Die Form des Karate - Roman Westfehling - E-Book

Die Form des Karate E-Book

Roman Westfehling

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Beschreibung

Die traditionell überlieferten Formen des Karate, die Kata, enthalten sämtliche Facetten des Karatetrainings. Doch dieses Wissen wird nur dann umfassend zugänglich, wenn die Kata auf eine Weise analysiert werden, die das Weltbild der Menschen, die sie vor langer Zeit geschaffen haben, berücksichtigt, das heißt ihre religiösen Anschauungen, ihre Kenntnisse in traditioneller chinesischer Medizin, ihr Wissen über den Fluss des Ki (Qi) und vieles mehr. Auf der Grundlage von über 40 Jahren eigener Übungs- und Unterrichtspraxis sowie umfangreicher Forschungsarbeit gelingt es dem Autor, anhand zahlreicher praktischer Beispiele und origineller Analysen darzustellen, wie es möglich ist, die Kata so zu entschlüsseln, dass der Karateka daraus vielfältiges anwendbares Wissen gewinnen kann. Erst mit solchem Wissen kann Karate wieder zu der echten und hocheffektiven Kampfkunst werden, als die es einst geschaffen wurde. Das Werk beginnt mit Erläuterungen zu Aufbau und Struktur der Karate-Kata und zur potentiellen Wirkungsweise der enthaltenen Techniken; die Gesetze der Physik werden hierbei ebenso berücksichtigt wie alternativmedizische Modellbetrachtungen. Nach einer ausführlichen Darstellung der Entstehung und Geschichte der formellen Übung folgt ein systematischer Überblick über die meisten der heute geübten Kata. Im zweiten Teil wird ausführlich auf das Üben der Kata und deren Umsetzung im freien Kampf eingegangen. Dabei werden Grundtechnik und Partnertraining als Weiterführung der formellen Übung und nicht, wie sonst üblich, als von der Kata losgelöst angesehen. Bis ins Detail werden alle Aspekte behandelt, die im freien Kampf zu einer wirksamen – kampfentscheidenden – Aktion führen. Im dritten Teil werden einzelne für das heutige Karate besonders bedeutende Kata beschrieben und miteinander verglichen. Dies betrifft die fünf Pinan-Kata sowie die Kata Sanchin, Tenshō, Naifanchin und Bassai (Passai). Roman Westfehling, 5. Dan, möchte den Leser ermutigen, seine Sichtweise zu erweitern, immer wieder Altbekanntes in Frage zu stellen, damit er weiterkommt auf dem Weg der leeren Hand, dem Karate-dō. Dieses Buch richtet sich an jeden fortgeschrittenen Karateka – unabhängig von seiner Stilrichtung –, und auch dem interessierten Anfänger kann es als Wegweiser und Wegbegleiter dienen.

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Dr.Roman Westfehling

Die Form des Karate

Kata als umfassendes Übungskonzept

Der Verlag dankt Dr.Sven Hensel, Dr.Janett Kühnert und Norbert Wölfel vom Chemnitzer Karateverein für die fachliche Unterstützung bei der Redaktion.

Deutsche Erstausgabe

1. Auflage Juli 2015

© 2015 by Palisander Verlag, Chemnitz

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlaggestaltung: Anja Elstner

Lektorat: Frank Elstner

Redaktion & Layout: Palisander Verlag

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2017

ISBN 978-3-938305-87-4

www.palisander-verlag.de

Roman Westfehling

Der Autor

Dr. rer. nat. Roman Westfehling, gebürtiger Lübecker, studierte Chemie an der Universität Kiel und promovierte dort 1988.

Als Elfjähriger begann er mit dem Judō- und im Alter von fünfzehn Jahren mit dem Karate-Training. Schon früh lag im viel daran, den Fortschritt auf körperlicher Ebene mit profundem Hintergrundwissen zu bereichern, wozu insbesondere das Eindringen in die Geschichte und Kultur Japans sowie dessen der Sprache gehörte.

Als junger Sportler suchte er Unterweisung bei hochrangigen Experten. Durch Beziehungen seines Judō-Lehrers Holger Brückner gelang der Kontakt zu Sensei Fumio Demura. 1981 erfolgte der erste Besuch in dessen Dōjō in Kalifornien. Er betrieb zunächst weiter Shotokan-Karate unter Sensei Akio Nagai, bei dem er 1987 die Prüfung zum 3. Dan bestand.

1991 erfolgte der Stilwechsel zum Shitō-ryu verbunden mit einer erneuten Prüfung zum 1. Dan. Seit Ende der 70er Jahre praktiziert er Kobudō, u.a. bei dem seinerzeit sehr bekannten Dr.Georg Stiebler.

Nach wissenschaftlicher Mitarbeit an der Universität Kiel und der Klinik für Nuklearmedizin der Medizinischen Universität Lübeck widmete er sich der Naturheilkunde und Ganzheitsmedizin. Er wurde Heilpraktiker mit dem Hauptarbeitsgebiet Traditionelle Chinesische Medizin und absolvierte eine zweijährige Ausbildung im Stillen Qigong bei Meister Zhichang Li in München.

2010 bestand er vor den Sensei Demura und Sawabe den 5. Dan. Im selben Jahr erschien im Verlag Werner Kristkeitz sein erstes Buch über die spirituellen Aspekte der Karate-Praxis mit dem Titel »Karate als Budō«.

Weblog des Autors

Unter der folgenden Internetadresse veröffentlicht der Autor regelmäßig Beiträge und Videos, die in Bezug zu dem in diesem Buch angesprochenen Themenkreis und anderen Aspekten des Budō stehen:

https://romanwestfehling.wordpress.com/​author/​romanwestfehling/

Danksagung des Autors

Bei der Erstellung dieses Buches haben mir meine Freunde und Trainingskameraden Andreas Plöger und Frank Holderbaum besonders geholfen. Andreas, weil er dazu beitrug, das im Text Beschriebene bildlich darzustellen, indem er für die Aufnahmen seinen Übungsraum sowie sich selbst zur Verfügung stellte. Frank hat mit seiner professionellen Erfahrung für eine herausragende Qualität der Fotos gesorgt. Beiden möchte ich hiermit für ihre Mühe und den nicht unerheblichen Zeitaufwand danken.

Mein Dank gilt auch meiner Übungs- und Lebenspartnerin Dolores Meléndez für ihre inspirierende und motivierende Unterstützung.

Frau Dr.Gabriele Förster schulde ich Dank für die Geduld bei der sicher nicht selten mühevollen Durchsicht und Korrektur des Manuskripts.

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Impressum

Der Autor

Vorwort

Teil I – Vom Wert der formellen Übung

1. Einleitung

2. Wissen was man tut

2.1. Kampfkunst gleich Budō? – Versuch einer Annäherung

2.2. Warum wir Kata üben

3. Das Kämpfen als Kunst

3.1. Ursprünge

3.2. Zielsetzungen

3.3. Quellen der Wirksamkeit

3.4. Ökonomie als Maxime der Kampfkunst

3.5. Wurzeln und Entwicklung der Kata in China

3.6. Die Form in der Kampfkunst

4. Aufbau und Struktur der Karate-Kata

4.1. Die Schichten der formellen Übung

4.2. Waza – die wirksame Technik

4.2.1. Von der Heilung zur Kampfmethode

4.2.2. Präzision statt Krafteinwirkung

4.2.3. Kategorien der Karate-Technik

4.3. Kamae – die besondere Haltung

4.4. Enbu-sen – Bewegung in Mustern

4.5. Die Kata als Ganzes

4.6. Anwendungen

5. Zur Geschichte der Kata Okinawas

5.1. Von China nach Okinawa

5.2. Kampfstile auf Okinawa

5.3. Stilrichtungen und Ryūha

6. Die Karate-Kata im Überblick

6.1. Kategorien und Namen der Kata

6.2. Gruppen von Kata

Teil II – Von der Praxis – zwischen Form und Anwendung

7. Kamae-kata – die Formen der Haltung

7.1. Körperhaltungen

7.2. Die Wirbelsäule

7.3. Fußstellungen

7.4. Armhaltungen, Qi-Fluss und Kamae

7.5. Handhaltungen

7.6. Fußhaltungen

8. Bewegungen

8.1. Bewegungsarten

8.2. Drehungen und Wendungen

8.3. Lineare Schrittfolgen

9. Waza – Techniken und deren Ausführung

9.1. Statik und Dynamik

9.2. Harte Techniken

9.3. Weiche Techniken

9.4. Versteckte Techniken

9.5.Fußtechniken

9.6. Kime

10. Die Gesamtaktion

10.1. Eröffnungen und Abschluss

10.2. Rhythmus und Takt

10.3. Atmung und Körperspannung

10.4. Der Kiai

10.5. Der respektvolle Gruß

10.6. Übungsrichtlinien

11. Die Kata nutzbar machen

11.1. Das Geübte wirksam werden lassen

11.2. Probleme der Auslegung

11.3. Vom Wert des Bunkai

11.4. Standardanwendungen und ihre möglichen Irrtümer

11.5. Henka-oyo – Das Prinzip des Wandels

11.6. Von der Analyse zur Routine

Teil III – Besondere Kata

12. Die Pinan-Kata und ihre (wahre) Bedeutung

12.1. Geschichte der Pinan-Kata

12.2. Relation der Pinan mit den Klassikern

12.3. Itosus Einfluss auf das Karate von heute

13. Heishu-Kata: Sanchin, Tenshō, Naifanchin

13.1. Drei Kämpfe

13.2. Rollende Hände

13.3. Mysterium Naifanchin

14. Passai – Bassai

14.1. Herkunft und Entwicklung der Kata Passai

14.2. Aufbau und Inhalt – die Versionen im Vergleich

Teil IV – Schlussbetrachtungen

15. Rückschau und Ausblick

15.1. Das Ergründen der Form

15.2. Das Überwinden der Form

Nachwort

Anhang

Glossar

Literaturverzeichnis

Weitere Titel

Anmerkungen

Vorwort

Zu Beginn des Buches »Der kleine Prinz« von Antoine de Saint-Exupéry gibt es eine Kinderzeichnung, in der eine Riesenboa zu sehen ist, die einen Elefanten verschluckt hat. So, wie den Erwachsenen, die hier statt der Boa nur einen Hut sehen, bleibt auch uns das Offenbare häufig verborgen, weil unser Blick verstellt ist durch voreingenommenes Wissen und festgefügte Meinungen.

Nach den vielen Jahren meines mehr oder minder intensiven Studiums der Kampfkünste stellte ich – nicht ganz ohne Erstaunen – fest, dass mittlerweile sehr viel zu den verschiedensten Aspekten der Karate-Praxis geschrieben wurde, es aber zumindest in der deutschsprachigen Literatur nur wenig über das Wesen seiner Kata zu lesen gibt.

Um den Wert der Karate-Kata wirklich schätzen und von ihrer Übung maximal profitieren zu können, bedarf es besonderer Informationen. Ich habe versucht, diese möglichst vollständig zusammenzutragen und näher zu erläutern. Es handelt sich dabei um Gesichtspunkte, die zwar nicht gänzlich unbekannt sind, häufig aber als Randwissen betrachtet werden, obwohl sie notwendig sind, um die Essenz der Kampfkunst zu erfassen.

Bei dieser Essenz handelt es sich um das Wissen von Meistern der Vergangenheit, gleichsam um den Schatz ihrer Erfahrungen aus zahlreichen Kämpfen, aus Unterricht und spiritueller Praxis, welche über viele Generationen weitergegeben wurden.

Die Kata geht über den reinen Formalismus, den es zunächst zu beherrschen gilt, in vieler Hinsicht weit hinaus. Ihre umfassenden Zielsetzungen und Grundlagen sind Inhalt dieses Buches. Ich möchte einen Einblick geben in das, was das Üben der Karate-Kata uns bieten kann, und ich möchte aufzeigen, wo die Schwierigkeiten des Lernens und Verstehens liegen und wie diese bewältigt werden können. Und vor allem will ich deutlich werden lassen, wie die Praxis der Karate-Kata uns hinführen kann zu einer effektiven Form der Selbstverteidigung und darüber hinaus zu einem spirituellen Weg im Sinne des Budō.

Jedoch handelt es sich nicht um ein Lehrbuch über Kata. Ihre Besonderheiten, die über das ästhetische Bild hinausgehen, können letztendlich nur in direkter Unterweisung vermittelt werden. Andererseits haben sich im Laufe meiner Trainertätigkeit bestimmte Fragestellungen derart oft wiederholt, dass ich glaube, wagen zu können, die Antworten in verallgemeinernden Worten schriftlich wiederzugeben.

Aus der eigenen Übungspraxis und aus unzähligen Beobachtungen beim Unterrichten ist ein Werk entstanden, das – so hoffe ich – vielen Karateka helfen wird, ihren Blickwinkel zu erweitern. Denn erst mit einem Blick, der jenseits des unmittelbar Erkennbaren dringt, der vermeintlich sicheres Wissen hinterfragt, kann ihr Karate nach und nach wirklich zum Dō werden.

Teil I Vom Wert der formellen Übung

1. Einleitung

Die Künste des Kampfes sind mittlerweile Bestandteil der modernen Kultur, in Film und Fernsehen ebenso präsent wie in der Werbung. Wussten zu Beginn des 20. Jahrhunderts nur wenige um ihre Existenz, so kam nach dem Zweiten Weltkrieg neben Jūdō, Aikidō, Kendō und anderen auch das Karate zuerst in die USA und dann nach Europa.

Anfangs noch als mysteriöse Methode tödlicher Schläge beargwöhnt, wandelte sich das Image des Karate nach und nach – von der Kampfkunst hin zum Sport und zu einer Methode der Gesundheitsförderung. Auch verstand man bald, dass die außerordentlichen Fähigkeiten der Karatekämpfer nicht ohne hartes und entbehrungsreiches Training erreicht werden konnten. Dabei fiel die Aufmerksamkeit der Kampfkunst-Interessierten auch auf ein ganz besonderes Konzept der Unterweisung: die Form, japanisch Kata. Wohl ist formales Üben auch in unserem Kulturkreis seit alters her die Basis einer jeden Ausbildung. Doch ein Training in Gestalt einer abstrahierten Übung, bei welcher der wahre Sinn des Handelns nicht klar ersichtlich ist, scheint eher typisch für den Fernen Osten zu sein1.

Allen, die schon länger eine Kampfkunst betreiben, erscheint Kata als etwas ganz Selbstverständliches. Kata werden bei Graduierungsprüfungen und auf Meisterschaften präsentiert. Sie dienen der Einstufung des Übenden, dem Beurteilen seines Fortschritts und seines Könnens. In fast allen Kampfkünsten asiatischen Ursprungs finden sich Kata, in der Regel als zentrale Form des Übens.

Für den westlichen Anfänger erweist sich der Zugang zu einer solchen Form der Übung jedoch mitunter als schwierig. Zwar wird auch in unserer Unterrichtstradition betont, dass nur häufiges Wiederholen zu hoher technischer Fertigkeit führt. Doch strebt man dabei danach, den für dieses »notwendige Übel« nötigen Zeitraum möglichst zu reduzieren. Darum verstehen viele Übende, besonders Anfänger, nicht, warum sie sich weiter mit einer bestimmten Form oder Kata beschäftigen sollen, obwohl sie ihren Inhalt doch bereits erfasst zu haben glauben. Frei nach dem Motto: Was ich kann, muss ich nicht mehr üben.

Fragt man einmal nach, worum es sich bei der Kata2 handelt, so bekommt man ein breites Spektrum an Antworten. Von einer Art Pflichtprogramm im Gegensatz zur »Kür«, dem freien Kampf, war früher die Rede, oder auch von der »Grammatik des Karate«. Als ich Anfang der 1970er Jahre mit dem Training anfing, galt Kata noch als eigentlich wenig wertvolles Beiwerk für die Gürtelprüfung, als etwas, das mit dem Kämpfen wenig zu tun hatte. Später erfuhr ich dann, dass gerade japanische Instruktoren das Studium der Kata als weitaus wichtiger erachteten als jeden Freikampf und alle andere harte Übungsarbeit.

Im ersten Teil des vorliegenden Buch versuche ich darzulegen, warum die Kata von so großer Bedeutung für die Kampfkunst ist. Dabei werde ich auch auf Besonderheiten der chinesisch-japanischen Kultur eingehen. Um ein tieferes Verständnis für die Kata zu erlangen, wird es nötig sein, sich der Denkweise der Menschen früherer Generationen anzunähern, um so zu verstehen, wie die Meister selbst zur Kata standen und wie sie mit ihr beziehungsweise der Kampfkunst insgesamt umgingen. Anschließend beschäftige ich mich mit der Frage, welche Bedeutung die Kata als zentrale Übung unserer Kampfkunst für uns Europäer hat – oder haben kann. Dabei betrachte ich die Schichten der Übung, das heißt die unterschiedlichen Facetten der Kata als zentrales Ausbildungskonzept für die Kampfkunst, und versuche abschließend eine Übersicht über die verschiedenen Kategorien von Kata zu erstellen.

Im zweiten Teil geht es dann um die Praxis, also um technische Details und Methoden der Übung. Im dritten Teil stelle ich einige für das Karate besonders bedeutsame Kata vor, um im vierten und letzten Teil schließlich zu begründen, worin der Wert der Kata für die Kampfkunst besonders im Hinblick auf ihre spirituelle Praxis besteht.

2. Wissen, was man tut

2.1. Kampfkunst gleich Budō? – Versuch einer Annäherung

Im heute allgemein praktizierten Karate japanischen Ursprungs findet sich eine recht praktische Dreiteilung des Unterrichtsstoffs wieder – Kihon, Kumite und Kata. Unter Kihon und Kumite kann sich der Anfänger leicht etwas vorstellen, sobald er die jeweilige Übertragung ins Deutsche, nämlich »Basisprogramm« und »Partnerübung«, vernimmt. Wird dann Kata (richtigerweise) als »Form« übersetzt, hört das intuitive Verständnis zunächst einmal auf, zumal sich auch Senpai und Sensei3 schwer tun mit einer einfachen Erklärung.

Den Begriff Kata in wenigen Worten zu erklären, ist tatsächlich nicht einfach – ein Grund für mich, dieses Buch zu schreiben. Wer Karate praktiziert, lernt, sofern er sich öffnet, immer wieder etwas hinzu, auch was den Bereich Kata betrifft, so dass letzterer immer komplexer und tiefgründiger erscheint. Auch mir stellte sich die Kata über lange Zeit – wohl auch beeinflusst durch Kinoproduktionen aus Hong-Kong in den 1970er und 1980er Jahren – als ein symbolischer Kampf gegen mehrere Gegner dar, genau so, wie dies auch heute noch von vielen Karateka aufgefasst wird. Erst viel später entdeckte ich andere Gesichtspunkte, gleichsam Botschaften der jeweiligen Schöpfer oder Übermittler einer Kata, die sich dem Übenden erst allmählich, und ohne Hilfe mitunter nur schwer oder gar nicht offenbaren.

Sicher ist es unwahrscheinlich, dass jemand allein durch das Üben von Kata eine so außergewöhnliche Kampfkraft erlangt, dass es ihm möglich wäre, es gleich mit einer Vielzahl Gegner aufzunehmen. Mit einem einzelnen hat man ja meist schon genug zu tun. Diesen dahin zu bringen, dass er den Kampf beenden muss, ist Ziel unserer Kampfkunst.

Es erscheint mir wichtig, dass man begreift, dass nicht jede (japanische) Kampfkunst automatisch als Budō zu verstehen ist. In der Kampfkunst geht es darum, einen Kampf auf effektive Weise für sich zu entscheiden. Dabei spielt der ökonomische Aspekt eine wichtige Rolle: Der Gegner soll mit möglichst geringem physischen Aufwand oder auch auf besonders elegante Weise bezwungen werden. Budō indessen geht über dieses Ziel weit hinaus.

Die Schriftzeichen für Budō bedeuten dō – »Weg« – und bu – »Beendigung eines Konfliktes« oder »Beendigung eines Kampfes«. Hier geht es nicht unbedingt darum, den Gegner technisch zu besiegen, ihn gar zu töten. Im Gegenteil: Durch technisch-geistige Überlegenheit soll der Gegner noch vor der physischen Auseinandersetzung, also dem sichtbaren Kampfgeschehen, derart beeinflusst werden, dass die folgende Aktion nur noch dazu dient, seine Niederlage sichtbar werden zu lassen. Budō kann somit auch als »Weg der Konfliktlösung« übersetzt werden.

Kenji Tokitsu (siehe Literaturverzeichnis) erklärte, dass bei einem Sieg im Sinne des Budō eine subtile Einflussnahme auf das Ki des Gegners erfolgt, dessen Aufmerksamkeit hierdurch kurzzeitig getrübt wird und der dadurch zu keiner wirksamen Reaktion auf den nun folgenden Angriff fähig ist. Während in der Kampfkunst (und mehr noch im Sport) das technische Können über den Sieg entscheidet, findet die Auseinandersetzung und damit die Entscheidung über Sieg und Niederlage beim Budō auf energetisch-geistiger Ebene statt.

Kennzeichen des Budō als »Weg-Praktik«4 ist auch der nach innen gerichtete Prozess beim Übenden, der durch bewusste Aktivierung und Kultivierung des Ki stattfindet. Empfindungen positiver und negativer Art werden verstärkt wahrgenommen. Durch positives Streben hin zu einer nahezu perfekten Technik kommt es mit der Zeit zu einer inneren Genugtuung, wodurch negative Ambitionen sich mit der Zeit auflösen. Auf der anderen Seite wirken Gefühlsregungen wie Hass, Zorn oder Neid negativ auf die Zirkulation des Ki.

Beim Ki handelt es sich um ein feinstoffliches, allgegenwärtiges Fluidum, das uns am Leben erhält, sich in und um uns bewegt und so die Kommunikation zwischen Individuen ermöglicht (siehe auch Kapitel 3.3). In Japan benutzt man das Wort, um emotionale und mentale Vorgänge zu umschreiben. Eine Störung der Ki-Zirkulation führt zu subtilem Unwohlsein und lässt die Technik schlechter, mit anderen Worten weniger effektiv werden, was dann letztlich weniger befriedigt. So reift beim Übenden mit der Zeit durch intuitive Einsicht eine innere Moral, die ihn emotional stabiler macht. Er wird weniger leicht von den Wogen der Gefühle mitgerissen, wird beherrschter und somit letztlich zu einem besseren Menschen. Aus der teils unbewussten Erkenntnis, dass keinem Kampf ein wirklicher Wert innewohnt, lässt er von vornherein von ihm ab. Mehr noch: Der Eindruck überlegener Stärke, den ein Meister des Budō überall hinterlässt, nimmt potentiellen Aggressoren schnell den Mut zum Angriff.

Der chinesische Philosoph Zhuangzi5 kommentiert dies in jener Geschichte, in der ein König seinen Kampfhahn von einem besonderen Trainer ausbilden lässt. Auf mehrfaches Nachfragen des Königs entgegnet der Trainer immer wieder hinhaltend, der Hahn sei noch nicht bereit. Anfangs ist er noch voller Streitsucht und Hochmut, dann zu schreckhaft, später hat er immer noch einen zu zornigen Blick und ist voller Kampfeslust. Erst nach geraumer Zeit ist der Trainer mit dem Ergebnis der Ausbildung des Hahns zufrieden: Das Krähen anderer Hähne lässt diesen völlig unberührt. Er ist ausdruckslos wie ein Stück Holz. Sein Charakter ist jetzt »ganz«, also perfekt. Kein anderer Hahn würde es nunmehr wagen, gegen ihn anzutreten, alle würden sie schon allein bei seinem Anblick davonlaufen (Zhuang Zi, siehe Literaturverzeichnis).

Gründe, eine Kampfkunst zu betreiben, gibt es viele, diese müssen zu Beginn aber nicht unbedingt besonders »ehrenhaft« sein. Wer mit dem Karate beginnt, hegt selten den Wunsch, eine Kunst zu erlernen. Den meisten geht es vielmehr darum, sich eine effektive Methode der Selbstverteidigung anzueignen. Die edlen Werte der japanischen Bushi oder mögliche spirituelle Ziele sind beim Einstieg ins Karate-Training noch eher unbekannt. Als Übender hört man davon im Laufe der Praxis und dies oft auch nur am Rande. Den einen interessiert das mehr, den anderen weniger. Viele wollen auch einfach nur etwas für ihre Gesundheit, Figur oder Fitness tun. Nicht selten kommt dazu eine Faszination für das Asiatische, gepaart mit einem Hauch Esoterik.

Ob die Wahl auf Karate fällt, hängt von vielerlei Faktoren ab. Ein Freund betreibt es bereits, oder das nächstbeste Angebot ist der Verein um die Ecke. Man verzeihe mir an dieser Stelle diese etwas profane Beschreibung, aber die Erfahrung zeigt doch nur allzu häufig, dass Entscheidungen, die das spätere Leben grundlegend beeinflussen, nur selten das Produkt reiflicher Überlegung sind.

Unter den Motiven, Karate zu lernen, steht wohl an erster Stelle der Wunsch nach Sicherheit. Sich im Fall der Fälle »selbst« verteidigen zu können, ist ein nachvollziehbarer Wunsch. Diesen zu verwirklichen, erscheint auch zunächst nicht allzu schwer. Es gibt vielfältige Angebote, die mitunter suggerieren, nach dem Erlernen der richtigen Griffe und Schläge sei man gegen jeden möglichen Angriff gewappnet. Doch merkt man beim Üben bald, dass, bedingt durch eigene Unzulänglichkeiten wie scheinbar fehlendes Talent, die erwünschte Kampfkraft in immer weitere Ferne rückt.

Jede Grundtechnik erweist sich als schwierig, nie ist der Trainer zufrieden. Sobald man mit einem Partner übt, kommen noch Probleme der Koordination zweier Individuen hinzu, und so manche Fehlreaktion endet schmerzhaft. Und erst die Kata! Bis man endlich begriffen hat, wann man sich in welche Richtung drehen soll, wird die eigene Geduld auf eine harte Probe gestellt. Und das soll nun gut sein für die Selbstverteidigung? Die ersten Zweifel kommen.

Junge Leute haben es da etwas leichter. Sie lernen schnell und finden in der Aussicht auf Siege bei Turnieren eine Ersatzmotivation. In der Kampfkunst geht es aber nicht um Auszeichnungen. Sich mit anderen auf Meisterschaften zu vergleichen, ist allenfalls eine gute Schulung für Durchhaltevermögen und Disziplin. Da es in einem echten Kampf aber kaum Regeln gibt, können Meisterschaften nur begrenzt zeigen, wie weit die kampftechnischen Fähigkeiten eines Karateka entwickelt sind.

Es wird gern argumentiert, dass Kampfkunst den Übenden weniger aggressiv werden lässt. Auf den ersten Blick erscheint das wenig einleuchtend, schließlich werden hier Techniken gelehrt, mit denen anderen Menschen Schaden zugefügt werden kann. Die Praxis der Kampfkunst setzt jedoch voraus, dass mit der Entwicklung der technischen Fertigkeiten des Übenden – und mit der zunehmenden Gefährlichkeit seiner Techniken – auch seine Fähigkeit wachsen muss, diese zu kontrollieren, um sich selbst und seine Partner nicht zu verletzen oder von ihnen verletzt zu werden.

Zudem erwächst über die Jahre intensiven Trainings von innen heraus ein gesunder Zweifel, zunächst an einer möglicherweise sich selbst zugestandenen Berechtigung zum Missbrauch der Techniken einer Kampfkunst, später dann auch am Sinn eines physischen Kampfes, wodurch sich der Übende allmählich von der Kunst hin zur spirituellen Praxis, dem Budō, orientiert (Kenji Tokitsu, siehe Literaturverzeichnis). Letztlich bewirkt jede intensive körperliche Betätigung den Abbau von Stresshormonen, und man wird insgesamt ruhiger und weniger anfällig für Streitereien. Kampfkunst zu betreiben hat also durchaus sein Gutes. Nur, auf das »wie« kommt es an.

2.2. Warum wir Kata üben

Für die Praxis der Kampfkunst hat sich besonders in neuerer Zeit die schon erwähnte Dreiteilung in Form, Grundtechnik und Partnerübung bewährt, wobei der Kata nach wie vor die zentrale Bedeutung zukommt. Denn für die im Rahmen der Kampfkunst gesetzte Zielsetzung, das sichere Besiegen eines Aggressors, wird uns durch die Kata ein großer Teil des dazu nötigen technischen Könnens vermittelt, ebenso wie energetische Fähigkeiten bis hin zu spiritueller Erkenntnis. Im Laufe der verschiedenen Kapitel dieses Buches möchte ich versuchen, dies alles zu erläutern.

Kata beinhaltet weit mehr als nur das Einschleifen von Routinen, durch die man bestimmte Handlungen bis zur scheinbaren Perfektion beherrschen will, in unserem Fall die Verteidigung gegen einen uns übelwollenden Angreifer. In den Kata des Karate steckt noch mehr. Richtig betrieben, enthält die Kata alle Facetten, die Karate von einer profanen Methode des Kämpfens unterscheiden und es letztlich zum Budō werden lassen.

Wenn Kata ein Medium zur Verwirklichung des Budō werden soll, dann reicht es natürlich nicht aus, gerade eben ihren vorgeschriebenen Bewegungsablauf ausführen zu können. Nicht nur, damit sich die genannten inneren Prozesse einstellen können, sondern auch für die optimale Schulung unserer kampftechnischen Fähigkeiten ist ein vertiefendes Üben auf mehreren Ebenen notwendig.

Bei dieser Vertiefung gilt es, über das stumpfe Aneinanderreihen von Abwehr- und Angriffstechniken hinauszukommen. Klar ist, dass man sich unter den Bewegungen etwas vorstellen können sollte. Was aber so einfach scheint, erweist sich in der Praxis als heikle Angelegenheit. Eine große Zahl der Techniken, die wir in den Kata üben, finden wir im Programm des Kihon wieder, und man erliegt leicht dem Trugschluss, dass unsere Kata aus ebendiesen Grundtechniken analog den Bestandteilen eines Baukastens zusammengesetzt wären.

Dadurch, dass viele dieser Bewegungen wohldefinierte Namen haben, werden die Möglichkeiten ihrer späteren Anwendung zusätzlich eingeschränkt. Wird zum Beispiel eine Bewegung als Yoko-uke, also als »Seitwärtsabwehr«, bezeichnet, so blenden wir unbewusst alternative Anwendung aus. Vielen ist gar nicht bekannt, dass die Bezeichnungen unserer Grundtechniken noch gar nicht so alt sind. In den 1920er und 1930er Jahren wurden im Rahmen der Strukturierung des Karate als Sport und Budō an Japans Hochschulen den Techniken die Namen gegeben, die für die damaligen Karateka sinnvoll waren. Aus heutiger Sicht ist aber zumindest ein Teil jener Nomenklatur fragwürdig geworden (siehe Kapitel 11.4).

Vor der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert war es unüblich, die Bewegungen des Karate mit Namen zu bezeichnen. Mehr noch: Nicht einmal Erklärungen zu ihrem Ablauf wurden gegeben. Mit dieser »Didaktik« des alten China wollte man erreichen, dass das Wissen des Meisters um die Komplexität des Kampfes möglichst nonverbal übertragen wurde. Man war überzeugt, dass es weite Bereiche der persönlichen Erfahrung gibt, die eben nicht durch Worte erfasst werden können oder durch solche ihren Sinn verlieren würden. Auch sollte die Intuition des Schülers gefördert werden, eine Fähigkeit, die ihm vielleicht in einem realen Kampf einmal das Leben retten konnte.

Anders als zu jener Zeit wurde mit Beginn des 20. Jahrhunderts das Karate (wie andere Kampfkünste Japans auch) einer breiteren Zahl von Schülern zugänglich, weshalb der Unterrichtsstil sich zwangsläufig ändern musste. Das Training in großen Gruppen wurde durch die lautstarken Anweisungen eines Trainers ermöglicht, dafür mussten die Techniken Namen bekommen. Die Kenntnisse und das Verständnis des Karate seitens der damaligen Namensgeber waren aber noch vergleichsweise gering. Und besonders unsere »höheren« Kata weisen eine recht große Zahl von Bewegungen auf, für die es bis heute keine Bezeichnungen gibt und deren Sinn, zumindest aus meiner Sicht, nur unzureichend erklärt wird (Kapitel 11).

Ein Ausweg aus diesem Dilemma liegt darin, eine veränderte Grundeinstellung gegenüber der vermeintlich vorhandenen Wahrheit einzunehmen – was uns Europäern jedoch nicht immer leicht fällt. Der chinesischen und auch der japanischen, vom Daoismus geprägten Denkweise ist Eindeutigkeit fremd. Alle Erscheinungen des menschlichen Daseins und der Welt gelten als relativ im Sinne eines Sowohl-als-auch. Für uns heißt das: Wir müssen den Wunsch nach Eindeutigkeit aufgeben. Eine Bewegung, die wir einst als Abwehr erlernten, kann in unserer Vorstellung später zum Angriff werden. Das Gefühl während des Übens ist dann ein anderes. Und selbst der gedachte Angriff oder die gedachte Abwehr unterliegt einer Art Evolution, so dass im Laufe der Jahre die Vorstellung über die Anwendbarkeit einer Technik sehr komplex werden kann. So wächst die geistige Flexibilität und damit die Fähigkeit zu kämpfen, was durch das Studium der Kata ja erreicht werden soll. Es empfiehlt sich darum dringend, sich von dem »so ist es« zu verabschieden und zu einem »könnte so, aber auch anders sein« zu gelangen.

Auch Basistraining im heutigen Sinne gab es vor Beginn des 20. Jahrhunderts kaum. Das dem Exerzieren beim Militär entlehnte routinemäßige Ausführen einzelner Techniken unter Kommando wurde unter anderem von Kentsu Yabu, einem Offizier der japanischen Armee, eingeführt. Die Dreiteilung in Kata, Kumite und Kihon erleichtert bis heute vielen Menschen das Erlernen des Karate in überschaubaren Zeiträumen. Wir wollen das Rad der Zeit nicht zurückdrehen, sollten uns aber bewusst sein, dass jede sogenannte »Grundtechnik« einer Kata entstammt, und darum auch nur im Zusammenhang mit dieser wirklich verstanden werden kann. Die Grundtechniken repräsentieren Prinzipien, wie auf einen Gegner reagiert werden kann. Im Kihon werden Schwerpunkte gesetzt, was die Trainingsarbeit strukturiert und den individuellen Fortschritt erleichtert.

Ähnlich verhält es sich im Bereich Partnerübung. Hier findet sich eine große Variation an Kumite-Arten, von denen das Ippon-kumite6 wohl die bekannteste ist. Auch sie fanden erst im Laufe der Zeit ihren Weg in das reguläre Trainingsprogramm. Gewiss gab es schon immer Partnerübungen. Diese dienten aber eher der Schulung von Koordination und Abstandsgefühl und waren anders geartet als die heute üblichen. Ich möchte hier nicht zu sehr ins Detail gehen, aber zumindest so viel anmerken: Beim Kihon-kumite7, und damit auch beim Ippon-kumite, wie wir es heute kennen, handelt es sich eigentlich um die Interpretation von Bewegungen aus den Kata, meist reduziert auf das Wesentliche, ähnlich wie im Kihon.

Das Wechselspiel zwischen Kata- und Kumite-Übung ist sehr fruchtbar und hilfreich bei der Ausbildung kampftechnischer Fähigkeiten. Nur mit einem Partner ist es möglich, Gefühl für Abstände und Gleichgewicht zu bekommen und eine Intuition für die Reaktionen eines echten Gegners zu entwickeln. Weiter fortgeschrittene Karateka können durch eine Art »experimentelles« Üben, bei dem weniger genau vorgegeben ist, wie der fingierte Kampf ausgeht, also das »Ergebnis« nicht von vornherein feststeht, an Erkenntnisse gelangen, die über reines Denken weit hinausgehen. Das heißt, es handelt sich um intuitive Einsichten auf körperlich-geistiger Ebene, die mit Worten kaum zu vermitteln sind. Genau diese Momente, in denen man plötzlich »Ach so!« sagen mag, sind meiner Ansicht nach wichtig für das Vorankommen im Karate als Kampfkunst und als Budō.

Um die gewünschten Fähigkeiten zu erlangen, sich eines Gegners sicher erwehren zu können, ist es nötig, die Kata oder deren einzelne Sequenzen und Techniken immer aufs Neue zu wiederholen. Die Bewegungen müssen so routiniert sein, dass sie ohne langes Nachdenken abrufbar sind, wozu es in der Regel Jahre braucht. Zunächst erfolgt das Erlernen des Grundablaufs. Ich sehe es nicht als unbedingt falsch an, sich in dieser Phase des Einstiegs vorzustellen, man hätte es mit einem Gegner oder auch mit mehreren Gegnern zu tun, die aus verschiedenen Richtungen angreifen. Wir werden später sehen, wie sich durch das wiederholte Ausführen der Drehungen und Wendungen einer Kata das Gefühl für die räumliche Ausrichtung zu einem späteren Gegner verbessern lässt. Sich ein solches Kampfgeschehen vorzustellen, hat auch den Vorteil, dass »man die Sache ernst nimmt« und die jeweilige Kata kompromisslos zu Ende bringt. Dadurch werden Durchhaltevermögen und zu einem gewissen Grad auch die physische Kondition gestärkt. Körper und Geist werden gleichermaßen gefordert.

Wurde der Bewegungsablauf verinnerlicht, beginnt die Detailarbeit. Je nachdem, welche Vorstellungen man hinsichtlich des Hintergrunds der Techniken entwickelt, können letztere im Hinblick auf unterschiedliche Gesichtspunkte verbessert werden. Meiner Meinung nach sollte es hier in erster Linie um eine effektive Koordination gehen. Erst wenn alle Teile des Körpers in angemessener Form zusammenarbeiten, wenn sich eine Kette kleiner Einzelbewegungen zu einem harmonischen Ganzen zusammenfügt, kann sich ein starker Kraftfluss entwickeln. Es hat daher keinen Sinn, allzu früh Wert auf hohen Krafteinsatz zu legen. Man bleibt dann leicht auf dieser Ebene stecken und arbeitet dann nur noch mit einzelnen Muskeln, statt den ganzen Körper einzusetzen, zu dem neben den physischen auch unsere energetischen8 und geistigen Kräfte gehören.

Wenn sich der Übende nicht mehr auf die technischen Details konzentrieren muss, wird sein Geist allmählich frei, so dass sich seine Aufmerksamkeit nach innen richtet und ein stilles Beobachten während der Übung einsetzt. Man kann dies fördern, indem man dem Gefühl in bestimmten Körperpartien nachspürt, sich in sie hineindenkt, etwa in die Fußsohlen beim Gehen oder die Faustspitze am Ende des Stoßes. Oder man bemerkt, wie sich die Übung schlichtweg »gut anfühlt«, wenn der Geist klarer wird.

An diesem Punkt beginnt im Grunde genommen erst das wirkliche Studium der Kata und damit der Kampfkunst. Wenn wir in der Lage sind, eine Kata ohne bewusstes Zutun, gleichsam von selbst ablaufen zu lassen, kann eine vertiefende Innenschau stattfinden. Dieses Stadium ist auch für den Kampf von immenser Bedeutung. Erst jetzt ist gewährleistet, dass dem Gegner die volle Aufmerksamkeit zuteil werden kann und trotzdem die nötigen Reaktionen auf sein Handeln reflexartig ablaufen.

Im Laufe der Zeit kommen immer neue Aspekte zur Übung hinzu, während andere wegfallen – zumindest sollte es so sein. So wächst die eigene Kata, das heißt der Charakter ihrer individuellen Ausführung, mit dem eigenen Fortschritt und dem Stand der wachsenden Erkenntnis. Entsprechend viel (oder wenig) kann, je nach Ambition, aus dem Üben der Kata gewonnen werden.

Sicher wird es niemanden auf der Welt geben, der Kata ganz ohne »Hintergedanken« übt, auch wenn uns die Meister immer wieder ermahnen, das Üben solle ohne jegliche Absicht geschehen. Eine Sache ohne irgendwelche Zielsetzungen zu tun, ist absurd und entspricht nicht der menschlichen Natur. Es kommt wohl eher darauf an, welcher Art die Zielsetzungen sind, und zwar auf kurze wie auf lange Sicht. Entsprechend gilt in der Welt des Karate die Maxime, es gehe auf dem Weg der Praxis nicht um Sieg oder Niederlage, sondern um die positive Formung des eigenen Selbst. Vom kleinlich-egoistischen sollen die Ambitionen allmählich auf ein höheres, edles Niveau gehoben werden.

In China und Japan dient das Üben von Kata der Perfektionierung der Person. Aufgrund des religiös-philosophischen Weltbildes war man überzeugt, durch besondere Übungen das irdische Leid überwinden zu können. Ein Grundgedanke dabei war, durch spirituelle Praxis die menschliche Natur zu überwinden und eine Art göttlichen Zustand zu erreichen (Tokitsu, siehe Literaturverzeichnis).

So suchten schon die frühen Daoisten nach Wegen, die »Unsterblichkeit« zu erlangen. Ob es sich dabei um eine physische Unsterblichkeit handeln sollte, um das ewige Leben auf Erden, möchte ich bezweifeln. Die spärlichen allgemein zugänglichen Informationen über die bis heute streng geheim gehaltenen Praktiken lassen vermuten, dass es sich beim Unsterblichwerden eher um eine Transformation des körperlich-seelischen Zustands zu Lebzeiten handelt, so dass der Tod dann nicht mehr die normale Konsequenz für den Ausübenden hatte. Damit ließen sich die Unsterblichen mit den Bodhisattvas vergleichen, mit Individuen also, die statt sich vollkommen aus der Dualität von Leben und Tod herauszubegeben, in einem Zwischenzustand verweilen, um anderen Menschen auf dem zu beschreitenden Weg zu helfen. Für uns würde vielleicht am ehesten der Begriff »Engel« auf diese Wesen zutreffen.

Interessant ist, dass unsere jüdisch-christlich geprägte religiöse Tradition es nicht vorsieht, dass wir durch entbehrungsreiche spirituelle Arbeit nach unserem Ableben zum Engel werden können. Allenfalls eine posthume Heiligsprechung ist möglich. Wohl aber werden in verschiedenen christlichen Traditionen bestimmte Heilige gern um Hilfe gebeten oder generell als Schutzpatron für bestimmte Gruppen der Gesellschaft eingesetzt.

Ich möchte mit diesem kurzen Exkurs eine These begründen, die besagt, dass tief in uns Menschen Sehnsüchte sitzen, die uns veranlassen, rituellen und damit formellen Praktiken nachzugehen. Die Ungewissheit, was nach dem Tod kommt, beschäftigt den Menschen, solange er denken kann. Der Versuch lag nahe, sich mit den unergründlichen Mächten mit Hilfe von Religionen zu arrangieren oder die Übergänge Leben-Tod und Tod-Leben besser »in den Griff zu bekommen«, wobei eins das andere nicht ausschließen musste. In Kapitel 5 wird etwas mehr darüber zu erfahren sein, wie die frühzeitlichen Schamanen Chinas feststellten, wie die wiederholten Versuche der Beschwichtigung der Mächte der Natur den »Nebeneffekt« einer körperlichen Stärkung hatten, die den Übergang vom Leben zum Tod beträchtlich hinauszögern konnte.

Formelles Üben ist Kernbestandteil einer jeden spirituellen Praxis. Selbst Meditationen kommen, zumindest in der Phase des Lernens, ohne strukturierende Richtlinien nicht aus. Dazu gehören Aussagen, wie man sich richtig hinsetzt, hinlegt oder hinstellt, wie man die innere Ruhe findet, wie mit dem Denken umzugehen ist und vieles andere mehr. Richtiges Sitzen, Liegen oder Stehen zum Beispiel sind unabdingbar, damit die für die spirituelle Entwicklung notwendigen energetischen Prozesse nicht blockiert werden und sich der Geist sammeln, transformieren oder frei werden kann, je nach Ziel der Übung.

Irgendwann, in weit fortgeschrittenem Stadium, mag die Form bedeutungslos werden. Dann nämlich, wie Yagyū Munenori (siehe Literaturverzeichnis) es umschreibt, wenn alles erlernt wurde und dem Übenden durch einen befreiten Geist alles möglich geworden ist. Doch bis ein solcher Zustand erreicht wird, ist es ein langer, entbehrungsreicher Weg. Wir können also davon ausgehen, dass uns »Normalsterbliche« die formale Übung, sei es die der Bewegung oder die der Stille, bis an unser Ende begleiten wird.

Nun könnte man jene für Experten halten, die sich hervortun, indem sie möglichst viele Kata und deren technische Anwendungen erlernen. Interessant ist aber, dass es früher unüblich war, besonders viele Kata zu können. Neben anderen ist wohl Gichin Funakoshi einer der bekanntesten Autoren, die dies erwähnen. In seinem Werk Karate-Dō Kyōhan (siehe Literaturverzeichnis) teilt er uns mit, dass man bis zur Generation vor ihm während des ganzen Lebens in der Regel drei, maximal fünf Kata lernte und übte.

Nach der Modernisierung Japans wurden auch die klassischen Kampfkünste entsprechend den neuen Erfordernissen umgeformt. Die bisherigen Methoden des Zweikampfes dienten von nun an nicht mehr dem realen Kampf (auf Leben und Tod), sondern der Körperertüchtigung. Besonders im Karate wurden dabei die bis dahin sehr detailreichen Kata stark vereinfacht. Ein Vorreiter dieser Entwicklung war Ankō Itosu, weitere seiner Zeitgenossen folgten ihm. Um zu vermeiden, dass gewisse Kata in Vergessenheit gerieten, begann man zugleich vermehrt, deren vereinfachte Versionen zu unterrichten. So stieg im Laufe der Zeit das Pensum der zu erlernenden Kata mehr und mehr an, je nach den sich in den 1920er und 1930er Jahren ausbildenden Karate-Stilen (Ryūha). Besonders Kenwa Mabuni9 entwickelte fast so etwas wie eine Sammelleidenschaft für Kata, wodurch das von ihm später gegründete Shitō-ryū der an Kata reichste Karate-Stil wurde.

Oft glaubt man, diese oder jene Kata zu »beherrschen«, ohne dabei jedoch ihre Essenz durchdrungen zu haben. Ein solcher »Glaube« kann einen davon abhalten, weiterzuforschen. Aber allzu viele technische und energetische Details sind von Itosu und seinen Kollegen oder deren Nachfolgern nicht übermittelt worden. Eine unserer Aufgaben als Übende besteht somit darin, diese Details, so gut es geht, wiederzuentdecken.

Aber ist es überhaupt nötig oder sinnvoll, die Kata vollkommen zu beherrschen? Ich sehe allein in der Behauptung, irgend etwas in der Welt zu beherrschen, also absolute Macht darüber auszuüben, eine Anmaßung gegen die Natur der Dinge. Nichts kann wirklich »beherrscht« werden, auch eine Kata nicht. Im übrigen geht es ja im Budō darum, sich so gut es geht selbst zu beherrschen – ein sicher sinnvolleres und für die Gesellschaft dienlicheres Unterfangen.

Zum Abschluss dieses Kapitels möchte ich noch einiges anmerken zum Begriff »Kata« an sich. Ich erachte es als wichtig, das Wort auch von seiner rein sprachlichen Bedeutung her genau zu verstehen.

Im Japanischen erhält das Wort Kata je nach Schreibweise der Kanji10 etwas unterschiedliche Bedeutungen. Für uns interessant sind zwei alternative Ideogramme, nämlich die für »Form« und für »Art und Weise«. Es ist nicht dasselbe, ob man von tsuki-kata spricht oder von tsuki no kata. Der erste Ausdruck bezieht sich auf eine Art Beschreibung des Stoßens oder dessen Dynamik, um die jeweils betrachtete »Stoßweise«. Beim zweiten aber steckt die Silbe no zwischen tsuki und kata. Das Ganze wird darum als die »Form des Stoßens« übersetzt. Es handelt sich daher bei der Bedeutung des Kanji um eine Generalisierung oder Verallgemeinerung – wobei man hier jedoch in der Praxis durchaus recht unterschiedlichen Arten und Weisen des Gemeinsamen und Grundlegenden finden kann. Eine Kata des Stoßens verdeutlicht dessen dynamisches Prinzip anhand seiner Varianten.

Beide Facetten des japanischen Begriffs Kata sind für uns relevant. Denn wir finden nur über das »korrekte« Üben unserer Techniken, also das Einhalten der jeweils vom Meister oder Trainer vorgegebenen Richtlinien, zur wahren Form. Eine Kata als komplexe Form enthält diverse Arten und Weisen zu stoßen, zu treten, abzuwehren oder sonstwie mit einem gedachten oder realen Gegner umzugehen.

3. Das Kämpfen als Kunst

3.1. Ursprünge

Während ihrer gesamten Entwicklung waren die Menschen ständig bedroht – von Artgenossen ebenso wie von wilden Tieren. Wer überleben wollte, musste geschickt kämpfen können. Schon bei den Vorfahren des heutigen Menschen zählte nicht nur die reine Kraft, sondern auch geschicktes Taktieren zu den Qualitäten, die ihnen halfen, dies zu gewährleisten. Gegen die oftmals größeren und stärkeren Tiere mussten die Menschen besondere Strategien entwickeln, indem sie ihre rudimentären mentalen Fähigkeiten einsetzten. Und nicht nur gegen Kreaturen, welche sie fressen wollten, mussten die Menschen sich wehren. Auch jene, die ihnen als Nahrung dienten, mussten überlistet werden, denn freiwillig ließen sie sich nicht verspeisen. Ohne eine Strategie verloren die Jäger den Kampf, was nicht selten bedeutete, dass sie selbst und ihre Familien oder Sippen verhungern mussten.

Aus den Erfahrungen jener frühen Jäger und Kämpfer entwickelten sich mit der Zeit Methoden, die immer strukturierter und mehr und mehr auch von rationalem Denken durchdrungen wurden. Erkenntnisse aus Philosophie, Wissenschaft und Technologie kamen hinzu. So war das Werk des großen Strategen Sun Zi für seine Zeit bereits überaus vollständig und tiefsinnig (siehe Literaturverzeichnis).

Alle Methoden der Kriegführung haben gemeinsame Grundlagen. Mehr noch: Die Gesetzmäßigkeiten, die den Ausgang einer Auseinandersetzung bestimmen, sind bei einer Schlacht fast die gleichen wie beim Kampf Mann gegen Mann. So betont zum Beispiel der japanische Schwertkämpfer Miyamoto Musashi in seinem »Buch der fünf Ringe«, Gorin no Sho (siehe Literaturverzeichnis), immer wieder die grundlegenden Parallelen zwischen Feldschlacht und Einzelkampf. Denn obwohl in einer Feldschlacht sehr viele einzelne Soldaten kämpfen, verhält sich die Gruppe durch ihre besondere Dynamik doch wieder fast wie ein Individuum. Zudem handelt es sich bei den Entscheidungsträgern, den Offizieren und auch dem Feldherrn selbst, letztendlich um Einzelpersonen mit individuellen Denkweisen und Gefühlen.

Vom Körperbau her gleichen sich alle Menschen. Das betrifft auch den Teil der Psyche, der sich aus der Konstitution ergibt, beziehungsweise daraus, wie unser Gehirn strukturiert ist. So empfinden alle Menschen Freude, Zorn und Angst. Diese Grundemotionen werden aber konditioniert: Je nach der zu einer Epoche oder in einem Kulturkreis vorherrschenden Erziehung werden sie modifiziert, so dass sich das Verhalten der Menschen nach außen hin bisweilen sehr unterschiedlich manifestiert.

Für unsere weiteren Betrachtungen ist es darum sinnvoll zu unterscheiden, was gleichsam angeboren ist und was anerzogen wurde im Hinblick darauf, wie sich ein Mensch in einer bedrohlichen Situation verhält. Im Falle einer Bedrohung bieten sich grundsätzlich zwei Möglichkeiten: Man läuft weg oder man stellt sich der Gefahr. Dabei kann bei einem Kampf auf Leben und Tod eine vorgetäuschte Flucht durchaus Teil einer Strategie sein, da sie den Aggressor zur Illusion seiner Überlegenheit verführt.

Die Fluchtreaktion wie auch der Drang zu kämpfen sind biologisch bedingt. Diese Impulse sind in jedem von uns vorhanden. Sie entstehen von selbst und äußern sich sogar auf stofflicher Ebene, unter anderem durch die Ausschüttung von Adrenalin in das Blut. Wir können aber zu einem gewissen Grad entscheiden, wie wir uns bei einer solchen Gefühlslage verhalten, und zwar anhand von Kriterien, die uns zuvor gelehrt wurden. Für einen Kampf sprächen zum Beispiel die Angst vor Ehrverlust oder die Überzeugung, dass böse Menschen grundsätzlich bekämpft werden sollten. Für eine Flucht spräche hingegen, dass dadurch unnötiger Schaden vermieden würde. Ausschlaggebend ist letztendlich die individuelle Art zu denken – wobei die Flucht ja schon in gewisser Weise ein Strategem darstellt, denn indem man flieht, wird man weder besiegt noch erleidet man körperlichen Schaden. Stellt man sich einem Kampf, sind die Aussichten weniger klar.

Inwieweit wir unsere emotional bedingten Reflexe kontrollieren können, sei dahingestellt. Ich meine, dies ist nur begrenzt möglich. Ein Weg dahin führt über des Studium der Kampfkünste. Durch sie lernen wir, die uns von der Natur gegebenen Möglichkeiten nutzbar zu machen, ja sogar, sie verantwortungsbewusst einzusetzen. Nach welchen Kriterien dies zu tun ist, entscheiden wir anhand eines übergeordneten moralischen Rahmens. Er gibt uns Richtlinien, wie wir die einzelnen Dinge zu bewerten haben und wie wir sie in eine logische Struktur einordnen können oder sollten.

Wir sind uns oft gar nicht bewusst, in welchem Maß unser Denken durch die Werte, die wir im Laufe unseres Leben verinnerlicht haben, bedingt ist. So war es in früheren Epochen der Menschheitsgeschichte durchaus üblich, jemanden zum Wohle der Gesellschaft umzubringen und ihn zum Beispiel den Göttern zu opfern, was heutzutage, zumindest uns in den westlich-demokratischen Ländern, als vollkommen verwerflich erscheint, weil es nicht (mehr) unserem ethischen Verständnis entspricht. Dieses Verständnis wird durch das religiös-philosophische Weltbild geprägt, in dem wir aufwachsen. Die Nächstenliebe oder das fünfte Gebot Gottes aus dem Alten Testament, »Du sollst nicht töten«, sind in unserem Denken so tief verwurzelt, dass andere Alternativen, das Töten und Getötetwerden betreffend, für uns gar nicht mehr in Frage kommen. Und die durch die Philosophie der Aufklärung entwickelten Werte mahnen uns zusätzlich, die Grundrechte jedes Einzelnen zu achten. Zu ihnen gehören das Recht auf Selbstbestimmung oder eben auch das auf Leben (in Freiheit).

In sich geschlossene Denkmuster, die derart tief im Denken und Verhalten der Menschen einer Epoche oder Kultur verankert sind, bezeichnet man als Paradigma. Unter einem Paradigma versteht man eine meist zeitlich begrenzt vorherrschende oder anerkannte Lehrmeinung oder Modellvorstellung. Es ist somit ein Bezugsrahmen, in den wir all unsere Beobachtungen und Fragestellungen einordnen und den wir in der Regel nicht hinterfragen. Doch ein Paradigma ist nichts Absolutes. Wird es unstimmig, das heißt, passen Beobachtungen und Denkschema nicht mehr zusammen, kommt es zunächst zu Anpassungen innerhalb des bestehenden Paradigmas. Wenn diese aber nicht ausreichen, dann führt dies schließlich zur Umorientierung und damit zum Wechsel zu einem anderen oder neuen Paradigma (Thomas Kuhn, siehe Literaturverzeichnis).

Man mag nun fragen, was dieser philosophisch anmutende Exkurs mit dem Karate zu tun hat. Ich meine, sehr viel, denn je weiter jemand in der Lage ist, in die Denkweise einer Kampfkunst einzudringen, desto eher wird er das Wesentliche sowie die relevanten Details erfassen können. Karate ist das Produkt einer historischen Entwicklung. Daher ist es erforderlich, die Denkweisen früherer Generationen von Karate-Experten zumindest im Ansatz zu verstehen. Ohne dieses historisch-kulturelle Verständnis des Karate bliebe uns ein Großteil seines Potentials für den Kampf für immer verborgen. Und das Resultat unserer Übungen wäre nichts weiter als eine Kulthandlung oder ein schöner Tanz.

Anders als für uns heute war für die Menschen früherer Zeiten das Kämpfen von grundlegender Bedeutung für das Überleben. Und dies nicht nur im direkten, sondern auch im übertragenen Sinne. Ein Feldherr, dessen strategische Ansichten nicht zur Realität einer Schlacht passten, wurde schnell seines Postens enthoben. Meister der Kampfkunst wurden brotlos, wenn die von ihnen unterrichteten Methoden keine Wirkung zeigten, das heißt, wenn ihre Schüler sich in realen Kämpfen nicht zu behaupten wussten.

Wir sollten uns klar machen, warum und wie Menschen früherer Zeitalter ihre Kampfkunst sahen und wie sie diese ausübten – und damit auch, wie sie den Dingen des täglichen Lebens gegenüberstanden. Denn das Wissen jener Zeit beeinflusste zwangsläufig Entstehung und Entwicklung unserer Kampfkunst. Aber davon später mehr. Zunächst wollen wir uns etwas mit unserer eigenen Einstellung zum Karate befassen.

3.2. Zielsetzungen

Jeder Einzelne von uns hat seine eigenen Gründe, Karate zu üben, und entsprechend sind auch die Zielsetzungen bei allen Übenden mehr oder minder verschieden. Sicher gibt es Überschneidungen und übereinstimmende Motive, wie zum Beispiel die Faszination der Kata; erst auf dieser Basis können sich Gruppen zusammenfinden und gemeinsam trainieren. Doch gerade bei den Zielsetzungen gibt es auch beträchtliche Unterschiede. Viele betreiben Karate als Sport, wobei zweierlei Motive eine Rolle spielen können: Karate als reine Körperertüchtigung und/oder als Wettbewerb, um sich mit anderen zu messen. Nicht wenige jedoch sehen das Karate auch als reine Kunst oder gar spirituellen Weg an.

Ich meine, man sollte all diese Ambitionen respektieren, solange sie nicht dazu führen, dass die Techniken des Karate missbraucht werden, um anderen Menschen gegenüber Macht auszuüben. Wie wir unser Karate sehen, warum wir es wie betreiben, was wir uns davon versprechen – das alles bestimmt unser »persönliches Paradigma« des Karate, nämlich die Lehrmeinung, die uns plausibel erscheint und der wir uns anschließen. Ich möchte kurz auf einige gängige Sichtweisen bezüglich des Karate eingehen, um dann auf die aus meiner Sicht angemessenste zu sprechen zu kommen.

Karate als Sport: Während der Modernisierung der japanischen Gesellschaft im Rahmen der Meiji-Reform – bei der Japan von einer Feudalgesellschaft zu einem Staat nach dem Vorbild der damaligen europäischen Weltmächte11 umgestaltet wurde – kam es auch zur Aufstellung einer Armee nach europäischem Muster. Die klassischen Methoden des Krieges wurden nicht mehr gebraucht, da nun der Einsatz von Gewehren und Kanonen den Verlauf einer Schlacht bestimmte und nicht mehr die kämpferischen Fähigkeiten eines Bushi12 im Kampf Mann gegen Mann (siehe weiter hinten). Gleichzeitig erwiesen sich aber jene alten Kampfkünste als hervorragend geeignet, den Kampfgeist der Soldaten zu fördern und ihre Körper zu stärken. So wurden die Kampfkünste entsprechend dieser neuen Ziele umgestaltet, wobei die Ansprüche an sie in Bezug auf die Wirksamkeit der Techniken im Rahmen eines Zweikampfs an Bedeutung verloren. Das technische Training wurde weitgehend vereinfacht. Entscheidend war, dass die Übenden in genügendem Maße physisch und auch geistig gefordert wurden. Das soll jedoch nicht heißen, dass alles, was vorher für den Kampf und die spirituelle Entwicklung wertvoll gewesen war, nun verworfen und für immer vergessen wurde. Nicht wenige Meister der japanischen Kampfkunst stellten sich dieser Entwicklung entgegen, doch die grobe Richtung war vorgegeben.

Mit der Niederlage Japans im Zweiten Weltkrieg erschien die Zukunft der Kampfkünste insgesamt, also auch ihrer »vereinfachten« Versionen, praktisch beendet. Eine »Rettung« bot sich an mit der Einführung sportlich orientierter Wettkämpfe und einer vermehrten Betonung des Inhalts der bisherigen Kampfkünste als Leibesübungen. Sicherlich trug auch die Tatsache dazu bei, dass der Wettbewerb in der amerikanischen Gesellschaft traditionell eine große Rolle spielte und die amerikanischen Besatzer somit geneigt waren, den Japanern das Betreiben der Kampfkunst als Sport zu gestatten – gleichsam als Unterstützung der demokratischen Werte. So konnten die Kampfkünste Japans vor dem Aussterben bewahrt werden und stellen heute ein wertvolles Kulturgut des Landes dar.

Auf diese Weise wurde auch das Karate, wie bereits vorher Kendō und Jūdō, zum Wettkampfsport. Der neuen Ausrichtung entsprechend, wurden die Techniken demnach ein weiteres Mal umgestaltet, mit dem Ziel, das Verletzungsrisiko für die Sportler gering zu halten. Auch waren nun die wenigen im Turnier noch erlaubten Stöße, Schläge und Tritte so großräumig auszuführen, dass das geschulte Auge eines Schiedsrichters sie trotz ihrer Schnelligkeit noch erfassen konnte. Neben den Kämpfen wurde auch das Vorführen von Kata, ähnlich wie schon in früheren Zeiten,13 zur Wettkampfdisziplin. Doch auch hier musste man viele Zugeständnisse machen und sich bei der Beurteilung durch Schiedsrichter auf Kriterien beschränken, die nicht selten an der Realität vorbeigingen. Damals wie heute müssen die Techniken des Ausführenden nach außen hin wirksam erscheinen, will er die Schiedsrichter überzeugen. Ob die Techniken tatsächlich wirksam sind, ist dabei unerheblich; die »schönere« Kata gewinnt.

Um es noch einmal zu betonen: Der Karate-Sport hat sein Gutes, und der Besuch von Turnieren bietet vielen Menschen Freude. Dabei kommt es aber darauf an, dass die Techniken ästhetischen Kriterien entsprechen. Ein Fauststoß muss, um mit ihm punkten zu können, stark aussehen. Viele kurze, kaum sichtbare und in einem realen Kampf äußerst effektiv einsetzbare Schläge und Stöße entsprechen diesem Kriterium aber nur sehr bedingt. Sie werden meist als »zu schwach« angesehen und darum nicht gewertet – ein Kuriosum.

Wir sollten uns darüber klar sein, dass Karate, rein als Sport betrieben, keine Kampfkunst ist und erst recht kein Budō darstellt. Trotzdem hat der Karate-Sport seinen Stellenwert in der Gesellschaft, die Sportler absolvieren ein hartes und intensives Training, dessen Frucht der Turniertitel darstellt. Eine Medaille oder einen Pokal zu gewinnen, schafft Befriedigung und Freude bei allen Beteiligten, und das ist etwas sehr Wertvolles, vorausgesetzt, es geht dabei fair zu, und der Sport verkommt nicht zu einem Spektakel, bei dem soziale oder nationale Rivalitäten ausgetragen werden.

Selbstverteidigung: Karate wird häufig auch als eine effektive Form der Selbstverteidigung angesehen. Dafür bedient man sich einer Auswahl an Techniken, von denen man meint, dass sie besonders gut zur Abwehr eines Angriffs geeignet wären. Indem man bestimmte Situationen wiederholt durchspielt, will man erreichen, dass die eingeübten Abwehraktionen im Ernstfall spontan ablaufen. Das könnte funktionieren – wenn denn die gestellten Situationen der Realität entsprächen. Aber jede reale Konfliktsituation ist einzigartig, und ohne die Praxis des Freikampfes wird man kaum die Fähigkeit erlangen, spontan auf die unvorhersehbaren Aktionen eines Aggressors einzugehen.

Zudem lassen sich viele der traditionell überlieferten Techniken des Karate heutzutage nur bedingt so einsetzen wie es früher vielleicht einmal vorgesehen war (Kapitel 11). Zweikämpfe laufen nicht mehr so ab wie im alten China, und die Gründe, warum gekämpft wird, sind heute vollkommen anders gelagert als damals. Auch scheinbar so Nebensächliches wie die Kleidung spielt dabei eine Rolle.

Ohne das Studium aller Ebenen eines Kampfes, von der rein physischen bis zur mentalen, ist es kaum möglich, sich sicher zu verteidigen, sei es auf der Straße oder in einer Bar. Ein Verteidigungstraining, das nur auf das Erlernen von Abwehr- und Kontertechniken ausgerichtet ist, birgt darum wenig Erfolgsaussichten. Die Fähigkeiten, die dafür erforderlich sind, lassen sich kaum anders als durch das langfristige Üben von Kata aneignen. Warum das so ist, werde ich versuchen, im weiteren Verlauf des Buches zu erläutern.

Anders liegen die Verhältnisse natürlich bei der Nahkampfausbildung der Einsatztruppen und Sondereinheiten von Militär und Polizei. Die Grundkonzeption ist dort eine komplett andere als bei einem Selbstverteidigungskurs. Aber Karate-Training ist keine Eliteausbildung. Wer das glaubt, liegt falsch und sollte sich konsequenterweise als Bodyguard ausbilden lassen oder bei der Fremdenlegion melden.

Ich möchte nicht missverstanden werden. Wer über viele Jahre eine Kampfkunst trainiert, hat sehr wohl bessere Chancen, sich notfalls seiner Haut zu wehren als ein gänzlich Ungeübter. Noch größer werden diese Chancen allerdings bei einer geschickten Trainingsgestaltung, in der die Kata eine sehr wesentliche Rolle spielt.

Spirituelle Entwicklung: Übt man Karate über einen längeren Zeitraum, so stellt man mit der Zeit vielleicht einen nach innen gerichteten Prozess fest, den man spirituell nennen könnte. Doch nur, weil Karate seinen Ursprung in Ostasien hat, führt dessen Ausübung nicht automatisch zu einer wie auch immer gearteten besonderen geistigen Entwicklung oder gar Erleuchtung.

Wer Karate langfristig und ernsthaft betreibt und dabei allmählich von seinen vordergründigen Absichten loslässt, der erfährt vielleicht wirklich, bedingt durch den geschmeidigen Fluss des Ki (siehe weiter hinten) und den damit immer klarer werdenden Geist gelegentlich jene kurzen Momente, in denen es einem vorkommt, als wäre man eins mit der Welt. Ich meine aber, dass es hierfür weit besser geeignete Konzepte gibt, allen voran die Meditation, aber auch alle Methoden, die direkt auf seelisch-geistigem Niveau ansetzen.

Andererseits muss jede kampftechnische Schulung auch geistige Komponenten enthalten. Dies ist nötig, zum einen, weil der spätere Kampf sich zu einem Großteil auf mentaler Ebene abspielt, zum anderen aber auch, weil nur so gewährleistet ist, dass der Ausübende verantwortungsvoll mit seinem Können umgeht.

Karate als Kampfkunst: Soll die Praxis des Karate als Kunst gesehen werden, so muss diese über die profane Anwendung hinausgehen und Möglichkeiten der Entwicklung beinhalten, für sich selbst und für den Ausführenden. Eine Kunst will ergründet und durchdrungen werden. Im Falle der Kampfkunst ist dies schon allein deswegen nötig, weil sie nur dann effektiv sein kann. Denn fehlt in einem Kampf die Wirkung, dann erfüllt die vermeintliche Kunst nicht ihren Zweck.

Wer Karate übt, wird es erst dann als Kampfkunst ausüben, wenn er sich alle Aspekte des freien, insbesondere nicht-sportlichen Kampfes in Theorie und Praxis hinreichend angeeignet hat. Dafür müssen eine Reihe von Bedingungen erfüllt sein:

Der Übende verfügt über ein technisches Repertoire, das es ihm ermöglicht, auf nahezu alle erdenklichen Angriffe zu reagieren.

Das Ziel, einen Gegner zu besiegen oder ihn zur Aufgabe zu zwingen, soll mit möglichst geringem Aufwand erreicht werden können (Ökonomie).

Der Übende ist in der Lage, die Schwächen des Gegners auszunutzen, das heißt, er muss seine Maßnahmen der Abwehr und des Konterns so arrangieren, dass die Kraft des Angreifers gegen diesen selbst gerichtet werden kann.

Der Übende verhält sich entsprechend kampfstrategischen Richtlinien; das sind grundlegende Verhaltensregeln, die ihm sagen, wie er sich in einem Kampf zu verhalten hat und wie er dessen Dauer und Ausmaß auf ein Minimum reduzieren kann.

Zu dem Wunsch zu siegen tritt ein moralisch-ästhetischer Anspruch: Die Aktionen zur Verteidigung sollen dem Gegner so wenig wie möglich schaden.

Es existiert eine Lehrstruktur, die dem Übenden das Lernen ermöglicht und erleichtert.

Wenn dann beim Übenden der Wunsch nach einem Sieg zurücktritt gegenüber dem Ziel, einen Konflikt ganz ohne körperliche Auseinandersetzung zu lösen, wird der Übergang zum Budō vollzogen. Karate wird zum Karate-dō. Hierzu ist aber das Überschreiten des rein technischen hin zu einem energetisch ausgerichteten Training nötig.

Ich möchte nun auf die einzelnen Punkte eingehen, die Karate zu einer Kunst des Kampfes machen. Lange Zeit galt Karate als Form der Verteidigung, bei der vornehmlich Techniken des Stoßens, Schlagens und Tretens zum Einsatz kommen. Diese Sichtweise ist auch heute noch sehr verbreitet, insbesondere im Bereich des Sports, wo auf Turnieren eben nur diese drei Arten von Techniken gewertet werden. Eine scheinbare Bestätigung findet sich auch bei oberflächlicher Betrachtung des für Graduierungsprüfungen nötigen Lehrstoffs. Die eben erwähnten Techniken überwiegen in Basistraining und Partnerübung. Und selbst in den Kata dominieren, abgesehen von den als Abwehr angesehenen Techniken, die Schläge und Stöße neben einigen Tritten.

Die Annahme einer solchen Beschränkung ist das Resultat fehlender Informationen bei der Einführung des Karate in Japan selbst und mehr noch bei uns in Europa. Das Karate kam ja als ein Turniersport zu uns, in dem nur solche Techniken erlaubt und gewertet werden, die für die Teilnehmer leicht kontrollierbar und damit nicht allzu gefährlich sind. Aber gerade die in einem Turnier verbotenen, weil für den (sportlichen) Gegner zu gefährlichen Aktionen, sind für den realen Kampf wertvoll und machen das Karate als Kampfkunst erst komplett. Neben den direkten Schlägen und Stößen auf empfindliche Stellen des Körpers gehören hierzu auch Aktionen, die den Gegner zu Boden bringen, ihn strangulieren oder seine Gelenke schmerzhaft überdehnen (Kapitel 9.3).

Aber auch strategisch wichtige Aktionen, die den Gegner zwar nicht direkt zur Aufgabe zwingen (durch Schmerz oder Paralyse), sondern ihn einfach nur in seiner Beweglichkeit oder seinen Handlungsmöglichkeiten einschränken, stehen uns im Karate zur Verfügung und sind profunder Bestandteil vieler Kata. Durch das Ergreifen des Gegners an Arm oder Bein erlangt man schnell eine gewisse Kontrolle über ihn. Man kann ihn »vorbereiten« auf die wirkliche Attacke in Form eines Stoßes oder Trittes. Auch der Druck auf empfindliche Stellen, sogenannte Vitalpunkte, wird auf diese Weise möglich. So kann der Gegner geschwächt, eventuell sogar allein hierdurch schon besiegt werden.

3.3. Quellen der Wirksamkeit

Im Karate früherer Zeiten war man bemüht, einen Kampf möglichst rasch für sich zu entscheiden, und zwar durch das Einwirken auf vitale Stellen des gegnerischen Körpers. An diesen vitalen Stellen, japanisch kyūsho, ist es möglich, den Fluss des Qi eines Menschen zu beeinflussen. Das Qi durchströmt und ernährt den gesamten Organismus. Es erhält alle Prozesse des Lebens und stärkt die Abwehrkräfte, genauso, wie es den Geist klar und das Gemüt wach hält.

Innerhalb des daoistischen Weltbildes wird mit dem Qi eine feinstoffliche Substanz postuliert, die man sich von der Konsistenz her zwischen Materie und Energie vorzustellen hat. Man kann seine Existenz weder beweisen noch ausschließen. Doch viele Vorgänge in der Natur werden durch den Begriff des Qi14 plausibel. Das Schriftzeichen bedeutete ursprünglich so viel wie »gedämpfter Reis«, sollte aber wohl eher auf dessen lebensspendende Kraft als auf die sättigende Speise selbst hinweisen.15

Das Vorhandensein eines Fluidums, das das Leben bewirkt und erhält, stand für die Menschen in China und seiner Nachbarnationen seit jeher außer Frage. Schon seit alters her war dieses Konzept Bestandteil der Kultur und des täglichen Lebens.16 Wenn wir demnach das Denken unserer historischen Meister nachvollziehen wollen, dann müssen wir auch lernen, mit Begriffen wie Qi oder Ki umzugehen, theoretisch wie auch praktisch.

Der japanische Ausdruck Ki deckt sich in weiten Bereichen mit dem chinesischen Qi, jedoch nicht vollständig. Während der chinesische Begriff insbesondere in den daoistischen Lehren und damit auch in der chinesischen Medizin sehr differenziert gebraucht wird, umfasst das japanische Wort mehr den emotionalen und spirituellen Bereich unseres Daseins in der Welt oder solche Vorgänge wie nonverbale Kommunikation (Tokitsu, siehe Literaturverzeichnis). Ich habe mich darum bemüht, im Text je nach Zusammenhang den jeweils besser passenden Ausdruck zu gebrauchen, wobei ich bei Äquivalenz dem japanischen Wort den Vorzug gab.

Um nun die Fähigkeit zu erlangen, durch die Manipulation vitaler Stellen das Qi eines Gegners stören zu können, ist ein ausgiebiges Studium des Qi-Flusses, also letztlich der chinesischen Medizin, unumgänglich. Doch diese Kenntnisse in einem Kampf anzuwenden, ist allein schon deshalb schwierig, weil der heutige Unterricht der traditionellen chinesischen Medizin ausschließlich auf die therapeutische Anwendung ausgerichtet ist. Der Einfluss auf das Qi eines Menschen soll der Heilung dienen. Die Varianten der Negativmanipulation werden, sofern überhaupt noch bekannt, weitgehend geheim gehalten, ein Umstand, der uns zwar das Studium nicht unbedingt erleichtert, aber andererseits den verantwortungslosen Einsatz eines solchen Wissens zu vermeiden hilft.

Neben genauer Kenntnis der Lokalisation der einzelnen Vitalstellen, muss deren Bedeutung für den Qi-Haushalt, das heißt, ihre mögliche Wirkung, vollständig bekannt sein. Zudem muss man wissen, auf welche Weise welcher Effekt zustande kommt, etwa was das spitze Auftreffen der Einknöchelfaust Ippon-ken im schrägen Winkel bewirken kann. Des weiteren sind nicht wenige solcher Stellen nur zu einer bestimmten Tages- oder Nachtzeit für einen Angriff nutzbar (Kapitel 4.2).

Wir sehen, dass die Sache so einfach nicht ist, und verstehen nun, warum die Meister es vorzogen, dem überwiegenden Teil der im ausgehenden 19. Jahrhundert stark anwachsenden Zahl von Schülern dieses schwierige und zugleich brisante Wissen vorzuenthalten.

Zum Glück bietet sich uns mit dem Bubishi, chinesisch Wubeizhi, im Deutschen etwa wiederzugeben mit »Dokument zur Vorbereitung auf die (militärische) Konfliktlösung«, die Möglichkeit für einen ersten Einstieg in dieses faszinierende und für das Verstehen der Kampfkunst absolut nötige Thema. Bei dem Werk handelt es sich um die einzige bekannte Informationsquelle in schriftlicher Form über die frühen Formen des Karate, tōde oder toudi,17 die von China nach Okinawa kamen. Das Bubishi besteht im wesentlichen aus einer Sammlung von aus früheren Epochen Chinas tradierten Texten. Es enthält Angaben zu vielen Bereichen der Karate-Praxis, wobei Themen der traditionellen Medizin einen breiten Raum einnehmen. Der durch seine Forschungsarbeit zur Geschichte des Karate und der Kampfkunst Okinawas bekannt gewordene Kampfkunstexperte Patrick McCarthy hat es ins Englische übertragen und mit Kommentaren versehen (siehe Literaturverzeichnis).

Um Grundkenntnisse und praktische Erfahrungen zu erlangen, die ein späteres sicheres Umgehen mit Vitalpunkten gewährleisten, empfiehlt sich die Ausbildung in einer der traditionellen Manualtherapien, die aus China, Japan oder Korea zu uns gekommen sind. Dabei soll es uns aber gar nicht so sehr darum gehen, das Wissen um die Vitalpunkte unbedingt im Kampf einsetzen zu wollen. Die meisten von uns betreiben ja Karate nicht in erster Linie, um es als Methode des Kampfes einzusetzen – dazu müsste unsere Ausbildung viel intensiver sein – sondern wohl mehr einer höheren Erkenntnis wegen. Gerade deshalb ist es wichtig, das den Vitalpunkten zugrundeliegende Konzept zu verstehen. Dafür ist es nötig, das Paradigma der chinesischen Medizin anzunehmen, in dem davon ausgegangen wird, dass die gesamte Welt von dem Qi genannten Fluidum erfüllt und durchdrungen wird. Das Qi eines jeden Menschen steht im Austausch mit dessen Umgebung und damit auch mit dem Qi anderer Individuen. Der Fluss des eigenen Qi unterliegt Einflüssen von außen, die sich stabilisierend oder störend auswirken können. Mit einem solchen Wissen können wir unsere Kampfkunst auch für einen eventuellen Ernstfall effektiv machen und uns gleichzeitig davor bewahren, durch einen Gegner ernsthaft Schaden zu erleiden.

Wegen der geringen Ausdehnung vitaler Stellen von jeweils etwa 0,5 bis 1,0cm2 und ihrer Lage in zumeist tieferen Schichten des Körpergewebes eignen sich für einen direkten, harten Angriff Stöße mit der heute üblichen Standardfaust Seiken kaum. Es ist mittlerweile bekannt, dass vor der Umgestaltung des Karate durch Ankō Itosu in den Kata weit mehr Stöße und Schläge mit der offenen Hand enthalten waren als heute. Bis in die 1920er Jahre war bei vielen Experten Okinawas und auch Japans die Einknöchelfaust Ippon-ken darum auch viel beliebter, und zwar wegen ihrer im Vergleich zur heutigen Standardfaust höheren Durchdringung beim Aufschlag. Mit ihr ist es bei genauer Kenntnis sehr wohl möglich, vitale Stellen zu attackieren und sofort eine hohe Wirkung zu erzielen.