Die Erziehung des Mannes - Michael Kumpfmüller - E-Book

Die Erziehung des Mannes E-Book

Michael Kumpfmüller

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Beschreibung

Wie wird man ein Mann? Ein Liebender? Ein Ehemann? Ein Vater? Ein Geliebter? Ein Ex-Mann? Nach seinem Bestseller »Die Herrlichkeit des Lebens« über Kafkas letzte Liebe erzählt Michael Kumpfmüller davon, was es heißt, heute ein Mann zu sein. In einer Zeit, in der der moderne Mann so viele Rollen beherrschen muss wie noch nie, wächst die Gefahr des Scheiterns – aber auch das Glück des Gelingens. Wir treffen Georg, einen Studenten der Musikwissenschaft und angehenden Komponisten, als er mit Mitte zwanzig eine neue Frau kennenlernt. Sie wird etwas in ihm lösen, mit ihr wird er ins Leben aufbrechen, Kinder bekommen und doch keine glückliche Ehe führen. Er wird sich fragen, woran das liegt, was sein autoritärer Vater damit zu tun hat, der ein Patriarch alter Schule ist und die Familie durch diverse Affären ruiniert, und er wird einen großen Schritt in eine neue Liebe wagen. Doch frei ist Georg nicht mehr, denn er bleibt Vater von drei Kindern, die am Ende zur Liebeskonstante in seinem Leben werden. Über sie wird er sich seiner selbst bewusst, und an ihnen hält er fest, als sich alles andere aufzulösen scheint. Mit seiner suggestiven, poetisch-klaren Sprache spürt Michael Kumpfmüller den Träumen, Ängsten und Hoffnungen seines empfindsamen Helden nach und zeigt, welche Kraft der Wunsch zu lieben und geliebt zu werden entfaltet. Ein großartiger Erziehungsroman, der den spannungsreichen Weg nachzeichnet, den viele Männer heute gehen, die viel von sich erwarten – und von denen viel erwartet wird.

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Michael Kumpfmüller

Die Erziehung des Mannes

Roman

Kurzübersicht

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> Inhaltsverzeichnis

> Über Michael Kumpfmüller

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Inhaltsverzeichnis

FörderhinweisWidmungMottoI. Kapitel1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. KapitelII. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. KapitelIII. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel
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Der Verfasser dankt dem Deutschen Literaturfonds e.V., Darmstadt, für die großzügige Unterstützung.

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für uns

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»Wahrscheinlich lebt man gar nicht, sondern wartet darauf, dass man bald leben werde; nachher, wenn alles vorbei ist, möchte man erfahren, wer man, solange man gewartet hat, gewesen ist.«

Martin Walser

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I.

1

Ich war Mitte zwanzig, als ich sie entdeckte. Obwohl, genau genommen, sie mich entdeckte, denn als ich sie in einer der ersten Stunden bemerkte, schien sie bereits mit mir beschäftigt zu sein. Ihr Blick war klar und ruhig, sonderbar weit, dachte ich, mit einer Bereitschaft zu wer weiß was, die mich ebenso freute wie verwirrte. War das möglich? Sie saß an einem der hinteren Tische, deshalb konnte ich sie nicht durchweg sehen, das Tutorium war sehr voll, an die vierzig Teilnehmer, die sich mit meinem Reader herumschlugen und deren Respekt ich mir zum Auftakt, wie ich hoffte, mit einem Vortrag über den späten Strawinsky verschafft hatte.

Sie war der Typ Frau, den ich immer als Erstes bemerkte. Eine von den Hellen, dunkelblond und sommersprossig, unauffällig gekleidet, aber mit diesem Blick, der dunkel und forschend war und ohne Zweifel mir galt. Sie war einige Jahre jünger als ich, groß und schlank, wenn auch weniger zart als meine Freundin, eine breite, nachdenkliche Stirn, die Augen beinahe schwarz.

Ein paar Wochen hatte ich nur das. Ich beobachtete den Wechsel ihrer Kleidung, ihr Tuscheln mit der Freundin, denn in der Regel tauchte sie in Begleitung einer Freundin auf und zeigte sich am Geschehen in der Gruppe nicht allzu interessiert. Sie schaute nur. Nicht sonderlich freundlich, wie ich regelmäßig aufs Neue feststellte, herausfordernd und zugleich abweisend, als werfe einer wie ich allerlei Fragen auf, über die sie gründlich nachdenken musste. Sie wirkte verstimmt. Noch wenn mich ihre Blicke trafen, schien sie an ihre Verstimmung zu denken. Ich bekam es nicht zu fassen. Als wäre sie von einem alten Zorn erfüllt, selbst wenn es aktuell keinen Grund dafür gab. Abends in meinem Zimmer, wenn ich an sie dachte, spielte ich mit dem Gedanken, sie anzusprechen, denn sie gefiel mir, für dies und das schien ich infrage zu kommen, ein kleines Abenteuer nicht ausgeschlossen, denn ein solches hatte ich bitter nötig.

 

So richtig begriffen habe ich es bis heute nicht, aber Tatsache war, dass ich mit einer Frau lebte, die in sieben Jahren kein einziges Mal mit mir geschlafen hatte. Ich hatte es versucht, mit verschiedenen Manövern und wachsender Verzweiflung, mit einem Gefühl aufsteigenden Hasses, wie ich beunruhigt feststellte, dass es mich unerträgliche Mühe kostete, in den Nächten neben ihr zu liegen und überhaupt ein freundliches Wort an sie zu richten.

Sie stammte aus einem Ort nahe der holländischen Grenze und hatte in all den Jahren so getan, als handele es sich bei unserer sexuellen Schwierigkeit um eine Frage, über die sie bei Gelegenheit gerne nachdenken wolle, nur leider habe sich diese Gelegenheit bislang nicht ergeben. Wollte oder konnte sie nicht? Und war das überhaupt ein Unterschied? Die Frage quälte mich. Denn an wem sollte es am Ende liegen, wenn nicht an mir? Mit einem anderen hätte es womöglich nicht das geringste Problem gegeben, was sie mehrfach wortreich bestritt und ein weit zurückliegendes Unglück andeutete, dem sich zu nähern wir beide nicht wagten.

Verlassen konnte ich sie nicht. Es wäre mir schäbig vorgekommen, sie aus diesem niederschmetternden Grund zu verlassen, obwohl ich mich in großen Schritten von ihr entfernte und bloß so tat, als lebe ich mit ihr. Das meiste wusste sie längst nicht mehr von mir und wollte es wahrscheinlich nicht wissen, an wen ich dachte, wen ich traf und nach Gelegenheiten abklopfte, die Blonde war da nur ein Beispiel.

Alles war stumme Qual. Die Freundin hatte Probleme mit dem Schreiben, konnte ihre Gedanken nicht sortieren oder gestand sich ein, dass sie es nie gekonnt hatte. Sie brauchte zwei Tage, um einen Koffer zu packen, sie kochte nicht, sie kümmerte sich nicht um die Wäsche und hinterließ mir Listen mit Erledigungen, die sie nicht mehr geschafft hatte. Ich war mit meiner Geduld am Ende. Ich hatte Sex- und Irrenhausfantasien, trieb mich in drittklassigen Bars herum, wo ich am Tresen spätnachts auf Gelegenheiten lauerte, die sich nie ergaben.

Ich wäre mit jeder gegangen. Konnte ich es überhaupt noch? Vor sieben Jahren mit Therese hatte ich es noch gekonnt.

Ich wartete, in der Gewissheit, dass es passieren würde, und war doch überrascht, als es tatsächlich geschah.

Die Frau war zwanzig Jahre älter und fragte mich einfach, ausgerechnet nach einem Abendessen bei meinem Professor. Sie nahm mich mit zu ihr in die Wohnung, wo ich bis zum frühen Morgen versuchte, in sie hineinzukommen, doch sie war zu betrunken oder hatte Angst, weil es keine Kondome gab, an Kondome hatte weder sie noch ich gedacht. Ich kletterte auf sie hinauf und wieder herunter, sie wurde nicht richtig nass, obwohl ich mir große Mühe mit ihr gab.

Schließlich stand ich auf und ging nach Hause. Nicht sonderlich beschämt, sondern im Gegenteil beschwingt. In meinem Unglück lag auch eine Freiheit. Ich hatte sie geküsst, ihr die Kleider vom Leib gezogen, einigermaßen ungeduldig, als handele es sich um die letzte Chance meines Lebens, in einer dunklen Wohnung mit dieser Fremden, die alles mit sich geschehen ließ, denn so ließ es sich an, im Stehen, als ich sie wieder und wieder küsste.

Sie hieß Rosalinde, doch das erfuhr ich erst ein Jahr später, als sie tot war, von meinem Professor, bei dem ich sie kennengelernt hatte. Wäre es anders gekommen, wenn ich ihren Namen geflüstert hätte? Sie war auf die Straße getreten und tot umgefallen. Offenbar bereits vor Wochen, nun sollte das Begräbnis sein. Ich wollte unbedingt mit und hatte Schwierigkeiten, es dem Professor zu begründen. Ich machte zu viele Worte, aber am Ende setzte ich mich durch und nahm Abschied von ihr, auf eine verquere Weise stolz, weil ich schließlich so etwas wie ihr letzter Geliebter gewesen war.

Es gab keinen Sarg, nur eine kleine Urne, denn man hatte sie verbrannt, was ich nicht richtig fand. Familie hatte sie nicht. Es waren nur eine Handvoll Freunde da, die mir zum Teil bekannt waren.

Beim Leichenschmaus in einer billigen Gaststätte saß ich neben dem Mann, in dessen VW-Käfer wir damals zu ihr gefahren waren, eine halbe Stunde, in der wir uns ohne Unterlass geküsst hatten, seltsam verrenkt, weil sie vorne und ich hinten saß und es eigentlich nicht möglich war. Erzählen konnte man die Geschichte nicht. Dafür wurden andere Geschichten erzählt. Am Ende kreiste eine Schnapsflasche, und ich hatte nicht viel über sie erfahren. Man redete mit einem gewissen Bedauern über sie, als habe ihr Leben nicht in jedem Punkt gehalten, was es versprochen hatte, und genau das war ja meine Erfahrung mit ihr.

 

Am Ende der sechsten Seminarsitzung, die außergewöhnlich zäh verlaufen war, sprach ich die Blonde an. Sie war schon fast aus der Tür, als ich über Stühle und Bänke beinahe sprang und mich im Springen wunderte, was ich da tat.

Sie zeigte sich nicht besonders überrascht, war auf der Stelle einverstanden, etwas mit mir zu trinken, gerne in der Cafeteria, wo sie mir später gestand, dass sie die Cafeteria hasste. Sie redete munter drauflos, dass sie Lehrerin werden wolle, für Musik und Französisch. In mein Tutorium habe sie die Freundin geschleppt. Der späte Strawinsky, mein Gott, sie könne diese Musik einfach nicht hören. Aber ich mochte, wie sie roch, ich mochte ihre Stimme, die überraschend dunkel war, im Tutorium hatte sie sich nämlich nie gemeldet.

So aus der Nähe war sie weniger üppig als gedacht, was mir auf den zweiten Blick gefiel, ihr geschwungener Mund, mit etwas zu schmalen Lippen. Einen zornigen Eindruck machte sie nicht. Sie wirkte im Gegenteil sehr konzentriert, begann mich auszufragen, wie ich mich dort vorne fühle, der Altersabstand sei ja denkbar gering, in ihrem Fall, stellte sich heraus, betrug er an die vier Jahre.

So lernten wir uns kennen. Sie hatte leider eine Verabredung, aber das war nicht von Bedeutung. Wir tauschten Telefonnummern, gingen unserer Wege. War da nun etwas, oder nicht? Alles in allem war ich nicht überzeugt, trotzdem rief ich sie zwei Tage später an, weil sie gesagt hatte: Ruf doch einfach an, vielleicht können wir uns treffen, ins Kino gehen, spazieren, keine Ahnung. Ich schlug den neuen Mike Leigh vor. Offenbar kam sie gerade aus der Dusche, denn sie sagte, sie habe nasse Haare und wolle sich nur schnell in ein Handtuch wickeln. Sagte sie das für mich?

Julika war ihr Name.

Am Telefon klang ihre Stimme noch angenehmer als in der Cafeteria. Sie könne frühestens Montag oder Dienstag, erfuhr ich, am Wochenende erwarte sie Besuch, in ein paar Stunden, um genau zu sein. Sie ließ offen, um welche Art von Besuch es sich handelte, es störte mich nicht, dass sie Besuch erwartete.

*

In den nächsten Wochen sahen wir uns immer öfter. Saßen in Cafés, trafen uns im Kino, einmal bei ihr zum Frühstück und ein andermal zu dritt, mit meiner Freundin, die ich gelegentlich erwähnte, ohne sie direkt zu verraten, aber mit der Andeutung, dass da etwas schwierig war, nicht erst seit Kurzem, sonst hätte man es ja kaum eine Schwierigkeit genannt.

War ich mit Julika zusammen, fühlte ich mich seltsam leicht, als verbrächte ich einige Tage Urlaub, eine Auszeit, die mit meinem übrigen Leben wenig zu tun hatte. Es war angenehm, mit ihr zu plaudern, wir redeten über das Studium, die Bücher, die wir gelesen, die Filme, die wir gesehen hatten, am Rande über die Familie, wer aus welcher Ecke des Landes stammte und was es in etwa bedeutete. Aus der Nähe von Stuttgart kam sie. Ich kannte Stuttgart nicht, Julika verabscheute es, redete zum Glück aber nicht wie eine Stuttgarterin, denn ihre Eltern stammten aus dem Norden. Als Mädchen war sie eine leidenschaftliche Reiterin gewesen, den Ballettunterricht erwähnte sie, die Tanzschule, sechs Monate als Au-pair-Mädchen in Paris.

Von Paris schwärmte sie. Es sei die beste Zeit ihres Lebens gewesen, sie liebe Paris, die Architektur, die Lebensart. Sie blieb in ihrer Begeisterung etwas allgemein. Von den Kindern erzählte sie nicht viel, zwei verzogene Rotznasen, die ihr demonstrierten, dass sie diese Blonde aus Deutschland keine Sekunde ernst nahmen. Aber Paris! War es zu fassen, dass es jemanden gab, der Paris nicht kannte? Jetzt wurde sie fast übermütig. Ich kann’s dir zeigen, sagte sie, wenn du willst, fahren wir eines Tages hin.

Es fiel mir auf, dass sie nun nicht mehr nur Schwarz trug. Sie besaß auch allerlei Buntes, hatte eine rote Bluse an, einen schwarz-rot karierten Rock. Nicht zum ersten Mal fragte ich mich, ob sie Männer hatte. Einen Freund, der in einer anderen Stadt lebte, irgendwelche Affären. Weder das eine noch das andere hatte sie je erwähnt. Mochte sie Männer nicht? Das hielt ich für denkbar. Ich gewöhnte mich an ihren Namen: Julika. Anfangs hatte ich ihn, so gut es ging, gemieden, ich mochte ihn nicht, als wäre er falsch, jedenfalls für sie, als hätte ich mich mit einem anderen Namen weniger gesträubt.

 

Im Frühsommer trennte ich mich von meiner Freundin. Mit Julika hatte es nichts zu tun, es handelte sich um das Ergebnis einer langen Serie von Ernüchterungen und falscher Hoffnungen, deshalb geschah es eher beiläufig. Ich sagte ihr, dass ich nicht länger mit ihr leben wolle. Sie wirkte nicht völlig unvorbereitet, sie nickte, nahm es hin oder tat zumindest so, wie versteinert. Für den Moment war es mir völlig egal. Ich ging in mein Zimmer und warf mich aufs Bett, in der Erwartung größerer Gefühle, aber ich fühlte nichts. Endlich, dachte ich. Nur das. Die Erleichterung. Dass es nicht mal schwere Arbeit gewesen war, im Grunde hatte es sich wie von selbst erledigt.

Die Wochen davor waren die allerschlimmsten gewesen, ohne dass ich hätte sagen können, was das Allerschlimmste war: das Geschrei oder das Ende des Geschreis, die Stunden, in denen wir Atem holten, oder die Stunden, in denen wir wieder und wieder alles durchgingen, das sexuelle Thema eingeschlossen. Du wolltest immer Kinder, sagte ich. Wie sollen wir Kinder haben, wenn wir nicht miteinander schlafen. Ich versuchte zu beschreiben, wie es in mir aussah, wie ausgebrannt ich war, wie verbittert, weshalb ich selbst schon glaube, dass es pervers sei. Abartig. Mit einer Frau schlafen zu wollen, ist abartig, behauptete ich. Worauf sie nur kalt erwiderte, ich hätte sie mir eben mit Gewalt nehmen müssen. Warum hast du es nie mit Gewalt versucht? Sie erwähnte eine Szene kurz vor Weihnachten, als ich das allerletzte Mal gehofft hatte, im Wochenendhaus ihrer Eltern, als sie angeblich dazu bereit gewesen war, frühmorgens unter einem Berg Kissen, den ich Stück für Stück abtrug, als sei sie eine Verschüttete, die beim ersten falschen Handgriff für immer verloren wäre. An Gewalt hatte ich nie gedacht. Und nun sollte das der Fehler gewesen sein?

Spätestens jetzt hätte ich mit jemandem reden müssen. Aber ich konnte nicht. Das war ja Teil meines Dilemmas, dass ich bis zuletzt glaubte, wenn ich darüber spreche, müsse ich alles zerschlagen. Auch über die anderen Probleme hatte ich nie geredet, ihre blutig gebissenen Nägel, dass sie täglich bis zu vierzehn Stunden schlief. Nie machte sie Dinge fertig. Sie las zehn Bücher gleichzeitig und brauchte Wochen für die ersten Sätze ihrer Seminararbeiten. Oft war sie zu träge, dann wieder zu ungeduldig, rannte wie ein Tier durch ihr Zimmer und schlug mit den Fäusten an die Wand, mit der Stirn, bis sie blutig war. Wenn ich sagte, sie solle damit aufhören, lachte sie. Wie eine Irre lachte sie. Hör auf, sagte ich. Ich ertrage es nicht. Worauf sie mir auf der Stelle zustimmte, das Leben sei unerträglich, wären wir bloß nie hierhergezogen, in diese gottverdammte Stadt, hätten wir uns nie kennengelernt. Im Flur, wo sie wie ein Häuflein Elend am Boden lag, mit diesem aberwitzigen Lachen.

 

Die letzte Seminarstunde war die erste, mit der ich richtig zufrieden war. Julika fand, das sei ein Grund zum Feiern, und so gingen wir zusammen essen, in ein französisches Lokal, von dem sie mir vorgeschwärmt hatte, wie sich herausstellte, zu Recht. Wir blieben ewig lange sitzen und wechselten schließlich in eine Bar, bei der es sich um eine Art Bordell handelte, zumindest das Zitat eines Bordells, denn alles war rot und zweideutig und plüschig. Dahin also hatte sie mich geschleppt. Es war nach eins, ich fühlte mich unbehaglich, denn es lief laute Musik, es war schwer, sich zu unterhalten. Ich beschäftigte mich mit ihrem Rock, wie sie die Beine übereinanderschlug, ihren Strumpfhosen. Sie rauchte und fragte nach meinem Sommer. Hast du Reisepläne? Offenbar brauchte sie in den Semesterferien nicht zu arbeiten, denn sie plante für drei Wochen Südfrankreich, während ich Sommer für Sommer Geld verdienen musste und seit Jahren kaum gereist war, nur ein einziges Mal, wenn ich darüber nachdachte, da hatte ich vier Wochen in den Bergen eine Hütte bewohnt und versucht, mit meinen Sachen weiterzukommen.

Sachen?, fragte sie.

Und so erzählte ich ihr, dass ich komponierte. Mit umständlichen Formulierungen, als handele es sich um das größte Geheimnis, das ich zu bieten hätte, ja, als entblöße ich mich vor ihr, und wahrscheinlich war das genau der Deal, sie zeigte ihre Beine, und ich zeigte ihr, was mir seit jeher das Allerpeinlichste war.

Dabei hatte ich nicht viel zu berichten, denn außer damals in den Bergen komponierte ich nicht, das Studium und der Job ließen keine Zeit. Bildete ich mir das ein, oder hing sie jetzt an meinen Lippen? Ein bisschen war es wie Sex, von ihr gehört zu werden. Oder wich ich der anstehenden Sexfrage so nur aus? Ich erwähnte meinen ersten Versuch eines Streichquartetts, erwähnte die Lieder, zwei, drei Arbeiten für Klavier, wie es angefangen hatte, denn angefangen hatte es mit sechzehn.

Alles erzählte ich ihr.

Als wir aufbrachen, war es früher Morgen. Ich meinte zu spüren, wie die Sache noch einmal Fahrt aufnahm. Eigentlich wollte ich ins Bett, doch so schnell schien sich die Spannung nicht auflösen zu lassen, und so wanderten wir eine Weile durch die Straßen, bevor wir uns gegen sechs neuerlich in ein Café setzten. Jetzt war ich doch sehr müde. Ich fühlte mich angespannt und getrieben, als müsse ich mir etwas einfallen lassen, das den entstandenen Intimitäten Rechnung trug. Es gab ein längeres Schweigen, das ich als unangenehm empfand. War sie mir nicht völlig fremd? Oder sollte ich einfach mit ihr gehen? Sie fragen, falls mir rechtzeitig einfiele, wie man eine derartige Frage stellte? Ich machte neuerlich Andeutungen über meine Lage, dass ich in Trennung lebte oder die Trennung gerade hinter mir hatte. Mein Leben sei derzeit ziemlich kompliziert. Manchmal weiß ich nicht aus und ein, sagte ich, vielleicht sollten wir uns nicht mehr treffen.

Sie stand sofort auf. Sah mich kalt und zornig an und ließ mich ohne ein Wort der Erklärung sitzen. Ich war so überrascht, dass ich vergaß, ihr etwas Beschwichtigendes hinterherzurufen, ich saß nur da und beobachtete, wie sie sich schnellen Schrittes entfernte und Richtung U-Bahn lief. Über dem weiten Platz lag die erste Morgensonne, und da ging sie nun, wie eine gekränkte Göttin. Ich war einigermaßen perplex, erschrocken über ihre Heftigkeit, zugleich erleichtert, als hätte ich mich in letzter Sekunde aus einer misslichen Lage befreit.

 

Ich versuchte zu schlafen und schrieb ihr zur Versöhnung eine Karte, nicht ohne zu wiederholen, in welcher Situation ich mich befand, mit absichtsvoll dunklen Formulierungen.

Ich hätte nicht mit ihr gehen sollen. Da ich mit ihr gegangen war, war so etwas wie eine Verpflichtung entstanden. In einem längeren Brief, den ich meiner Karte hinterherschickte, glaubte ich mich rechtfertigen zu müssen und bat sie um Entschuldigung. Und siehe da, als sie Tage später anrief, gab sie sich unverändert, wollte mich gerne sehen, für den Fall, dass ich das ebenfalls wolle, und mit einer neuen Freude, die die Rückseite meines schlechten Gewissens war, stimmte ich einem weiteren Treffen zu.

Wieder war sie es, die den Ort wählte, wieder saßen wir bis zum frühen Morgen. Der Zwischenfall lag gut eine Woche zurück. Ich wappnete mich für den Fall, dass sie darauf zurückkäme, doch nichts dergleichen geschah, sie war im Gegenteil still, beinahe schüchtern. Da sie zurückwich, rückte ich ein Stück vor. Ich beugte mich über den Tisch und küsste sie, in einer nachholend reuevollen Bewegung, die sie auf der Stelle aufnahm.

Es war mir peinlich, sie unter all den Leuten zu küssen, und es war egal, dass es peinlich war. Im Nachhinein kam es mir vor, als hätten wir kein einziges Wort gesprochen, aber das traf nicht zu, hin und wieder tauchten wir aus unseren Küssen auf, hin und wieder fiel uns etwas ein, das zu sagen wir bei früheren Gelegenheiten vergessen hatten. Mit den Küssen stand es in keiner Verbindung. Alles war schräg, dachte ich, der Ort, die Tatsache, dass ich hier war, diese Küsserei, die mir doch auch gefiel. Alles war Kuss, und alles war ein Verschleppen mit diesen Küssen. Draußen wurde es hell, wir saßen kurz auf den Stufen eines Drogeriemarkts, seltsam matt, als wäre das, was für heute möglich war, erledigt. Zumindest sah ich es so. Sie sagte nicht, wie sie die Dinge sah, sie wirkte ernüchtert, lief aber nicht wieder weg.

*

Den Grossteil des Sommers verbrachte ich bei meinen Eltern. Nach den Verwicklungen der letzten Monate war mir dort ausnahmsweise das meiste recht, die stupide Arbeit bei C&A, die Freunde von früher, denen ich mich allerdings kaum verständlich machen konnte, die Stunden in meiner alten Dachkammer, nach der Arbeit, wenn ich über mich nachdachte. Innerhalb weniger Tage wirkte das Hamburger Leben merkwürdig entrückt, als wäre es nur bedingt mein eigenes, ein vorübergehender Zustand, wie die Zimmer, die ich bewohnte, die mich umgebenden Gegenstände, die Frauen. Mein ganzes Leben fühlte sich provisorisch an. Wie eine Serie dummer Zufälle, mit den übelsten Folgen. Von meiner Freundin hatte ich mich mühevoll getrennt, es war ein Zufall, dass ich ihr begegnet war, es hätte nicht sein müssen. Musste irgendetwas sein?

Mit Julika wusste ich nicht. Eines Tages schickte sie eine Karte aus Marseille, auf der stand, dass sie an mich denke. Deine Julika, schrieb sie, obwohl sie letztens am Telefon erwähnt hatte, dass sie früher alle Jule genannt hatten. Seither nannte ich sie in Gedanken nur noch Jule. Aber eigentlich dachte ich kaum an sie. Es schien sich überwiegend um etwas Sexuelles zu handeln, mehr fern als nah, wie eine unerwartete Aussicht, die mich lockte und zugleich erschreckte.

 

Zurück in Hamburg, freute ich mich auf sie. Sie war weiterhin in Frankreich, wollte aber Ende der Woche zurück sein. Auf meinem Anrufbeantworter klang sie, als sei sie nur weggefahren, um die Zeit bis zu meiner Rückkehr zu überbrücken.

Seit die Freundin zu ihrer Schwester gezogen war, machte unsere Wohnung einen verlassenen Eindruck. Ich begann aufzuräumen, nur für den Fall, das ich Jule hier empfangen müsste, warf ein paar Zettel weg, auf denen mir die Freundin Aufträge hinterlassen hatte. Bis auf Kleinigkeiten hatte sie alles mitgenommen. Ich packte die letzten Bücher weg, ihre Fotos an der Kühlschranktür, verschiedenen Krimskrams, bis sie bloß noch ein Gespenst war.

Ihre Briefe überflog ich nur. Der eine war aus Rom und der andere aus Neapel, wo sie in sengender Hitze mit komplizierten Ausgrabungen beschäftigt war, in einer Gruppe Studenten, die mit unfassbarer Geduld winzigste Tonscherben vor irgendwelchen Baggern retteten und überlegten, ihre Doktorarbeit darüber zu schreiben. Im Großen und Ganzen schrieb sie so sprunghaft, wie sie von Anfang an geschrieben hatte, als wäre nichts weiter vorgefallen, ausführlich über ihre Arbeit, an einer Stelle von ihrem Kummer, warum sie es nicht glaube. Nach sieben Jahren kannst du einfach gehen? Für einen Moment hatte ich den Impuls, ihr rücksichtslos die Wahrheit über sie zu sagen, dabei war doch seit Langem alles gesagt.

 

Jule war erstaunlich braun geworden; ich glaubte, sie kaum wiederzuerkennen. Sie war schmaler als vor dem Sommer und hatte doppelt so viele Sommersprossen wie zuletzt. Sie lächelte. Warum küsste ich sie nicht? Ich küsste sie, aber wie aus großer Ferne, als seien die zurückliegenden Wochen eine Hürde, die erst mal übersprungen werde müsse.

Wir saßen im Garten eines Lokals an der Alster, es war angenehm warm, wir aßen eine Kleinigkeit. Jule erkundigte sich nach meinen Wochen bei den Eltern, aber vieles hatte ich ihr bereits geschrieben, das, was ich von mir sagen konnte, das meiste behielt ich für mich. Der Anfang war zäh. Ich bewegte mich einige Schritte zurück, begann aufs Neue mit der Freundin, in weniger wolkigen Formulierungen, wie wütend ich war, dass ich es so weit hatte kommen lassen. Ich beschrieb diverse Szenen der letzten Wochen, wobei ich kein Detail ausließ, denn die Details waren es ja, die in mir rumorten und deretwegen ich nicht zur Ruhe kam. Ich sagte, was zum Thema Sex zu sagen war, die unfassbare Kränkung, die in allem lag, der unwiederbringliche Verlust. Ich hatte meine besten Jahre vergeudet. Ich bereue es so sehr, sagte ich. Manchmal bestehe ich nur aus Reue. Ich glaube nicht mehr daran, wenngleich es bekanntlich eine schöne Sache sei.

Ich brauchte ewig lang, bis das heraus war, nach mehreren Anläufen, Verharmlosungen und Verkleidungen. Ich erwähnte meine Jugendliebe, mein erstes Mal, das unschuldig unkompliziert gewesen war, knapp zehn Jahre lag das zurück. Wirklich so lang? Die Frage war, warum ich es überhaupt erwähnte. An einem Septembernachmittag in meinem Zimmer. Nur damit Jule wusste, dass es nicht von Anfang an ein Albtraum gewesen war.

Ich sah Jule an. Nie hatte sie mir besser gefallen als gerade jetzt, in ihrem blauen Kleid, denn heute trug sie erstmals ein Kleid, hatte sich geschminkt, die Wangen, den Mund, nur gerade so viel, dass es das Vorhandene betonte.

Sie wirkte nachdenklich, sagte lange nichts. Ihre Antwort war, dass sie von ihren Männern sprach, die paar, die sie gehabt hatte. Ein paar immerhin schienen es gewesen zu sein. Sie ließ kein gutes Haar an ihnen, ohne genau zu sagen, was sie ihnen vorwarf. Augenscheinlich fühlte sie sich im Nachhinein benutzt. Waren das kurze Affären gewesen oder Liebhaber, mit denen sie Hoffnungen auf mehr verbunden hatte? Ich fand das bis zuletzt nicht heraus, fühlte mich bei diesem Thema nicht kompetent, ihr Kummer war ein anderer als meiner.

 

Drei Abende später ging ich mit zu ihr. Es fühlte sich noch immer falsch an, aber das spielte keine Rolle mehr, nach all den Bekenntnissen war es der nächste, folgerichtige Schritt. Noch auf den letzten Metern musste ich denken, dass es verrückt war und dass ich es eben deshalb tat. Außerdem war sie wieder in diesem Kleid, sie würde Erbarmen mit mir haben, falls es auf Erbarmen ankäme, sie würde mich, verdammt noch mal, von diesem Albtraum erlösen.

Einer der besten Momente war, als sie die Tür aufschloss. Sie öffnete die Tür zu ihrer Wohnung und sagte: Komm. Danach gab es einen kleinen Tumult, eine gewisse Verzögerung, die mit ihrem Kleid zu tun hatte, dass sie plötzlich nackt war, als hätte ich mit ihrer Nacktheit nicht gerechnet. Sie verhielt sich passiver als gedacht, dafür, dass wir bei ihr zu Hause waren, aber ich fand mich überraschend gut zurecht. Ich zitterte, aber ich fand mich zurecht. Zugleich jubelte ich. Hatte ich nicht allen Grund dazu? Ich schlief mit dieser Frau, die von allen Männern nur weggeworfen worden war, trotzdem wollte sie es ein weiteres Mal riskieren. Mit mir. Das hatte sie gesagt, mir ohne Worte mitgeteilt, als wäre es für sie selbst ein Wunder.

Ich hatte völlig vergessen, wie es war. Ich nahm die Dinge, wie sie kamen, Gerüche und Geräusche, den Hauch von Mühsal, der über allem lag, die Bedrängnis. Als ich meinen Samen aufsteigen spürte, lachte ich. Als hätte ich mich nie stärker gefühlt, auf eine neue Art potent, bereit, es auf der Stelle noch einmal zu tun, wieder und wieder.

Ich war ihr sehr dankbar und sagte ihr das auch. Ich strömte über vor Dankbarkeit. Sie hatte mich wiederhergestellt. Als Mann, als sexuelles Wesen. Ich hatte einen Körper, der sich gebrauchen ließ, ich hatte Muskeln, Blut, das mal hierhin, mal dahin raste, ich fühlte mich wieder als Teil der Welt. Ich könnte Bäume ausreißen, sagte ich, worauf sie eine Bemerkung zu meinen roten Haaren machte, denn ich hatte überall rote Haare und Sommersprossen wie sie.

 

Es fiel mir auf, dass ich sie danach nicht sonderlich vermisste. Ich sehnte mich nach ihrem Körper und beschäftigte mich mit den Bildern in meinem Kopf. Manches entdeckte ich erst im Nachhinein, als hätte ich bei ihr im Zimmer nur die Hälfte wahrgenommen, wie sie sich das Kleid über den Kopf zog, wie sie sich vor mir ausbreitete. An all das dachte ich, mit einem nicht nachlassenden Gefühl der Freude, das vor allem dem Moment der Penetration galt. Wahrscheinlich war das ja das Beste am Sex, dachte ich, dieser Moment, in dem man hineinkam. Oder war ich da ein Spezialfall, weil ich es so lange entbehrt hatte? Ich schrieb an meiner letzten Seminararbeit über Anton Webern und die Wiener Schule und hatte im Kopf tagelang die Bilder, als stünde ich bei ihr im Zimmer und könnte zusehen, wie wir es miteinander machten. Mehr brauchte ich nicht. Ich hatte diese Bilder und dachte gar nicht daran, dass man sie wiederholen konnte.

An der Arbeit saß ich bereits seit Monaten. Ich hätte sie längst abgeben müssen, aber ich wurde und wurde nicht fertig, obwohl ich von morgens bis abends schrieb und so selten wie möglich telefonierte, einmal länger mit der Freundin, die einen weiteren Brief ankündigte und aus einer Telefonzelle in der italienischen Provinz dunkel mit ihrem Selbstmord drohte. Sie war in düsterster Stimmung und redete von einem Ausschlag, überall am Körper habe sie rote Flecken, von denen ich nichts hören wollte, sprach wie aus heiterem Himmel über Sex, wollte mich besuchen. Sobald sie aus Italien zurück sei, besuche sie mich. Ich stelle es mir so schön vor, sagte sie, bitte gib mir eine Chance, wozu ich beharrlich schwieg.

Auch in ihrem Brief war von diesem Plan die Rede, auf die bekannt naive und verletzende Art, als könne sie bei aller Liebe nicht begreifen, warum ich so viel Aufhebens darum machte. Ich weiß, es ist dir wichtig, schrieb sie, womit sie nur bekräftigte, dass es für sie nicht die geringste Bedeutung hatte. Es graute mir vor ihr. Würde sie es wirklich wagen und vor der Tür stehen? Ich würde nicht aufmachen, nahm ich mir vor, so rührend ich ihre neue Bereitschaft auch fand.

Das war überhaupt das Schlimmste: dass sie mich weiter rührte, als wäre sie meine Schutzbefohlene, beinahe ein Kind, das zu verstoßen ich nicht das Recht hatte. In diesem Sinne hatte mir kürzlich ihr Vater geschrieben, in völliger Unkenntnis der Lage und als hätte ich nur die allerniedrigsten Gründe. Kannte er seine Tochter überhaupt? Ich bezweifelte das. Und trotzdem blieb ein schales Schuldgefühl, als hätte ich auf nichts und niemanden Rücksicht genommen.

In niedergedrückter Stimmung fuhr ich zu Jule. Ich rief sie vorher nicht an, sondern stand einfach vor der Tür, nicht ganz sicher, ob ihr das recht war. Sie gab sich überrascht, eher erfreut, obwohl und weil das nicht das übliche Verfahren war. Sie hatte ins Kino gehen wollen und fragte, was los sei. Willst du reden?

Ich berichtete kurz von dem Telefonat, der Arbeit, dass mir alles zu viel sei, worauf sie mir ein heißes Bad machte und meinte, danach werde man ja sehen, was sie sonst noch tun könne, um mich aufzuheitern.

Du Armer, sagte sie, so in einem Ton, den ich an ihr nicht kannte.

*

Zwei Wochen später rief sie an und teilte mir mit, dass sie schwanger sei. In meinem Kopf begann es sofort zu dröhnen, deshalb hatte ich Mühe mit den Einzelheiten. Dass sie nicht völlig sicher sei, aber alles dafürspreche. Sie habe mehrfach gerechnet und komme auf den Tag, an dem du weißt schon. O Mann, sagte sie. Bist du noch da? Worauf ich sagte, ja, ich bin da, obwohl ihre Stimme nicht zuverlässig zu mir durchdrang. Sie redete wie hinter einer Tür, dachte ich, erstaunt, wie gefasst sie klang.

Man wisse in diesen Angelegenheiten ja nie, sagte sie, mach dir keine Sorgen, ich war nur der Meinung, dass du es wissen solltest.

Sie fragte wieder, ob ich noch da sei, worauf ich nur erwiderte, dass ich nicht damit gerechnet hätte, die Nachricht sei ein Schock, aber gut, warten wir ab, mein Gott, danke, dass du es mir gesagt hast.

Die nächste Stunde lief ich durch die Wohnung, schüttelte den Kopf, weil ich es nicht für möglich hielt, für einen grausamen Witz, denn es war ja klar, dass es möglich war, wir hatten nicht verhütet.

Ich fühlte mich betrogen. Ich schlief seit Jahren zum ersten Mal mit einer Frau, und nun das. Ich fand, das hatte ich nicht verdient. Bitte lass es nicht sein. Ich war dumm, trotzdem ist es nicht fair, außerdem kenne ich sie ja kaum.

Je länger ich durch die Wohnung tigerte, desto schwerer nahm ich es. Schon gar nicht so leicht wie sie. Ich konnte nicht glauben, wie leicht sie es nahm. Oder tat sie nur so? Ich rief sie an, und tatsächlich klang sie jetzt vergleichsweise gedämpft, beinahe so besorgt wie ich. Wir verabredeten uns zu einem Spaziergang an der Elbe, weil wir da beide immer am liebsten gegangen waren. Früher konnte oder musste man ja noch nicht sagen, wenngleich das meine Stimmung war.

Auch am nächsten und übernächsten Tag trafen wir uns, und immer so weiter zwei Wochen lang. Ich übernachtete bei ihr, wir redeten, hatten Sex, aber es war nicht mehr dasselbe. An Arbeit war nicht zu denken. Ich saß nur herum, lag bis zum frühen Morgen wach oder stand mitten in der Nacht auf und malte mir mit Entsetzen meine Zukunft aus.

Ich hätte dringend mit jemandem reden müssen, nicht nur mit Jule, die weiter tapfer so tat, als wäre nichts, nur es fiel mir niemand ein. Ich meinte allmählich verrückt zu werden und schlief kaum mehr. Ich ging zu einem Arzt, der mich zu einer Beratungsstelle schickte. Der Psychologe hörte mich geduldig an und gab mir statt den erbetenen Schlaftabletten den Rat, mich vorübergehend aus dem Verkehr zu ziehen. Das Wort Klinik fiel. Man konnte zu einer Krise Nein sagen, man konnte aus ihr herausgehen, in einen geschützten Raum, um zu Kräften zu kommen, für eine gewisse Zeit.

Ein paar Tage dachte ich darüber nach. Wenn es nach Jule ging, hatte ich jede Freiheit, aber das nützte mir nicht viel. Stand es wirklich so schlimm um mich? Ich kämpfte mit meinem Stolz, ich kämpfte mit meiner Feigheit, denn am Ende war ich einfach zu feige, und demnach konnte mein Zustand so hoffnungslos nicht sein.

 

Je länger sich die Angelegenheit hinzog, desto zuversichtlicher wurden wir. Die Regel konnte sich verzögern, meinte Jule, die Gründe konnte man nicht aufzählen, so viele gab es, und tatsächlich rief sie eines Tages an und sagte, sie habe eine Blutung, es war falscher Alarm, sie sei nicht schwanger.

Wie beim ersten Mal konnte ich es kaum glauben, fast, als wäre es mir nicht recht, dabei war es meine Rettung. Wieder lief ich auf schnellstem Wege zu ihr, besorgte zur Feier des Tages Sekt, konnte mein Glück nicht fassen. Ich war noch einmal davongekommen. Ich hatte wieder eine Zukunft, alles war offen, im Grunde offener denn je. Worauf wartete ich? Ich war siebenundzwanzig, es wurde höchste Zeit, dass ich mein Studium beendete, ich wollte reisen, eine neue Wohnung musste her, alles so schnell wie möglich.

 

Zwei Wochen war ich voller Tatendrang, fand eine kleine Wohnung, schrieb Tag und Nacht an meiner Arbeit, manchmal genervt, dass sie dauernd anrief, am Vormittag, während ich in der Anlaufphase war und ihr selten genau zuhörte, zumal ich mit schlechten Nachrichten nicht mehr rechnete.

Ich wusste es, als ich ihre Stimme hörte. Jule?, sagte ich, wobei ja absehbar war, was jetzt käme und wie gleich alles über mir zusammenstürzen würde. Sie hatte einen Test gemacht. Zwei, um genau zu sein, beide positiv. Ich dachte: Warum auf einmal diese Tests? Als sei das eine Frage, die ich ihr unbedingt bald stellen müsse. Ich fuhr wie betäubt zu ihrer Wohnung, wo sie aber nicht bleiben wollte, sie wollte wie vor zwei Wochen an die Elbe.

Reden war schwierig. Die Alternativen waren nicht eben zahlreich und gleichermaßen grässlich. Ich fühlte mich überrumpelt und konnte nur sagen, dass es für mich nicht vorstellbar war, dass wir uns erst ein paar Wochen kannten, ich sei ja kaum bei Sinnen, und noch einmal: Unter diesen Umständen nicht.

Ihre einzige Reaktion bestand darin, dass sie meine Hand nahm, nicht enttäuscht, als habe sie damit gerechnet. Sie sehe es selbst nicht anders. Oder behauptete sie das bloß? Wir besprachen die nächsten Schritte, Besuch beim Frauenarzt, Beratungsstelle. Man brauchte einen Schein für den Eingriff. Sagte sie wirklich Eingriff? Ich sah die Schiffe an mir vorüberziehen, einen Öltanker, einen Schlepper mit Kohle, während ich da an ihrer Seite förmlich taumelte und versprach, sie zu allen Terminen zu begleiten.

Am Abend telefonierte ich mit meiner Schwester, denn sie war die Einzige, der ich von Jule erzählt hatte, deshalb kam mein Unglück für sie nicht aus dem Nichts. Sie zeigte sich bestürzt, voller Bedauern für mich und Jule, fragte, ob sie helfen könne, doch ich wusste beim besten Willen nicht, wie und wobei.

 

Der Eingriff – da wir uns auf die Formulierung nun einmal geeinigt hatten – war erstaunlich kurz. Nach einer knappen Stunde war es vorbei, hatte sie es hinter sich, äußerlich unverändert, wiederum sehr blass, etwas wackelig beim Gehen, aber ohne große Schmerzen. Sie hatte Tabletten für den Fall, merkwürdigerweise Hunger, weshalb ich ihr eine Kleinigkeit vom Bäcker brachte, später, als sie längst lag und nicht darüber reden wollte. War das dasselbe Bett, in dem ich mit ihr geschlafen hatte? Liegen sollte sie in den nächsten Tagen viel. Ich wusste nicht, was tun, und sah sie bekümmert an, wobei ich mich fragte, wessen Schuld das hier eigentlich war, meine oder vor allem ihre. Nach zwei, drei Stunden schickte sie mich fort. Sie wolle ein wenig schlafen, habe mich gerne hier, aber nicht jetzt.

Ich hatte kein Talent, bei ihr am Bett zu sitzen. Trotzdem machte ich mich die nächsten Tage mehrfach auf den Weg, wenn auch nicht so oft, wie sie es sich gewünscht hätte. Reden wollte sie weiter nicht. Sie machte mir keine Vorwürfe, schien nur alles zu erdulden, obwohl womöglich genau das der Vorwurf war. Sie hatte einen kleinen Schwarz-Weiß-Fernseher, in dem wir uns alte Filme anschauten und an einem Vormittag im Oktober die Beerdigung von Franz-Josef Strauß.

Ich bewegte mich ein bisschen weg von ihr in den folgenden Wochen, renovierte die neue Wohnung in Wilhelmsburg, packte, machte mit Freunden den Umzug. Jule zeigte sich erst am späten Nachmittag und lernte sie reihum kennen, und am Abend saßen sie alle in der fünfeckigen Küche mit der Dusche und beglückwünschten mich zu meinem neuen Leben. Es wurde spät, Jule blieb. Es war das erste Mal, das wir nicht bei ihr waren, und so glich es noch einmal einem Anfang, wenngleich ich an diesen Anfang nicht glaubte.

2

Wann immer jetzt das Telefon läutete, zuckte ich zusammen. In der Regel ließ ich es lange klingeln, versuchte zu erraten, wer es war, und ging in der Hälfte der Fälle nicht ran. Insbesondere die Telefonate mit der früheren Freundin hasste und fürchtete ich, in denen ich zum hundertsten Mal erklären musste, warum wir kein Paar mehr waren, in den immergleichen Formeln; dass es mir leidtat, dass ich nicht anders konnte. Dauernd fragte sie nach Jule. Ist sie bei dir? Und dann musste ich sagen: Nein, ich sitze am Schreibtisch, ich arbeite, ich versuche es zumindest.

Die Freundin sagte dauernd dasselbe. Wie schrecklich sie mich vermisse, dass sie es nicht begreife. Sie fühle sich hässlich. Seit ich sie verlassen hatte, sehe sie nur noch das Hässliche an sich. Habe ich nicht einen besonders hässlichen Mund? Du hast es nie gesagt, du hast mich geküsst, weißt du noch? Wie konntest du nur diesen Mund küssen!

Gelegentlich gab es Pausen, in diese Pausen hinein hätte ich sagen müssen, dass es nun genug sei, dass ich endgültig genug hatte, aber ich brachte es nie fertig, aus falschem Mitleid oder aus Feigheit, falls das nicht dasselbe war, warum zum Teufel geriet ich mit Frauen ständig in Situationen, in denen ich wider besseres Wissen nicht Nein sagte?

 

Ich sagte selten, was ich wollte, ich wusste gar nicht, wie das ging, und ließ die Dinge lieber treiben, auch mit Jule, die täglich anrief und berichtete, wie es ihr in der Schule ergangen war.

Über die Schule redeten wir ununterbrochen, ihr Referendariat, das weiterhin der reinste Horror war. Bis in den Traum führte Jule verbissene Kämpfe mit ihrer Klasse, brüllte sie minutenlang an oder stellte sich schweigend an eines der Fenster, in der Hoffnung, dass sie sich mit der Zeit beruhigten. Überall war lärmender Irrsinn, sie hatte Schwierigkeiten mit dem Einschlafen, machte autogenes Training und schluckte pflanzliche Präparate aus der Apotheke, die nicht halfen.

Auch Sex schien nicht zu helfen. Wir hatten Sex, aber nur noch unter optimalen Bedingungen, obwohl Sex, fand ich, solche Bedingungen ja erst herstellte. Wir probierten das eine oder andere aus, auch weil mir eines Tages aufgefallen war, dass sie mit der üblichen Praxis nicht zum Höhepunkt kam. Warum hatte sie mir das nie gesagt? Ich experimentierte ein wenig herum, was darauf hinauslief, dass sich die Dinge verkomplizierten. Jule brauchte viel Zeit, so mühselig das war, im Gegenzug machte sie neue Sachen mit mir, auf eine ergebene, arbeitsame Art.

 

Ich hatte seit dem Morgen die Quartette gehört. Die Musik klang noch in mir nach, deshalb folgte ich ihrem Bericht nur mit halbem Ohr, machte mir Notizen, blätterte in den Partituren. Sie fing in der zweiten Pause an, um sich dann langsam zur ersten Stunde vorzuarbeiten, in ihrem typisch mäandernden Stil, an den ich mich nicht gewöhnen konnte.

Heute klang sie vergnügt. Sie hatte ihre Klasse dazu gebracht, sich ein Chanson von Jacques Brel anzuhören. Sie hatte mit ihnen gesungen. Jule liebte französische Chansons, was mir, ehrlich gesagt, ein Rätsel war. Ich arbeitete an einer Dissertation über die Streichquartette von Schostakowitsch, und Jule beschäftigte sich mit diesen Liedchen!

Vor Wochen hatte ich ihr den Anfang von Lady Macbeth vorgespielt, den gesungenen Beischlaf, aber was sie hörte, war nur Lärm und Geschrei. Sie zeigte sich befremdet. Das also ist deine Musik, schien sie zu sagen, als könne sie nicht fassen, dass das in meinen Ohren Musik war. Gab es einen schlagenderen Beweis, dass wir nicht zusammenpassten? Wir hatten Sex, aber wir passten nicht zusammen. Vielleicht passten wir nicht mal beim Sex zusammen, ich hatte zu wenige Vergleichsmöglichkeiten.

Ich bin völlig kaputt, sagte sie.

In der Pause hatte ihr Fachlehrer einmal zustimmend genickt, was sie wieder an sich glauben ließ. In jeder Lehrprobe hatte er sie bislang heruntergemacht. Sie frage sich, was für ein Problem er eigentlich hatte. Ausgerechnet Lustig hieß der Mann, ein promovierter Romanist, der besser an der Universität geblieben wäre und natürlich keinen Funken Humor besaß. Gleich mehrfach hatte sie dieser Lustig komisch angeglotzt, als würde er ihr mitten im Lehrerzimmer die Kleider vom Leibe reißen, und in der nächsten Lehrprobe rächte sich der Idiot natürlich dafür.

In gut zwei Wochen war sie wieder dran. Jule hatte die Nase voll davon. Dauernd saßen Leute im Unterricht und gaben gute Tipps, die sich gegenseitig ausschlossen. Sie sollte mehr in Gruppen arbeiten. Sie sollte sich auch mal hinstellen und frontal den Stoff präsentieren. Ihr Medieneinsatz war geradezu vorbildlich, dann im Gegenteil übertrieben.

Sie fragte, ob ich zu ihr kommen wolle, sie könne eine Aufmunterung gebrauchen.

Es war mir nicht recht, ich hätte lieber weiter in den Partituren gegraben, dachte an ihren Mund, die Hände, was sie mit ihren Händen machte. Ich sah das Bett, das Zimmer, in dem das Bett stand, und sagte, gut, ich bin unterwegs.

 

Über die Abtreibung verloren wir nie wieder ein Wort. Ich dachte kaum daran, trotzdem hatte die Geschichte Spuren hinterlassen, es war der Anfang, und ohne diesen Anfang hätte sich unsere Beziehung womöglich längst in Luft aufgelöst.

Waren es wirklich nur die Nächte, die mich zu ihr zogen? Und was wollte eigentlich sie?

Wir sprachen viel über unsere Arbeit, gingen weiter ins Kino, ab und zu ins Konzert, redeten über Politik, über die Lage in der DDR, wie lange es die DDR wohl noch gäbe, wie verwirrend das alles war, wie überraschend, wie bedrohlich. Jule hatte jederzeit eine Meinung, das mochte ich an ihr. Sie war optimistisch, blickte lieber nach vorne als nach hinten, mit einem Hang zur Überrumpelung. Je länger sie mich kannte, desto sicherer meinte sie zu wissen, was richtig für mich war. Sie hatte mir geraten, zum Psychologen zu gehen, tröstete mich, wenn die Arbeit stockte, tröstete mich mit Sex, zweimal mit einem Essen, am Telefon mit ihrer Stimme, wenn sie sagte: Jule hier.

Ich mochte sie von Herzen. Sie war jung, ich liebte ihren Geruch, aber ich sah mich nicht an ihrer Seite. Als Mann. Ich war nicht bereit. Ich war für niemanden bereit. Ich traf mich aus schlechtem Gewissen weiter mit meiner Exfreundin, die von einem Neuanfang träumte, und versuchte mithilfe des Psychologen herauszufinden, warum ich mein Leben nicht in den Griff bekam. Ich wollte komponieren und komponierte nicht, ich traf mich mit zwei Frauen und wollte bei keiner von ihnen bleiben. Ich vertrödelte meine Zeit. Noch wenn ich darüber redete, vertrödelte ich sie. Ich wartete, ohne dass mir klar war, worauf.

 

Im Sommer lud ich sie einmal beide zum Essen ein. Ich war gerade mit dem Strawinsky fertig und wollte feiern, in kleiner Runde, sieben, acht Leute, die ich von heute auf morgen benachrichtigte. Ich kochte den halben Tag und dachte mir nicht viel dabei. Als Erste kam meine Schwester mit ihrem neuen Freund Marc, der aus Hamburg stammte, später Jule mit Christian sowie zwei, drei Kommilitonen, die ebenfalls an ihren Arbeiten saßen oder wie ich seit Kurzem fertig waren.

Als Letzte klingelte Katrin. Jule hatte nichts dazu gesagt, dass ich sie eingeladen hatte. Es war ihr erkennbar nicht recht, trotzdem gab sie sich viel Mühe mit ihr. Sie erkundigte sich nach der bevorstehenden Athenreise, redete von Paris, über das Reisen an sich, Vor- und Nachteile. Alles in der Küche. Bist du zum ersten Mal hier?, hörte ich Jule sagen, als wolle sie keinen Zweifel daran lassen, dass sie in dieser Wohnung ein und aus ging und selbstverständlich auch über Nacht blieb. Die Rechte an mir hatte jetzt sie. Ich sah, wie Katrin zuckte, als hätte Jule sie geschlagen, wozu ich ihr insgeheim gratulierte.

Danach ging alles erst mal gut. Ich erntete viel Lob für mein Huhn, die Gespräche liefen hin und her, die meisten über Musik, über das Studium im Allgemeinen, wie es bei uns allen weiterging. Ich redete mit Christian über seine erste Stelle als Geologe, später auch mit Katrin, der meine Wohnung nicht so fremd war, wie sie erwartet hatte. Im Grunde hätte ich alles nur kurz durchgeschüttelt, aber es waren dieselben Dinge, am Ende sei ja auch ich, ohne es zu wissen, derselbe geblieben.

Katrin hatte mein Essen kaum angerührt. Ich erzählte ein paar Anekdoten über Strawinsky, als ich plötzlich merkte, dass etwas nicht stimmte, etwas mit Jule, die plötzlich aufgestanden war und böse zu mir herübersah. Wollte sie etwa gehen? Ich sprang sofort auf und lief ihr wie ein Hündchen hinterher, durch den langen Flur zur Tür, fragte, was los sei, worauf sie erwiderte: Nichts.

Offenbar wollte sie allen Ernstes nach Hause. Noch im Treppenhaus versuchte ich sie aufzuhalten. Sie schüttelte den Kopf, bitte fass mich jetzt nicht an! Du bist wirklich ein Arschloch, zischte sie. Du und deine Freunde, ihr könnt mich alle mal. Mich siehst du so bald nicht wieder! Ich fragte: Aber warum? Worauf sie höhnisch erwiderte, dass ich das ja gerne mit meiner Freundin besprechen könne. Fick dich, hatte sie zum Abschluss gesagt, obwohl ich mir im Nachhinein nicht mehr ganz sicher war, dass sie das gesagt hatte, schon ein Stockwerk tiefer, in ihren vor Empörung klappernden Sandalen mit den goldenen Glöckchen.

Bei meiner Rückkehr schwiegen alle betreten und taten, als sei nichts weiter vorgefallen. Ruth und Christian sahen mich fragend an, Katrin dachte sich wahrscheinlich ihren Teil. Jules Auftritt hatte den Abend gründlich verdorben, obwohl ich mich auch fragte, was mein Anteil daran war. Hätte ich mich nicht mit Katrin unterhalten dürfen? Ich hatte Jule in der Küche nicht geküsst, ich hatte mich nicht neben sie gesetzt, es hatte sich nicht ergeben. Aber war das ein Grund? Was erwartete sie denn? Dass ich aufstand und sagte: Hier, das ist Jule, mit ihr werde ich mein Leben verbringen? Wobei ich es ja längst mit ihr verbrachte.

Am nächsten Morgen rief ich sie mehrfach an, aber sie ging beharrlich nicht ran. Entweder war belegt oder sie ging nicht ran. Sollte ich zu ihr fahren? Du lieber Himmel, sie war vierundzwanzig, wie konnte man bloß so empfindlich sein! Waren ihre früheren Beziehungen ebenso dramatisch abgelaufen?

Vielleicht war das ja das Ende, überlegte ich. Versuchte zu ermessen, wie ich das fände, ob ich mich davor fürchtete, in einem Anflug von Leere; vor der Leere allerdings fürchtete ich mich.

Am Abend endlich erreichte ich sie. Sie wirkte sehr kühl und nannte ihre Gründe. Ich hätte so getan, als sei sie irgendein Gast. Ich schlafe mit dir, also lasse ich mich nicht wie ein x-beliebiger Gast behandeln. So in etwa formulierte sie es. Ich hätte sie während des Essens kaum eines Blickes gewürdigt, und wenn, dann waren die Blicke leer, niemand hätte darin lesen können. Nach allem, was gewesen war, hatte ich nur leere Blicke für sie.

Von einer Entschuldigung ihrerseits kein Wort. Sie hatte mich Arschloch genannt. Fick dich. Wie hässlich sie im Treppenhaus gewesen war! Wahrscheinlich war ihr das Arschloch nur herausgerutscht. Aber es schien zu ihrem Repertoire zu gehören; wenn ihr etwas nicht passte, holte sie es raus und schleuderte es einem ins Gesicht.

Ich hätte mich besser kümmern müssen, gab ich zu. Ich hätte es allen recht machen wollen, wenn man es allen recht machen will, ist am Ende mindestens einer gekränkt. Es klang ein bisschen lahm, trotzdem gab sie sich damit zufrieden, sie lenkte ein, erklärte sich bereit, morgen mit zur großen Hafenrundfahrt zu kommen, denn meine Schwester wollte den Hamburger Hafen sehen.

Jule wirkte übernächtigt, als sie in letzter Minute auftauchte, weiterhin verstimmt, weshalb ich mir besonders viel Mühe mit ihr gab, sie wieder und wieder küsste, einmal ihre Hand, mit einem Anflug von Ironie, als sie über die wackelige Brücke das Schiff betrat, wie eine orientalische Königin. Am Nachmittag begann sie zu lächeln. Marc hatte auf dem Oberdeck ein paar versprengte DDR-Bürger entdeckt, sie deuteten aufgeregt in alle möglichen Richtungen und redeten in einen komischen Dialekt. Marc konnte nicht sagen, ob es Sächsisch oder Thüringisch war, er ahmte sie übertrieben nach, ihre aufgeregte Art, und da, endlich, begann sie zu lächeln. Später machte Ruth mit meiner Kamera Fotos, Jule und ich mit aneinandergelehnten Köpfen, wie ein richtiges Paar, anschließend mit Selbstauslöser wir vier zusammen. Auch nachher im Café machten wir reihum Fotos.

Als ich sie Wochen später entwickeln ließ, war ich überrascht, wie ausgelassen wir auf diesen Fotos wirkten. Jule anfangs mit einem Rest Ärger, mit halb geschlossenen Augen, als würde sie träumen, wobei ich nicht erkennen konnte, ob sie sich eher wegträumte oder allem zustimmte, hier mit mir und Ruth und Marc, für die sie sich nicht im Geringsten interessierte.

 

Ihre vierte Lehrprobe wurde ein voller Erfolg. Als es vorbei war, rief sie aus einer Telefonzelle an, mit einer seltsam hohen Stimme, die ich an ihr nicht kannte. Jule überschlug sich vor Erleichterung. Und jetzt Ferien, sagte sie. Ich habe es hinter mir! Ich bin so froh, dass ich es hinter mir habe!

Sogar die Direktorin war in der Klasse gewesen. Dr. Lustig hatte nur genickt, aber die Direktorin hatte ihr gratuliert, das formulierte Stundenziel sei mehr als erreicht. Jule agiere mitunter etwas manipulativ, lasse die Kinder zu wenig kommen, dass sie es als Lehrerin besser wisse, sei in der Unterrichtssituation ja nicht zu beweisen.