am Strand wäre aber bestimmt schöner.»

Er zögerte. Er hätte gerne zwei oder drei Tage lang in einem Liegestuhl am Strand oder in einem schattigen Garten gelegen. Die Herbergen boten nichts dergleichen. Zudem waren sie tagsüber geschlossen. Da musste er frühmorgens raus.

Entweder konnte die Frau Gedanken lesen oder sie spürte sein Bedürfnis nach Ruhe. Jedenfalls ergänzte sie: «Ich kenne das ‘Nyali Beach Heaven’. Es ist ein günstiges kleines Hotel in einem schönen Wohnviertel im Norden der Stadt. Es wäre genau richtig.»

Während sie ihre Tasche nach einem Stift durchsuchte und etwas auf ein Blatt Papier notierte, fragte er sich, ob sie eine Provision für ihre Empfehlung erhielt. Und wie angenehm es sein könnte, wenn er sich hier ausnahmsweise einmal etwas Komfort leisten würde …

Sie trat mit dem Zettel auf ihn zu. «Hier. Die Adresse.»

«Danke», sagte er. «Wie war gleich der Name der Malerin?»

«Abuya», antwortete sie. «Warte, ich schreibe ihn dazu.»

«Der Bus nach Norden fährt gleich», rief der Mann von hinter der Theke.

Dave rutschte vom Barhocker und spürte dabei wieder seinen Hintern.

Kurz bevor er im Herbst die Fähre nach Tunesien genommen hatte, hatte er sich in Messina in einer Apotheke Notmedikamente besorgt und sich zum letzten Mal gewogen. Jetzt fühlte es sich an, als habe er neben der Lust auf eine Fortsetzung seiner strapaziösen Reise bis nach Südafrika auch einen guten Teil seiner achtundsiebzig Kilogramm verloren.

Er bezahlte für seinen Tee und eine Packung Kekse, die er als Proviant in eine Aussentasche seines Rucksacks steckte.

«Bye bye», winkte die Frau und rief ihm nach: «Der Busfahrer sagt dir, wo du aussteigen musst, und erklärt dir auch den Weg zum Strandhotel. Die Künstlerin wohnt ganz in der Nähe, für den Fall, dass du mehr von ihren Bildern sehen willst.»

Dave dankte, verabschiedete sich und trat hinaus in den Monsun. Es war später Nachmittag und zwei Stunden vor Einbruch der Nacht.

Der Bus fuhr pünktlich los. Je weiter sie Richtung Norden kamen, desto holpriger wurde die Strasse. Nach und nach leerte sich das Fahrzeug, schliesslich war er der einzig verbleibende Passagier. Er blickte aus dem Fenster. Anders als im Zentrum waren nach ein paar Kilometern kaum mehr Menschen zu Fuss oder auf Fahrrädern unterwegs. Die tiefhängenden, schwarzen Wolken ballten sich bedrohlich zusammen.

«Ich fahre eine extra Schicht für dich. Eine extra Schleife bis zum Hotel», bot der Fahrer an. «Erspart dir, dich durch den Regen zu kämpfen.»

Er dankte, stieg aus dem Bus, ging die paar Schritte auf das Hotel zu und las Closed auf einem hölzernen Schild an der Tür. Er fand keine näheren Angaben. Der Garten schien seit geraumer Zeit nicht gepflegt worden zu sein. Hätten ihn jetzt nicht der vom Busfahrer angekündigte Wolkenbruch und noch dazu die Dringlichkeit einer Darmentleerung überfallen, so hätte er den verlotterten Charme des Hauses und der wild wuchernden Pflanzen gewürdigt. So hingegen verschwand er schimpfend hinter einem Busch. Im Nu war er bis auf die Haut durchnässt.

Während er sich unter dem Vordach des Hotels vor dem Platzregen in Sicherheit brachte, dachte er an das Riegelhäuschen im verwunschenen Park seiner Kindheit.

Seine Grosseltern hatten zeitlebens für eine Industriellenfamilie in Leeds gearbeitet; der Grossvater als Gärtner, die Grossmutter als Köchin. Als wären sie seine Eltern, hatten sie sich um ihn, ihren einzigen Enkel gekümmert, da ihre Tochter dazu nicht in der Lage gewesen war. Er stellte sich seinen Grossvater hier, in diesem üppigen Garten, vor und dass er die Namen der stark duftenden tropischen Blumen gekannt hätte. Der Grossvater war zwar nur im Krieg aus England herausgekommen. Und über jene Zeit, die sie getrennt verbringen mussten, hatten seine Grosseltern so wenig mit ihm gesprochen wie über seine Mutter. Doch Dave meinte, sich an eine dünne Frau mit wasserblauen Augen und einem süss riechenden Atem zu erinnern, die immer wieder einmal im Riegelhäuschen auftauchte, ihn in die Arme schloss und sein Gesicht mit Küssen bedeckte. Seine Grosseltern beantworteten seine Fragen nach ihr stets ausweichend. Stattdessen boten sie ihm, nachdem er als kränkliches Baby wochenlang in Spitalpflege verbracht hatte, eine weitgehend normale Kindheit und Jugend. Edward, der gleichaltrige Sohn der Industriellenfamilie, war sein Spielgefährte gewesen. Während Edward eine private und er die öffentliche Tagesschule besuchte, machten sie zusammen mit einem Studenten, der fast täglich im Herrenhaus erschien, ihre Hausaufgaben. Dave sass dann mit geradem Rücken in der Studierstube, verdrückte so viele von den feinen Butterkeksen wie möglich, und schwieg, auch wenn er die Aufgaben gelöst hatte. Edward durfte, wenn er so weit war, als erster antworten, und Dave nur, wenn der bebrillte junge Nachhilfelehrer ungeduldig wurde und ihm ausdrücklich das Wort erteilte. An Weihnachten 1965 brach sich der zehnjährige Edward bei einem Sturz von seinem Pferd das Genick. Erst rückblickend war Dave das abrupte Ende bewusst geworden, das der Unfall dem gemeinsamen Lernen und Kräftemessen gesetzt hatte. Auch die Tragweite der Umstände, dass seine Mutter auf der Strasse gelebt hatte, an einer Überdosis verstorben und sein Erzeuger unbekannt geblieben war, konnte er erst Jahre später ermessen.

Nun fischte er mit zitternden Fingern seinen Lonely-Planet-Führer aus dem Rucksack und suchte nach einer günstigen Unterkunft in Mombasa. Dabei stellte er fest, dass die Billighotels an der Südküste und nicht in Nyali lagen. Er versuchte sein Frösteln zu unterdrücken, streckte und massierte seine schmerzenden Glieder und befürchtete, sich zu seinem Durchfall auch noch Malaria eingefangen zu haben. Er verspürte Durst und fieberte. Warum nur hatte er sich nicht der Frau in der Café-Bar am Busbahnhof anvertraut, ihr erzählt, wie schlecht es ihm ging? Wahrscheinlich hätte sie ihm geholfen und ihn zu einer Apotheke oder zum nächsten Arzt begleitet.

Er machte sich zu Fuss auf den Weg zurück Richtung Stadt auf und hoffte dabei auf einen vorbeifahrenden Bus oder ein Matatu, ein Sammeltaxi, das er hätte anhalten können. Plötzlich bremste ein Privatwagen und blieb ein paar Meter entfernt stehen. Jemand stieg aus und Dave winkte. Demungeachtet eilte der Mann, der einzige Mensch in diesem verlassenen Quartier, auf ein Eisentor zu, das sich surrend öffnete und wieder schloss. Das Auto fuhr so lautlos weg, wie es angehalten hatte. Dave ahnte die Villen jenseits der Einzäunungen mehr, als er sie sah. Der Regen prasselte weiter, und er vermied, in die Pfützen zu treten. Obwohl seine Schuhe quietschten und der tropfende Hutrand seinen Nacken nässte, musste er lachen. Schlimmer konnte es kaum werden. Die Situation schien absurd. Er hätte nicht auf die Frau in der Bar hören und nach Nyali hinausfahren sollen. Doch jetzt war ihm alles egal. Ein paar Häuser weiter hörte er Hundegebell und eine Männerstimme.

«Hallo», rief er. «Ist da jemand? Hallo! Guten Abend!»

Ein Schwarzer, seiner abgetragenen Latzhose nach, ein Angestellter, öffnete das Tor. Dave konnte hinter ihm einen Weg ausmachen, der zu einem erhöht stehenden Bungalow führte. Die Hunde kläfften noch immer. Hoffentlich sind sie angebunden oder in einem Zwinger eingesperrt, schoss es ihm durch den Kopf.

«Yes?», brummte der Mann

«Können Sie mir vielleicht weiterhelfen?», fragte Dave. «Ich suche ein einfaches Hotel. Das ‘Nyali Beach Heaven’ hat leider geschlossen.»

Der Mann musterte ihn kritisch.

«Hier in der Nähe muss auch eine bekannte Malerin wohnen», fuhr Dave intuitiv fort, ohne zu wissen, was ihn zu dieser Bemerkung bewog.

«Kennen Sie sie?», fragte der Mann.

Dave meinte eine Mischung aus Misstrauen und Respekt zu hören.

«Kennen Sie die Künstlerin?», insistierte der Mann.

«Nicht persönlich», bekannte er. «In der Café-Bar am Busterminal habe ich zwei ihrer Bilder gesehen.»

«Und?»

«Sie haben mir gefallen. Zudem habe ich eine Bekannte der Malerin getroffen, die fand, ich dürfe mir ein paar der Werke anschauen.»

«Okay, come on in», gebot der Mann mürrisch.

Dave horchte. Das Hundegebell war verstummt.

«Kommen Sie schon. Sie können nicht ewig im Regen stehen bleiben. Sie sind hier richtig», sagte der Mann, schloss das stabile Tor hinter Dave und schritt ihm voran durch den Garten.

Im Haus, das er hinter dem Mann durch eine kleine Küche betrat, schlüpfte er aus seinen durchweichten Schuhen. Der junge Schwarze nahm ihm den Rucksack ab, stellte diesen zusammen mit den schmutzigen Schuhen in eine Ecke, und Dave drückte ihm seinen klatschnassen Hut in die Hand. Seine langen Haare klebten ihm im Nacken. Zum letzten Mal hatte er sie in einer bunten Bretterbude am Strassenrand von Bangui schneiden lassen. Erst hatte der Friseur beherzt in die dunkelbraunen Locken gegriffen, sie immer wieder durch seine Finger gleiten lassen und ihm durch Gestik und Mimik zu verstehen gegeben, dass er normalerweise krauses Haar schneide. Nach viel Palaver und Gelächter und neugierigen Blicken von Passanten brachte der Strassenfriseur zu Daves Überraschung einen flotten Schnitt hin, für den er bloss einen Spottpreis verlangte. Das war um Weihnachten gewesen, als er in der Hauptstadt der Zentralafrikanischen Republik mit zwei belgischen Rucksackreisenden feuchtfröhlich gefeiert und wo er vermutlich seine Ruhr aufgelesen hatte.

Jetzt, an diesem düsteren Abend Ende April, fand er sich in einem Wohnzimmer wieder, dessen Einrichtung ihn britisch anmutete. Wären da nicht die Trommeln, die Holzfiguren, die Bilder mit Elefanten und Giraffen an den Wänden und die hochgewachsene junge Frau mit ihrer goldbraunen Haut gewesen, er hätte sich zu Hause geglaubt. Er hatte keine Ahnung, wer sie war. Die Künstlerin stellte er sich älter vor, etwas füllig, eine selbstbewusste Mittvierzigerin, die sich auffallend kleidete und ihre Werke gewinnbringend vermarktete. Der Bungalow zeugte jedenfalls von Erfolg. Er beobachtete die Frau, während sie eindringlich auf den Mann einredete. An dessen Antwort, die nach Rechtfertigung klang, vermutete Dave, dass sie so etwas wie die Chefin war, doch richtig einordnen konnte er die Situation nicht. Ausser ein paar wenigen Brocken verstand er kein Swahili.

«I am Dave, … Baxter. Ich bin heute in Mombasa angekommen», stellte er sich vor und wie als Rechtfertigung für seine heruntergekommene Erscheinung: «Ich reise seit mehreren Monaten durch Afrika.»

Er hatte damit zugewartet, seinen verfilzten Bart zu trimmen und die Haare schneiden zu lassen sowie neue Kleidung und Schuhe zu kaufen. Auch müsste er auf eine Bank gehen, Travellers Checks in Schillinge wechseln. Kenia hatte ihn mit Nairobi und Mombasa, wo er nahezu europäische Verhältnisse vorzufinden hoffte, wie das gelobte Land angelockt. Hier wollte er Energie für seine Weiterreise tanken.

«Karibu», sagte die Frau.

Dave lächelte, unsicher, wie er ihr seinen Besuch begründen sollte. Mit ihrer aufrechten Haltung strahlte sie eine natürliche Autorität aus. Er wünschte, sie würde weiterreden. Sie blickte ihn indessen bloss an, und er wurde unsicher, ob sie überhaupt Englisch verstand. Natürlich, sagte er sich. Englisch war neben Swahili die wichtigste Sprache im Land, und die Frau machte einen intelligenten Eindruck. Also wiederholte er, was er bereits dem jungen Mann erzählt hatte.

«Und Sie sind den langen Weg hierhergekommen, weil Sie ein paar Bilder ansehen wollen?», fragte die Frau, die er noch immer nicht einordnen konnte. Ihre Stimme war warm und ihr Englisch nahezu akzentfrei. In England hätte sein Hereinplatzen als Impertinenz gegolten. Er verlegte sein Gewicht von einem Fuss auf den anderen.

«Ja. Ich war in der Nähe. Ich wollte im ‘Beach Heaven’ übernachten. Aber es hat leider geschlossen.»

«Richtig. Die kleinen Hotels sind während der Regenzeit alle zu.»

Obwohl es erst achtzehn Uhr war, war es schon beinahe Nacht, die sich hier innert Minuten übers Land legte. Die Frau zog eine Augenbraue hoch und verunsicherte ihn damit noch mehr.

«Darum sollte ich jetzt besser zurück ins Zentrum fahren und dort die Jugendherberge suchen», murmelte er. «Ich würde jedoch, falls ich das dürfte, gerne ein anderes Mal kommen und die Künstlerin kennenlernen.»

«Die Künstlerin? Ich bin die Künstlerin.»

«Sie sind Abuya? Tatsächlich?»

Sie wechselte einen Blick mit dem Mann in der Latzhose, der auf Instruktionen zu warten schien. Der Regen trommelte aufs Dach, als wolle er die Sintflut über das Land bringen. Die Hunde bellten dumpf.

«Sorry», sagte Dave. «Ich hätte mich vorher besser erkundigen und natürlich anmelden müssen. Aber – wie gesagt – ich war in der Nähe.»

«Wenn Sie jetzt ins Zentrum wollten, müssten Sie ein Taxi nehmen. Busse fahren abends keine mehr. Zu Fuss ist es zu weit, und für einen, der sich nicht auskennt, auch gefährlich.»

Er bemerkte eine Pfütze auf dem Steinboden. Seine Kleidung tropfte!

Eine ältere Frau, eine Bedienstete, trat ins Wohnzimmer, murmelte «Jambo» und stellte ein Fläschchen Fanta auf den Beistelltisch. Mit einer nachlässigen Handbewegung, als ob sie eine Fliege verscheuche, vertrieb sie ihren jungen Kollegen, der noch immer herumstand.

«Möchten Sie sich nicht erst einmal setzen? Bitte», sagte Abuya und zeigte auf einen mit orientalischen Kissen bestückten Sessel.

Dave schüttelte den Kopf. Er wusste nicht, wie er die Künstlerin, die auf ihn einen beinahe mädchenhaften Eindruck machte, korrekt ansprechen sollte. Er trank im Stehen. Dabei spürte er, dass ihm schwindlig wurde.

«Fühlen Sie sich fit genug, nach Mombasa zurückzukehren?», fragte sie.

Er verspürte ein Rumpeln in seinem Darm. Seine Augen brannten. Seit Monaten schlug er sich gänzlich auf sich allein gestellt in Afrika durch. Einmal wäre er beinahe ertrunken, und beim Grenzübergang zwischen dem Südsudan und Kenia um ein Haar festgenommen worden. Ohne seine Bestechung in US-Dollars, die er gut hätte anders verwenden können, hätten ihn die bis an die Zähne bewaffneten sudanesischen Zöllner nicht passieren lassen. Ein Bürgerkrieg lag dort in der Luft. Doch hatte er es geschafft. Er befand sich jetzt an einem sicheren Ort. Und als wäre dies nicht Glück genug, stand die schönste Frau, die er in seinem Leben gesehen hatte, so nah bei ihm, dass er sie hätte berühren können. Er roch ihren feinen Duft nach Sandelholz. Zwei Ständerlampen warfen warme Lichtkreise auf den Boden. Die beiden Angestellten waren verschwunden. Er spürte Abuyas Blick auf sich. Die Hunde bellten schon wieder, diesmal weniger erbost als bei seiner Ankunft. Der Regen liess nach. Er versuchte, das Gebell zu unterscheiden, zu zählen, wie viele Tiere es waren.

Abuya schien seine Gedanken zu lesen. Sie räusperte sich.

«Die Hunde kommen nicht ins Haus», beruhigte sie ihn. «Moses, der Mann, der Sie hereingeführt hat, füttert die beiden im Garten.»

«Wie heissen sie?», fragte er, bloss um etwas zu sagen. Zu Hause war es üblich, sich nach den Namen der Haustiere zu erkundigen. Er stand noch immer und hörte es in seinen Ohren rauschen. Am liebsten hätte er sich hingesetzt, doch er wollte nichts nass machen.

«Sie haben keine Namen, es sind Wachhunde», antwortete sie.

Er realisierte, dass er seinen Besuch nicht mit Small Talk ausdehnen konnte. Seine Stimme kratzte, ihn fror. Er musste jetzt aufbrechen, ein Bett für die Nacht suchen. In Mombasa sollte dies kein Problem werden. Bloss teuer, mit den vielen Touristen, die bereit waren, viel Geld für Hotels auszugeben. Bisher hatte er, wenn immer möglich, auf einer dünnen Gummimatte unter freiem Himmel übernachtet und sich, falls überhaupt, mit einem Moskitonetz geschützt, das er an einem Busch oder Baum festband. In einer Stadt indessen schien ihm dies zu gefährlich. Mehr als vor den wilden Tieren fürchtete er sich vor der Kriminalität der Menschen.

«Wollen wir uns mit Vornamen anreden? Mich nennen hier alle Abuya oder die Künstlerin», unterbrach die Frau seinen Gedankenfluss.

«Natürlich, sehr gerne, ich bin Dave», nickte er.

«Hast du Hunger, Dave?», hörte er sie ihn leichthin fragen. «Robina kann etwas für dich aufwärmen. Wir haben von allem genug.»

«Nein, danke, ich habe bereits eine Kleinigkeit gegessen», sagte er. «Ich sollte jedoch auf die Toilette gehen, bevor ich aufbreche.»

«Natürlich. Ich zeige dir, wo sie ist.»

Er wusste nicht, wie viel sie von seinem Schwächeanfall mitbekommen hatte. Sie zeigte ihm den Weg über einen Innenhof. Die Nacht lag wie ein verrusster Schornstein darauf. Als er aus der Toilette trat, reichte sie ihm einen frischen Seifenblock und ein Tuch.

«Falls du dich sauber machen und deine Kleider wechseln möchtest.»

Er holte seinen Rucksack aus der Küche und fischte daraus eine Unterhose, Shorts und ein trockenes Polohemd. Abuya war ihm gefolgt und schien ihn noch immer zu beobachten. Plötzlich sagte sie, wie er fand, ohne gross überlegt zu haben: «Du darfst fürs Erste auch gerne hier übernachten, falls du das möchtest.»

Er fühlte sich wie auf einem Karussell – schwerelos und duselig.

«Möchtest du das?», wiederholte sie, und er musste gegen Tränen ankämpfen. Er glaubte, in ihren Augen ein wortloses Verstehen zu erkennen. Was war er nur für eine Sissy! Ein Mann, der vor Rührung weinte, wenn ihm jemand gut wollte. Er schämte sich dafür, wie elend es ihm derzeit ging. Er suchte nach Worten, doch sie kam ihm zuvor.

«Ich sage Robina, sie möge dir vor dem Schlafengehen einen fiebersenkenden Tee zubereiten und deine nasse Kleidung unter dem Vordach aufhängen.»

«Das wäre …, unglaublich …», setzte er an und verstummte. Woher wusste sie, dass er Fieber hatte?

«Selbstverständlich», unterbrach sie ihn und verschwand.

Falls er je daran gezweifelt hatte, so war jetzt Schluss damit. Es gab so etwas wie Schutzengel und glückliche Fügungen. Er hatte mehrfach erlebt, wie sich Türchen öffneten, wenn er gemeint hatte, aufgeben zu müssen. Obwohl er nicht verstand, was Abuya mit Robina auf Swahili besprach, kombinierte er, dass sie sie nicht nur um die erwähnen Gefälligkeiten bat, sondern auch darum, die Nacht über bei ihr im Haus zu bleiben. Auch seine Grossmutter hatte in einer kleinen Kammer im Herrenhaus geschlafen, wenn ein Familienmitglied krank oder Edward allein zuhause gewesen war. Robina hatte ihn jedenfalls einem prüfenden Blick unterzogen und ihn an seine Grossmutter erinnert, die abends die Küche aufgeräumt hatte, derweil der Grossvater den Pferden frisches Wasser und Heu gebracht hatte, bevor sich die beiden in ihre eigene Unterkunft zurückzogen.

Im ersten Teil jener Nacht träumte er von seiner Kindheit in England. Gegen Morgen schlichen sich das geräuschvolle Flügelschlagen und Krächzen eines Vogels in den Traum. Ein schwarzes Ungeheuer mit einem einschüchternden Schnabel griff ihn aus der Luft an. Er musste fliehen. Wie immer in seinen Träumen rannte er auf der Stelle und wusste, dass er träumte. Trotzdem trieb ihm die Angst den Schweiss aus den Poren. Er erwachte, weil ihm ein ungewohnter Schlafanzug feucht im Schritt klebte. Für gewöhnlich schlief er in einem T-Shirt. Er reiste mit leichtem Gepäck, zu dem weder der Waschlappen noch der Morgenmantel zählten, die er auf dem Stuhl neben seinem Bett entdeckte. Er brauchte eine Weile, um sich zu orientieren. Das Zimmer war lichtdurchflutet, mit einem Fenster, dessen Gitter er in der Dunkelheit nicht bemerkt hatte. Er war am Abend todmüde ins Bett gefallen. Jetzt warf er einen Blick in den tropischen Garten und konnte sich kaum vorstellen, dass Abuya hier allein mit ihren Angestellten leben mochte.

Er ging erst zur Toilette und dann ins Badezimmer und stellte sich unter den lauen Wasserstrahl der Dusche. Das Shampoo auf der Ablage war für Frizzy Hair. Er schäumte sich ein. Nachdem er mit seinem groben Kamm, dem die Hälfte der Zähne fehlte, an seinem verfilzten Haar gerupft hatte, ohne es entwirren zu können, suchte er in seinem lädierten Kulturbeutel nach seiner Nagelschere. Sorgfältig schnitt er damit Knoten um Knoten heraus, kürzte Strähne um Strähne. Und, als wolle er die Gelegenheit nutzen, die ihm ein Spiegel bot, schnipselte er an seinem Bart herum, bis er sein Gesicht wiedererkannte. Er fühlte sich wie neu geboren, schlüpfte in den Morgenmantel und kehrte in sein Zimmer zurück. Auf der Kommode fand er Boxershorts, eine Baumwollhose und ein kariertes Hemd, die einem Riesen gepasst hätten. Sein Rucksack mitsamt den Kleidern und sein Schlafsack und die Schlafmatte hingegen waren weg. Der weiche, alte Lederbeutel, den er gewöhnlich unter dem Hemd trug, lag neben der Geldbörse und dem Lonely-Planet-Guide auf dem Tisch. Er versuchte sich zu erinnern, ob er sie dort hingelegt hatte. Er zählte sein Cash nach und prüfte, ob die Schecks und sein Reisepass noch im Lederbeutel steckten.

Ein Klopfen an der Tür unterbrach ihn.

«Good morning, Sir», murmelte Robina. Zu seiner Verwunderung stellte sie seine sauberen Trekkingschuhe neben das Bett. Als er ihr fürs Putzen dankte, erklärte sie ihm in einer Mischung aus Englisch und Swahili, dass Moses dabei sei, den Rucksack zu schrubben und sie seine Kleider noch am Vormittag waschen werde. Auch habe sie ein Frühstück zubereitet, das auf der Veranda warte. Dave schämte sich, dass er, wenn auch nur kurz, befürchtet hatte, über Nacht sei ihm etwas abhandengekommen.

Nachdem die Hausangestellte das Zimmer verlassen hatte, schlüpfte er in die fremde Hose und das Hemd und trat barfuss hinaus in die Sonne. Neugierig schritt er über den gestampften Boden des Innenhofs, in dessen Mitte ein knorriger Feigenbaum über einem Ziehbrunnen wachte. Am Vorabend waren ihm weder der Baum noch der Brunnen aufgefallen. Im Tageslicht erkannte er, dass alle Zimmer darum herum angeordnet waren. Die noch kühle Morgenbrise wehte durch ihre Scharten und offen stehenden Türen. Neben dem Brunnen wartete ein Dutzend Kanister darauf, gefüllt zu werden. Aus der Küche hörte er Stimmen. Der Hof schien das Herz des Hauses zu sein. Bei seiner Ankunft hatte er nur die Aussenseite mit den mit Schmiedeeisen gesicherten Fenstern unter dem ausladenden Vordach gesehen und nicht erkannt, wie geschickt und harmonisch der weisse Bungalow Zweckmässigkeit, Sicherheit und Komfort verband. Ihm wurde der Zufall, dass er gestern just in jenem Moment an diesem Haus vorbeigekommen war, als Moses das Tor für die Nacht schliessen wollte, erst jetzt bewusst. Im Nachhinein hätte er nicht mehr sagen können, warum er Abuya erwähnt hatte. Genauso gut hätte er den Angestellten fragen können, ob er das Telefon benutzen und ein Taxi für die Fahrt zurück ins Zentrum rufen dürfe. Doch indem er getan hatte, als ob er Abuya kenne, hatte er sich etwas weniger verloren gefühlt. Jetzt sass sie am Esstisch auf der Veranda, die an der Westseite ins Haus integriert war. Bei Tageslicht fielen ihm ihre goldenen Sommersprossen auf, die ihre Stirn und Nase sprenkelten, die dunklen Augen und der Rotschimmer ihres Kraushaars.

«Bitte entschuldige meine Verspätung», sagte er, und leicht verlegen: «Robina hat mir diese Kleider bereitgelegt.»

«Gut», nickte Abuya, «sie gehörten meinem Vater.»

«Gehörten?», stutzte er.

«Er ist vor zwei Jahren an einem Hitzschlag verstorben, hier in seinem Garten.»

«Das tut mir leid. Sobald meine Sachen wieder sauber sind, gebe ich dir seine Kleider zurück.»

«Das ist nicht nötig. Ich hätte sie längst weggeben sollen.»

Robina hatte Tee und Eier, Porridge, Toast und Marmelade aufgetragen. Um Abuya nicht fortwährend anzustarren, liess er seinen Blick durch die Streben und Fliegengitter hinaus auf den von der Sonne versengten Rasen und zurück auf die Veranda schweifen, die als Esszimmer diente. Er blieb an den Bildern hängen, die am anderen Ende auf dem Tisch lagen.

«Sie sind alle von dir, nicht wahr?», versicherte er sich.

«Richtig, ich habe sie erst gestern gerahmt», sagte sie.

«Wie, du rahmst sie auch selber?»

«Ja. Ich verwende breite Holzleisten, die ich mit Farbe grundiere, bevor ich sie zusammenleime. Ganz zum Schluss verziere ich die Rahmen mit Elefantenrüsseln, den Tupfen eines Gepards oder den Streifen eines Zebras, je nachdem, was gerade zum Motiv des Bildes passt.»

«Einmalig.»

«Es ist meine Art, mich von den anderen abzuheben.»

«Clever. Und auch sehr hübsch. Machst du alles ohne Hilfe?»

«Nein. Ich male und rahme sie bloss. Um den Rest kümmert sich Jack Müller. Er war ein guter Freund meines verstorbenen Vaters. Er verkauft sie in seinem Hotel und organisiert monatlich eine Vernissage für mich. Sonst müsste ich sie auf einer Decke am Strassenrand oder in einem Laden verkaufen und dem Inhaber einen Teil meiner Einnahmen überlassen.»

Er fragte sich, wie alt dieser Jack Müller sein mochte.

«Jacks Gäste kaufen sie, bevor sie heimreisen. Lieber verbrauchen sie ihre letzten kenianischen Schillinge, als sie zu einem schlechten Kurs zurückzutauschen», erklärte sie. «Darum male ich kleine Formate, die nicht teuer und leicht zu transportieren sind.»

«Deine Motive sind ansprechend und eine schöne Erinnerung.»

«Danke. Manchmal bezahlen mich die Touristen sogar in Dollars.»

«Und was hat dein Vater in Kenia gemacht?»

«Er war Kapitän bei der britischen Marine. Er hat den Bungalow gebaut und kurz vor seinem Tod noch Robina fürs Haus und Moses für draussen eingestellt. Da war er bereits im Ruhestand.»

«War er Europäer?»

«Ja, er war Schotte. Meine Mutter war eine Luo. Sie starb als ich sieben Jahre alt war.»

«Ich war gleich alt, als ich meine Mutter verlor. Meinen Vater habe ich allerdings nie gekannt», sagte er, und ohne zu überlegen: «Dafür waren meine Grosseltern bis zu ihrem Tod für mich da.»

Er sprach gewöhnlich nicht über seine Herkunft und die Verhältnisse, die er, wie er hoffte, für immer hinter sich gelassen hatte. Während der letzten Wochen hatte er mit niemandem reden können. Abuya war eine verständige Zuhörerin mit einem möglicherweise ähnlichen Schicksal.

«Am liebsten würde ich eine Weile hier in Kenia bleiben. Mich erholen. Vielleicht könnte ich hier an der Küste sogar arbeiten», tastete er sich vor.

«Was würdest du denn arbeiten wollen? Es gibt kaum Jobs.»

«Ich könnte mich zum Beispiel bei Mr. Müller, dem Hotelier und Freund deines Vaters, als Animator und Tauchlehrer für seine Gäste bewerben.»

«Nicht zur Regenzeit. Wenn, dann würde er dich später im Jahr, wenn du Glück hättest, für die Hauptsaison, einstellen», antwortete sie.

Er spürte das Frühstück in seinem Bauch rumoren, entschuldigte sich und rannte über den Innenhof Richtung Toilette.

«Hast du Durchfall?», fragte sie unverblümt, als er auf die Veranda zurückkehrte. Er nickte. Er schämte sich für seine Krankheit.

«Ja, leider habe ich in Zentralafrika eine Bakterienruhr aufgelesen, die immer wieder von neuem ausbricht», gab er zu. «Ich bräuchte die richtigen Medikamente, um sie vollständig auszukurieren.»

«Du kannst hier in die Klinik gehen und dich in Nyumba nzuri erholen.»

«Wo ist Nyumba nzuri?»

«Hier. Das ist Swahili für Schönes Haus. Mein Vater hat es so getauft.»

«Oh? Es ist ein echtes Paradies. Ich könnte mir keinen schöneren Ort vorstellen, um gesund zu werden.»

Die Worte waren ihm vor lauter Begeisterung herausgerutscht.

«Aber natürlich kann ich dein Angebot nur annehmen, wenn meine Anwesenheit deinen Alltag nicht auf den Kopf stellt…»

Noch während er sprach, wurde ihm klar, dass er ihr Leben natürlich auf den Kopf stellen würde. Genauso wie sie seines. Neben dem inzwischen vertrauten Gerumpel spürte er schon jetzt Schmetterlinge im Bauch.

«Mein Vater wollte neben dem Hauptgebäude ein Dutzend Rondavels, Rundhäuser aus Lehm, für Rucksacktouristen bauen. Leider ist er nicht mehr dazu gekommen. Dafür könntest du jetzt hierbleiben und mir von deinen Reisen erzählen. Das wäre in seinem Sinne. Ich bin noch nicht viel gereist, eigentlich bin ich nie weitergekommen als bis zum Viktoriasee.»

«Aber die Landschaften und Tiere, die du malst, die hast du gesehen?»

«Zum Teil. Den Rest kopiere ich aus den Bildbänden, die er mir schenkte, als er erkannte, wie gerne ich zeichne.»

«Das scheint dir gut zu gelingen…»

«Ja. Jack meint, ich solle einmal mit seinen Gästen auf eine Safari gehen und Tiere beobachten. Doch ich will Robina und Moses nicht allein lassen.»

Moses fuhr Dave am folgenden Tag mit Abuyas weissem Geländewagen ins nahe Krankenhaus und setzte ihn vor dem Haupteingang ab. Er wollte sich am Empfang melden, sein Problem erklären und einen Arzt konsultieren, so wie er dies in der Privatklinik in Bangui getan hatte. Hier hingegen stand bloss ein Mann in einer weissen Uniform, der ihm gebot, sich zu den Wartenden zu setzen. In Bangui hatte er weder Kranke noch Unfallopfer gesehen. Ein Arzt aus dem Elsass hatte ihn untersucht, eine belgische Schwester seine Blut-, Stuhl- und Urinproben genommen, diese ins Labor bringen lassen und ihm für die Zeit bis zum nächsten Termin Medikamente mitgegeben. Auf der Packung hatte gestanden, Charity, not to be sold. Er hatte viel Geld dafür bezahlt, sonst war alles geordnet verlaufen. Nach vier Wochen hatte er sich kuriert gefühlt. Trotzdem hatte ihm der Arzt von einer Weiterreise über Land abgeraten und empfohlen, nach Kenia zu fliegen. Da er jedoch erstaunlich schnell wieder zu Kräften gelangt war, war er über Land durch den Südsudan getrampt. Dabei hatte er wohl einen Rückfall erlitten. Nun sass er hier auf einem klapprigen Stuhl im Freien, inmitten von kranken oder verletzten Männern, einige mit notdürftig verbundenen Wunden, und wartete, dass er an die Reihe kam.

Ein Patient, dem man kein Leiden ansah, sass neben ihm und raunte ihm zu: «Solange man den Kopf nicht unter dem Arm bringt, wartet man hier stundenlang.»

«Tatsächlich?», fragte Dave.

«Ja, ich hoffe, dass ich heute noch einen Arzt sehe. Und Sie?»

«Das wäre ganz in meinem Sinne. Ich warte schon seit einer Stunde.»

«Ich war bereits gestern hier, sie haben mich auf heute vertröstet. Gestern hatten bloss zwei amerikanische Medizinstudenten Dienst und natürlich die Schwestern. Die Krankenschwestern sind tüchtig. Doch kein Doktor weit und breit. Ich bräuchte aber dringend einen Spezialisten.»

«Das darf doch nicht sein!»

Er überlegte, ob er unter diesen Umständen besser eine Privatpraxis aufsuchen sollte. Aber Abuya hatte ihm das Krankenhaus empfohlen. Und Moses war längst weggefahren. Er müsste mit dem Bus oder einem Taxi weiter. Zudem kannte er keinen Arzt in Mombasa. Da konnte er genauso gut weiter warten. Immerhin ging es ihm heute nicht so schlecht und hier wurden verständlicherweise die Notfälle vorgezogen. Er blickte um sich. Die meisten Patienten dösten im Schatten auf Stühlen, die der Hauswand entlang unter dem vorstehenden Dach standen. Frauen und Kinder sah er keine. Sie wurden in einem anderen Gebäude behandelt. Er war froh darum. Er konnte keine Frauen und schon gar keine Kinder weinen sehen. Verglichen mit einigen der notdürftig verbundenen Männer ging es ihm gut. Doch als er zur Mittagszeit noch immer auf demselben harten Stuhl neben demselben Mann wartete, stand er auf und packte eine vorübereilende ältere Krankenschwester am Arm.

«Sorry. Ich warte seit drei Stunden hier, um einen Doktor zu sehen. Kenia ist ein wunderbares Land. Von einem kenianischen Krankenhaus hätte ich daher mehr Effizienz erwartet», sagte er, wohlwissend, dass er die Schwester mit dieser Taktik in die Pflicht nahm.

«Komm mit», sagte sie denn auch wie erwartet, und er folgte ihr ins Haus. Anscheinend musste man sich bloss mit einer Mischung aus Lob und Rüge beschweren und dann klappte es. Auf dem Gang reihten sich der einen Wand entlang Dutzende von Krankenhausbetten mit dünnen Matratzen, auf denen Patienten lagen. Eine junge blonde Nurse schob eines davon weg und drehte ihren Kopf in Daves Richtung. Er hätte schwören können, der Mann im Bett sei tot.

«Komm», wiederholte die schwarze Schwester und zog ihn mit sich.

Er schilderte ihr seine Beschwerden und nannte den Namen des Medikaments, das man ihm in Bangui verschrieben hatte.

«Kein Problem. Ich gebe dir zwei Packungen. Diese Woche findet ein Kongress in Nairobi statt. Da sind beinahe alle Ärzte hingefahren. Wir tun hier was wir können. Eigentlich bräuchtest du ein Rezept …»

«Soll ich nächste Woche wiederkommen?»

«Nein, nur wenn die Bauchkrämpfe und der Durchfall schlimmer werden. Du kennst ja deine Diagnose und weisst, wie du dich verhalten musst.»

«Ja, natürlich. Ich bin vorsichtig.»

«Campierst du oder übernachtest du in der Jugendherberge?»

«Weder noch. Ich bin privat untergebracht.»

«Schön. Achte darauf, dass du dein Obst selber schälst, das Wasser gut abkochst und nie aus geöffneten Mineralwasserflaschen trinkst, sondern sie immer selber öffnest.»

Dave schätzte sich glücklich, auf weiteres gratis in Nyumba nzuri wohnen zu dürfen, ohne eine Gegenleistung erbringen zu müssen. Er verschlief die heissesten Stunden am Nachmittag, machte sich fürs Abendessen frisch und gewöhnte sich an den täglichen Ugali mit grünem Gemüse und Hähnchen und daran, dass Robina stets leise im Hintergrund hantierte. Abuya hatte ihm am ersten Abend gezeigt, wie man ohne Besteck ass, mit drei Fingern in den Topf in der Tischmitte griff, etwas Ugali zu kleinen Kugeln formte, mit dem Daumen ein Loch hineindrückte, die Kügelchen in die Hühnersauce tunkte und in den Mund steckte.

Erstaunlicherweise wurde es ihm nie langweilig. Seine Erinnerungen pendelten zwischen Europa und Afrika, seine Stimmung zwischen Lebensfreude und Niedergeschlagenheit. Wann immer seine Dysenterie abflachte, fuhr er mit dem Bus nach Mombasa und streifte dort durch die Gassen der Altstadt, unterhielt sich mit einzelnen Händlern und tauschte in den Cafés Reisetipps mit Fremden aus. Er kehrte regelmässig an den alten Hafen und zum Fort Jesus zurück, beobachtete dort die Touristengruppen und schnappte Details zu Mombasas Geschichte auf. Aber sobald er in der Stadt einen Imbiss zu sich nahm, riskierte er einen erneuten Durchfall und wieder für einen oder zwei Tage ans Haus gebunden zu sein. Robina päppelte ihn dann mit Bananen, Reis und Weissbrot auf. Sein Trinkwasser kochte sie ab und goss es in eine Flasche, die sie kühl stellte. Erst nachdem er beobachtet hatte, dass sie, wenn es nicht reichte, um die Flasche zu füllen, diese mit Brunnenwasser vollmachte, erhitzte er es selber und liess es ein paar Minuten lang brodeln, so wie es ihm die Schwester im Krankenhaus geraten hatte. Abuya erfuhr von alldem nichts. Sie arbeitete meistens in ihrem Atelier. Zwischendurch sah er sie mit ihrem Pick-up davonfahren, ohne dass sie ihm gesagt hätte, wohin sie ging und wann sie zurück sein werde. Erst nach Einbruch der Dunkelheit stellte sich Vertrautheit zwischen ihnen ein. Dann plauderten sie auf der Veranda oder im Wohnzimmer. Er erzählte ihr, was er erlebt hatte, wie er sich unter die Menschen gemischt, die Touristengruppen beobachtet, ihren Gesprächen und den Erklärungen der Fremdenführer gelauscht, eine nationale oder internationale Zeitung gekauft und Kaffee oder Tee getrunken hatte. Robina stellte, bevor sie sich für die Nacht zurückzog, eine Kanne mit Roibuschtee und zwei Tassen ins Wohnzimmer. Der mit einem Schlagstock bewaffnete Moses drehte im Garten seine Runden. Nachdem die Hunde die Hitze in ihren Hütten verschlafen hatten, rannten sie in der Dunkelheit auf dem Gelände umher. Dave konnte, wenn Moses an der Veranda vorbeischritt, das glühende Ende seiner Zigarette, manchmal auch seine Silhouette und die der Tiere ausmachen.

«Ich war heute wieder im Krankenhaus», erzählte er Abuya, als er bereits wochenlang bei ihr wohnte, ohne, dass sich sein Zustand verändert hätte. Er schlug sich nun schon so lange mit der Krankheit herum, dass ihm manchmal der Verdacht kam, die Beschwerden würden nur aufflackern, um ihm einen guten Grund zu liefern, in Nyumba nzuri zu bleiben.

«Ich habe erneut Antibiotika erhalten. Für alle Fälle, sagte der Arzt. Ich dürfe auch jederzeit wiederkommen, falls ich mehr brauchen sollte.»

«Ja. Das Krankenhaus hat einen guten Ruf, und hier bei uns kannst du dich so lange ausruhen, wie du möchtest.»

Er war körperlich erschöpft, dafür im Kopf hellwach. Je länger er darüber nachdachte, desto weniger wusste er, ob er weiterreisen oder bleiben sollte. Wäre er fitter, er hätte Abuya längst verführt. Ihre Schönheit schüchterte ihn ein und seine unappetitliche Krankheit hielt ihn zurück, zumal sie ihn nie zu Intimitäten ermutigte. Er zog sich an jenem Abend schon früh in sein Zimmer zurück. Das Rotieren des Ventilators und die regelmässigen Luftbewegungen, die sein Gesicht kühlten, beruhigten ihn. Er lag auf dem Rücken, in der Hoffnung, einschlafen zu können. Abuya benahm sich viel diskreter als die dänische Krankenschwester, die er heute im Krankenhaus wieder getroffen hatte. Das blonde Haar und der Blick der jungen Nurse waren ihm schon bei seinem ersten Besuch aufgefallen. Sie, und nicht der Arzt, hatte ihm seine Medikamente ausgehändigt. Als sie sich gestreckt hatte, um den Medikamentenschrank aufzuschliessen, hatte er ihren Achselschweiss gerochen. Er wusste nicht, ob er es sich einbildete, dennoch schien ihm, sie habe sich, als sie ihm die Packung in die Hand drückte, näher als nötig zu ihm gestellt, ihm über die Hand gestrichen und schelmisch zugezwinkert. Dabei hatte sie eine weissblonde Haarsträhne, die unter ihrem Häubchen hervorlugte, aus dem Gesicht gestrichen und die Schultern gereckt, bis ihr weisser Kittel über ihrem Busen spannte.

«Tschüss. War sehr nett. Ich heisse übrigens Liv», hatte sie ihm noch nachgerufen, als er bereits halbwegs aus dem Raum getürmt war.

Im Nachhinein fragte er sich, ob dies nicht die Gelegenheit gewesen wäre, seine über Monate angestauten Bedürfnisse zu befriedigen. Nurses wussten sich zu schützen. Er hatte in Leeds Betty, eine Krankenschwester, gekannt, die fluchte wie ein Fuhrmann, rauchte wie ein Schlot und Männer leichthin zu vernaschen pflegte. Als er seine krebskranke Grossmutter im Krankenhaus besuchte, hatte ihn die doppelt so alte Betty gekonnt verführt. Für sie war es ein filmreifes Cradle-snatching gewesen. Er erinnerte sich nach all den Jahren noch genau, wie er sie zum ersten Mal gesehen und ihn ihre rauchige Stimme und ihre Kompetenz beeindruckt hatten. In der abgestandenen Luft des Krankenzimmers hing der Duft von Schweiss, Zigaretten und Javelwasser. Jedes Mal, wenn sie sich über das Bett seiner Grossmutter beugte, hatte er auf ihre satten Pobacken gestarrt und sich immer wieder gefragt, ob sie verheiratet sei, Kinder habe – und vor allem, ob Frauen in ihrem Alter noch Sex hätten. Mit knapp siebzehn Jahren hatte er ständig daran gedacht. Betty war eine feinfühlende Schwester gewesen.

«Sie schläft. Lass uns einen Tee trinken», hatte sie eine Woche, bevor seine Grossmutter gestorben war, geflüstert und ihn ins Stationszimmer mitgenommen, wo sie ihm ein dunkelbraunes Gebräu mit Milch und Zucker anbot und eine Dose mit Bisquits hinschob.

«Wenn du ihr, wenn du weggehst, nicht mehr versprichst, morgen wiederzukommen, kann sie sterben. Sage ihr einfach Adieu.»

«Nicht doch! Ich komme wieder, jeden Tag. Sie freut sich darauf.»

«Natürlich. So angelt sie sich von Besuch zu Besuch und kann deinetwegen nicht gehen, obwohl sie es möchte. Ihre Zeit ist gekommen.»

Als Betty ihn schliesslich in einer ihrer Pausen in ein freies Krankenzimmer führte, an ein frisch bezogenes Bett drückte und ihr rotes Haar plötzlich offen und lockig vor seinem Gesicht hing, kämpfte er mit seiner Furcht und seiner Lust.

«Lass uns leben», hatte sie geflüstert, an seinem Ohrläppchen geknabbert, ihre Zunge in seine Ohrmuschel gesteckt und ohne hinzublicken seine Gürtelschnalle gelöst. Als sie seine Jeans und Unterhose abstreifte, berührte sie sein Glied wie zufällig. Er fürchtete, er explodiere. Betty löste sich von ihm und zog sich blitzschnell aus. Er staunte, dass sie weder einen Slip unter ihrer weissen Hose noch einen BH und dem Kittel trug. Nie hätte er gedacht, dass Liebe machen so einfach, direkt und heftig sein konnte. Auch nach dem Tod seiner Grossmutter, an deren Bestattung Betty wie selbstverständlich gekommen war, war er weiter ins Krankenhaus gegangen. Sie fanden immer einen unbenutzten Raum mit einem Bett, der, wie alle Krankenzimmer nach Desinfektionsmitteln roch und sich nicht abschliessen liess.

«Du hast einen bloody perfect body», hauchte sie. «Falls eine meiner Kolleginnen versehentlich ihren Kopf reinstreckt, machst du weiter. So etwas Schönes sieht man im Krankenhaus nicht alle Tage.»

Dave genoss den Sex mit ihr, bis er nach Israel ins Kibbutz abreiste. Dabei sprachen sie kein einziges Mal über Liebe, und sie erwähnte weder ihren Mann noch ihre Kinder. Er war sich nicht einmal mehr sicher, ob sie verheiratet gewesen war. Ausser ihren Körpern verband sie nichts. Auch an ihr Gesicht konnte er sich nur noch vage erinnern. Einzig das Kamasutra, eine jahrhundertealte indische Liebesanleitung, die sie ihm geschenkt hatte, musste noch irgendwo in einer Abstellkammer in Leeds liegen. Hätten ihn heute Livs Geruch und ihr Busen unter dem engen Kittel nicht derart erregt, würde er vor dem Einschlafen nicht an Betty und sein erstes Mal zurückdenken, sondern von Abuya träumen. Mit dem Vorsatz, alle Nurses dieser Welt, Krankheit und Tod und die damit verbundenen Gerüche und Gefühle aus seiner Erinnerung zu verbannen, nickte er endlich ein.

Am folgenden Abend zündete er nach dem Essen ein paar Kerzen an und goss für Abuya und sich Tee ein.

«Wie sehr ich Afrika liebe, wenn alles glatt läuft wie heute», sagte er schwärmerisch.

«Ist es dir besser ergangen als gestern?», fragte sie.

«Ja. Alles perfekt. Wie damals in Bangui.»

«Ist es dort tatsächlich gut gelaufen? In Zentralafrika?»

«Ja, weil meine Beschwerden mich zu einem Halt gezwungen haben.»

Rückblickend betrachtete er seine Krankheit beinahe als eine glückliche Wendung des Schicksals. Ihr verdankte er seinen Aufenthalt bei Abuya.

«Wo genau hast du gewohnt?», fragte sie.

«In meinem Einmannzelt», antwortete er. «Es stand auf einer Art Campingplatz in der Hauptstadt, am Grenzfluss zu Zaire. Ich wurde ein temporäres Mitglied im Bangui River Club. Dort trank ich den besten Milchkaffee je und ass Bananen, klein wie Finger, dazu luftiges Weissbrot. Um wieder zu Kräften zu kommen, schwamm ich jeden Tag im Ubangi. Und ich las die französischen Zeitungen, die im Club herumlagen.»

«Kannst du denn Französisch?»

«Ein bisschen. Ich habe längere Zeit mit zwei Franzosen am Opera House in Sydney gearbeitet und verstehe genug, um Berichte zu Politik, Katastrophen und Verbrechen zu entziffern. In Bangui war es für mich mehr ein Ratespiel als eine Information zum Zeitgeschehen. Aktuelle News fand ich kaum, denn die Zeitungen und Magazine waren meistens mehrere Wochen alt.»

«Und jetzt isst du auch hier Bananen und Toast und liest Zeitungen. Und wir könnten sogar zusammen Französisch sprechen. Ich kann es gut.»

Er hörte den Stolz, der in Abuyas Stimme mitschwang.

«Wirklich? Woher denn das?», fragte er überrascht.

«Von meiner Missionsschule. Sie wurde von Französinnen gegründet. Französisch war für uns Pflicht.»

Wie die meisten Europäer hatte auch er sich von Afrika nur vage Vorstellungen gemacht und den Kontinent als Ganzes betrachtet. Erst nachdem er durch die verschiedenen Länder gereist war, konnte er sie unterscheiden. Auch Abuya hatte er falsch eingeschätzt. Er war davon ausgegangen, sie sei klug und habe ihr Wissen von den Touristen und aus Büchern aufgeschnappt. In Wirklichkeit hatte sie von klein auf Englisch gelernt, und Französisch sprach sie besser als er. Obwohl es in Kenia keine Schulpflicht gab, sah er in Mombasa zur Mittagszeit Scharen von Kindern in Schuluniformen umherschwirren. Sogar Familien, die es sich kaum leisten konnten, bezahlten Schulgelder, da sie in der Bildung einen Ausweg aus der Armut erkannten.

«Warum bist du auf eine Missionsschule gegangen?», fragte er Abuya.

«Mein Vater wünschte sich für mich eine christliche Erziehung. Nach dem Tod meiner Mama brachte er mich in den Westen Kenias, wo es von früher her noch viele solcher Institutionen gab.»

«Wie viele Sprachen kannst du denn?»

«Englisch und Französisch und natürlich Swahili und Dholuo. Bloss vergesse ich Dholuo, meine Muttersprache, zusehends, weil ich sie kaum mehr spreche.»

«Und wo hast du zeichnen und malen gelernt?»

«Auch bei den Nonnen. Eine von ihnen, Soeur Cécile, war in Frankreich vor ihrem Eintritt in den Orden eine bekannte Künstlerin gewesen. Später fühlte sie sich dazu berufen, in Afrika Kinder zu unterrichten.»

«Und hat sie dein Talent erkannt und dich gefördert?»

«Soweit ihr dies möglich war. Aber es war schliesslich die Schwester Oberin, die mir nach meinem Schulabschluss eine Stelle als Hilfslehrerin anbot. Sie sagte – und das werde ich nie vergessen – dass wir Kenianerinnen und Kenianer trotz unseres beständigen Kampfes gegen Hunger, Armut und Krankheiten seit der Unabhängigkeit von den Briten zuversichtlich in die Zukunft blicken können. Als Leiterin der Missionsstation sei es ihre Pflicht, ihren Teil zur Aus- und Weiterbildung und religiösen Orientierung junger Menschen und zum Aufbau des Landes beizutragen. Sie erwartete dies auch von ihren Mitschwestern und von mir. Sie machte keinen Unterschied zwischen Schwarz und Weiss; sie sagte, wir seien alle Kinder Gottes.»

«Und?», fragte er.

«Ich durfte Sœur Cécile unterstützen und einen Teil ihres Unterrichts übernehmen. Sie hatte so mehr Zeit, der Oberin zur Seite zu stehen. Ich erhielt drei Mahlzeiten am Tag, ein eigenes Zimmer und Taschengeld.»

«Und das war so okay für dich?»

«Natürlich! Es schien mir ein einmaliges Glück. Mein Vater fuhr noch zur See, Nyumba nzuri war erst im Bau. Die Schule war mein Zuhause», nickte sie. «Doch erzähl mir jetzt von dir. Was hast du in Bangui erlebt?»

Er spürte, dass sie das Thema wechseln wollte und erzählte ihr, wie er Weihnachten mit Raoul und Mathis, zwei lebenslustigen belgischen Trampern gefeiert hatte. Sie kauften reichlich Bier und Essen an Garküchen am Strassenrand, nahmen es auf den Zeltplatz mit und machten sich einen feucht-fröhlichen Heiligen Abend. Mathis stimmte französische und englische Weihnachtslieder an und sein Gesang lockte eine Gruppe junger Männer an. Im Handumdrehen organisierten die Afrikaner Trommeln, Hirsebier, gebratene Heuschrecken und Steaks, von denen sie sagten, es sei Krokodilfleisch aus dem Fluss. Dave und die Belgier probierten und ihm schmeckte es. Gemeinsam sangen und trommelten, assen und tranken sie. Obwohl sie sich nur mit Händen und Füssen unterhalten konnten, verstanden sie sich gut und lachten viel. Nach Mitternacht, als er aufstehen und sich in sein Zelt zurückziehen wollte, bemerkte er, wie betrunken er war. Unweit vom Lagerfeuer, das längst am Verglühen war, erbrach er mehr oder weniger alles, was er an jenem Abend gegessen hatte. Zwei Tage später hatte er Durchfall. Da seine Notmedikamente nicht dagegen halfen, suchte er zuerst eine Apotheke und dann das Krankenhaus auf. Hier wurden Buben ohne Narkose beschnitten, klaffende Wunden genäht und gebrochene Knochen geschient. Nachbarn und Angehörige brachten den Patienten ihr Essen. Neben der allgemeinen Abteilung gab es eine Privatpraxis, in der es wie in England zu und her ging. Er hatte das Glück – und das Geld! – den Chefarzt konsultieren zu können, der aus dem Elsass stammte. Zwar sprach jener nur schlecht Englisch, dafür galt er als Spezialist für Tropenmedizin und untersuchte ihn aufs Gründlichste. Martin Morel, so hiess der Mann, verschrieb ihm Antibiotika und empfahl ihm einen Monat Pause und dazu eine temporäre Mitgliedschaft im Bangui River Club, in dem er selber jeden Abend schwimmen ging. Dave schluckte seine Medizin und erholte sich. Anders als auf dem Zeltplatz am Fluss, auf dem es immer wieder zu Diebstählen, Streit wegen Kleinigkeiten und sogar zu Handgreiflichkeiten zwischen den Campern verschiedenster Nationalitäten und Mentalitäten kam, fühlte er sich im Club wohl. Hier konnte er seinen Geldbeutel einen Moment lang aus den Augen lassen, ohne befürchten zu müssen, dass er wegkomme. Die Toiletten und Duschen waren sauber. Er schwamm im kleinen Pool, ass Croissants und Weissbrot mit Butter und Marmelade, trank Kaffee und unterhielt sich an der Bar mit gebildeten, informierten und gut gestellten Zentralafrikanern, Franzosen und Belgiern. Zwar war das alles nicht billig, doch er sagte sich, er gebe das Geld für seine Gesundheit aus. Nach vier Wochen wollte er weiterreisen und spätestens in Südafrika einen gutbezahlten Job annehmen. Ende Januar war er so weit genesen, dass er Dr. Morels Rat, nach Nairobi zu fliegen, in den Wind schlug und sich stattdessen über Land durch den Südsudan nach Kenia aufmachte.

«Nun denn …», sagte Abuya, «wenn sich alles so wunderbar abgespielt hätte, wie es dir nun scheint, wärst du nicht wieder krank geworden.»

«Ja, natürlich gab es schlechte Tage, die ich inzwischen vergessen habe, und auch unangenehme Begegnungen sowie traurige Geschichten, die mir zugetragen wurden. Ich wurde selber Zeuge eines tödlichen Unfalls.»

«Was für ein Unfall?»

«Ein französischer Soldat ist im Ubangi, im Grenzfluss zwischen Zaire und der Zentralafrikanische Republik vor meinen Augen ertrunken.»

«Wie?»

«Ich sass im Club, in einem Liegestuhl am Ufer. Der Franzose stieg ins trübe Wasser und ruderte plötzlich mit den Armen in der Luft. Dann fiel er rücklings in den Fluss und ging sang- und klanglos unter. Es geschah schneller als man zuschauen konnte.»

«Ist er tatsächlich ertrunken?»

«Natürlich. Er war plötzlich weg. An jener Stelle, an der wir ihn eben noch gesehen hatten, tauchten zwei Nilpferde auf. Sie sperrten ihre Mäuler weit auf, als ob sie gähnten. In Wirklichkeit kämpften sie gegeneinander. Der Club Manager sagte später, der Mann sei auf eines getreten und habe sein Gleichgewicht verloren.»

«Glaubst du das auch?»

«Ja. Der Franzose dachte wohl, er würde auf einem Stein stehen. Dabei war es ein Nilpferd. Als es sich bewegte, war es zu spät. Vielleicht war er auch kein so guter Schwimmer wie er sich eingeschätzt hatte.»

«Hatte niemand versucht, ihn zu retten?»

«Abuya, es war unmöglich. Die Strömung und die vielen Wirbel im Fluss sind gefährlich und die Tiere ebenso. Wir haben danach tagelang darüber diskutiert. Sogar die mutigsten Männer schwammen nach dem Vorfall nur noch im Pool, obwohl es im Fluss viel schöner gewesen wäre.»

«Ja, Jack erzählt immer wieder, wie gefährlich Hippos sind. Sie sehen nachts, wenn sie zum Grasen an Land kommen, zwar unbeholfen aus», sagte sie, «dafür passieren im Wasser immer wieder Unfälle mit ihnen. Jack und die Guides warnen ihre Gäste immer, bevor sie auf Safari gehen.»

Dave hatte Jack Müller noch immer nicht getroffen. Abuya fuhr jeden Freitag zu ihm ins Hotel, um zu Mittag zu essen und die Wocheneinnahmen für ihre Bilder zu kassieren. Dazu kleidete sie sich hübsch, packte neue Werke in ihren Geländewagen und kehrte oft erst bei Einbruch der Dunkelheit zurück. Dann war sie gut gelaunt, bezahlte Robina und Moses deren Lohn, brachte Reste aus der Hotelküche mit, manchmal auch Bücher und nahezu neuwertige Kleider und Schuhe, welche die Gäste zurückgelassen hatten. Gewöhnlich sass sie mit Robina und Moses am Abend noch unter dem Feigenbaum, wo sie beteten und sangen. Abuyas Freitagsfröhlichkeit und die Tatsache, dass sie Dave nie mit ins Hotel nahm, hatte bei ihm zuerst diffuse Vermutungen und Eifersucht geweckt. Mit der Zeit realisierte er, dass es die Geschenke waren, die alle derart glücklich stimmten. Moses war froh um jede Gabe für seine Familie, die er an seinen freien Tagen besuchte. Robina reichte, was sie nicht brauchen konnte, an die Armen ihrer Kirchgemeinde weiter. Abuya kaufte sich mit ihrem Verdienst Papier, Farben, Holzleisten und hie und da ein Kleidungsstück oder Schuhe. Dave hätte das Hotel anschauen und Jack Müller längst treffen, und ihn – egal, was Abuya davon hielt – auf eine Anstellung ansprechen sollen. Das Land als Tourist zu bereisen und in Lodges zu übernachten, konnte er sich nicht leisten. Er musste das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden. Ursprünglich hatte er vorgehabt, Afrikas Ostküste entlang bis nach Kapstadt zu gelangen, dort einen Job zu suchen und, sobald er genügend Geld verdient hätte, nach England zurückzukehren. Doch mit der Hilfe des Hoteliers taten sich ihm in Kenia vielleicht bessere Chancen auf.

Später an jenem Abend, nachdem er sich in sein Zimmer zurückgezogen hatte, blickte er in die Nacht, die schwarz vor seinem Fenster hing. Er hörte die Grillen zirpen und das Säuseln des Windes in den Palmen. Die Schlafzimmer lagen gegen Osten, zum Meer hin, mit dem Vorteil, dass man von der aufgehenden Sonne geweckt wurde. Den staubigen Pfad zum flachen, eintönigen Strand war er bisher erst ein einziges Mal gegangen. Er bevorzugte steile Klippen und tosende Wellen. Auch Abuya ging nie hin. Sie hatte zu viel Arbeit und konnte zudem nicht schwimmen. Er hatte sie noch nie im Badeanzug, geschweige denn in einem Bikini gesehen. Je länger er in die samtene Dunkelheit blickte, desto schärfer erkannte er die Konturen der Büsche und Palmen. Hie und da ahnte er, mehr als er sie sah, vorbeihuschende Schatten, die einander spielerisch in Beine und Flanken bissen und dabei leise knurrten und keuchten. Was würde passieren, wenn er jetzt in den Garten ginge? Die Hunde waren abgerichtet, Fremde in die Waden zu beissen und festzuhalten, bis Moses auftauchte. Sie weckten seine Erinnerungen an den klirrend kalten Weihnachtsfeiertag, an dem Edward vom Pferd gestürzt war. Obwohl an jener Jagd