Die Frau im Fluß - Peter Seeberg - E-Book

Die Frau im Fluß E-Book

Peter Seeberg

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Beschreibung

Eine Sammlung von Erzählungen, die einen spannenden Einblick in die menschliche Psyche geben!Eines haben alle Erzählungen und Parabeln in dieser Sammlung mit der psychologischen Titelnovelle gemeinsam: sie stellen vordergründig Menschen in Bedrängnis dar, die stille und verstörende Existenzen führen. Und auch wenn die Charaktere sich oft wunderlich verhalten, so bitter der Autor trotz allem um Nachsicht, damit ein besseres Verständnis entstehen kann. Eine Geschichtssammlung, die seinen Leser in ihren Bann zieht.-

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Peter Seeberg

Die Frau im Fluß

Erzählungen

Saga

Die Frau im Fluß ÜbersetztRuth Stöbling Coverbild/Illustration: Shutterstock Copyright © 1983, 2019 Peter Seeberg und SAGA Egmont All rights reserved ISBN: 9788711512654

1. Ebook-Auflage, 2019

Format: EPUB 2.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit Zustimmung von SAGA Egmont gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk – a part of Egmont www.egmont.com

Tierpfleger im Zoologischen Garten Ålborg

Mein persönliches Tigerweibchen, das einen so tiefen Blick hat und das ich persönlich gekauft hab, weil der Garten nur Tigermännchen hatte, da das frühere Weibchen gestorben ist, schenke ich dem Garten als Dank für die vielen frohen Tage zwischen Gittern.

Ich hab auch einen Zwergesel, den ich in Tunis gekauft hab, der kommt, wenn man ihn ruft, und der sehr kinderlieb ist. Er soll, solange er lebt, allen Kindern, die in den Garten kommen, zur freien Verfügung stehen. Sie können darauf reiten, wie sie wollen. Aber nicht Mädchen über vierzehn Jahre und Jungen über zwölf. Denkt daran, daß er Gurken mag.

Von meinem persönlichen Vermögen schenke ich dem Garten 100 000 Kronen für Futter, solange die Tiere leben. Wenn sie sterben, nun, dann soll der Garten das ganze Geld für den Bau eines neuen und größeren Eisbärengeheges mit Grotte verwenden. Das jetzige ist nicht bärenfreundlich genug.

Dem Tierschutzverein vermache ich 10 000 Kronen.

Meine hinterbliebene Ehefrau soll in ungeteiltem Nachlaß in unserer Villa in Sønder Tranders leben und alles behalten, was wir haben und besitzen. Die Kinder sind gut auf den Weg gebracht worden und können zurechtkommen, ohne ihre gute Mutter um das zu bringen, was sie braucht, damit das Heim in würdigem Zustand bewahrt bleibt.

Doch bitte ich sie und alle meine Hinterbliebenen, sich mir in einer Reihe von persönlichen Wünschen zu fügen, und die sind:

Niels Hansen in Guderupholm, mein langjähriger treuer Kollege, der vor zwölf Jahren nicht mit nach Indien kam, soll mein englisches Gewehr und meinen Tropenhelm haben. Er wird sich gut um die Sachen kümmern.

Unser ältester Sohn soll die Stiefel von dieser Reise haben, aber er soll sie nicht tragen. Dann werden sie sich auch während seiner Zeit halten.

Unser jüngster Sohn soll mein Fernglas haben, weil er sich für Vögel interessiert. Unsere Tochter soll die Bilder von meiner Mutter haben, die ich so sehr mochte.

Ihre Kinder sollen alle dasselbe haben, denn es soll kein Unterschied gemacht werden: jeder einen von den silbernen Löffeln aus dem Nachlaß meiner Mutter, jetzt als eine Erinnerung, und später bekommen sie ja sowieso alles zum Teilen. Damit rechnen wir. Doch eins noch. Als glücklicher Ehemann und zufrieden mit einer Arbeit, die mir die Augen geöffnet und mir jedweden Tag glückliche Stunden geschenkt hat, will ich, daß meine Gedenkfeier nicht zu einer Trauerfeier wird. Setzt von meinem Vermögen sofort so viel Geld ab, daß alle im Gefolge sowohl zu essen als auch zu trinken bekommen, vor allem zu trinken. Mietet das Feuerwehrorchester und laßt es »In meiner Kindheit, da hört ich das Krachen der Kartaunen« und andere Melodien spielen, die das Gemüt froh stimmen. Trauer ist mir fremd. Wenn sich die Tage meines Lebens ihrem Ende zuneigen, will ich für jeden davon danken und mich als ein froher Mann zum Sterben legen.

Macht es nicht zu bescheiden. Denkt daran, wie gut wir es im Leben haben und daß es nicht mehr wiederkommt.

Mein früherer Wunsch, den Tieren vorgeworfen zu werden, war nicht so ernst gemeint. Ich lasse mich auf hergebrachte Weise und mit gebührendem Gottesdienst begraben. Der Pastor darf gern etwas Schönes über mich sagen. Ihr könnt ihm ja erzählen, wie ich gewesen bin. Aber ladet ihn hinterher nicht ein. Wo mir nicht was andres hat einfallen können, will ich in all und jedem alter Sitte und Gewohnheit folgen.

Ja, darum bitt ich Euch, geliebte Hinterbliebene. Nehmt es nicht so schwer. Wenn das Leben nun mal nicht anders zu Ende gehen kann.

Macht es so, dann danke ich Euch noch ein letztes Mal. Obendrein sogar schriftlich. Was mir nicht gelegen hat.

In Liebe Ålborg/Sønder Tranders, 19. Februar 1973 gez. Eyvind Poulsen

Nachruf I

(Bergske Blade)

Zigarrenhändler Matthias Svanholm ist nach wenigen Tagen Krankheit im Alter von siebenundsiebzig Jahren verstorben. Zigarrenhändler Svanholm hat in Hobro Kaufmann gelernt und während einer Reihe von Jahren verschiedene Konsumläden in der Gegend zwischen Hobro und Farsø geleitet, bis er 1927 die alte Nissensche Zigarrenhandlung in der Storegade erwarb und sie bis zu seinem Tode betrieb. Matthias Svanholm war ein origineller Mann, der stets eine Bemerkung oder eine Geschichte parat hatte für seine Kunden, die gern in sein Geschäft kamen, nicht nur um Tabak zu kaufen, sondern auch um mit ihm ein Schwätzchen zu machen. Svanholm, der verheiratet gewesen war, verlor schon vor einem Menschenalter seine Frau und heiratete nicht wieder. Sein Hauptinteresse galt, außer seinem Geschäft, das er nach untadligen Prinzipien und mit einer landesweit bekannten großen Auswahl führte, dem Angelsport an Flüssen und Seen sowie auf dem Meer. Jedes Jahr, wenn die Meerforelle die großen Flüsse hinaufwandert, um zu laichen, schloß Svanholm sein Geschäft für ein paar Tage und stand in Regen und Hundewetter, in Sturm und Kälte mit Rute und Fliege am Steilufer. Ob etwas anbiß oder nicht, spielte für ihn keine Rolle. »Da draußen stehen, darauf kommt es an«, sagte er oft, wenn man ihn fragte. Trotz vieler Aufforderungen hatte Svanholm kein einziges öffentliches Ehrenamt inne. Er sagte auch klipp und klar warum: »Es gibt einige, die müssen nicht nur den Rücken frei haben.« Seine charakteristische, korpulente Gestalt, die außerordentlich zierlichen, kleinen Füße und das kräftige Gesicht unter dem weichen Hut werden von allen vermißt werden, die Gelegenheit hatten, ihm zu begegnen, wenn er pünktlich wie ein Uhrwerk auf dem Weg ins Geschäft war, das er eigensinnig schon morgens um sieben öffnete. Er vertrat die Überzeugung, daß die Leute die Möglichkeit haben müßten, sich schon vom frühen Morgen an Tabak kaufen zu können.

Konrektor Hans Emil Hansen ist nach jahrelanger schmerzhafter Krankheit im Alter von achtundsechzig Jahren verschieden. Konrektor Hansen stammt aus einer hiesigen Fabrikarbeiterfamilie. Hansen sprach mit Stolz von der guten Erziehung, die ihm seine fleißigen Eltern hatten zuteil werden lassen. Nach dem Examen der Mittleren Reife an der Bürgerschule besuchte er das Nørre Nissum Lehrerseminar, das er 1924 abschloß. Nach einigen Jahren Vikariatsdienst in Lemvig und Ulfborg wurde er am 1. November 1929 im Schulwesen seiner Heimatstadt angestellt. Am 1. April 1948 wurde er Konrektor. Hans Emil Hansen ehelichte 1930 die Haushaltslehrerin Martha Jungshoved. Gemeinsam bauten sie sich ein selten glückliches Heim auf, zuerst in einer Wohnung auf dem Godthåbsvej, später in der kleinen Villa, die sie sich auf dem Næssevej errichteten. Der Garten, Konrektor Hansens große Liebe, wurde mit vielen seltenen Pflanzen angefüllt und entwickelte sich zu einem wahren Vogeleldorado. Nicht selten unternahmen Fachgruppen Exkursionen durch diesen Garten, den Konrektor Hansen stolz und gern vorzeigte. Hansen war ein Christ vom alten Typ, heiß im Glauben, fest und treu in seinem Wirken, sanft und nachsichtig gegenüber den Übertretungen anderer. Seine Schüler liebten ihn wegen der Freundlichkeit und Heiterkeit, die seine Arbeit an der Schule prägten. Den neuen Gedanken begegnete er mit Wohlwollen. »Warum nicht«, sagte er stets, wenn manche Bedenken äußerten. Hansen war ein bescheidener Mann, doch er stellte sich seiner Verantwortung, wenn er sah, daß es von ihm verlangt wurde. Vom ersten Jahr an nahm er an der illegalen Arbeit in der Stadt teil, nach dem Krieg ließ er sich bei mehreren Stadtratswahlen für die Sozialdemokratie aufstellen, wurde aber nie gewählt. Außer seiner Witwe hinterläßt Hansen drei erwachsene Kinder: Physiotherapeutin Ellen Gall, verheiratet mit Anwalt Gall, Gentofte, Diplomingenieur Peter G. Hansen, Frederikshavn, Redakteur Mogens Prehn, Tageszeitung »Aktuelt«, Kopenhagen.

Häusler Laust Hansen, Klatkser, verstarb plötzlich am Sonntag während eines Besuchs bei seinem Sohn, dem Hofbesitzer Laurids Jørgen Hansen, Lynager. Bei einem Spaziergang durch die Felder befiel Laust Hansen Übelkeit. Ein Krankenwagen von Falcks Rettungsdienst brachte ihn ins Zentralkrankenhaus, wo die Ärzte feststellen mußten, daß der Tod bereits eingetreten war. Laust Hansen wurde dreiundneunzig Jahre alt.

An seinem neunzigsten Geburtstag vor drei Jahren äußerte Laust Hansen gegenüber unserer Zeitung, daß das, wofür er gekämpft habe, offenbar nichts mehr tauge. Ja, sagte er, die Zeit stehe bevor, wo Häusler seltener würden als Fledermäuse im Winter. Und dabei habe er nicht nur daran geglaubt, daß der, der den Boden bearbeitete, auch das Recht haben werde, darüber zu bestimmen, sagte er, sondern er habe auch daran geglaubt, daß das Häuslerleben, ja, daß dies ein Menschenleben von großer Bedeutung sei. Wenn die Menschen selbst für das sorgten, womit sie auskommen konnten und dafür auch die Verantwortung trugen, nun, dann war das für Laust Hansen ein bedeutenderes Leben als jenes, das auf große Unternehmen aufbaute, wo der Mann Direktor war und alle anderen rings um ihn her seine Sklaven waren. Solch starke Worte fand Laust Hansen. Aber, so sagte er, jetzt wolle ja keiner mehr selbständig sein, mit einem Pferd und einem Pflug vor und einem blauen Himmel über sich. Jetzt wollten alle abhängig und obendrein sorglos sein. Das sage ihm nicht zu, aber diesen Weg gehe es, und so komme es wohl nie mehr wieder, so wie er es sich erträumt habe. Die Menschheit trete sich selbst in den Weg, aber sie tue es gern, wenn es dabei nur gemütlich zugehe.

Laust Hansen war der Sohn eines Tagelöhners ganz weit draußen in den Dünen. Er dachte gern an die Dürftigkeit, aber auch die Reinlichkeit und Gemütlichkeit zurück, die in seinem Elternhaus herrschten. Seine Mutter, die über hundert Jahre alt wurde, erinnerte sich noch an den Tag, als das Gerücht aufkam, Olaf Rye und sein Fußvolk seien aus Fredericia ausgebrochen und die Deutschen seien auf der Flucht nach Süden. Olaf Rye sei leider für das Vaterland gefallen. Da weinten alle vor Freude. Als Junge hütete Laust Hansen Schafe, und aus dieser Zeit stammte seine Fähigkeit, Schalmeien zu schnitzen und darauf zu spielen, ein paar von den alten Melodien, die ihm seine Großmutter beigebracht hatte. Mehrere dieser Melodien sind von der Volkskundesammlung aufgezeichnet worden. Später bekam Laust Hansen auf verschiedenen Höfen der Gegend eine Stelle und war auch eine Zeitlang auf Seeland auf dem Wirtschaftshof von Bregentved. Anschließend besuchte er für ein halbes Jahr die Landwirtschaftsschule und kehrte genau zu dem Zeitpunkt in seine Heimatgegend zurück, als mit der Parzellierung von Klatkær angefangen wurde. Laust Hansen verlebte hier ein paar harte Jahre, »hart und herrlich«, sagte er. Er verbesserte den Boden, erweiterte die Gebäude und befaßte sich mit Rinder- und Schweinezucht, so daß er schon bald auf den Tierschauen der Umgebung und dieses Landesteils ein bekannter Mann wurde. Er erhielt mehrere Jahre hintereinander auf Bellahøj den ersten Preis für rotbuntes dänisches Milchvieh. Laust Hansen beteiligte sich schon früh an der Arbeit für die Häuslersache, er wurde 1909 Kreisvorsitzender, 1922 Vorsitzender der jütländischen Häuslervereinigung, 1928 Mitglied des Hauptvorstandes und des Bauausschusses, wo er bis zu seinem achtzigsten Geburtstag im Jahre 1960 mitarbeitete und für seine langjährige hervorragende Arbeit für die Sache der Häusler das Ehrendiplom der Vereinigung erhielt. Aufgrund seiner Bedeutung für die Häuslersache war Laust Hansen viele Jahre lang Mitglied des Staatlichen Gesetzesausschusses zur Verteilung von Grund und Boden sowie Mitglied der Landgewinnungskommission.

Laust Hansen kämpfte nicht nur für sich selbst; sondern auch für eine Menschensicht, die er heutzutage für verlorengegangen hielt. »Freiwillig hat man aus den Händen gegeben, was einst das Adelszeichen des Menschen war«, sagte er barsch. Er war von 1924 an Folketingskandidat der radikalen Venstre und zog 1934 als Nachfolgekandidat ins Folketing ein, blieb dort zwei Jahre lang, wurde jedoch nicht wiedergewählt. Laust Hansen nutzte das Folketing, um ohne Umschweife seine Ansicht von den Dingen darzulegen. Parteidisziplin war nicht seine Sache. »Wer allein steht, kann nicht besiegt werden«, sagte er. »Wer allein geht, kann nur auf sich selbst vertrauen.« Sein Kampf für andere war ein Kampf für freie Menschen. »Eine Zusammenarbeit auf der Grundlage klarer, abgesprochener Bedingungen, da bin ich dabei, aber diese ewigen Umarmungen, davon halte ich mich weg. Der eine ist nicht besser als der andere«, sagte er auch, »aber deswegen braucht er sich doch nicht geringer zu machen, als er ist. — Ach«, sagte er, »warum ich so viel für die andern getan hab, warum hätt ich das nicht tun sollen?« Laust Hansen war beliebt und gefürchtet, am beliebtesten bei all jenen, die mit ihm zusammengearbeitet haben. In den schweren Zeiten der dreißiger Jahre war er derjenige, der nicht jammerte. Während der Besetzung hißte er jeden Sonntag den Dannebrog. In seinem Heim war er ein liebevoller Ehemann und seinen acht Kindern, die er mit seiner Ehefrau Georgine Hansen, geb. Dragstrup, in die Welt setzte, ein guter Vater. Obgleich Laust Hansen dank seiner Tüchtigkeit und Sparsamkeit ein wohlhabender Mann wurde, erzog er seine Kinder in Armut und Genügsamkeit.

Laust Hansen blieb nach dem Tode seiner Ehefrau allein in seinem Heim. Er wollte sich nicht von Fremden betreuen lassen, auch nicht von seinen Kindern. Er brachte sich selbst bei, wie man Essen kocht und den Haushalt führt, und amüsierte sich sehr, wenn er von den Dummheiten erzählte, die er beging, bevor er das Ganze in den Griff bekam.

Während Laust Hansens langer Lebenszeit ist die Gegend eine andere geworden. Er selbst hat dazu beigetragen, das Leben für viele reicher zu machen. Sein Blick, sein Falkenblick drang bis in die Seele, und fast niemand fühlte sich dessen würdig.

Die frühere Heimpflegerin Frederikke Hovalt ist vierundachtzigjährig im Bezirkspflegeheim verschieden. Fräulein Hovalt, die auf Frederiksberg als Tochter des Reichsgerichtshofspräsidenten Francois Hovalt geboren wurde, wollte ursprünglich klassische Sprachen studieren, die sie während ihrer Gymnasialzeit — sie besuchte den altsprachlichen Zweig der Metropolitanschule — sehr beschäftigt hatten, doch bei einem zufälligen Spaziergang durch die dunkelsten Straßen der Slums von Vesterbro erweckte das plötzliche Erleben einer Not, die sie in ihrem Milieu nie selbst kennengelernt hatte, in ihr die Überzeugung, sich in den Dienst von Menschen stellen zu müssen, die dieser Hilfe bedurften.

Fräulein Hovalt war ein vornehmer, selbstaufopferungsvoller Mensch, der stets mehr gab, als man verlangen durfte. Von ihrem persönlichen, recht bedeutenden Vermögen machte sie Schenkungen an Privatpersonen, die sich in ihrer Not an sie gewandt hatten, und an Institutionen, die, wie sie meinte, der Liebe und Barmherzigkeit dienten. Vor allem die Seemannsheimbewegung fand ihre große Unterstützung.

Fräulein Hovalt wird stets um der Aufopferung willen, die bei ihr keine Grenzen hatte, in Erinnerung bleiben.

Der Schlosser Egon Schmidt ist im Alter von sechsundvierzig Jahren verstorben. Egon Schmidt war seit seiner Lehrzeit bei der Fa. Rasmussen und Söhne beschäftigt und machte sich besonders bei der Gründung einer Ortsgruppe des Dänischen Arbeiter-Schachs bemerkbar, deren Vorsitzender er bis zu seinem Tode war. Er hinterläßt seine Ehefrau und drei Kinder.

Frau Cæcilie Helgoland ist im Alter von neunuhdsiebzig Jahren verstorben. Frau Helgoland verlor vor einer Reihe von Jahren ihren Mann, den Lokomotivführer Kristian Helgoland. Sie stammte aus der Gegend von Grindsted, kam aber schon 1913 in unsere Stadt. Frau Helgoland war viele Jahre lang im Soldatenheim Dannevirke beschäftigt, wo sie wegen ihres herzlichen Wesens hoch geschätzt war, nicht zuletzt bei den Wehrpflichtigen, die von Frau Helgoland stets als von Tante Cæcilie sprachen. Ein Pflegesohn, Johannes Helgoland, wanderte vor rund zwanzig Jahren nach Australien aus, wo er einen verantwortungsvollen Posten bei der Kreispolizei in Perth innehat, nachdem er viele Jahre lang in verschiedenen Stellungen innerhalb der Landwirtschaft beschäftigt gewesen war.

Oberassistent Lorenz With und Gattin ist das große Leid widerfahren, Vinka, ihre jüngste Tochter, im Alter von nur elf Jahren zu verlieren. Vinka wurde auf dem Weg zur Schule von einem ins Rutschen geratenen Lastwagenzug gerammt und starb auf der Stelle.

Die Haushälterin Dagmar Sinding ist, zweiundsechzig Jahre alt, nach längerer Krankheit gestorben. Dagmar Sinding stammt aus Roslev in Salling und wurde dort auf mehreren großen Höfen in Haushaltsführung ausgebildet. 1937 kam sie in das Haus des Automobilhändlers Vistisen; anfangs als Köchin und nach dem Tod von Frau Vistisen im Jahre 1942 als Haushälterin. Dagmar Sinding war in weiten Kreisen wegen ihrer schönen Gesangsstimme bekannt und viele Jahre lang Mitglied des Kirchenchors.

Der frühere Chausseewärter Hans Sørensen ist siebenundachtzigjährig verstorben. Er kam aus einer Chausseewärterfamilie in der Gegend von Holstebro.

Rechenexempel

Als Ole Kindbjerg am Donnerstagmorgen aus dem Tor fuhr, war er bereits gut sieben Minuten verspätet aufgrund eines Streits mit Ellen, seiner Frau, die kurz von der Treppe winkte und reinging, während er rausfuhr.

Er sagte mehrmals: »Zum Teufel!« — auch zu sich selbst, wobei er gleichzeitig versuchte, in seinem Bewußtsein die Route aufleuchten zu lassen und sich vorzustellen, was die verschiedenen Kunden an Käse, Salaten, Wurst und abgepacktem Aufschnitt kaufen würden, und es mit dem zu vergleichen, was er eingepackt und vom frühen Morgen an zusammengezählt hatte, bis ihm das Ganze durcheinandergeriet, weil Ellen kam und fragte, ob sie am Abend in die Stadt fahren und ihre Eltern besuchen könnten. Er hatte geantwortet, ihre Eltern könnten ihm gestohlen bleiben, während er die Gläser mit mariniertem Hering zählte, sich aber bei sieben verhedderte und einfach nicht weiterkam. Es waren sieben und blieben sieben.

»Nun wart doch mal«, hatte er gesagt, als sie entgegnete, er könne ihr auch bald gestohlen bleiben.

Konnte ein Glas marinierter Hering, auf so kurze Distanz geworfen, einen Menschen erschlagen?

Sie hatte dagestanden und ihn mit ihrem bösen Starren gestört, als er von vorn anfing und bis elf zählte und sich die Zahl in seinem Lagerverzeichnis notierte.

»Ja«, sagte er dann, »das können wir ja, aber ich bin nicht vor sieben zu Hause, heut ist Donnerstag.«

Ob er sich denn nicht beeilen könne?

Schon, aber er sei ja jetzt schon mehrere Minuten zu spät dran, weil sie ihn störe. Und dabei sei dies doch für ihn ein wichtiger Tag. Der Fleischer sei heute auch unterwegs, und käme der zuerst, na ja, dann sinke der Umsatz, und finge es erst an zurückzugehen, ja, dann ginge es schnell zum Teufel, die Kunden würden stets mithelfen, einen Kaufmann auf den Hund zu bringen, wenn er sich auch nur das geringste Anzeichen anmerken ließ, daß er sein Geschäft nicht auf zufriedenstellende Weise führen könne.

»Wir lassen es«, sagte sie auf dem Weg zurück zum Haus.

»Warum denn?« wandte er ein. »Das sagst du immer. Kannst du dich denn nicht ein bißchen nach mir richten?«

Hätte sie jetzt bloß nicht diesen Halbtagsjob in der Arbeitsvermittlung, dann würde alles besser gehen. Vielleicht.

»Wir lassen es«, sagte sie, als er die Waage in den Warenraum des Lieferautos stellte, den sie am Abend zuvor saubergemacht hatte.

»Ach«, sagte er, »ob nun heute oder an einem anderen Abend, das bleibt sich doch gleich.«

»So«, sagte sie.

»Ja«, sagte er, »warum nicht?«

»Weil du unmöglich bist.«

»Soll ich mich etwa nicht um mein Geschäft kümmern?«

»So wichtig ist das wohl auch nicht, daß du dich damit kaputt machst«, sagte sie.

So wichtig war das nicht.

»Die paar Käse, die du verkaufst«, hatte sie einmal spät am Abend gesagt.

»Schaffst du das denn?« rief er.

Das habe sie ja nicht gesagt.

»Was denn?« fragte er.

Daß er es ruhig angehen lassen solle.

»Nein, danke«, hatte er gesagt, als er ins Auto stieg. Es sprang sofort an.

Sie sah ein bißchen verzweifelt und ratlos aus, und so kurbelte er die Scheibe runter, als er anfuhr, und rief ihr zu: »Dann fahren wir also heut abend!«

Sie hatte die Mundwinkel verzogen, als sie die Treppe raufgegangen war. Und in ihm hatte sich die ganze Episode nun festgebissen. Well, er mußte sehen, daß er darüber hinwegkam. Er drehte sich auf dem Sitz um, während er durch die Straße rollte, wo der Textilwarenhändler im Begriff war, die Markise runterzulassen, und ihm dabei zuwinkte. Der Eisenwarenhändler stellte die Plasteeimer und Rasenmäher raus, und im Bäckerladen beugte sich die Verkäuferin über die Kuchenregale im Fenster und nahm für eine Frau vom Gemeindeamt vier Plunderstücke raus, die diese für den Vormittagskaffee um halb zehn haben wollte. Es wurde weiß Gott überall gearbeitet, wollte er meinen.

Von den elf Glas mariniertem Hering würde er zwei an die Frau des Tierarztes verkaufen. Sie wollten was zum Zuessen haben zu ihrem Schnaps (er hatte zwei Flaschen mitgenommen, falls bei ihnen zufällig Schmalhans herrschen sollte, obwohl er das nicht durfte; aber das war ja nur bürokratisches Gewese). Auf dem nächsten Hof kaufte die neue Frau, der sicherlich eine Firma in Kopenhagen gehörte, auf jeden Fall drei Glas (auch für sie hatte er eine Flasche mit, falls irgendein Mangel angedeutet werden sollte). Frau Petersen aß keinen Hering, aber auf dem nächsten Gehöft aßen sie auf jeden Fall ein Glas die Woche — zum Frühstück, weil der Mann von Seeland stammte; auf dem nächsten bestand keine Chance, und nun hatte er sich doch verrechnet, das war ganz offensichtlich, denn der alte Folketingsmann in der früheren Oberförsterei war verreist, nach Teneriffa oder Marokko, sie nahmen sonst jede Woche vier Glas. Die Frau war so nett. »Wollen Sie nicht einen Kaffee, Kindbjerg?« und in dem Stil. Aber sie waren nicht da. Das würde sich auch beim Käse und bei den russischen Krabben bemerkbar machen, von denen er ein paar Dosen mithatte. Doch bei den Salaten blieb es sich gleich. Sie aßen nur selbstgemachten Salat. Er mußte sich was einfallen lassen, um die Gläser mit mariniertem Hering loszuwerden. Sie waren fast schon überlagert. Der Fabrikstempel saß verdammt fest auf dem Etikett, und ohne Etikett konnte er sie nicht verkaufen. Er hatte es schon mit Radierwasser und allem versucht. Bisher hatte sich noch keiner beklagt, aber es war klar, daß Frau Petersen sofort Preisnachlaß haben wollte, wenn das Verbrauchsdatum überschritten war. Trotzdem, wenn er sich anstrengte, würde er allen Hering, bis auf zwei Glas vielleicht, verkaufen.

Er bog von der Landstraße ab und fuhr die schmale staubige Allee zur Tierarztfamilie hoch, das waren ein paar ungewöhnlich nette Leute, die jedoch Wert auf Qualität legten. Aber sie waren eine große Stütze. »Sie dürfen nicht aufhören«, sagte die Frau immer. »Wir können es einfach nicht missen, daß Sie angehupt kommen, Kindbjerg«, sagte sie. Sie sei ausgebildete Säuglingsschwester, hatte sie erzählt, aber die Gemeinde habe bis jetzt noch keine Kinderkrippe.

Der Tierarzt war nicht zu Hause. Die großen Tore der alten Scheune standen weit offen. Es kam ja darauf an, schnell rauszukommen, wenn ein Schwein ferkeln sollte. Schweine kosteten immer noch ein kleines Vermögen, und je größer sie wurden, desto mehr kosteten sie. »Wissen Sie, was ein Schwein im Laufe eines Jahres bringt, Kindbjerg?« hatte der Tierarzt ihn eines Tages gefragt, als sie zusammen ein Bier auf der Treppe tranken; es war so heiß an dem Tag. Und dann hatte er einen schwindelnd hohen Betrag genannt. Beinahe mehr, als eine Frau bei Halbtagsarbeit verdienen konnte. Doch das meiste davon mußte wieder investiert werden. Es kehrte zurück, schwoll aber trotzdem ein bißchen an, wenn man vorsichtig war.

Es blieb ja nichts weiter übrig, als zu versuchen, es in Gang zu halten, es sich etappenweise vorzunehmen, dann erreichte man stets flott sein Ziel.

Er stiebte auf den Hofplatz, und die Sonne gleißte auf den Blechdächern und in dem kleinen Springbrunnen, der mitten auf dem Hof plätschernd und blubbernd einen schwachen Strahl aus einem Hahn in die Höhe sandte. Er stieg aus, und aus dem Garten kam die Tierarztfrau in kleinen weißen Shorts und einer geblümten Bluse, die über der Bauchhaut offen war, ein buntes Kopftuch ums Haar gebunden, und lächelte und sagte: »Schön, daß Sie gekommen sind, Kindbjerg«, mit ihrem putzigen fünischen Einschlag in der Ausdrucksweise, »wie heiß es heute ist!«

»Ja, und das soll so bleiben, man kann bald abends draußen sitzen«, sagte er.

»Haben Sie irgendwelchen Hering, Kindbjerg?« fragte sie.

»Ich hab mich eingedeckt, darauf können Sie sich verlassen«, antwortete er etwas zurückhaltend. »Ich hab mir heute morgen gesagt, es wird Heringswetter, richtiges Heringswetter, mit einem Schnäpschen zum Abendbrot und allem Drum und Dran. Es ist also alles da.«

Sie kaufte sechs Glas.

»Nun fehlt leider der Ziegenkäse und der Schnaps«, sagte sie.

»Hier ist er«, sagte er, »der feinste Ziegenkäse von Jensen & Jensen und all die guten alten Grünschnäbel aus Ålborg.«

»Sie denken aber auch an alles, Kindbjerg«, sagte sie und nahm ihm seine drei Flaschen Schnaps ab.

»Alles für die Kunden«, sagte er.

»Wollen Sie ein Bier?« fragte sie, »auf der Treppe, im Schatten?«

Der Hund kam angeschlichen, an der Schattenkante entlang.

»Schöner Hund«, sagte er, »nein, danke, Frau Schmidt, heute nicht. Heute ist der Fleischer unterwegs. Ich muß mich ums Geschäft kümmern, ich muß los. Alles für die Kunden, aber für sich selbst soll man auch nichts verkehrt machen.«

»Ja, aus dem mach ich mir nichts«, sagte die Tierarztfrau, »er ist allzu höflich.«

»Schön zu hören«, sagte Kindbjerg, »meine Kragenweite ist er auch nicht.«

»Und dann all seine Weibergeschichten«, sagte die Tierarztfrau, »man weiß gar nicht, was man von ihm halten soll.«