Die Autistinnen - Clara Törnvall - E-Book + Hörbuch
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Die Autistinnen E-Book und Hörbuch

Clara Törnvall

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Beschreibung

Clara Törnvalls Essay über Autismus bei Frauen ist ein eindringliches, persönliches Buch über die Gefahr von Fehldiagnosen bei Frauen in Medizin und Psychiatrie.

„Ich habe Probleme mit Blickkontakt. Ich kann weder Mimik deuten noch zwischen den Zeilen lesen. Da ist eine permanente Angst und lähmende Müdigkeit.“ Clara Törnvall wusste schon immer, dass etwas mit ihr nicht stimmt, doch erst mit 42 Jahren erhält sie die Diagnose. Sie ist Autistin? Sind das nicht eher sozial inkompatible Männer mit Inselbegabung? In „Die Autistinnen“ erkundet sie, warum es insbesondere bei Frauen oft zu Fehldiagnosen kommt und wer wirklich hinter der mythisch aufgeladenen Figur der Autistin steht. Dabei stößt sie unverhofft auf eigene Idole wie Beatrix Potter, Greta Thunberg und Virginia Woolf. Ein eindringlicher, überraschender und persönlicher Text, der unsere Auffassung von Normalität infrage stellt.

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Seitenzahl: 284

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Zeit:7 Std. 46 min

Sprecher:Lisa Rauen

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Das ist das Cover des Buches »Die Autistinnen« von Clara Törnvall

Über das Buch

»Ich habe Probleme mit Blickkontakt. Ich kann weder Mimik deuten noch zwischen den Zeilen lesen. Da ist eine permanente Angst und lähmende Müdigkeit.« Clara Törnvall wusste schon immer, dass etwas mit ihr nicht stimmt, doch erst mit 42 Jahren erhält sie die Diagnose. Sie ist Autistin? Sind das nicht eher sozial inkompatible Männer mit Inselbegabung? In »Die Autistinnen« erkundet sie, warum es insbesondere bei Frauen oft zu Fehldiagnosen kommt und wer wirklich hinter der mythisch aufgeladenen Figur der Autistin steht. Dabei stößt sie unverhofft auf eigene Idole wie Beatrix Potter, Greta Thunberg und Virginia Woolf. Ein eindringlicher, überraschender und persönlicher Text, der unsere Auffassung von Normalität infrage stellt.

Clara Törnvall

Die Autistinnen

Aus dem Schwedischen von Hanna Granz

Hanser Berlin

Für Harry und Lydia

Einleitung

»Es müßte, dachte ich, ein Ritual dafür geben, wenn man zum zweiten Mal geboren wird — geflickt, runderneuert und für die Welt zugelassen.«

Sylvia Plath, Die Glasglocke

»Wir können gleich bis auf Seite sieben vorblättern«, sagt der Psychologe.

Ich krame in den Unterlagen auf meinem Schoß. Ganz unten steht es: »Autismus ohne einhergehende intellektuelle oder sprachliche Beeinträchtigung. Schweregrad 1.«

»Es gibt keinen Zweifel«, sagt der Psychologe freundlich. »Die Diagnose ist absolut eindeutig.«

Ich lese, dass ich alle sieben Kriterien für die ehemals als Asperger-Syndrom bezeichnete Diagnose erfülle. Und zwar locker, wie es scheint. Auf einer Skala, der zufolge man bereits mit siebenundsiebzig Punkten dazuzählt, habe ich einhundertvierundfünfzig erreicht. Ich bin stolz darauf, dass das Ergebnis so klar ausfällt.

Das Gutachten, das wir nun zusammen durchgehen, enthält auch eine Zusammenfassung meiner psychiatrischen Geschichte. Diese sei für Kolleginnen und Kollegen in der Psychiatrie gedacht, mit denen ich eventuell künftig zu tun haben würde, erklärt der Psychologe.

Dazu wird es nicht kommen, denke ich bei mir. Ich will nie wieder etwas mit der Psychiatrie zu tun haben. Das ist vorbei.

Meine Vergangenheit wird aufgerollt. Es ist, als würde ich einen Film anschauen, der gegen Ende eine unerwartete Wendung nimmt. Es wurde etwas herausgefunden, das alles, was ich bisher über die Protagonisten und den Plot zu wissen glaubte, über den Haufen wirft. Die Hinweise, die so lange schon auf die Lösung des Rätsels hingedeutet hatten, verdichten sich plötzlich zu einem Bild. Sie reihen sich aneinander, einer hinter dem anderen, über all die Jahre. Die ganze Zeit hat es Anzeichen gegeben.

Ich habe immer gewusst, dass ich autistisch bin. Und hatte doch keine Ahnung.

*

Drei Monate zuvor bummle ich durch Hagsätra Centrum, eine überdachte Einkaufspassage. Ich komme am Lebensmittelgeschäft Mat Dax vorbei sowie an der Konditorei Vallmofröt, dabei gehen mir immer dieselben fünf Wörter durch Kopf: Jetzt ist es so weit. Es kommt manchmal vor, dass Sätze in meinem Kopf hängenbleiben, kleine Schlaufen, die sich wie Beschwörungsformeln wiederholen.

Die neuropsychiatrische Praxis ist trotz Handy-App schwer zu finden. Ich gehe ein ganzes Stück in die falsche Richtung und halte, vollkommen desorientiert, bei der Skulptur Mädchen mit Ball inne. Das Mädchen steht starr vornübergebeugt, den Mund zu einem O geformt. Der Springbrunnen vor ihr enthält kein Wasser, der Strahl, den sie normalerweise ausspuckt, fehlt.

Ich bin zweiundvierzig Jahre alt und meiner selbst so überdrüssig, dass ich beinahe ersticke. Soweit ich mich zurückerinnern kann, habe ich Angst gehabt. Einen Abgrund in meinem Bauch, an den ich mich so gewöhnt habe, dass es mein Normalzustand geworden ist. Die Angst hat nichts mit meinen Gedanken zu tun, sie lebt in mir wie ein eigenständiger Organismus. Ich bin weder zwanghaft noch hypochondrisch, leide weder unter Nervosität noch denke ich mir ständig Katastrophenszenarien aus. Aber sobald ich mich in der Welt bewege, fühle ich mich unsicher. Jeder Schritt, den ich tue, ist vorsichtig, als ginge ich auf dünnem Eis.

Ich bin permanent angespannt und erfüllt von einer Trauer, die ich nicht begreife. Nachts schlafe ich mit geballten Fäusten. Zeitweise habe ich brutale Albträume; in einem davon, der mich immer wieder heimsucht, bin ich als kleines Mädchen gestorben. Dunkelheit hat sich über den Park Humlegården gelegt, und ich knie da und schaufle mit den Händen schwarze Erde aus meinem Grab. Es ist Nacht, ich bin allein im Park. Das Loch im Boden wächst. Unter der Erde mache ich ein grünes Nachthemd mit weißen Blümchen aus, eine blonde Haarsträhne, den Handgriff meines Puppenwagens von Brio. Ich lebe und bin erwachsen, dennoch liegt meine Kinderleiche hier begraben. Was ist mit mir geschehen? Warum bin ich gestorben?

Soweit ich zurückdenken kann, habe ich mich anders gefühlt.

Ich rechne nach. Seit meinem achtzehnten Lebensjahr habe ich sechs Einzeltherapien bei verschiedenen Therapeutinnen und Therapeuten gemacht, sowie drei Paar- oder Familientherapien, ich habe zwei verschiedene Antidepressiva verschrieben bekommen sowie diverse angstdämpfende Medikamente, ich habe stapelweise Bücher und Artikel über psychische Krankheiten gelesen, und ich habe vierundzwanzig Stunden in der geschlossenen Abteilung einer Psychiatrie verbracht. Es hat nicht geholfen. Nichts von dem, was sie sagen oder beschreiben, trifft zu. Es geht dabei nie um mich.

Und irgendwann dachte ich: Es kann nicht richtig sein, dass es einem so geht. Therapien und Medikamente müssen doch etwas bewirken. Man geht vorübergehend in Therapie, nicht ein Leben lang. Ich bin nicht mehr jung. Ich muss langsam fertig werden.

*

Ich probiere einen anderen Weg, um die Praxis zu finden, weiche einem Mann in Jeansweste aus, der lautstark nach ein paar Kronen verlangt, beschleunige meinen Schritt, ohne zu wissen, ob ich in die richtige Richtung gehe. Das Einkaufszentrum erscheint mir fluide, als würden sich die Straßen, jedes Mal wenn ich mich in eine andere Richtung wende, verschieben.

Im Laufe der Jahre habe ich versucht, mich mit den normalsten aller frauenspezifischen psychischen Beschwerden zu identifizieren. Ich habe mich gefragt, ob ich vielleicht schuld- und schamgetrieben und bis zur Selbstaufgabe damit beschäftigt bin, anderen gefällig zu sein, ein tüchtiges, gutes Mädchen auf dem Weg in die Erschöpfung, eine Perfektionistin mit Essstörung, die ihren Körper hasst. Oder bin ich einfach chronisch depressiv?

Nein, das trifft alles nicht auf mich zu. Im Gegenteil — meistens ist mir egal, was andere von mir denken. Ich erbringe Leistung, aber nur in Bereichen, die mich wirklich interessieren. Alles, was mich langweilt, sortiere ich aus. Mein Körper ist mir egal. Wenn ich mich mit Freundinnen unterhalte, versuche ich manchmal, mir über Kalorien und Sport Gedanken zu machen, Dinge, von denen man erwartet, dass Frauen sich damit beschäftigen, aber eigentlich esse ich alles, worauf ich Lust habe. Ich habe mich nie über meinen Körper definiert.

Dennoch sind da diese permanente Angst und diese lähmende Müdigkeit. Kann ich schlecht einschlafen? Überhaupt nicht, ich erlösche jeden Abend wie eine Kerze.

Es muss aber doch einen Grund geben.

*

Endlich finde ich den Eingang der neuropsychiatrischen Praxis für Erwachsene.

Der Psychologe, bei dem ich einen Termin habe, ist dem Namen nach weiblich — so zumindest meine Erwartung. Ich stelle mir eine kluge ältere Frau kurz vor der Rente vor, die um den Hals eine Lesebrille trägt. Eine Frau, die sich auf langjährige Erfahrungen stützt, die alles gesehen hat und die nichts erschüttern kann.

Die Menschen im Wartezimmer sehen normal aus. Weiße Ohrhörer, Sneakers. Ein Mann in hellblauem Jackett ist ganz in sein Handy vertieft. Auf den Tischen liegen Mandala-Hefte zum Ausmalen aus. Ich öffne eins davon. »Es geht nicht um ein chemisches Ungleichgewicht, sondern um ein Ungleichgewicht der Mächte«, hat ein früherer Besucher auf das Deckblatt geschrieben. »Weder noch, es geht um eine Dysfunktion«, antwortet eine andere Handschrift. »Aber sie ist immer noch Teil von dir, also sei stolz darauf!«, merkt ein Dritter an.

Eine Frau geht zur Kasse und bezahlt für ihren Besuch.

»Quittung«, sagt der Typ hinter der Scheibe.

Die Frau blickt ihn verwirrt an.

»Ob ich einen brauche?«, fragt sie.

Eine kleine Glücksblase steigt in mir auf. Wir haben etwas gemeinsam. Wie soll man wissen, was gemeint ist, wenn einer bloß »Quittung« sagt? Das klingt doch wie eine Feststellung, nicht wie eine Frage. Hier bin ich richtig. Hier gibt es Leute wie mich.

»Clara?«

Mein Psychologe kommt mit ausgestreckter Hand auf mich zu. Ein schlanker Mann in Hipster-Klamotten. Er ist jünger als ich und sieht ziemlich gut aus. So ein Mist. Ich gehe hinter ihm her zum Behandlungsraum und fühle mich wie ein Psycho-Fall. Ein besonders schwerer, der unverzüglich weggesperrt werden sollte.

Der Psychologe erklärt mir sachlich, wie die Untersuchung ablaufen wird. Er wird mir Fragen stellen und mit meinen nächsten Angehörigen sprechen, wir werden Tests durchführen und ich werde Formulare ausfüllen. Ich sage, ich hätte Angst, dass man mir nicht glauben wird. Die Freunde, denen ich von meinen Vermutungen in Bezug auf Autismus erzählt habe, haben alle gesagt: »Du doch nicht!«

»Ich weiß, wie man sich verhalten muss. Ich bin erwachsen und habe das mein Leben lang trainiert. Ich bin super darin, die Fassade aufrechtzuerhalten«, warne ich ihn.

Er lacht.

»Die Fassade können Sie hier vergessen.«

Später googele ich ihn. Er hat einen Podcast zu Nerd-Kultur.

Über ein Jahr habe ich auf der Warteliste gestanden, um mich dieser Untersuchung zu unterziehen, erst als ich den Patientenschutz anrufe, bekomme ich einen Termin. Ich möchte kassenärztlich untersucht werden, nicht in einer Privatpraxis. Das Risiko, dass ich mich sonst frage, ob ich mir die Diagnose möglicherweise nur erkauft habe, ist mir zu groß. Alles muss mit rechten Dingen zugehen.

Ich möchte wahrheitsgemäß und aufrichtig berichten und erstelle deshalb vor meinem nächsten Termin eine Liste meiner Probleme, um bloß keins zu vergessen:

Ich bin jemand, der die Dinge zu wörtlich nimmt.

Ich kann nicht zwischen den Zeilen lesen.

Ich kapiere nicht, dass Menschen auch lügen können.

Wenn ich spreche, fallen die Wörter zu Boden und bleiben dort liegen. Große Ohnmacht angesichts der Tatsache, dass es mir nicht gelingt, mich verständlich zu machen.

Ich bin oft wütend auf andere, weil sie nicht verstehen, was ich meine.

Ich habe mit mehr Leuten Kontakt, als ich eigentlich schaffe.

Ich rede gern ausführlich über ein einziges Thema, ich mag keine Gespräche, in denen dauernd hin- und hergesprungen wird.

Ich habe Probleme mit Blickkontakt.

Probleme, mit anderen zusammenzuarbeiten, weil niemand so denkt wie ich. Ich werde ungeduldig, wenn andere langsamer sind als ich.

Ich mag es nicht, mich zu wiederholen. Ich habe gesagt, was ich sagen wollte, das muss reichen.

In sozialen Zusammenhängen imitiere ich andere und schauspielere. Ich habe Angst vor Menschen.

Kann nicht zwischen verschiedenen Rollen wechseln, zum Beispiel der Mutter- und der Berufsrolle, fühle mich zerrissen zwischen den Welten.

Ich finde kein Gleichgewicht zwischen den Bedürfnissen der Kinder und meinen eigenen. Treibe mich selbst in die Erschöpfung.

Ich kann es nicht leiden, aus etwas herausgerissen zu werden, z.B. mit jemandem zu telefonieren, der etwas anderes besprechen will als das, woran ich gerade denke.

Ich mag es nicht, Pläne zu ändern.

Werde schnell müde und brauche viele Pausen.

Ich habe ein paar wenige starke Interessen. Ansonsten bin ich an vielem uninteressiert.

Ich habe ständig das Gefühl, gestört zu werden.

Ich bin lärmempfindlich. Trage ständig Sonnenbrille und Kopfhörer.

Bin auf einigen fest umrissenen Gebieten intelligent, z.B. sprachlich und theoretisch, aber vollkommen unfähig in anderen Bereichen. Versage vor den einfachsten mathematischen Aufgaben oder praktischen Anweisungen.

Ich habe Schwierigkeiten mit Routinetätigkeiten wie Duschen und Zähneputzen. Ich tue es, aber es widerstrebt mir. Alles Praktische und Physische erfordert große Anstrengung.

Ich habe einen extrem schlechten Orientierungssinn. Verirre mich auf der Arbeit in den Fluren, obwohl ich jeden Tag dort bin.

Bin so gut wie gesichtsblind. Ich erkenne niemanden. Erinnere mich aber an alle Namen!

Ich habe Schwierigkeiten mit Smalltalk, weiß nicht, was ich sagen soll. Möchte gerne reden, bleibe aber stumm.

Der Spalt zwischen meiner inneren und der äußeren Wirklichkeit ist zu breit. Die beiden Welten hängen nicht zusammen.

Ich lese mir die Liste durch und würde am liebsten laut lachen. Was ist das denn für eine Irre?

Die Autistinnen

»Es ist, als befände man sich in einem Glaskasten. Niemand hört dich. Alle sehen dich, können aber nicht mit dir interagieren. Du kannst gegen die Wände schlagen, aber du kommst nicht raus. Es ist sehr einsam da drinnen, das ganze Leben lang.«

Olivia, Teilnehmerin der Reality-TV-Serie Love on the Spectrum

Ein Gehirn wird geboren. Drei Wochen nach der Befruchtung, wenn der Embryo kaum einen Millimeter groß ist, bildet sich eine Furche im werdenden Fötus. Diese Furche wird zugedeckt und bildet ein Rohr, dessen eine Seite zu einer Blase aufgepustet wird. Diese kleine Blase ist die Vorstufe des Gehirns. Wenn ein Kind mit Autismus zur Welt kommt, hat sich das Gehirn irgendwo unterwegs abweichend entwickelt.

Die Ursache für Autismus ist biologisch, und es besteht eine hohe Erblichkeit. Weil viele verschiedene Gene beteiligt sind, handelt es sich um ein schwieriges Forschungsfeld. Kinder erben eine genetische Empfänglichkeit dafür. Doch es bedarf einer bestimmten Menge genetischer Abweichungen, damit sich ein Autismus entwickelt, deshalb ist die Genkombination ausschlaggebend. Das ist der Grund, weshalb nicht zwangsläufig alle Geschwister in einer Familie autistisch sind.

Manchmal liegt die genetische Empfänglichkeit bei den Eltern gar nicht vor, sondern entsteht spontan in ihren Geschlechtszellen oder während des Embryonalzustands des Kindes, doch das ist eher ungewöhnlich. Zu solchen Genmutationen kommt es zum Beispiel, wenn die Immunabwehr auf eine Virusinfektion überreagiert, durch Stress oder Traumata der Mutter während der Schwangerschaft, durch Hirnverletzungen während der Geburt, aufgrund des fortgeschrittenen Alters der Eltern oder weil das Kind extrem viel zu früh geboren wird. Sicher ist, dass niemand durch eine Impfung oder durch das Milieu, in dem er aufwächst, autistisch wird.

Ein andersartiges Gehirn führt zu einer andersartigen Seins- und Funktionsweise. Autismus ist keine Krankheit. Man kann ihn sich nicht abtrainieren und es gibt kein Medikament dagegen.

Heute erhalten sogenannte hochfunktionale Autisten und Autistinnen die Diagnose »Autismus-Spektrum-Störung ohne intellektuelle Beeinträchtigung«. Was früher Asperger genannt wurde, wird seit 2013 in der fünften Auflage des Diagnostischen und statistischen Leitfadens psychischer Störungen (DSM-5) unter dem Begriff Autismus-Spektrum-Störung (ASS) zusammengefasst. Die Bezeichnung Asperger verschwindet mehr und mehr. Die Formulierung Spektrum-Störung zeigt, dass viele verschiedene Formen unter einem Schirm zusammengefasst werden. Das Autismus-Spektrum ist sehr breit gefächert und umfasst sowohl Personen, die große Schwierigkeiten haben und zum Beispiel nicht sprechen können, wie auch Personen, die anspruchsvolle Ganztagsjobs ausführen. Man bestimmt den Grad eines Autismus anhand von Zahlen zwischen eins und drei, um zu markieren, wie groß der Unterstützungsbedarf eines Individuums ist; eins steht dabei für den geringsten Grad.

Autismus als Name und Diagnose ist relativ neu, als erlebte Erfahrung jedoch existiert er schon lange. Es ist ein Zustand, den es im Menschen immer schon gegeben hat. Auch wenn sich im Lauf der Geschichte die Termini, mit denen man autistische Personen beschreibt, verändert haben. Früher wurden sie vielleicht als »introvertiert«, »exzentrisch« oder »eigen« bezeichnet.

Autismus zieht sich durch alle Kategorien wie Alter, Klasse, Geschlecht und Ethnizität. Es gibt ihn überall auf der Welt und er äußert sich in allen Kulturen gleich.

Autismus zeigt sich früh, bereits im ersten oder zweiten Lebensjahr, und jedes Kind mit Autismus wird zu einem autistischen Erwachsenen. Dennoch geht es in fast allen öffentlichen Diskussionen über neuropsychiatrische Diagnosen um Kinder und Jugendliche. Als glaubten wir, Autismus würde sich auswachsen. Doch das tut er nicht.

Eine weitere, noch üblichere Fehleinschätzung von Autismus lautet, es handle sich um ein den Männern eigenes Syndrom. Das Bild des männlichen Autisten hat sich lange Zeit sowohl in der Forschung als auch in der Kultur hartnäckig gehalten. Hochfunktionaler Autismus oder das Asperger-Syndrom wurden als Diagnose für Jungen betrachtet, und lange Zeit ging man davon aus, dass normalbegabte Mädchen gar keinen Autismus haben können. Man tat, als gäbe es diese Mädchen nicht.

Zu Männern mit Autismus gibt es weit verbreitete und fest etablierte Vorstellungen, aber die autistische Frau ist uns noch nicht bekannt.

In der Fiktion — in Filmen, Fernsehserien und Büchern — wird die begabte und sozial aneckende Frau als Kopie des männlichen Nerd dargestellt, mit derselben Brille und denselben Interessen.

Eine autistische Frau, die eine Doktorarbeit in theoretischer Philosophie schreiben kann, aber immer wieder neu überlegen muss, wie man eigentlich eine Scheibe Brot abschneidet, ist dagegen eine seltene Figur im kollektiven Bewusstsein. Eine Frau, die Teetassen sammelt und sich einen ganzen Tag ausruhen muss, nachdem sie sich mit Freunden getroffen hat. Die Tiere liebt, jeglichen Blickkontakt mit Menschen dagegen meidet.

Um sie geht es in diesem Buch. Um Frauen mit hochfunktionalem Autismus.

Das Wort hochfunktional ist umstritten. Sein Gegensatz wäre niedrigfunktional. Hätte ich eine intellektuelle Funktionsvariation, würde ich nicht gern als niedrigfunktional beschrieben werden.

Als hochfunktional klassifiziert zu werden bedeutet nicht, eine Inselbegabung zu haben, sodass man wie Dustin Hoffmans Figur in Rain Man endlos lange Reihen von Spielkarten aufsagen kann. Es bedeutet lediglich, dass man durchschnittlich oder leicht überdurchschnittlich intelligent ist, dass man es schafft, einer Arbeit nachzugehen, und im Alltag einigermaßen zurechtkommt.

Gleichzeitig braucht es diese Kategorien, um die vielen verschiedenen Formen zu verstehen, die Autismus annehmen kann. Die Forschung wird kompliziert, wenn man ein und denselben, umfassenden Begriff — Autismus — für verschiedene Schweregrade verwendet. Der Begriff hochfunktional kann aber auch dazu beitragen, Autismus zu entstigmatisieren und dem Vorurteil, jeder Mensch mit Autismus hätte eine intellektuelle Beeinträchtigung, entgegenzuwirken — denn so ist es nicht. Zwischen einem und anderthalb Prozent der Weltbevölkerung ist autistisch. Gut fünfundsiebzig Prozent davon verfügen über eine sogenannte Normal- oder Hochbegabung.

*

Um die Diagnose Autismus-Spektrum-Störung zu bekommen, muss man sieben Kriterien erfüllen. Man muss Schwierigkeiten mit sozialer Kommunikation und Interaktion haben, zum Beispiel damit, sein Verhalten der jeweiligen Situation anzupassen. Außerdem muss man begrenzte Verhaltensweisen und Interessen haben und beispielsweise zwanghaft an Gewohnheiten festhalten, über ausgeprägte Spezialinteressen verfügen und hypersensibel oder unempfindlich für Sinneseindrücke sein. Die Symptome müssen seit der frühen Kindheit vorliegen und den Alltag negativ beeinflussen.

Bei den Diagnosekriterien ist häufig die Rede von Schwierigkeiten oder Problemen, dabei bedeutet Autismus lediglich, dass man anders funktioniert. Während der Autismus als Zustand biologische Ursachen hat, ist die Vorstellung vom Autismus eine soziale Konstruktion. Wäre die Norm nicht an die Gehirne der Mehrheit angepasst, würde es das Etikett Autismus nicht geben. Autismus stellt etablierte Gegensatzpaare wie Nähe und Distanz, Schweigen und Reden, Normalität und Abweichung sowie Hindernis und Zugänglichkeit infrage.

Die Mentalisierung von Autisten, also ihre Fähigkeit, die eigenen und die Gedanken und Gefühle anderer wahrzunehmen, funktioniert anders als bei neurotypischen Personen. Körpersprache und Mimik zu lesen, erfordert bei ihnen einen Denkprozess. Was andere ganz von alleine, intuitiv tun, muss eine autistische Person intellektuell bewerkstelligen. Es fällt ihr häufig schwerer, die Absichten anderer zu erkennen. Aber wer Äußerungen in der Kommunikation wörtlich versteht und wem unterschwellige Bedeutungen entgehen, ist häufig auch ein sehr ehrlicher Mensch, mit einem starken Gerechtigkeitssinn.

Menschen mit Autismus nehmen Informationen anders auf und verarbeiten sie auch anders. Es fällt ihnen leichter, Details zu erkennen und sich auf diese zu fokussieren, als auf den Zusammenhang. Bei Menschen, die nicht autistisch sind, ist es eher umgekehrt, sie erfassen den Zusammenhang, aber möglicherweise entgehen ihnen Details.

Als Autist fällt es einem darüber hinaus schwer, ergebnisorientiert zu handeln. Man hat Schwierigkeiten, etwas zu beginnen und zu Ende zu führen, und man bedient sich gern immer derselben Strategie oder handelt in verschiedenen Situationen ähnlich. Neurotypische Personen, also solche ohne Autismus, können ihre Strategien den Erfordernissen einer Situation entsprechend anpassen. Alltagsaktivitäten wie Essen zubereiten oder Zähne putzen erfolgen somit meist routiniert und erfordern nicht so viel Nachdenken oder Energie, wie es bei autistischen Personen der Fall ist.

Viele Autisten verfügen über ein sogenanntes unausgewogenes Intelligenzprofil. Sie können auf einem Gebiet sehr kompetent sein und gleichzeitig große Schwierigkeiten auf einem anderen haben. Detailversessenheit, Spezialinteressen und Eigensinn können in vielen Situationen eine Stärke sein. Schwieriger ist der Rest: soziale Interaktion, Beziehungen und die Bewältigung des Alltags.

Autistische Züge finden sich bei jeder fünften Person. Um die Diagnose Autismus zu erhalten, muss man jedoch alle sieben Kriterien erfüllen. Im täglichen Umgang wird man oft mit Kommentaren wie »alle Menschen sind ein bisschen autistisch« konfrontiert, das ist aber ein Missverständnis. Wenn man introvertiert ist, die übrigen Kriterien aber nicht erfüllt, ist man nicht autistisch, sondern einfach nur introvertiert.

*

Ich kehre nach Hagsätra zurück, in den Behandlungsraum meines Psychologen. Es ist unsere zweite Begegnung. Inzwischen ist Spätsommer und auf den Kiefernholztisch zwischen uns fallen Schatten. Durchs offene Fenster ist das Geräusch eines Presslufthammers zu hören, der sich auf der anderen Seite der Autobahn in den Asphalt hämmert.

Wir wollen mit der Untersuchung beginnen. Der Psychologe holt einen Stapel Einschätzungsbögen hervor. Sie seien etwas veraltet in ihrer Sicht auf den Autismus, sagt er entschuldigend, könnten aber dennoch erste Hinweise geben. Man soll jeweils ankreuzen, wie sehr verschiedene Behauptungen auf einen zutreffen. Ich soll sie bis zu unserem nächsten Treffen ausfüllen.

Dem Psychologen ist bewusst, dass die Fragen auf Männer zugeschnitten sind. In den Fragebogen für Kinder hat man inzwischen Fragen eingefügt, die eher auf Mädchen zugeschnitten sind, aber in der Erwachsenenvariante fehlen sie weiterhin. Er sagt, wir könnten meine Antworten später gemeinsam durchgehen, wenn irgendetwas unklar geblieben ist.

Zu Hause mache ich wütende Randbemerkungen.

Spiele ich gern Spiele? Nein, nicht wirklich. Aber ich begreife, dass das von mir als Autistin erwartet würde.

Ich registriere normalerweise die Kfz-Zeichen von Autos. Nein, ganz bestimmt nicht, ich interessiere mich kein bisschen für Autos. »Männerfrage« schreibe ich an den Rand.

Ich habe eine Faszination für Zahlen. Nein.

Ich lese nicht besonders gerne Belletristik. Doch, und wie.

Sammle ich gerne Informationen zur Klassifizierung von Dingen, wie etwa Automarken oder unterschiedliche Eisenbahn-Typen? Nein. Was ist das nur für ein Herumreiten auf Fahrzeugen!

Mag ich gesellige Zusammenkünfte und lerne ich gern neue Menschen kennen? Ich begreife, dass von mir erwartet wird, dass ich zu Nein tendiere. Aber ich mag so etwas doch eigentlich? Klar, es kostet mich wahnsinnig viel Energie, oft kommt es zu Missverständnissen zwischen mir und anderen, und ich muss mich anschließend lange ausruhen, aber ich bin nie extrem eigenbrötlerisch gewesen. Ich habe immer Freunde gehabt.

Ich sehe die Person vor mir, auf die der Fragebogen zugeschnitten ist. Ein anämischer, männlicher Gamer, der selten aus dem Haus geht, Getränkedosen sammelt, in weniger als einer Minute Zauberwürfel löst und in leierndem Tonfall über die Kreidezeit referiert. Ich denke an die männlichen Hauptfiguren in Serien wie The Big Bang Theory und Atypical.

Der Erhebungsbogen beurteilt mich, davon ausgehend, wie männlich ich bin.

Die Unsichtbaren

»Ich fühle mich unsichtbar und gleichzeitig vollkommen exponiert.

Geht es euch auch so?«

@daisycake65 auf Instagram

Zwischen zwei hohen Eichen verborgen steht eine Skulptur. Sie stellt ein kauerndes Kind ohne Gesicht dar, die Arme hat es an die Brust gepresst.

Es ist Herbst, im Parkwäldchen in Vidkärr, Göteborg, ist das Laub rostgefleckt und Regen rieselt still herab. Ein nackter Zweig ragt über den Kopf des Kindes, das sein blankes Gesicht nach oben wendet, als würde es zu jemandem hochschauen, der dort vor ihm steht. Es scheint, als wäre es einer unsichtbaren, übermächtigen Gestalt ausgeliefert. Und während ich so vor dieser kleinen Skulptur namens Ensam (Einsam) stehe, verwandle ich mich: Ich werde zu dieser bedrohlichen Gestalt.

Hier befand sich früher einmal eins der größten Kinderheime in ganz Schweden. 1935 eröffnet, bot Vidkärrs Barnhem Platz für zweihundert Kinder zwischen einem und sechzehn Jahren. Es ist einer der Schandflecke des schwedischen Wohlfahrtsstaats.

Als die Skulptur Ensam Mitte der Achtzigerjahre, zehn Jahre nach Schließung des Heims, enthüllt wurde, war sie mit einer Plakette versehen, auf der stand: »Viele Kinder erfuhren zwischen 1935 und 1975 in Vidkärrs Kinderheim Liebe und Fürsorge. Ihnen wurde ein guter Start ins Leben ermöglicht.« Doch die inzwischen erwachsenen ehemaligen Heimkinder protestierten. Sie berichteten von Misshandlungen, Vernachlässigung, Kränkungen, Zwangsernährung und sexuellen Übergriffen. Ein Arzt und zwei Heimleiterinnen wurden als treibende Kräfte genannt. Die Plakette musste entfernt werden.

Tausende schwedischer Kinder lebten über die Jahre in Vidkärr, und viele von ihnen waren einem ebenso systematischen wie sinnlosen Leid ausgesetzt. Eine wiederkehrende Strafmaßnahme bestand zum Beispiel darin, bis zu eine Woche lang allein weggesperrt oder mit eiskaltem Wasser abgeduscht zu werden. Um die Häuser herum wurde ein zwei Meter hoher, mit Stacheldraht bewehrter Zaun errichtet. Die Zuweisung der Kinder an das Heim geschah durch das Jugendamt Göteborg.

Heute sind sämtliche Gebäude, bis auf eins, verschwunden. Doch die ehemaligen Heimkinder vergessen nicht. Vor der Skulptur Ensam werden regelmäßig Blumen niedergelegt, als handelte es sich um eine Grabstätte. Im nassen Laub auf dem Boden hat jemand ein handgemaltes rosa Herz hinterlassen, darauf steht: »Was ist der Sinn des Lebens, wenn man in eine destruktive, zersetzende Einsamkeit gezwungen wird?«

In der näheren Umgebung befinden sich Kindergärten, Seniorenheime sowie die Kinder- und Jugendpsychiatrie. Ich gehe von der Skulptur aus über einen schmalen Pfad durch das Wäldchen. Am Zaun des Kindergartens hängen Gummistiefel zum Trocknen. Es sind keine Kinder auf dem Hof, drinnen brennt kein Licht.

Aus dem Augenwinkel nehme ich zu meiner Rechten ein Gesicht aus Holz wahr. Da ist ein umgestürzter Baumstamm, der wie ein Riese vornübergefallen und unter einem kümmerlichen Ahorn liegengeblieben ist. Auf dem Rücken des Baumriesen stehen drei lateinische Wörter: contra spem spero. »Gegen alle Hoffnung hoffe ich.«

Handelt es sich um eitle Hoffnung, ein Hoffen wider besseres Wissen? Oder ist es ein Aufruf, durchzuhalten und niemals aufzugeben? Der Künstler, der den Baumriesen geschaffen hat, sendet eine zweideutige Botschaft an all jene, die dem Pfad von Ensam zu der Stelle folgen, wo das Kinderheim gestanden hat.

Der schmutzweiße Kasten, der als einziges Gebäude vom Kinderheim übrig geblieben ist, beherbergt heute eine Schule für Kinder und Jugendliche mit schweren psychischen Beeinträchtigungen, die dauerhaft in der Kinder- und Jugendpsychiatrie behandelt werden müssen. Es ist jedoch so heruntergekommen, dass man sich kaum vorstellen kann, dass es noch genutzt wird. An den Fenstern hängen kaputte Jalousien und ausgeblichene Gardinen, im oberen Stockwerk lehnen übereinandergestapelte Schulbänke an der Scheibe. Doch im Unterrichtsraum brennt Licht und ich erkenne einen Computer und eine Wanduhr.

An einem Herbsttag im Jahr 1989 kam die Unterärztin Svenny Kopp hierher, um in dem Gebäude mit den weißen Fassadenplatten für den renommierten Kinderpsychiater Christopher Gillberg zu arbeiten.

Christopher Gillberg hatte Svenny auf einem Ärztekongress kennengelernt. Er hatte sie dort angesprochen und gebeten, an einem neuropsychiatrischen Projekt für Kinder mitzuwirken, das er initiieren wollte. Er suchte noch Mitarbeiter.

Svenny Kopp war eine der ersten Ärztinnen, die er engagierte, und ihre Aufgabe bestand darin, Kinder zu untersuchen, deren Eltern sich bereits Hilfe gesucht hatten, als diese Kinder drei, vier Jahre alt waren. Ins ehemalige Kinderheim in Vidkärr kamen Kinder aus ganz Schweden.

»Es handelte sich um mental schwer beeinträchtigte Kinder«, erzählt Svenny Kopp, als ich sie an ihrem heutigen Arbeitsplatz im Gillbergcentrum auf der Kungsgatan in Göteborg treffe.

Die Kinder seien hochgradig autistisch gewesen, manche von ihnen hätten selbstverletzende Verhaltensweisen an den Tag gelegt, sie hätten nicht gesprochen und seien massiv entwicklungsgestört gewesen. Sie habe alle möglichen Kinder untersucht. Die meisten hätten über keine normale Intelligenz verfügt, wie es damals hieß, andere dagegen schon.

Die Untersuchungsmethoden bei Kindern stimmten in den Achtziger- und Neunzigerjahren in vielem mit heutigen Methoden überein, mit dem Unterschied allerdings, dass den Ärzten damals noch nicht die autismusspezifischen Instrumente ADI (das Diagnostische Interview zu Autismus) und ADOS (die Diagnostische Beobachtungsskala für autistische Störungen) zur Verfügung standen. Sie hätten psychologische Gutachten über die Kinder erstellt und sie sowohl innerhalb wie auch außerhalb der Schule beobachtet, so Svenny Kopp, sie hätten Sprachvermögen und Motorik ausgewertet und Elterngespräche geführt.

Ein Großteil der Kinder seien Jungen gewesen, doch es habe auch zahlreiche Mädchen gegeben. Die Eltern, die Hilfe gesucht hätten, hätten dies immer getan, weil sie das Gefühl hatten, ihre Töchter könnten irgendwie anders, weiter sein, was Sprach- und Entwicklungsstand anging. Unter den Kindern mit starken kognitiven Defiziten sei die Geschlechterzugehörigkeit ausgeglichener gewesen. Aber sobald es um Kinder mit sogenannter normaler Intelligenz ging, sei auf zehn Jungen ein einziges Mädchen gekommen. Plötzlich habe es die Mädchen nicht mehr gegeben.

Obwohl diese mit denselben Methoden untersucht wurden wie die Jungen, hätten sie selten die Diagnose Autismus erhalten.

»Ich habe nicht das Gefühl, dass es Autismus ist«, habe es häufig geheißen, so Svenny Kopp. Die Mädchen passten den Ärzten zufolge nicht ins Schema. Und so erhielten sie stattdessen andere, weit weniger spezifische Diagnosen, wie etwa die einer semantisch-pragmatischen Sprachstörung oder von Lernschwierigkeiten.

Wieso gibt es keine normal intelligenten Mädchen mit Autismus, fragte sich die damalige Ärzteschaft und kam zu dem Schluss, dass bei Mädchen eine schwerwiegendere Hirnschädigung, eine daraus resultierende massive Entwicklungsstörung vorliegen müsste, um Autismus zu entwickeln.

So etablierte sich die Vorstellung, Mädchen bräuchten schwerwiegendere neurologische Störungen sowie stärkere kognitive Beeinträchtigungen als Jungen, um für die Diagnose Autismus infrage zu kommen. Hochfunktionale autistische Mädchen gebe es nicht. Doch das erschien Svenny Kopp nicht plausibel.

Dass sie selbst eine Frau sei, habe entscheidend dazu beigetragen, dass sie an dieser Ansicht zweifelte, sagt sie heute, vierzig Jahre später. Sie habe damals erkannt, dass der weibliche Autismus für ihre männlichen Kollegen einfach nicht existierte, und das habe sie provoziert.

»Es kam mir vollkommen absurd vor, dass Mädchen nicht ebenfalls normal intelligent und trotzdem autistisch sein können. Wieso sollten autistische Mädchen dazu eine ausgeprägtere Entwicklungsstörung aufweisen müssen als Jungen? Ich verstand die Erklärung einfach nicht. Wie wollte man das begründen?«

Svenny Kopp war in der feministischen Bewegung aktiv gewesen, sie hatte sich im Stockholmer Frauenhaus engagiert und betrachtete die Dinge seit ihrem fünfundzwanzigsten Lebensjahr aus einer feministischen Perspektive.

Doch ihre Kollegen tickten anders. Viele Ärzte und Psychologen in der kinderpsychiatrischen Klinik begründeten ihre Gutachten zu den Mädchen lediglich auf einem Gefühl: Die Mädchen »wirkten nicht wie Autisten«.

»So war das in der psychodynamischen Ära, in der immer das Umfeld, also die Eltern, an allem schuld waren«, sagt Svenny Kopp.

Noch in den 1980er Jahren lernten Psychologiestudentinnen und -studenten, die Ursache für Autismus wäre eine gefühlskalte Mutter. Neuropsychiatrische Diagnosen waren im kollektiven Bewusstsein noch nicht angekommen, und innerhalb der Kinderpsychiatrie war die gängige Meinung, die Ursache für Autismus und ADHS wäre keine biologische. Stattdessen suchte man die Erklärung in Umfeld und Milieu der Kinder, Familienverhältnisse und Familientherapie standen im Fokus. Noch in den 1990er Jahren dominierte die psychodynamische Sichtweise.

Svenny Kopp aber ließ sich nicht beirren. Sie versammelte alle Mädchen, die sich in der Göteborger Klinik befanden, und untersuchte sie eingehend. Bis auf eine verfügten alle über eine sogenannte normale Intelligenz. Svenny Kopp ging streng nach dem Untersuchungsschema vor, ohne sich von dem Gefühl beirren zu lassen, die Mädchen »wirkten« nicht autistisch. Und siehe da, es stellte sich heraus, dass sämtliche Mädchen die Kriterien für Autismus erfüllten.

»Sobald man aufhörte, sich von seinem Gefühl leiten zu lassen, und einfach praktisch an die Dinge heranging, zeigten die Ergebnisse, dass die Mädchen eben doch autistisch waren. Man braucht nur solide Untersuchungen durchzuführen, die richtigen Fragen zu stellen und ihre Beeinträchtigungen als solche zu erkennen, dann sah man die Mädchen«, sagt Svenny Kopp.

Es war und sei immer noch ein gewaltiger Unterschied, ob die jungen Patienten weiblich oder männlich seien. Obwohl es sich zuweilen schwierig darstellen könne, mit autistischen Mädchen in Kontakt zu kommen, hätten sie meist eine zugänglichere Ausstrahlung als die Jungen, sowie eine »liebliche Mädchenhaftigkeit«. Sie dominierten den Raum nicht so, wie Jungs es taten.

»Einem Jungen musst du erst mal gut zureden, um ihn zu kriegen, er wird nicht von sich aus auf dich zugehen. Du bist ihm egal. Jungs machen, was sie wollen, sie sind kleine Gutsherren, schon im Alter von drei Jahren. Es ist nicht dasselbe Arbeiten wie mit Mädchen, selbst wenn diese Autistinnen sind«, sagt Svenny Kopp. »Mädchen stehen oft schüchtern da und warten, egal, ob sie autistisch sind oder nicht. Es sei denn, sie sind extrem hyperaktiv, aber nicht einmal dann weisen sie dasselbe Dominanzverhalten auf wie die Jungen.«

Doch obwohl die Mädchen bei den Treffen mit den Ärzten so anders aufgetreten waren, hatten ihre Eltern genau dieselben Symptome beschrieben wie die der Jungs: Sie hatten Schwierigkeiten mit Veränderungen, sie konnten nicht alleine duschen, schafften es nicht, sich die Zähne zu putzen, waren sehr geräuschempfindlich, rasteten zu Hause schnell aus, schliefen schlecht und hatten keine Freunde. Es waren einsame Mädchen. Sie spielten nicht mit Puppen, sondern zerschnitten sie oder kämmten ihnen lediglich die Haare. Manche von ihnen sortierten auch Buntstifte in endlosen Reihen.

»Ich habe Eltern nie unterstellt, dass sie wegen Belanglosigkeiten einen Kinderpsychiater aufsuchen«, sagt Svenny Kopp entschieden. »Das ist schließlich kein Spaß. Ich bin immer davon ausgegangen, dass sie wegen echter Probleme kamen und dass es meine Pflicht war, herauszufinden, worum es ging. Das ist meine Einstellung.«

Gemeinsam mit ihrem Chef Christopher Gillberg schrieb Svenny Kopp einen ersten wissenschaftlichen Artikel, in dem sie beide darlegten, dass es viel mehr autistische Mädchen gab als bisher angenommen. Gillberg und Kopp betonten, dass Autismus sich bei diesen nicht immer auf dieselbe Weise äußere, wie man es von den Jungen kenne. Es war das Jahr 1992, der Artikel erschien in einer neuen europäischen Zeitschrift für Kinderpsychiatrie und wurde in den darauffolgenden Jahren unzählige Male erwähnt und zitiert.

Doch in den 1990er Jahren waren neuropsychiatrische Diagnosen für Kinder immer noch hoch umstritten. Man wollte nicht wahrhaben, dass es biologische Ursachen für ihre Schwierigkeiten geben könnte.

»In sämtlichen Fällen hieß es, die innerfamiliären Beziehungen wären gestört oder es handle sich überall um Stressreaktionen oder irgendetwas in der Art«, sagt Svenny Kopp. »Dass die innerfamiliären Beziehungen aufgrund der Probleme des Kindes gestört sein können, verstehe ich. Aber sie sind nicht die Ursache. Den Mädchen wurden dann beispielsweise ›Pubertätsprobleme‹ als Diagnose bescheinigt. Was sollte das? Verstehen Sie, so etwas machte mich wahnsinnig.«

In Svenny Kopps Augen leuchtet etwas auf, als wir so in ihrem Büro im Gillbergcentrum sitzen. Ihr Hund beobachtet uns aus seiner Ecke.

»Christopher Gillberg ist der Mann, der den Norden vor dem psychodynamischen Untergang gerettet hat«, sagt sie.

Dann schweigt sie kurz.

»Wer weiß, was aus der Kinderpsychiatrie geworden wäre, wenn es ihn nicht gegeben hätte. Er hat viel gelesen und ziemlich früh begriffen, dass er mit dem Ausland in Kontakt treten musste. Dort gab es eine andere Sichtweise und ein anderes intellektuelles Niveau als hier bei uns.«