Der Vergissmeinnicht-Sommer - Leila Howland - E-Book

Der Vergissmeinnicht-Sommer E-Book

Leila Howland

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Beschreibung

Schwestern sind für immer

Drei Schwestern, drei Wochen Sommerferien … doch dann kommt die Überraschung: Viola, Zinnia und Lily werden von ihren Eltern zu einer Tante in ein verschlafenes Küstenstädtchen nach Cape Cod geschickt. Kein Fernsehen, kein Internet und keine Handyverbindung. So hatten sich die drei L.A.-Girls ihren Sommer nicht vorgestellt. Vor allem die zwölfjährige Viola tobt. Sie verpasst ein wichtiges Film-Casting – und ihren ersten Kuss. Doch durch eine selbst auf die Beine gestellte Talentshow und Unmengen von den leckeren Brownies ihrer Tante später, haben die Mädchen etwas Wichtiges gelernt: Egal, wo sie sind, Hauptsache, sie sind zusammen. Denn was sie am besten können, ist Schwestern zu sein!

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Seitenzahl: 344

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Aus dem Englischenvon Yvonne Hergane

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Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

1. Auflage 2016

© 2015 by Leila Howland

Published by Arrangement with Leila Howland

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel

»The Forget-Me-Not-Summer« bei HarperCollins Children’s Books,

a division of HarperCollins Publishers, New York.

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen

© 2016 für die deutschsprachige Ausgabe by cbt Kinder- und Jugendbuchverlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Aus dem Englischen von Yvonne Hergane

Lektorat: Christina Neiske

Umschlaggestaltung: Kathrin Schüler, Berlin

unter Verwendung mehrerer Motive von

Shutterstock (fabio camandona, Kantawan,

olies, primopiano, RaSveta, Svetlana Boyko)

he ∙ Herstellung: wei

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-16935-0V001

www.cbt-buecher.de

Für meinen Vater

Zinnie

Es war der dritte Samstag im Juni, die Schule war schon vor einer Woche zu Ende gegangen, und Zinnia Silver, die normalerweise bis zur Halskrause in Hausaufgaben und außerschulischen Aktivitäten steckte, verfügte auf einmal über viel zu viel Freizeit. Also hatte sie sich an diesem Morgen selbst eine Aufgabe auferlegt. Sie würde sich die wilden, widerspenstigen Haare glätten. Und so stand sie nun vor dem Badezimmerspiegel, fest entschlossen, ihre Mähne zu bändigen. Sie war elf Jahre alt und hatte es satt, immer die merkwürdig aussehende Schwester zu sein.

Für Zinnia, oder Zinnie, wie sie genannt wurde, gab es auf dem ganzen Planeten keinen schöneren Menschen als ihre ältere Schwester Viola. Viola war recht groß für ihr Alter (zwölf) und hatte ein so breites, gewinnendes Lächeln, dass sie es selbst während ihres kurzen Zusammenlebens mit einer Zahnspange geschafft hatte, dieses Ding wie ein topaktuelles Accessoire aussehen zu lassen. Und genau wie die Mutter der beiden Mädchen hatte Viola honigblondes Haar, das ihr schwer, glatt und glänzend auf die Schultern fiel. Wenn sie es offen trug, wogte es wie ein Seidenmeer, nur dafür gemacht, lässig nach hinten geworfen zu werden, und wenn sie es zu einem Pferdeschwanz hochband, wippte es oben auf ihrem Kopf, fast als hüpfe es im Takt zu einem Popsong. Zinnie hatte viel Zeit, Violas Hinterkopf zu beobachten, denn obwohl sie nur ein Jahr jünger und auf Miss Hadleys Mädchenschule nur eine Klassenstufe unter ihrer Schwester war, ging sie immer ein paar Schritte hinter ihr.

Die jüngste Schwester Lily, fünf Jahre alt und bestechend niedlich, hatte ebenfalls die Haare ihrer Mutter geerbt. Sie waren so blond, dass sie beinahe weiß wirkten, und leicht wellig, sodass es, wenn das Sonnenlicht im richtigen Winkel darauf traf, so aussah, als wäre ihr Gesicht von Licht umrahmt. Lily hatte volle, rosige Pausbäckchen, die jeden dazu einluden, sie zu küssen, zu streicheln und liebevoll zu knuffen. Lilys Kindermädchen Berta hatte die beiden älteren Silver-Mädchen schon oft ermahnt, ihre kleine Schwester in der Öffentlichkeit nie aus den Augen zu lassen.

»Ah, dios mio!«, rief Berta einmal, während sie Fajitas machte. »Am Ende denkt noch jemand, sie wäre ein Engel, und nimmt sie einfach mit!«

Viola keuchte auf, und Zinnie schlug sich eine Hand aufs Herz und schwor bei allem, was ihr heilig war, Lily niemals und unter keinen Umständen unbeaufsichtigt zu lassen. Zinnie wusste nämlich auch, dass diese Aufgabe ihr allein zufiel. Lily musste vor Entführern bewahrt werden, und Viola musste vor allen Pflichten bewahrt werden, um sich ihren großen Zielen widmen zu können. Kein einfacher Job, die mittlere Schwester zu sein.

Zinnie wusste zwar, dass ihre fast schwarzen Haare nie blond werden würden, aber sie war sich sicher, wenn sie nur genauso glatt wären wie die von Viola, dann wäre sie ein kleines Stück näher dran an der Schönheit ihrer Schwestern. Daher nahm sie den Deckel der Dose mit Glättungsschaum ab, auf die sie lange gespart hatte, sprühte sich einen Schaumberg in die Handfläche und schmierte ihn sich oben auf das feuchte Haar. »Wie gewohnt stylen«, stand da auf der Dose. Also arbeitete Zinnie den Schaum mit einer Bürste in die Haare ein, wobei sie darauf achtete, keine Strähne auszulassen, und föhnte sie dann trocken.

Das Ergebnis war alles andere als zufriedenstellend. Am Ansatz wirkten die Haare fettig, während die untere Hälfte doppelt so kraus und fusselig aussah wie sonst. Zinnie kam sich vor wie Sampson, der Pudel aus der Nachbarschaft, über dessen Schickimicki-Frisur sich die ganze Familie immer wieder lustig machte.

»Na schön!«, sagte Zinnie zu ihrem Spiegelbild. »Dann … kräuselt euch eben weiter! Ich geb’s auf!« Sie ließ die Dose Glättungsschaum ins Waschbecken fallen.

Eigentlich hatte sie gedacht, sie wäre die einzige Zeugin ihres privaten Dramas, aber da die Badezimmertür offen stand, hatte auch ihr Vater alles mitbekommen. Er lehnte sich an den Türpfosten.

»Sieht so aus, als hättest du mein Haar geerbt. Tut mir leid«, sagte er.

»Aber du hast doch eine Glatze, Daddy«, sagte Zinnie. Und dann brachen sie beide in Gelächter aus, obwohl Zinnie eigentlich mehr zum Weinen zumute war.

»Das Gute ist, dass mit den Haaren automatisch auch der Sinn für Humor mitgeliefert wird«, sagte er und verpasste ihr eine dicke, nach Kaffee duftende Umarmung.

»Hast du wieder eine Schreibblockade?«, fragte Zinnie. Ihr Vater war nämlich Drehbuchautor und hatte sein Arbeitszimmer in dem kleinen Gästehaus im Garten, das die Mädchen nur auf ausdrückliche Einladung betreten durften. Es war sein ganz persönlicher Rückzugsort, wo er seinen Gedanken freien Lauf lassen konnte. Jeden Vormittag zog er sich zum Schreiben dahin zurück und kam nur heraus, um sich frischen Kaffee, Sandwiches und Chips zu holen oder – wenn er gerade einen richtigen Schreibfluss zu Papier gebracht hatte – eine Essenslieferung vom Chinesen entgegenzunehmen. Von Montag bis Freitag durften die Mädchen zwischen acht Uhr morgens und zwei Uhr nachmittags nicht einmal an seine Tür klopfen – außer natürlich, es handelte sich um einen Notfall, worunter aber weder Streitigkeiten über das Fernsehprogramm noch Ungerechtigkeits-Diskussionen fielen, und auch keine Fragen zum Thema Bekleidung oder der Versuch, ihm die Erlaubnis für etwas zu entlocken, wozu ihre Mutter oder Berta bereits Nein gesagt hatte.

Wenn Zinnies Dad an einem ganz normalen Wochentag morgens nicht in seinem Arbeitszimmer war, musste das also bedeuten, dass er eine Schreibblockade hatte. Wenn das passierte – und in der letzten Zeit schien es immer häufiger zu passieren –, dann tigerte er erschöpft und rastlos durchs Haus. Wenn Zinnie es recht bedachte, war er ihr schon seit einiger Zeit besonders bedrückt vorgekommen. Schon lange hatte er sie dienstags nicht mehr ins Kino ausgeführt, um alte Klassiker zu gucken (und das tat er normalerweise ganz oft, sogar in Schulzeiten, denn gute Filme trugen sehr zur Bildung bei, wie er zu sagen pflegte), und sie waren auch noch nicht am Santa Monica Pier gewesen, wie er es ihr für die Ferien versprochen hatte.

»Du siehst nämlich so aus, als hättest du eine Schreibblockade«, sagte Zinnie mit Blick auf die dunklen Ringe unter seinen Augen.

»Na ja, ich musste eine schwere Entscheidung treffen«, sagte ihr Vater seufzend. »Aber ich glaube, jetzt habe ich es endlich geschafft.« Eine Sekunde lang dachte Zinnie, jetzt würde er gleich anfangen zu weinen, aber bevor sie ihn weiter befragen konnte, lächelte er schon wieder. Er türmte ihr mit beiden Händen die Haare auf dem Kopf hoch, drehte sie so, dass sie beide in den Spiegel schauten, und sagte: »Was hältst du von diesem neuen Look?«

Es sah ziemlich dämlich aus, wie er ihre Haare so hochdrückte, aber es brachte Zinnie auch auf eine Idee. »Ich könnte meine Haare so stylen wie Alisha!« Alisha war die Kriegerprinzessin aus dem letzten Filmdrehbuch, das ihr Vater geschrieben hatte: American Robot 3– Die Rache der Roboter. Teil 3 der Roboter-Trilogie ihres Vaters mochte Zinnie am liebsten, weil die Hauptfigur darin eben ein Mädchen war – eine mutige Heldin mit unglaublichen Kampfkunst-Fähigkeiten. Die Schauspielerin, die sie in dem Film verkörperte, hatte sich die Haare mithilfe mehrerer Essstäbchen hochgesteckt. Zinnie baute sich in Kung-Fu-Pose vor dem Spiegel auf.

»Und du weißt ja, wer eine ganze Schublade voller Essstäbchen hat?«, sagte ihr Vater.

»Du«, erwiderte Zinnie.

»Na dann los, ab in mein Büro.«

Zinnie folgte ihm durch den Garten in sein Arbeitszimmer, wo es wie üblich fast genauso unordentlich aussah wie in Zinnies Zimmer. Auf dem Boden stapelten sich die Drehbücher, Filmplakate bedeckten die Wände, die Regale bogen sich unter dem Gewicht unzähliger DVDs. Sein silberfarbener Laptop stand auf dem Schreibtisch, neben einem halben Dutzend Notizblöcke, etlichen Stapeln Papier, einer Tasse voller Kleingeld (größtenteils Pennys) und zwei benutzten Kaffeebechern, aus denen Löffel ragten. Doch trotz des ganzen Chaos wurde Zinnies Aufmerksamkeit von einem grellgrünen Post-it-Zettel angezogen, der am Computerbildschirm klebte. »10 Uhr: Marty anrufen.«

»Wer ist Marty?«, fragte Zinnie.

»Mein Anwalt.«

»Wieso musst du einen Anwalt anrufen?«, bohrte Zinnie weiter, während ihr Vater ihr ein Zweierset Essstäbchen reichte. Unwillkürlich dachte sie an das riesige Werbeplakat, an dem sie jeden Tag auf dem Weg zur Schule vorbeifuhren. Es zeigte einen Mann mit gewellten Haaren und einem blitzweißen Lächeln, der sich aus einem roten Sportwagen herauslehnte. Unter seinem Foto stand: DALLAS PERRY, DER ANWALT, DER IHRE SCHEIDUNG AUF DER ÜBERHOLSPUR DURCHZIEHT! Sofort keimte in Zinnies Kopf eine Sorge auf – allein in diesem Jahr hatten sich schon die Eltern von drei ihrer Klassenkameraden scheiden lassen.

»Erwachsenenkram. Mach dir keine Gedanken darüber.« Dad schaute auf seine Armbanduhr. »Oh, es ist ja auch gleich zehn. Du erzählst mir dann später, wie es mit deiner neuen Frisur gelaufen ist, ja?«

»Heutzutage sagt keiner mehr Frisur, Dad. Es heißt Hairstyle.«

»Oh, tut mir leid.« Lächelnd zerzauste er ihr die Haare, schob sie aus seinem Arbeitszimmer und machte die Tür hinter ihr zu.

Auf dem Weg zurück ins Haus und nach oben rieb Zinnie die Essstäbchen ständig aneinander und fragte sich dabei, ob sie Viola von dieser Sache mit dem Anwalt erzählen sollte. Doch dann fiel ihr ein, dass Viola heute ein wichtiger Termin bevorstand. Sie war oben in ihrem Zimmer, hatte die Tür aber schon den ganzen Vormittag zugehabt, was bedeutete, dass sie nicht gestört werden wollte. Als hätte Zinnie nicht schon genug andere Gründe gehabt, ihre Schwester zu bewundern, war Viola nämlich auch noch Schauspielerin. Sie war bereits mehrfach im Fernsehen gewesen, und heute würde sie sich zum ersten Mal bei einer Agentin vorstellen. Viola hatte allen erklärt, dass sie sich auf diesen Termin gründlich vorbereiten müsse, und hatte Zinnie das Versprechen abgenommen, sie in Ruhe zu lassen. Zinnie hatte sogar die rechte Hand hochhalten und auf den neuesten Band von Elfen der Nacht schwören müssen, für den sie in der Buchhandlung fast zwei Stunden angestanden hatten.

Ich werde mein Versprechen halten, dachte Zinnie. Schließlich hatte sie auf ihr absolut liebstes Lieblingsbuch geschworen. Sie wusch sich im Waschbecken die Haare ein zweites Mal, um den Glättungsschaum rauszukriegen. Dann rubbelte sie sich das Haar mit einem Handtuch trocken, schaute sich ein Youtube-Video über Dutt-Stylings an und machte sich dann dran, die perfekt lässige und doch ordentliche Hochsteckfrisur nachzukreieren. Während sie das zweite Essstäbchen in genau dem richtigen Winkel hineinschob, versicherte sie sich selbst, dass es keinerlei Grund gab zu der Befürchtung, dass ihre Eltern sich scheiden lassen wollten. Sie hatte sie ja noch kein einziges Mal streiten gehört – so wie Violas Freundin Pilar es über ihre Eltern berichtet hatte, kurz bevor ihr Vater dann nach Albuquerque weggezogen war.

Außerdem hat Dad ja gesagt, ich bräuchte mir keine Gedanken zu machen, überlegte Zinnie weiter und machte sich auf den Weg zu seinem Büro, um ihm ihren neuen Look zu zeigen. Sie kam an Lilys Zimmer vorbei, wo ihre kleine Schwester vor sich hin sang, dann eilte sie die Treppe hinunter, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, hüpfte über den schwarz-weiß gefliesten Küchenboden, wobei sie immer nur auf die schwarzen Quadrate trat, und huschte dann in den Garten hinaus, in dem etliche Zitronen-, Orangen- und Avocadobäume wuchsen. Aber als sie am Arbeitszimmer ihres Vaters ankam, war die Tür geschlossen. Das bedeutete, dass er wohl immer noch mit dem Anwalt telefonierte. Zinnie wollte schon zurück ins Haus, aber dann entschied sie, dass nichts dagegen sprach, sich zu vergewissern, dass sie sich wirklich keine Gedanken machen musste, wie Dad es formuliert hatte. Also presste sie ein Ohr an die Tür und lauschte.

»Hör mal, Marty«, hörte sie ihren Vater sagen, »ich finde diese Trennung ja auch sehr traurig. Wir hatten wirklich gute Zeiten, ein paar richtig gute Jahre, aber ehrlich gesagt stecke ich jetzt irgendwie fest. Wenn ich mich weiterentwickeln will, muss ich mich verändern. Es ist höchste Zeit, getrennte Wege zu gehen. Wenn ich dabei jemandes Gefühle verletze, tut es mir leid, aber ich kann nichts dagegen tun.«

Trennung? Veränderung? Höchste Zeit, getrennte Wege zu gehen? Das klang sehr wohl danach, als müsste Zinnie sich Gedanken machen – nein, Sorgen! War das die schwere Entscheidung, von der er gesprochen hatte? Würde er nach Albuquerque ziehen? Aber was sollte dann aus den samstäglichen Zeichentrick-Marathons werden? Aus den Sommernachmittagen, an denen sie im Hollywood Bowl bei Konzertproben zusahen? Aus dem Vater-Tochter-Tanz in der Schule? Wusste ihre Mutter überhaupt, dass er vorhatte, sie zu verlassen? Wie eine Bleischicht umschloss die Traurigkeit ihr Herz.

Sie musste mit Viola sprechen – sofort. Viola wusste immer, was zu tun war. Sie mussten sich etwas einfallen lassen, und zwar schnell. Zinnie musste mit ihrer Schwester sprechen, bevor die aus dem Haus ging, egal ob Viola deswegen sauer auf sie war oder nicht.

Ohne darauf zu achten, ob ihre so mühsam hochgesteckten Haare sich lösten oder auf welche Fliesen sie trat, hetzte Zinnie durch den Garten zurück in die Küche. Sie stürmte die Treppe hoch und über den oberen Flur und schlidderte an Lilys offener Zimmertür vorbei.

»Du hast ja Stöcke auf dem Kopf!«, rief Lily hinter ihr her.

»Jep«, sagte Zinnie über die Schulter. Lily darf nichts davon erfahren, nahm sie sich vor. Viola und ich bringen das alles wieder in Ordnung. Sie war ganz außer Atem, als sie vor Violas geschlossener Tür zum Stehen kam. Sie hob eine Hand, um zu klopfen, hielt dann aber noch mal inne. Viola hatte nicht nur das Bitte-nicht-stören-Schild an die Tür gehängt, sondern auch noch das Wort WICHTIG in dicken Lettern hinzugefügt und mit rosa Filzmarker unterstrichen. Bestimmt würde sie genauso sauer werden wie der Troll im ersten Elfen der Nacht-Band, als die Feen ihn aus seinem tausendjährigen Schlaf geweckt hatten. Aber was sollte Zinnie denn anderes tun? Ihrer großen Schwester verschweigen, dass ihre Eltern sich scheiden lassen wollten? Undenkbar. Zinnie holte einmal tief Luft. Dann klopfte sie an die Tür.

»Viola!«, rief sie. »Ich muss dringend mit dir reden!«

»Oh-oh, jetzt kriegst du groooßen Ärger«, sagte Lily, die hinter Zinnie aufgetaucht war, mit ihrem lila Ballettröckchen und ihren roten Gummistiefeln. Sie streckte Zinnie ihren Teddybären hin. »Hier, nimm Benny, der kann dich beschützen.«

Viola

Viola hatte ihre gesamte Familie angefleht, sie am wichtigsten Vormittag ihres Lebens bitte, bitte, bittebittebitte! bloß nicht zu stören. In einer knappen halben Stunde begann ihr Casting bei Jill Dreyfus, der besten Agentin für Kinderschauspieler in ganz Hollywood. Sie musste sich also ernsthaft konzentrieren. Mom hatte das Casting mit blauer Tinte in den Familienkalender eingetragen, aber Viola hatte mit Rot drübergeschrieben, was es zu einem Ereignis von höchster Wichtigkeit machte. Ebenfalls mit roter Tinte hatte sie über die Stunden davor »Viola Privatsphäre« gekritzelt, und dann noch zur Sicherheit zusätzlich das Bitte-nicht-stören-Schild an ihre Tür gehängt. Und trotzdem klopfte Zinnie jetzt an?! Viola holte tief Luft und beschloss ihre Schwester zu ignorieren.

Seit zwei Wochen freute sie sich nun schon auf diesen Tag, und jeden Vormittag machte sie eifrig ihre Stimmübungen und probte ihre Monologe. Sie hatte aus Modemagazinen Bilder von verschiedenen Outfits ausgeschnitten und als Collagen zusammengesetzt – so oder so ähnlich wollte sie sich fürs Casting anziehen. Dann hatte sie ihrer Mutter die Collagen gezeigt, angereichert mit einer Liste der Läden, in denen die Outfits zu erwerben waren, aber Mom hatte abgewunken – die Sachen wären viel zu erwachsen für sie. Also hatte Viola ihren Kleiderschrank dreimal von vorn bis hinten durchforstet und sich schließlich für ein blau-grün gebatiktes Kleid und goldfarbene Schuhe mit Keilabsatz entschieden. Sie war gerade dabei, ihrem Haarstyling (eine Haarspange auf der linken Seite, ein paar vorwitzig hervorlugende Strähnchen) den letzten Schliff zu verpassen, als Zinnie zum zweiten Mal klopfte.

»Zinnie möchte mit dir sprechen«, sagte Lily durch die geschlossene Tür und fügte ein paar eigene, leise, aber entschiedene Klopfer hinzu.

Viola hätte am liebsten losgeschrien. Warum konnte ihre Familie nicht begreifen, wie wichtig der heutige Tag für sie war? Zinnie und Lily ließen sie nicht in Ruhe, und ihre Eltern erlaubten ihr nicht einmal, Make-up aufzutragen. Manchmal schien es ihr, als würde es niemanden kümmern, dass dies ihr großer Traum war. Ihre Eltern hatten sie seinerzeit zu den Premieren der American-Robot-Filme mitgenommen. Da hatte Viola zum ersten Mal miterlebt, wie die Schauspielerinnen in ihren glamourösen Kleidern über den roten Teppich spazierten und in die eifrig blitzenden Kameras lächelten. Aber eigentlich waren es weder die tollen Kleider noch die roten Teppiche, die Violas Liebe zur Schauspielerei geweckt hatten (obwohl beides durchaus nicht übel war, wie sie zugeben musste).

Für Viola ging es beim Schauspielern um das Gefühl, das sie erfüllte, wenn sie in eine fremde Rolle schlüpfte – um dieses glasklare, ruhige Wachsein tief im Inneren, unabhängig davon, ob sie nach außen eine lachende oder weinende Figur verkörpern musste. Viola war nicht wie Zinnie, die es mit einem einzigen Wort, einem flüchtigen Gesichtsausdruck schaffte, Menschen zum Lachen zu bringen. Erwachsene betonten immer, wie hübsch Viola sei, aber dann wandten sie sich gleich Zinnie zu und lachten sie mit funkelnden Augen an. Einmal hatte Viola mitbekommen, wie ihre Großmutter Zinnie als »hinreißend« bezeichnete. Das Wort hatte Viola noch nie zuvor gehört, aber sie wusste dennoch sofort, was es bedeutete, und es klang eindeutig besser als »hübsch«.

Kurz nach den vergangenen Winterferien hatte Viola eine Freundin aus ihrer Klasse zu einem Schauspielkurs an der Ronald-P.-Harp-Schauspielschule begleitet. Und zu ihrer eigenen Überraschung hatte sie festgestellt, dass sie, wenn sie ein Drehbuch las, instinktiv wusste, was sie zu tun hatte. Sie konnte in die Worte fremder Figuren genauso leicht hinein- und wieder herausschlüpfen, wie man ein Kostüm an- oder auszog. Es war, als hätte sie in ihrem Inneren ein kleines Goldnugget entdeckt, das nur ihr allein gehörte. Und das sie hinreißend machte.

Noch am selben Abend hatte Viola ihre Eltern gefragt, ob sie sich auch zu dem Schauspielkurs anmelden durfte, und wie erwartet hatten sie Ja gesagt. Sie unterstützten ihre Töchter immer, wenn diese neue Aktivitäten ausprobieren wollten. Allein in der sechsten Klasse hatte Viola Kurse in Bollywood-Tanzen, Yoga, Spanisch und »Die Kunst der Tortendekoration« belegt. Und so hatte sie auch wieder mit der Zustimmung ihrer Eltern gerechnet, als sie zwei Monate später gefragt hatte, ob sie zu einem speziellen eintägigen Fernsehcasting-Workshop durfte, der von einer echten Casting-Regisseurin veranstaltet wurde.

»Sie sucht wirklich nach Kinderdarstellern für die neue Serie Seasons. Ihr wisst schon, was ich meine … Am Melrose Place hängen überall große Werbetafeln davon. Also ist es quasi wie ein richtiges Fernsehcasting!«, sagte Viola und war so berauscht, dass ihre Haut kribbelte. Doch statt sich mit ihr zu freuen, legte ihr Vater nur seufzend den Kopf in die Hände, und Mom sagte Nein, ohne auch nur eine Sekunde zu zögern.

»Aber warum denn nicht?«, fragte Viola. Sie konnte es nicht verstehen – Schauspielerei war für sie das Tollste auf der Welt. Und ihre Eltern hatten immer betont, wie wichtig es sei, möglichst viele verschiedene Sachen auszuprobieren, um herauszufinden, was man wirklich am liebsten mochte. Und jetzt, wo sie endlich etwas gefunden hatte, was sie noch glücklicher machte als ein riesiges Stück Geburtstagstorte mit einer ganzen Zuckergussblüte darauf – jetzt sagten sie auf einmal Nein?

»Tut mir leid, Liebes«, sagte Mom. »Zum Spaß zu schauspielern ist eine Sache. Aber für Geld … Das ist was ganz anderes. Die Unterhaltungsindustrie ist kein geeigneter Ort für Kinder.«

»Ich weiß nicht mal, ob es für Erwachsene ein geeigneter Ort ist«, fügte Dad hinzu. »Möchtest du nicht lieber versuchen, wieder der diesjährigen Schwimm-Mannschaft beizutreten?«

Verblüfft von der Ablehnung ihrer Eltern, schüttelte Viola den Kopf. Sie war bei allen Schwimmwettbewerben immer nur Zweit- oder Drittletzte geworden. Obwohl der Trainer sagte, Gewinnen sei nicht so wichtig, hatte es sich für Viola immer anders angefühlt, wenn die Gewinnerschleifen verliehen wurden und sie leer ausging. Außerdem bekam sie vom Chlor widerlich juckenden Ausschlag.

»Es ist mein Traum, Schauspielerin zu werden«, erklärte Viola. »So wie es Dads Traum ist, zu schreiben, und Moms Traum, Mutter zu sein.«

»Mutter und Film-Cutterin«, verbesserte sie Mom und drehte stirnrunzelnd an ihrem Ehering. »Den Beruf hab ich bis zu deiner Geburt ausgeübt, wie du weißt.«

»Ja, stimmt, tut mir leid.« Viola hatte kurz vergessen, wie empfindlich Mom sein konnte, wenn es um ihren früheren Job ging. »Also … ähm … Darf ich jetzt diesen Kurs machen, bitte? Es ist doch nur ein einziger Nachmittag. Ihr hättet euch ja auch von nichts und niemandem davon abhalten lassen, euren Traum zu verwirklichen, oder?«

»Nein«, sagte Dad und fuhr sich über den Kopf. »Da hast du wohl recht.«

»Und warum wollt ihr dann mich daran hindern?«

Ihre Eltern wechselten einen Blick und baten Viola dann, kurz rauszugehen, damit sie sich beraten konnten. Viola verzog sich in die Vorratskammer und starrte die Nudelpackungen, die Dosen mit Tomatensoße und die Gläser mit Artischockenherzen an, während ihre Eltern in der Küche miteinander flüsterten.

»Also, Liebes«, sagte ihr Vater, nachdem Viola wieder hereingerufen worden war. »Das Showbusiness ist ein hartes Geschäft. Die Chancen, dass du für eine Fernsehsendung gebucht wirst, sind sehr gering. Und das sage ich nicht etwa, weil ich nicht an dich glauben würde. Ehrlich, hier geht’s nicht um Talent. In dieser Branche zählt nur das Geld, und wir möchten nicht, dass du am Ende enttäuscht bist.«

»Das werde ich schon nicht, versprochen«, sagte Viola. »Egal was passiert – ich werde nicht enttäuscht sein.«

»Das kannst du gar nicht versprechen«, sagte Mom und strich ihr eine Haarsträhne hinters Ohr.

»Aber ich kann versprechen, dass ich aussteige, wenn mir die Schauspielerei mal keinen Spaß mehr machen sollte«, sagte Viola.

»Okay.« Dad hob die Hände, als würde er aufgeben. »Du kannst den Workshop machen.«

Lächelnd umarmte Viola ihre Eltern. Tief in ihrem Inneren war sie sich ganz sicher, dass sie niemals enttäuscht sein und aussteigen würde. Dieser Kurs war erst der Anfang.

Und sie sollte recht behalten. Nachdem Viola das erste Mal vor der Kamera gestanden hatte, war die Casting-Regisseurin jubelnd und klatschend aufgesprungen. Noch am selben Abend hatte sie bei den Silvers angerufen und Viola die Rolle von Jenny angeboten, dem neuen Nachbarsmädchen in der Serie Seasons. Die Regisseurin hatte Viola erklärt, sie würde gleich zwei Zeilen Text haben und vor der Kamera einen Eisbecher essen dürfen. Ihre Eltern erlaubten ihr den Job unter drei Bedingungen: Erstens durfte die Schauspielerei niemals ihre schulischen Leistungen beeinträchtigen, zweitens würden ihre Eltern sie sofort da rausholen, wenn sie das Gefühl hatten, dass sie zu schnell zu erwachsen wurde, und drittens würden all ihre Gagen auf ein Sparbuch fließen, für ihre spätere College-Ausbildung. Viola war sofort einverstanden gewesen. Sie hätte jeder Bedingung zugestimmt, um die Erlaubnis ihrer Eltern zu bekommen, selbst wenn sie gezwungen gewesen wäre, dafür jeden Tag im Müll der Schulcafeteria zu wühlen oder sonst was zu tun.

Das alles war nun schon ein paar Monate her. Inzwischen hatte Viola bereits in drei Folgen von Seasons mitgespielt. Und jetzt, in genau fünfundzwanzig Minuten, hatte sie einen Termin bei einer superwichtigen Agentin. Sie wollte gerade anfangen, ihren Monolog ein letztes Mal vor dem Spiegel zu proben, als Zinnie mit Essstäbchen im Haar in ihr Zimmer gestürmt kam.

»Ich weiß, du willst nicht gestört werden«, rief sie, »aber es ist ein Notfall!«

Der Ausdruck in ihrem Gesicht war der gleiche wie damals, als sie im Einkaufszentrum versehentlich einen Alarm ausgelöst hatte. Lily hüpfte hinter ihr ins Zimmer und sah erwartungsvoll zwischen ihren Schwestern hin und her. Bevor Viola etwas sagen konnte, kam auch Mom herein, Handtasche über der Schulter, Schlüssel in der Hand und Sonnenbrille auf dem Kopf.

»Was denn für ein Notfall, Zinnie?«, fragte sie.

»Ja, was denn für ein Notfall?«, echote Lily.

»Ach nichts«, stammelte Zinnie und starrte ihre Mutter erschrocken an. »Nichts Schlimmes. Bei dir alles okay, Mom?«

»Ja, mir geht’s bestens.«

»Bist du sicher?«, bohrte Zinnie weiter.

»Aber klar doch. Bei dir alles okay?«

Zinnie nickte und senkte den Blick zu Boden.

»Warum platzt du dann so in mein Zimmer?«, fragte Viola, um dem Blödsinn ein Ende zu machen. »Ich hatte doch extra das Schild an die Tür gehängt!«

»Es war ein … haariger Notfall«, sagte Zinnie und tastete nach den Essstäbchen.

»Das seh ich«, sagte Viola, und sofort huschte ein gekränkter Ausdruck über Zinnies Gesicht. Ich muss in Zukunft unbedingt netter zu ihr sein, dachte Viola. Manchmal rutschten ihr die unbedachten Worte heraus, bevor sie es verhindern konnte.

»Ich finde, du siehst süß aus, Zinnie«, sagte Mom und legte ihr einen Arm um die Schultern. »Zeigst du mir nachher mal, wie du das mit den Stäbchen gemacht hast?«

»Aber immer doch«, sagte Zinnie und umarmte ihre Mutter. »Für dich würde ich alles tun.«

Hmpf, was für eine Schleimerin, dachte Viola.

»Viola, bist du dann so weit?«, fragte Mom.

»Ich denke schon.«

»Darf ich mitkommen?«, fragte Zinnie. »Ich muss unbedingt mit Viola sprechen.«

»Was auch immer du ihr sagen willst – du kannst es genauso gut in meiner Anwesenheit tun«, sagte Mom.

»Schon gut …«, winkte Zinnie ab.

Viola zog eine Augenbraue hoch. Was um alles in der Welt versuchte ihre Schwester ihr mitzuteilen?

»Tja, dann werdet ihr das wohl verschieben müssen«, sagte Mom. »Du hast nämlich gleich deinen Theaterkurs, schon vergessen?«

»Und was ist mit mir?«, fragte Lily. »Hab ich heute auch irgendwas Wichtiges zu tun?«

»Berta kommt gleich und geht mit dir in den Zoo«, erklärte Mom und tätschelte Lilys Kopf. »Jetzt zieh deine Schuhe an, Zinnie. Samanthas Mutter holt dich in fünf Minuten ab.«

Schauspielern für Anfänger

Ach, Zinnia«, jammerte Ronald P. Harp und setzte sich kopfschüttelnd auf seinen Regiestuhl.

Zinnie hatte gerade eine Szene aus Alice im Wunderland zu Ende gespielt, in der sie endlich Alice verkörpern durfte, nicht immer nur Jungsrollen wie bisher. (In ihrer Klasse waren doppelt so viele Mädchen wie Jungs, und meist hatte Zinnie die Rolle einer männlichen Figur bekommen. Oder die der Mutter. Oder eines Tieres.) Sie wusste, dass sie nicht richtig bei der Sache gewesen war. Wie denn auch – nachdem sie mitbekommen hatte, wie ihr Vater am Telefon über eine Trennung sprach? Ihre Familie drohte auseinanderzubrechen, aber wenn sie nicht vor ihrer Mutter darüber reden wollte – die vielleicht gar nichts davon wusste, dass Dad schon mit seinem Anwalt gesprochen hatte –, dann hatte sie keine andere Wahl, als die Schauspielstunde durchzuziehen, als wäre alles normal. Es fiel ihr zwar schwer, aber Zinnie war fest entschlossen, nicht in Panik zu verfallen, bevor sie nicht mit Viola über alles gesprochen hatte.

»Ach, Zinnia«, wiederholte Ronald, nahm seine Brille ab und rieb sich die Schläfen. Okay, Zinnie hatte tatsächlich ein paar Textzeilen durcheinandergebracht, aber so schlecht war sie nun auch wieder nicht gewesen, oder? Doch Ronald kniff die Augen zu, als würde Zinnies Spiel ihm Kopfschmerzen bereiten, und es war nicht das erste Mal, dass er so ein Gesicht machte.

Das Verrückte war, dass die Idee zu diesem Kurs auf ihrem eigenen Mist gewachsen war, nicht auf dem ihrer Eltern, wie seinerzeit Klavier oder Chor. Zinnie selbst hatte sich dazu entschlossen – wenn Viola das Schauspielern so viel Spaß machte, dann würde es bei ihr doch sicher genauso sein. Ihre Eltern hatten zugestimmt, unter der Bedingung, dass sie es auch noch einmal mit Klavierstunden versuchte. Viola war sauer gewesen, dass Zinnie so leicht damit durchgekommen war, während sie selbst ihre Eltern so sehr hatte beknien müssen. »Du weißt gar nicht, wie gut du es hast!«, hatte Viola gesagt. »Immer muss ich als ältere Schwester die ganze Vorarbeit leisten und du profitierst davon!«

Zinnie hatte gehofft, sie und Viola würden zu einem Schauspiel-Schwestern-Gespann werden. Sie wünschte sich, mit Viola auf Partys zu gehen und gemeinsam interviewt zu werden. Und wenn es nach ihr ging, würde ihr Seasons eine Rolle auf den Leib schreiben. Sie würde Violas verschollene Schwester spielen, die aus einem Waisenhaus entlaufen, mit dem Zug kreuz und quer durchs Land geirrt war und schließlich in zerrissenen Kleidern auf der Türschwelle des Seasons-Hauses auftauchte.

Dieser Kurs war der Schlüssel zu dem Traum, aber irgendwie gestaltete sich alles viel schwieriger, als sie erwartet hatte. Zinnie hatte immer gedacht, wenn sie sich nur genug anstrengte, würde sie am Ende auch gut werden, egal in welchem Bereich. Schließlich sagten die Lehrer in der Schule das doch auch immer. Aber in diesem Kurs wurde ihr mit jeder Unterrichtsstunde klarer, dass die Schauspielerei offenbar nicht so funktionierte. Im Gegenteil, je mehr sie sich anstrengte, desto schlimmer wurde es. Aber Zinnie war noch lange nicht bereit aufzugeben. Sie holte tief Luft und hörte sich an, was Ronald zu sagen hatte.

»Du denkst und spielst von hier oben.« Er zeigte auf seine Stirn. Und dann griff er sich an die Brust. »Statt von hier.«

»Hä?« Aber natürlich dachte und spielte sie vom Kopf her, da saß schließlich ihr Gehirn! Zinnie schüttelte den Kopf. »Ich verstehe nicht, was Sie meinen.«

»Was ich meine … Was ich meine …« Ronald fuhr sich mit den langen Fingern über sein Ziegenbärtchen. Er sah erschöpft aus. Zinnie erschöpfte ihn. Jetzt war sie schon zum zweiten Mal im Kurs »Schauspielern für Anfänger«, aber irgendwie machte sie keinerlei Fortschritte. »Kann vielleicht jemand anders hier erklären, was ich meine?«

»Sie hat keine emotionale Verbindung zur Figur«, sagte Samantha Wise. Samantha hatte im Jahr zuvor in einem Werbespot mitgespielt, und alle wussten, dass sie in einer Fernsehserie bald ein taubes Mädchen verkörpern sollte. »Aber es ist nicht nur die Art, wie sie ihren Text aufsagt …« Samantha zog ihre langen Spinnenbeine an die Brust und stützte ihr Kinn auf den Knien auf. »Sie macht so übertriebene Gesichtsausdrücke, dass sie aussieht wie ein … Clown.« Die Haare, die ihr bis zum Gesäß hinunterreichten, legten sich wie ein Vorhang um ihre Schultern herum.

Du solltest dir mal die Haare schneiden lassen, dachte Zinnie wütend. Und sie nahm sich vor, mit ihrer Mutter darüber zu sprechen, ob sie nicht mit irgendjemand anderem zum Theaterkurs mitfahren konnte.

»Und wie nennen wir so was?«, fragte Ronald.

»Grimassen schneiden«, antwortete die Klasse. Zinnie wäre am liebsten im Sofa versunken, mit dem Bezugstoff verschmolzen, bis nichts mehr von ihr übrig wäre. Grimassen schneiden galt im Ronald-P.-Harp-Schauspielstudio als absolute Todsünde.

»Du musst in deine Figur hineinschlüpfen. Aber ich glaube, erst einmal musst du in Zinnia Silver hineinschlüpfen. Wer ist Zinnia wirklich? Wo ist sie?«

Zinnie hatte keine Ahnung, wie sie diese Fragen beantworten sollte, doch Ronald sah sie an, als erwarte er eine ernsthafte Antwort, und zwar sofort. Bestimmt hatte er Viola diese Fragen nie gestellt. Bestimmt hatte sie von Anfang an perfekt gespielt. Das war einfach so ungerecht! Zinnie hätte am liebsten geweint, aber sie hielt die Tränen zurück und schluckte.

»Du darfst deine Gefühle nicht unterdrücken, Zinnia«, sagte Ronald. »Lass sie raus. Sie müssen leben, sie müssen atmen! Wach auf und erblühe, Zinnia! Erblühe!«

Nach dem Unterricht nahm Ronald Zinnie beiseite und sagte ihr, dass dies ihre letzte Stunde in seinem Studio gewesen sei. So nett war er noch nie zu ihr gewesen, und das verwirrte sie mehr als alles andere. »Die Schauspielerei ist nichts für dich, Zinnia«, sagte er. Zinnie nickte mit angehaltenem Atem und rang sich ein Lächeln ab. Dann legte er ihr eine Hand auf die Schulter und fügte hinzu: »Aber das heißt noch lange nicht, dass das Theater als solches nichts für dich ist. Es gibt so viele wunderbare Berufe, die hinter der Bühne ausgeübt werden. Vielleicht wirst du ja eines Tages eine wunderbare Inspizientin!«

Ein Star auf dem Balkon

Sonnenlicht strömte durch die großen Fenster in die Eingangshalle der Jill-Dreyfus-Agentur für Nachwuchsdarsteller. Sie verfügte außerdem über einen Balkon, von dem aus man auf den Hollywood-Schriftzug schauen konnte. Ein Mädchen stand auf dem Balkon und sprach in ihr Handy. Sie trug ein blaues Sommerkleid, und immer wenn die leichte Brise sie umwehte, fächerte sich ihr langes dunkles Haar vor dem Hintergrund der grün-braunen Hügel in der Ferne auf. Während ihre Mutter mit der Empfangsdame redete, betrachtete Viola die gerahmten Filmplakate an den Wänden. Jill Dreyfus’ berühmteste Darsteller waren darauf zu sehen. Max Jordan steuerte in Race to the Top sein Fahrrad gegen den Wind. Tamika Garcia lenkte in Field Trip Fiasco einen Schulbus. Und Amanda Mills schnitt in Double Trouble ihrem eigenen Spiegelbild eine Grimasse.

Vielleicht hängt eines Tages auch ein Plakat von mir an dieser Wand, dachte Viola, und die Vorstellung ließ sie von Kopf bis Fuß erschauern, obwohl sie vor Aufregung ohnehin längst bibberte. Sie schwitzte sogar so sehr, dass ihre Füße in den Schuhen hin und her rutschten. Die Wirkung der ganzen Entspannungsübungen, die sie am Vormittag gemacht hatte, war schon lange verpufft.

Viola stellte sich gerade vor, wie ihr Filmplakat aussehen könnte, als das Mädchen auf dem Balkon sich plötzlich umdrehte. Keuchend griff Viola nach Moms Hand – das war Amanda Mills! Die echte Amanda Mills! Viola schielte noch einmal aufs Plakat, um ganz sicher zu sein.

Amanda Mills war nämlich nicht einfach irgendeine Jungschauspielerin. Sie war auch ein berühmter Popstar, der mit zehn Jahren bei America Sings entdeckt worden war. Jetzt, mit dreizehn, hatte sie ein Hitalbum herausgebracht, trat in ihrer eigenen Fernsehshow auf, und es ging das Gerücht, dass sie in der Verfilmung von Elfen der Nacht die Hauptrolle übernehmen sollte.

»Oh Gott, Mom, das ist Amanda Mills!«, sagte Viola, während sie auf einem großen weißen Sofa Platz nahmen. »Ich wünschte, ich könnte mal mit ihr sprechen.«

»Dann geh doch hin und sprich sie an«, erwiderte ihre Mutter.

»Aber ich kenne sie doch gar nicht!«

»Dann stellst du dich eben vor«, sagte Mom. »Im Moment scheint sie jedenfalls nicht beschäftigt zu sein.« Und tatsächlich, Amanda hatte ihr Telefonat gerade beendet. Sie stand nur da, gegen die Balkonbrüstung gelehnt, und blickte hinaus auf die Autos, die über den Sunset Boulevard rauschten. »Wir haben noch ein paar Minuten Zeit. Die Empfangsdame hat gesagt, dass Jill sich ein bisschen verspätet. So, bin gleich wieder da – ich muss mal auf die Toilette. Müsste hier den Flur runter sein, glaube ich.«

Bevor sie es sich anders überlegen konnte, nahm Viola ihren ganzen Mut zusammen, strich sich das Kleid glatt und ging zu Amanda hinaus, die jetzt auf ihr Handy starrte, als wollte sie es zwingen, endlich zu klingeln.

»Hallo«, sagte Viola. Jetzt waren auf einmal auch ihre Handflächen schweißnass. »Du bist Amanda, nicht?«

»Jep, das bin ich.«

Viola konnte es kaum fassen. Amanda hörte sich ja genauso an wie im Fernsehen! »Schön, dich kennenzulernen. Ich bin Viola Silver.«

»Cooler Name«, sagte Amanda, beschattete sich mit einer Hand die Augen und lächelte Viola an. Viola strahlte zurück. Trotz des vielen Make-ups sah Amanda wie ein ganz normaler Teenager aus, nicht wie ein internationaler Superstar.

»Ich wollte dich was fragen – stimmt es, dass du in Elfen der Nacht die Seraphina spielen wirst?«, fragte Viola.

»Ja«, antwortete Amanda. »Hab gerade den Vertrag dazu unterschrieben.«

»Wow! Ich liebe die Bücher! Hab sie alle schon fünf Mal gelesen. Welchen Band magst du am liebsten?« Viola kam es immer noch total unwirklich vor, dass sie diese Unterhaltung führte. »Lass mich raten – Das Raunen des Winters? Oder nein, warte, Die Drohung der Dämmerung?«

»Oh, keine Ahnung, ich hab noch keins davon gelesen«, gestand Amanda.

»Echt nicht?« Viola musste ihre ganzen schauspielerischen Fähigkeiten aufbieten, um sich ihre Bestürzung nicht anmerken zu lassen. Sie kannte keinen einzigen Menschen in ihrem Alter, der die Bücher noch nicht gelesen hatte. Den ersten Band hatte sogar ihr Vater verschlungen. »Die sind echt toll.«

Amanda nickte und schielte wieder auf ihr Handy.

»Erwartest du einen Anruf?« Viola wippte in ihren Schuhen hin und her in der Hoffnung, dass etwas Luft hereinströmen und ihre Füße kühlen würde.

»Meine Mutter wollte mich abholen, aber sie ist spät dran«, erklärte Amanda.

»Sie wird bestimmt gleich kommen«, sagte Viola.

»Ja, klar.« Amandas Gesicht verfinsterte sich. »So was macht sie nur leider ständig.«

»Also, ich finde es jedenfalls irre, dass du die Seraphina spielst«, sagte Viola, um das Gespräch wieder auf etwas Positives zu lenken. »Ich würde alles geben, um auch in dem Film mitspielen zu können.«

»Ich glaube, im Juli gibt’s noch ein Casting dafür«, sagte Amanda. »Aber ich fürchte, sie suchen nur echte Stars, weißt du?«

»Oh.« Viola verspürte einen Stich, wie der spitze, brennende Schmerz, wenn ihr aus Bertas Pfanne ein Tröpfchen heißes Öl auf die Hand spritzte. Sie war eben kein echter Star.

»Ich meine, du könntest dich natürlich als Statistin bewerben«, sagte Amanda. »Aber wer will das schon? Mir tun die Statisten immer leid. Ich hatte mal einen an der Backe, der ist mir den ganzen Tag gefolgt, wie ein Schatten. War total seltsam.«

»Nein, ich möchte auch keine Statistin sein«, sagte Viola, obwohl sie den Job noch vor drei Sekunden liebend gern angenommen hätte, nur um bei Elfen der Nacht dabei zu sein.

»So, ich glaube, ich geh jetzt besser rein«, sagte Amanda. »Nicht dass ich mir noch einen Sonnenbrand hole.«

»Ja, ich auch.« Viola folgte ihr in die Eingangshalle. Ob sie Jill Dreyfus vor oder nach ihrem Monolog nach dem Casting für Elfen der Nacht fragen sollte? Viola war jetzt fest entschlossen, um eine Rolle in dem Film zu kämpfen, auch wenn sie – noch – kein Star war. Während Amanda zum Empfangstresen ging, setzte Viola sich wieder auf das große weiße Sofa. Sie wollte nicht den Eindruck erwecken, als würde sie Amanda genauso verfolgen wie der verrückte Statist damals.

»Haben Sie schon was von meiner Mutter gehört?«, fragte Amanda die Empfangsdame.

»Wir haben sie noch nicht erreicht«, erwiderte die Frau. »Aber ich versuche es weiter.«

»Sie hätte schon vor einer Stunde hier sein sollen.«

»Ich weiß, Schätzchen. Ich hab dir schon mal ein bisschen Sushi bestellt. Steht in der Küche, ja?«

»Okay, meinetwegen«, sagte Amanda.

»Bis später«, sagte Viola, als Amanda sich auf den Weg in die Küche machte.

»Ja, man sieht sich.«

Violas Gedanken wanderten nun zu ihrer eigenen Mutter weiter. Wo steckte sie nur? In der Eingangshalle war sie nicht, auf dem Balkon auch nicht. Viola machte sich auf den Weg zu den Toiletten, um nachzusehen. Sie dachte schon, wenn ihre Mutter nun auch verschwunden sein sollte, hätte sie ein neues gemeinsames Thema, über das sie mit Amanda reden konnte. Aber dann entdeckte sie ihre Mom. Sie stand allein in einem Konferenzraum und sprach in ihr Handy.

»Um ehrlich zu sein«, hörte Viola ihre Mutter sagen, »halte ich es für eine gute Idee, aus L. A. rauszukommen, auch wenn es mitten im kanadischen Nirgendwo ist. Ich bin sicher, man kann sich dort schnell eingewöhnen und es sich gemütlich machen.«

Sie sollten also L. A. verlassen und nach Kanada ziehen? Ausgerechnet jetzt, wo Viola dabei war, ihren größten Traum zu verwirklichen? Plötzlich hatte sie das Gefühl, als breche ihre ganze Welt zusammen, als stürze ihr Innerstes einen steilen Hang hinunter und direkt ins Meer.

»Viola«, rief die Empfangsdame. »Ach, da bist du ja. Jill ist jetzt da, du kannst rein. Bist du bereit?«

Familiensitzung

Nachdem Samanthas Mutter sie zu Hause abgesetzt hatte, konnte Zinnie endlich den Tränen freien Lauf lassen, die sie während der Autofahrt so mühsam zurückgehalten hatte. Sie wischte sich mit dem Ärmel ihres T-Shirts (das sie von Viola geerbt hatte und das ihr wie immer nicht halb so gut stand wie ihrer Schwester) über die Augen. Dann machte sie sich einen heißen Kakao und wärmte sich in der Mikrowelle eine Scheibe von Bertas Bananenbrot mit Schokoladenstückchen auf. Jetzt, wo man sie aus dem Theaterkurs rausgekickt hatte, war ihr Traum, mit Viola zusammen ein Filmstar-Duo zu bilden, in tausend Stücke zerschellt.

Während sie zusah, wie das Bananenbrot sich in der Mikrowelle drehte, dachte sie daran, dass sie niemals Gelegenheit haben würde, in Seasons die verschollen geglaubte Schwester zu spielen. Keine wichtigen Besprechungen, zu denen sie und Viola in Partnerlook-Outfits gehen würden, keine Zeitschriftenartikel über die bezaubernden Silver-Schwestern, die sich die Kinofilme auf den Leib schneidern lassen konnten. Würde sie immer nur von außen zuschauen können, wie Viola ihr glamouröses Leben führte? Sie schnappte sich eine Serviette aus einem Päckchen und tupfte sich damit die Augen ab.

Andererseits war Zinnie auch seltsam erleichtert. Nichts von dem, was Ronald gesagt hatte, war ihr je verständlich vorgekommen. Der Theaterkurs hatte ihr keinen Spaß gemacht, und jetzt musste sie nie wieder hingehen. Während sie ein paar Minimarshmallows in ihre Tasse gleiten ließ, fühlte sie sich auf einmal, als hätte man ihr eine Last von den Schultern genommen, auch wenn darunter eine dünne Staubschicht der Enttäuschung zurückblieb.