Die Insel der Seelen - Piergiorgio Pulixi - E-Book
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Die Insel der Seelen E-Book

Piergiorgio Pulixi

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  • Herausgeber: Kampa Verlag
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2023
Beschreibung

Die Kommissarinnen Mara Rais und Eva Croce sind nicht begeistert, als sie in die Abteilung für ungeklärte Verbrechen des Polizeipräsidiums von Cagliari im Süden Sardiniens zwangsversetzt werden. Die eine ist gebürtige Sardin, nicht auf den Mund gefallen und damit schon manches Mal angeeckt. Die andere, eine Mailänder Spezialistin für Ritualmorde, steht privat vor einigen Herausforderungen und wurde suspendiert. Das Büro der neu gegründeten Abteilung Cold Cases: ein staubiger Keller voller alter Akten. An der Seite der beiden Ermittlerinnen: der todkranke Moreno Barrali, seinerseits Ispettore capo der Polizia di Stato. Er will in den wenigen Monaten, die ihm noch bleiben, einen alten Fall lösen: Vor Jahrzehnten wurden zwei Frauen am Tag der Toten in der Nähe von nuraghischen Brunnentempeln brutal ermordet. Ritualmorde, denkt Moreno Barrali. Doch seine Vorgesetzten glauben nicht an seine Theorie. Das Team begibt sich auf die Spur eines uralten Kults – und auf einmal wird der Cold Case brandheiß: Eine zweiundzwanzigjährige Frau ist seit einigen Tagen spurlos verschwunden. Ein drittes Opfer?

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Piergiorgio Pulixi

Die Insel der Seelen

Roman

Aus dem Italienischen von Barbara Engelmann, Barbara Neeb und Katharina Schmidt

Kampa

Für meine Landsleute

Fürchte nicht die Toten, sondern die Lebenden.

 

Sardisches Sprichwort

 

 

 

Dieses Land ähnelt keinem anderen Ort …

Liebliche Weite ringsum, entgleitende Entfernungen,

nichts endet, nichts ist endgültig.

Es ist die Freiheit selber.

 

D.H. Lawrence, Das Meer und Sardinien

Prolog

Von den vier Beamten, die im Lauf der Zeit offiziell in der Mordsache Dolores Murgia eingesetzt worden waren, bin nur ich noch am Leben. Und insgesamt habe ich vier Kollegen verloren, vier Freunde. Einige meinten, dass dieser Fall unter einem schlechten Stern stehe. Dass wir besser daran getan hätten, ihn zu vergessen, ihn ungelöst zu belassen. Doch durch unser beharrliches Nachbohren haben wir stattdessen die animas malas, die bösen Geister, geweckt, und die Finsternis hat uns alle eingeholt, einen nach dem anderen. Wie ein Fluch.

Ich weiß auch, was man über mich sagt: Sie meinen, im Grunde hätten meine Kollegen mehr Glück gehabt als ich und dass ich diejenige bin, die den höchsten Preis bezahlt hat und noch bezahlen wird, weil ich als Einzige überlebt habe. Der Fluch lastet nun auf mir. Und es ist eine furchtbare Last. An den besseren Tagen versuche ich mir einzureden, dass das alles keine Rolle spiele. Das war nun mal unser Job, und dem Mädchen musste auf irgendeine Weise Gerechtigkeit widerfahren. An den schlimmeren Tagen meine ich, alles falsch gemacht zu haben, zugelassen zu haben, dass die anderen wegen nichts und wieder nichts in den Abgrund gerissen wurden. In der letzten Zeit sind die schlimmeren Tage in der Überzahl, aufzustehen und zur Arbeit zu gehen fällt mir immer schwerer. Ich hätte mein Entlassungsgesuch einreichen sollen, als nur noch ich übrig war, aber das konnte ich nicht. Zu viele Gespenster, zu viele Schuldzuweisungen. Wer sagt, dass Gespenster mit der Zeit verblassen, aufgeben und verschwinden, der lügt. Meine sind lebendiger denn je. Sie erinnern mich daran, dass ich die einzige Ermittlerin der Sonderkommission bin, die noch im Dienst ist. Auf mir lastet die Verantwortung, die Arbeit zu beenden, auch wenn anscheinend alle außer mir Dolores und die anderen jungen Frauen vergessen haben.

Meine Schuldgefühle haben sie, die Gespenster, jedenfalls nicht vergessen. Sie erinnern mich ständig. Sie zu ignorieren ist unmöglich. Deswegen bin ich immer noch Polizistin. Nicht wegen Dolores, sondern ihretwegen. Denn ich weiß, dass sie nicht verschwinden werden, bevor diese Geschichte nicht zu Ende gebracht ist.

Ich lasse den Blick über die Wand mit der Fotografie von meiner Einheit schweifen. In den lächelnden Gesichtern suche ich Kraft und finde eine sonderbare Art von Trost. Ehe ich aus dem Haus gehe, betrachte ich mich im Spiegel. Was ich dort sehe, gefällt mir nicht. Denn was ich dort sehe, ist nur mein Körper, meine Seele ist nicht mehr da. Ich habe sie an diesem grauenvollen Tatort gelassen. Und deshalb muss ich dorthin zurückkehren, um sie mir zurückzuholen.

Ich hoffe nur, dass es noch nicht zu spät ist.

Erster TeilDer Tag der Toten

Es gibt eine andere Zeit.

Ich habe sie gesehen.

Ehe Blut aus dem Boden quoll.

Ehe Magma die Risse aufbrach.

Die Lippen auf den Boden gepresst, lag ich da.

Und wartete, dass die Jahreszeit ihr Ende fand.

 

Marcello Fois, Das unendliche Nicht-Enden

1

Aratu-Tal, in den Bergen der Barbagia, Sardinien, 1961

Der Hund witterte das Blut auf Hunderte Meter Ent- fernung. Die Feuchtigkeit der Nacht intensivierte die Gerüche der mediterranen Macchia und entfachte ein wahres Duftfeuerwerk: Myrte, Zistrose, Erdbeerbaum, Ginster, wilder Thymian … Und doch nahm das Tier hinter den typischen Aromen dieser Berge, die der Wind durch einen Spalt im geborstenen Fensterrahmen ins Zimmer trieb, eine unverwechselbare säuerliche Eisennote wahr: menschliches Blut. Es spitzte die Ohren und erhob sich dumpf bellend von seinem Platz dicht neben dem Bett des Kindes.

Der Junge erwachte und sagte dem Hund, er solle weiterschlafen. Das Tier schien ihn jedoch nicht einmal zu hören. Wie einem seltsamen Lockruf gehorchend, rannte es aus dem Zimmer und dann aus dem Haus. Es raste zu dem hinter dem Haus gelegenen Wäldchen und verfolgte die deutliche Spur, die ihm aus den erdigen Gerüchen des Unterholzes und aus den feuchteren des taugetränkten Grases in die Nase drang. Seine Riechzellen leiteten den Hund wie ein Radar. Er durchquerte ein Waldstück mit riesigen jahrhundertealten Eichen, wo er sich im Labyrinth der wild wuchernden Brombeerbüsche die Haut zerkratzte. Doch der Schmerz hielt ihn nicht auf. Immer strenger und heftiger wurde der Geruch, als hätte das Blut sich aus einem Hintergrundrauschen zu einem schrillen Schrei gesteigert. Der Hund verlangsamte seinen Lauf, als er unterhalb eines felsigen Abhangs eine Lichtung erreichte, die nur von wenigen Bäumen bewachsen und fast vollkommen frei von Macchia war. Rund um diesen freien Platz standen Erdbeerbäume, uralte Steineichen und Wacholderbüsche so alt wie die Berge selbst. Die Baumkronen rauschten auf einmal nicht mehr. Auch das Summen der Insekten war allmählich leiser geworden, bis es von einer übernatürlichen Stille erstickt wurde, die wie mit einem Zauber diesen zwischen den Hügeln verborgenen freien Raum einhüllte. Ein zunehmender Mond tränkte die Lichtung in ein silbernes Licht und hob die Umrisse einer am Boden zusammengesunkenen Gestalt hervor. Sie war mit Schafsfellen bedeckt, und über ihr kreiste eine Fliegenwolke.

Der Hund sah sich furchtsam um. Eingefasst von hohen Quadern aus Naturfels, die mit Moos und Flechten bedeckt waren, und geschützt von den dicht belaubten Ästen der Bäume, die zu seiner Verteidigung Spalier zu stehen schienen, erhob sich dort ein frühzeitlicher Steinbau, halb verschlungen von einer Mauer aus wild ineinander verwachsenen Pflanzen: eine Art Vagina aus Trachyt in den Spalten der Felswand. Bläulicher Dunst waberte aus dem Inneren des Tempels, und der Hund nahm leises Plätschern von Wasser wahr: Es kam von einer Quelle, von der er sich immer ferngehalten hatte, selbst in den heißesten Stunden im Sommer, wenn der Durst ihn quälte. Von diesem Ort, der in eine düstere Totenstille gehüllt war, als würde jedes Geräusch aufgesaugt von der gierigen Vegetation, gingen unheilvolle Schwingungen aus. All seine Sinne schrien ihm zu, er solle verschwinden, und doch konnte er keinen Muskel bewegen. Er beschloss, diese unsichtbare Grenze zu überschreiten, wagte ein paar Schritte und näherte sich dem Menschen. Es war eine Frau, nackt unter den Schafsfellen. Blut tropfte aus einer klaffenden Wunde am Hals und tränkte das feuchte Erdreich. Die Hände waren hinter dem Rücken gefesselt. Die Frau kniete nach vorne gebeugt genau im Zentrum eines Runds aus Megalithen, die in einer Spirale zur Mitte führten, vor dem Tempel, der die heilige Quelle schützte. Das Wassergeräusch im Inneren des Gebäudes war nun lauter. Über der noch warmen Leiche schwebte der Tod, der Hund konnte zwischen den gigantischen Felsbrocken beinahe dessen Nachhall wahrnehmen. Eine zwischen den anderen herausragende Stele, auf der sich plastisch die Mondsichel abzeichnete, schimmerte in einem feenhaften Licht. Der hohe Steinpfeiler schien den leblosen Körper mit eisigem Blick zu betrachten.

Die Pfoten des Hundes zitterten wie zarte Zweige im Wind. Der scharfe Geschmack von Gefahr breitete sich auf seiner Zunge aus. Er wusste, dass er nicht an diesen Ort gehörte, dass er durch seine Anwesenheit ein uraltes Gesetz brach. Nun spürte er die brennenden Schmerzen in der Seite, wo die Dornen der Brombeerbüsche ihm bei seinem wilden Lauf durch die Macchia tiefe Kratzer zugefügt hatten. Doch dieser körperliche Schmerz war nichts im Vergleich zu der lähmenden Angst, die ihn ergriffen hatte. Jedes Geräusch wurde von dem heftigen Klopfen seines Herzens übertönt.

»Angheleddu!« Der Hund hörte die Stimme des Kindes in seiner unmittelbaren Nähe.

Ruckartig drehte er sich um und sah, wie sein junger Besitzer zu ihm kam und wenige Schritte von der vornübergebeugt am Boden knienden Gestalt stehen blieb. Der beißende Gestank der Felle, die sie einhüllten, war so stark, dass er den Geruch nach feuchter Erde und Blut überlagerte. So intensiv, dass er auch die säuerlichen Ausdünstungen aus dem von Adrenalin und Angst gefluteten Körper des Kindes überdeckt hatte.

Angheleddu stieß ein dumpfes Knurren aus, als wollte er den Kleinen davon abbringen, sich dem Opfer und dem Heiligtum zu nähern.

Es war eine dieser eisigen Nächte, in denen einem vor Kälte die Lippen aufplatzen und die Haut an den Fingerknöcheln einreißt. Das Kind erschauerte, aber nicht vor Kälte: Der Anblick der Leiche hatte jede körperliche Empfindung verdrängt. Abgesehen von dem Blut, das von den Steinrinnen aufgefangen zu werden schien, die sich auf die Quelle zuschlängelten, gab es ein anderes Detail, das ihm Angst einjagte: Das Gesicht der Leiche war von einer Tiermaske aus Holz mit langen, spitzen Hörnern bedeckt; sie erinnerte ihn an die Masken vom dörflichen Karneval, zu dem ihn sein Vater einmal mitgenommen hatte. Diese hatten ihn noch Wochen danach in seinen Träumen verfolgt. Er hätte all seine kindlichen Schätze darauf verwettet, dass das Gesicht der Frau von der carazza ’e boe, der traditionellen Stiermaske, bedeckt war.

Er seufzte, hin- und hergerissen zwischen Überraschung und Furcht, und betrachtete die langen dunklen Haare, die sich über die durchscheinende Haut der Frau und den Mantel aus Schafsfellen ergossen.

Der Hund stellte sich ihm in den Weg, als wollte er ihn vor diesem Anblick schützen, und versuchte, ihn wegzuschieben.

Ein Geräusch ließ sie beide zusammenfahren. Es kam aus dem Inneren des Tempels, den ein Nebelschleier umgab, sodass man fast nichts erkennen konnte.

Die flackernden Lichter der Sterne am trüben Novemberhimmel brachten kaum Licht ins Tal, sodass die Umrisse des Heiligtums nur schwer zu erkennen waren. Obwohl er erst vor Kurzem wegen der Köhlerei seines Vaters hierhergezogen war, hatte der Junge diese Berge bereits gründlich erkundet, aber auf diesen urzeitlichen Ort war er zuvor nie gestoßen, als hätte die Vegetation ihn absichtlich verschluckt, um seine Existenz geheim zu halten.

Der Junge wollte zur Quelle gehen, aber der Hund hinderte ihn daran, indem er ihm den Weg verstellte.

Sie hörten schwere Schritte, als ob jemand eine Treppe hinaufginge. Jeder Schritt war von lautem metallenem Scheppern und Schellen begleitet.

Der Hund und das Kind verharrten reglos, als hätte ein Zauber sie gelähmt. Mit klopfenden Herzen sahen sie, wie der Nebelvorhang von einer riesigen Gestalt geteilt wurde, die aus den Eingeweiden der Erde an die Oberfläche kam wie eine urzeitliche Gottheit der Wälder, die sich nach einem sehr langen Schlaf wieder zeigte. Eine Tiergottheit. Ein Wesen von menschlicher Anmutung, wenn auch groß wie ein Riese, das Gesicht ebenfalls von einer Furcht einflößenden Maske mit langen spitzen Hörnern bedeckt, die im Schein der Fackel in seiner Hand gespenstisch aufleuchtete. Der Hüne war mit einem schweren Umhang aus den zotteligen Fellen dunkler Schafböcke bekleidet, der mit einem breiten Gürtel zusammengehalten wurde. Über den kräftigen Schultern lag ein Strang mit eisernen Kuhglocken, und die linke Hand, zweifellos menschlich, hielt ein Messer mit gebogener Klinge, die noch feucht von Blut und Wasser glänzte. Ein muccadore, ein schwarzes Kopftuch, wie es die Großmutter des Jungen trug, bedeckte die Haare. Die Beine, dick und lang wie Steineichenstämme, steckten in Lederbeinlingen, und er trug hohe schwarze Stiefel, die wie die cusinzos aussahen, die sein Vater für seine Arbeit in den Wäldern anzog.

Der Riese bemerkte die beiden, aber es schien ihn nicht zu kümmern.

Angheleddu und das Kind waren wie versteinert. Sie beobachteten, wie der Hüne sich der Frau näherte, ihr mit einer entschiedenen Geste den Umhang aus Schafsfellen wegzog, sodass nun ihr blutverschmierter Rücken frei lag. Das Wesen ließ die Fackel auf den Steinboden fallen, zog aus seinem Gurt ein Widderhorn und schüttete daraus Wasser auf die Leiche, wodurch ein frischer, kreisrunder Einschnitt auf der Haut sichtbar wurde, ähnlich wie von der pintadera, mit der die Mutter des Jungen den rohen Brotlaib vor dem Backen stempelte. Dann, wie in Erwartung eines Zeichens, hob der Riese sein hinter der Maske verborgenes Gesicht zum Sternenzelt. Und der Himmel schien ihm zu antworten, denn wenige Sekunden später erhob sich wieder der Wind und fauchte durch die Wälder wie eine große tollwütige Bestie.

Der Junge spürte, wie seine Seele von diesem eisigen Atem fortgerissen wurde, er hatte das Gefühl, als ob dort in den Wäldern etwas aus einem langen Schlaf erwacht wäre.

Unter der schweren Holzmaske deklamierte der Riese mit hohler Stimme eine Art Gebet an die Sterne: »A una bida nche l’ant ispèrdida in sa nurra de su notte. Custa morte est creschende li lugore a sa luna. Abba non naschet si sàmbene non paschet.«

Der Junge verstand nur wenige Worte: Wasser, Tod, Mond, Blut; trotzdem hatte der Tonfall des Dämons genügt, um in ihm eine urzeitliche Angst wachzurufen, als hätte das Gebet den Spalt zum Limbus der Seelen geöffnet; denn diese archaische Sprache sprach nicht den Verstand an, sondern die Eingeweide. Die Eingeweide von Mensch und Erde.

Angheleddu gelang es, sich aus seiner Starre zu lösen, und er begann zu knurren.

Das Mischwesen aus Gott und Tier drehte sich zu dem Hund um, beugte sich nieder und streckte eine enorme Pranke aus. Auf deren Rücken bemerkte der Junge eine helle, halbmondförmige Narbe; er sah auch die Stahlklinge im Mondschein aufblitzen und presste in Erwartung des Schlimmsten die Augen zusammen. Aber der Hüne hegte keine Mordgedanken: Er streichelte dem Hund über den Kopf, der das reglos zuließ, wie hypnotisiert von den finsteren Augenhöhlen der Stiermaske.

Als der Junge seine tränenfeuchten Augen wieder aufschlug, sah er verwundert, dass sein Hund unversehrt neben ihm stand. Der Riese hatte auf dem Kopf der Frau eine Art Blätterkrone drapiert und entfernte sich nun mit langsamen Schritten Richtung Wald, bis die Dunkelheit ihn verschluckt hatte. Das Kind hörte das Knistern der Flammen, noch ehe er ihren Schein sah. Das Feuer verzehrte die Macchia und griff dann auf die Bäume über. Keine Minute später hatten die Flammen auch das Heiligtum erfasst.

Angheleddu zerrte mit den Zähnen an den Hosen des Jungen, wie um ihn aus seiner Erstarrung zu lösen und von dem unheilvollen Ort fortzuziehen.

Das wütende Bellen des Hundes erreichte den Jungen jedoch nur als Hintergrundrauschen, er starrte weiter auf die Leiche der Frau, die gleich von den Flammen verzehrt werden würde. Erst als das Tier ihn in die Wade biss, tauchte er aus den sumpfigen Abgründen des Unterbewussten auf und kam wieder zur Besinnung. Das Feuer hatte bereits einen Großteil des Brunnenheiligtums verschlungen. Überall prasselten die Flammen. Dichter schwarzer Rauch verpestete die Luft und trieb ihm die Tränen in die Augen, die heißen Böen wurden immer heftiger. Noch einen Moment länger, und es wäre unmöglich geworden zu entkommen oder auch nur zu atmen.

Der Junge flüchtete in einen Teil des Waldes, den das Feuer noch nicht erreicht hatte, ohne sich nach der Leiche umzudrehen, die die lodernden Flammen inzwischen in Brand gesetzt hatten. Von der Frau würde nur eine Handvoll Asche übrig bleiben.

Aus Angst, dass der Riese zurückkehren und ihn holen würde, sollte der Junge keiner Menschenseele jemals erzählen, was er gerade erlebt hatte.

Zu Hause schlüpfte er, nach Rauch stinkend, so, wie er war, ins Bett. Angheleddu legte sich zu seinen Füßen, am ganzen Leib zitternd. Der Junge redete sich ein, dass er alles nur geträumt hatte, aber die Frau mit der Stiermaske hatte nicht die geringste Absicht, seine Träume oder auch nur seine alltägliche Wirklichkeit wieder zu verlassen.

Sie sollte ihn zukünftig Tag für Tag quälen.

Bis zum Schluss.

Ebenso dieser archaische Spruch, den er niemals würde vergessen können: Abba non naschet si sàmbene non paschet.

»Wasser fließt erst, wenn es von Blut gespeist …«

2

Nuraghen-Komplex von Sirimagus, Tratalias, Südsardinien, 2016

Auf Sardinien ist Stille fast eine Religion. Die Insel be- steht aus endlosen Weiten und Stillschweigen, das so alt ist wie die Welt und etwas Heiliges an sich hat. Es durchdringt alles: die von mediterraner Macchia bewachsenen Hügel, die sich bis zum Horizont erstrecken, die endlosen Getreidefelder, die Ebenen mit Zistrosen, Mastixsträuchern, Myrten und Erdbeerbäumen, die die Luft mit betörenden Düften erfüllen; die Berge, die sich beinahe schüchtern zum Himmel erheben, als fürchteten sie, ihn zu entweihen. Die Hochebenen und Weidegründe, über die die Herden streifen und der Mistral hinwegfegt. Über allem liegt eine durchdringende Stille. Der Mensch versucht gar nicht erst, die Natur zu beherrschen, weil er sie fürchtet. Diese Furcht liegt ihm im Blut, sie ist ein Erbe aus grauer Vorzeit. Er weiß instinktiv, dass die Natur die Geschicke von Menschen und Tieren lenkt, und lernt schnell, alle Phänomene in seiner Umgebung zu erkennen und zu deuten, denn so seltsam es scheinen mag, diese Stille ist beredt. Sie lehrt und warnt. Sie spricht Empfehlungen aus und rät ab. Und wer ihr nicht den nötigen Respekt erweist, den verflucht sie.

Von der Anhöhe von Sirimagus beobachtete Moreno Barrali die Ebene zu seinen Füßen, die von einer unwirklichen Stille durchdrungen war, und versuchte, aus dieser Stille eine Vermutung abzuleiten. Man hatte ihm gesagt, dass das Mädchen in dieser Gegend verschwunden war. Die gesamte Ebene war übersät mit Nuraghen, Gigantengräbern, steinzeitlichem Mauerwerk und Überresten protosardischer Siedlungen. Eine esoterische Kultstätte, wie in den anderen Fällen. Nur dass hier kein Mord geschehen war. Nachdem das Verschwinden der jungen Frau bekannt geworden war, hatte Barrali die Gegend zusammen mit einheimischen Hirten und Bauern Zoll für Zoll abgesucht, aber keine Spur von ihr gefunden.

Das heißt noch gar nichts, sagte er sich. Das Mädchen ist vor zwei Tagen verschwunden. Wer sie sich geschnappt hat, könnte alle Spuren beseitigt haben.

Doch er glaubte selbst nicht an diese These: In den anderen Fällen war die Leiche ganz offen zurückgelassen worden. Und außerdem war noch nicht sa die de sos mortos, der Tag der Toten. Dolores lebte noch, das spürte er. Sie war irgendwo versteckt worden in Erwartung dieser verfluchten Nacht.

Er sah sich um. Es war ein schöner Tag, obwohl in weniger als einer Woche der Oktober enden würde. Leichte Wolkenschleier zogen langsam am ansonsten strahlend blauen Himmel dahin. Die Luft war mild und klar. Die Sonne verströmte ein weiches, gelbliches Licht.

Sein Blick suchte den kleinen See.

Sirimagus heißt der See des Magus, also des Zauberers oder des Teufels, dachte er. Im Dorf ging die Legende, dass es an diesen Orten zu übernatürlichen Erscheinungen kam. Ob er diese Stelle genau deswegen gewählt hat?

Barralis Überlegungen wurden von einem plötzlichen Hustenanfall unterbrochen, so heftig, dass er sich zusammenkrümmte: Es fühlte sich an, als hätte er Schmirgelpapier in den Eingeweiden, und erinnerte ihn daran, dass er einen Termin hatte, den er nicht verpassen durfte. Er war schon spät dran. Er starrte ein letztes Mal auf die Ebene, auf der Suche nach irgendeinem Detail, das ihm verraten konnte, was mit der jungen Frau geschehen war, doch vergebens.

Von einer düsteren Vorahnung erfüllt, ging Barrali den Pfad zurück. Vielleicht irrst du dich ja, sagte er sich. Vielleicht ist sie einfach aus freien Stücken abgehauen, und es hat nichts mit den anderen zu tun.

Doch er wusste ganz genau, dass es nicht so war.

Oder besser gesagt: Er spürte es.

Seufzend ging er zu der kleinen Gruppe zurück, die ihn auf den Hügel begleitet hatte, und sie kehrten zurück ins Tal.

3

Businco-Krankenhaus, Cagliari

Jeder Kriminalbeamte hat mindestens einen: einen unge- lösten Fall, der ihm den Schlaf raubt, der ihn auch nach Jahren noch quält und ihn mitten in der Nacht aufwachen lässt, mit brennenden Schuldgefühlen, auf ihn einprasselnden Erinnerungen und Bildern, die er nicht vergessen kann. Und wenn man zu jung ist, um einen eigenen Fall zu haben, dann erbt man ihn von irgendeinem älteren Ermittler. Es ist wie das Weiterreichen der Fackel. Eine Art Pakt, um die Dämonen der Vergangenheit zum Schweigen zu bringen, die Geister zu besänftigen und in Frieden sterben zu können, ohne all die Dinge bedauern zu müssen, die man hätte tun können und die man doch nicht getan hat.

Der Ispettore Capo der Staatspolizei Moreno Barrali dachte an seinen Fall, während der Onkologe des Businco-Krankenhauses in Cagliari ihm mit vielen umständlichen Worten erklärte, dass die Strahlentherapie nicht die erhoffte Wirkung gezeigt hatte.

»Wie lange?«, unterbrach er ihn.

»Wie lange was?«, fragte der Arzt verwirrt.

Barrali stand auf. In diesem Moment schienen die Schmerzen ihm schon beim Aufstehen die Muskeln zu zerreißen. Ohne seinen Stock hätte er sich wahrscheinlich nicht auf den Beinen halten können. Das kam natürlich von dem Ausflug nach Sirimagus, aber nicht nur: Er spürte, dass ihm wenig Zeit blieb. Und er musste wissen, wie lange noch.

»Wie lange habe ich noch?«

»Im Moment müssten wir noch ein paar weitere Untersuchungen machen, um zu sehen, wie …«

»Dottore, ich sterbe, reden wir doch nicht drum herum. Ich muss nur wissen, wann es passiert, um … ein paar Dinge zu regeln.«

»Bei dieser Diagnose bleiben Ihnen vier bis sieben Monate, maximal acht. Das Problem ist der Allgemeinzustand. Wenn wir mit der Therapie fortfahren …«

»Nein. Schluss mit den Therapien«, sagte Barrali. »Manchmal muss man die Niederlage akzeptieren. Ich bin zu müde, um weiterzukämpfen.«

»Ich verstehe. Dann sogar weniger.«

Barrali zuckte zusammen.

»Es tut mir leid.«

»Das hier«, sagte der Polizist und tippte sich an eine Schläfe, »wie lange wird das hier noch normal funktionieren?«

Das war seine größte Sorge. Die Krankheit hatte bereits begonnen, seine geistige Klarheit anzugreifen und Erinnerungen auszulöschen. Das Denken wurde mit jedem Tag schwieriger. Manchmal passierte es ihm, dass er mitten im Gespräch den Faden verlor und keine Ahnung hatte, wie er es sinnvoll beenden sollte, was bei seinen Gesprächspartnern mitleidige Verlegenheit auslöste.

Der Blick des Arztes genügte ihm als Antwort. In dem Moment begriff er, dass er nicht mehr warten konnte. Er hatte bis zum letzten Moment gehofft, das Ganze allein schaffen zu können, aber jetzt war der Zeitpunkt gekommen, um Hilfe zu bitten. Und zwar sofort.

»Vielen Dank für alles, Dottore.«

Unter großen Anstrengungen verließ er das Krankenhaus. Er nahm ein Taxi und ließ sich vor einer alten Bar absetzen, die er früher oft nach der Nachtschicht aufgesucht hatte, als er noch ein junger Streifenpolizist war. Drinnen war immer noch alles so wie vor fünfunddreißig Jahren: schummrige Beleuchtung, der geflieste Boden mit Schachbrettmuster, die massive Theke in dunklem Mahagoni, die Zapfhähne aus Messing, die im Halbdunkel funkelten, die Neonlichter, die Cinzano-Aschenbecher, die staubige Jukebox und die vergilbten Campari-Werbeposter an den Wänden, die sich den Platz mit Schwarz-Weiß-Plakaten von Boxkämpfen teilten. Der einzige Unterschied zu früher bestand darin, dass der Barista neben der Kasse sich nicht über eine Zeitung beugte, sondern über ein Tablet, auf dem er sich die Nachrichten ansah.

Ja, abgesehen davon noch alles genau wie früher. Nur du selbst bist nicht mehr wiederzuerkennen, sagte sich Barrali, während er sich in einem Spiegel betrachtete. Diese ausgezehrte, von der Krankheit gezeichnete Person mit eingefallenen Wangen und verängstigtem, ungläubigem Blick konnte doch nicht er sein. Aber der Spiegel log nicht.

Trotz der Uhrzeit bestellte er einen Grappa und setzte sich in eine Nische, immer noch kurzatmig von der Anstrengung. Er nippte am Schnaps. Den hatte er sich verdient, auch wenn der Arzt bestimmt anderer Meinung gewesen wäre.

Die Ärzte können mich mal. Mit denen bin ich durch, dachte er und starrte auf seine rechte Hand, die gerade kaum noch das Grappaglas halten konnte. Er beobachtete, wie sie zitterte, als gehöre sie nicht zu ihm, als könne er nicht begreifen, in diesem kranken Körper gefangen zu sein, der mit jedem Tag mehr verging.

Ob es wirklich all das Böse war, das du gesehen hast? Hat dich das infiziert?, fragte er sich. Die Antwort darauf ließ er lieber offen. Es gab wichtigere Fragen, mit denen er sich beschäftigen musste.

Barrali zog eine Visitenkarte aus der Tasche. Er sagte sich, dass er den Anruf nicht hinauszögern durfte: Er hatte ihn schon zu lange aufgeschoben und sich vorgemacht, dass er, auch wenn er es nicht schaffte, den Tumor zu besiegen, zumindest noch ein paar Jahre, vielleicht zwei, so weitermachen könnte. In diesem Augenblick wurde ihm bewusst, dass er nicht mehr allein für Gerechtigkeit sorgen konnte. Sich das einzugestehen war wie eine Befreiung. Es verschaffte ihm ein Gefühl von Erleichterung.

Er kippte den letzten Schluck hinunter, setzte seine Brille auf und wählte auf dem Handy die Nummer der einzigen Person, von der er glaubte, dass sie ihm helfen könnte.

»Buongiorno, Mara. Ich bin’s, Moreno Barrali … Entschuldige die Störung. Ich habe Dottor Farci um deine Nummer gebeten … Ja, ich bin immer noch krankgeschrieben. Ich müsste dich sprechen … Nein, lieber nicht im Präsidium … Ja, Farci hat mir geraten, dich anzurufen. Ich weiß, was man über mich redet, aber ich bitte dich, vertrau mir … Ich bin gerade in einer Bar … Wenn es möglich wäre … Ja, es ist ziemlich dringend … Vielen Dank.«

Barrali nannte ihr die genaue Anschrift.

»Wunderbar! Dann warte ich hier auf dich. Bis später.«

Er bestellte noch einen Grappa und nahm ein Foto von Dolores in die Hand. Dann zog er zwei andere Bilder heraus: wesentlich ältere Fotografien, die mit der Zeit einen Sepiaton angenommen hatten. Er hatte sie so oft betrachtet, immer und immer wieder, dass er auch die Lider hätte schließen können, ohne dass sie in seinem Kopf an Schärfe verloren hätten.

Während die Fotos ihn mit den üblichen Wogen an Erinnerungen, Schuldgefühlen und Zorn überfluteten, begann Barrali, seine Gedanken zu sortieren, um die Kollegin überzeugen zu können, sich seines einzigen ungelösten Falles anzunehmen. Es galt, einen Mord zu verhindern, der sonst unweigerlich in ein paar Tagen stattfinden würde, da war er sich ganz sicher.

4

Mordkommission, Polizeipräsidium Cagliari

Ispettore Capo Mara Rais beendete das Telefonat und schüttelte wutentbrannt den Kopf.

»Verdammte Scheiße!«, fluchte sie leise.

Ihre Kollegen schauten von ihren Akten und Dokumenten auf und grinsten. Während Mara sie anstarrte, begriff sie, dass alle bereits informiert waren. Das war wieder so ein Messerstich in den Rücken.

»Was ist los, Mara?«, fragte einer von ihnen, um sie zu provozieren. »Gibt’s ein Problem?«

»Farci hat mir diesen durchgeknallten Barrali aufgehalst, ihn und seine Serienmorde.«

Die Ermittler der Mordkommission, die sich einen großen Raum teilen mussten, lachten. Moreno Barrali war für die gesamte Abteilung zu einer Witzfigur geworden; mit den Jahren hatte er eine regelrechte Besessenheit für Ritualmorde – so nannte er sie jedenfalls – aus der Vergangenheit entwickelt und Kollegen und Vorgesetzten hartnäckig damit in den Ohren gelegen, diese Fälle wiederaufzu- nehmen.

»Tja, Mara, die haben dich gerade zu den ungelösten Fällen versetzt, da ist es doch logisch, dass sie dich auch mit Barrali zusammen ermitteln lassen.«

»Natürlich. Ich kann es kaum erwarten. Übrigens heißt es unaufgeklärte Verbrechen, Piras.« Mara stand auf und ließ die Kartons stehen, in die sie gerade ihre persönlichen Sachen packte, in Erwartung ihrer Versetzung in die »Vorhölle« – so nannte man es allgemein, wenn ein Ermittler der Mordkommission oder einer anderen Abteilung der Squadra Mobile wegen irgendetwas abgestraft wurde.

»Wo willst du hin?«

»Fariscazzustusu«, schickte Mara ihren Kollegen mit zusammengebissenen Zähnen zum Teufel. Auf Angriff gebürstet marschierte sie auf das Büro ihres Vorgesetzten Giacomo Farci zu.

»Mara, das ist keine gute Idee …«, versuchte Ilaria Deidda, eine der Kolleginnen, mit denen sie sich besser verstand, sie zu warnen. Mara Rais war eine gute Polizistin, aber nicht gerade umgänglich; eine von denen, die nie den Mund halten konnten, und dieser Makel machte sie bei ihren Vorgesetzten ziemlich unbeliebt. Die vergaßen dann gern Maras Ermittlerqualitäten und konzentrierten sich stattdessen auf ihr »loses Mundwerk«. Und sie nutzten jede Gelegenheit, sie im Büro zu isolieren, um den Schaden zu begrenzen, den ihre »originelle Ausdrucksweise« auslöste, wie es der Questore, der Polizeipräsident, genannt hatte.

»Keine Sorge, ich habe nicht vor, ihn zu erschießen. Zumindest nicht hier«, versicherte Mara scherzhaft.

Sie klopfte an und wartete das »Herein« ihres Vorgesetzten nicht erst ab.

»Setz dich doch, Rais«, sagte Commissario Capo Giacomo Farci ironisch, als er sah, dass es sich um die ungehobelte Polizistin handelte, seine ehemalige Teampartnerin, mit der er vor Jahren bei der Verbrechensbekämpfung zusammengearbeitet hatte.

Mara Rais schloss die Tür, sah ihn mit großen Augen an und breitete demonstrativ die Arme aus, zum Zeichen, dass sie fassungslos war.

»Hör mal, ich lass mir ja vieles gefallen«, sagte sie. »Die wollen sich an mir rächen? Nur zu, das ist zwar eine Unverschämtheit, aber ich verstehe das. Sie wollen meine Karriere abwürgen? Das haben sie praktisch schon getan. Aber Barrali? Bin ich wirklich schon so tief gesunken?«

»Er stirbt bald, Mara. Das ist das Mindeste, was wir für ihn tun können. Hör ihm zu, gib ihm das Gefühl, dass wir ihn ernst nehmen, mehr verlange ich nicht von dir«, erklärte ihr Vorgesetzter. »Er ist doch einer von uns, trotz allem.«

»Was soll ich denn tun? Etwa mit ihm ein Team bilden?« Ihre Worte trieften nur so vor Ironie.

»Nein. Moreno ist noch krankgeschrieben. Er nähert sich dem Endstadium, und wir glauben nicht, dass er noch mal in den Dienst zurückkommen wird.«

»Das tut mir sehr leid für ihn, aber … Dann soll ich mir also sein Gefasel über einen Nuraghen-Serienmörder anhören, nur weil er bald sterben wird?«

»Setz dich.«

»Ich will mich nicht setzen. War das deine Idee?«

Anstelle einer Antwort klappte Farci eine Akte der Staatsanwaltschaft zu.

»Ich wusste es. Noch so eine Schweinerei von Del Greco, stimmt’s?«

Farci nickte wortlos. Er warf ihr einen vielsagenden Blick zu und bedeutete ihr, leiser zu reden. »Beruhige dich, und setz dich endlich, verdammt noch mal!«

Die Beamtin verschränkte angriffslustig die Arme vor der Brust.

»Mara, bitte.« Farci nahm eine Mappe und reichte sie ihr.

Misstrauisch öffnete Mara sie. Es handelte sich um die Personalakte einer Polizistin: Ispettore Capo Eva Croce.

»Was …?«

»Lies«, sagte Farci nur.

Ispettore Capo Eva Croce war auf Sekten und Ritualmorde spezialisiert und arbeitete bei der Zweiten Abteilung des SCO, des Zentralen Ermittlungsdienstes – der Eliteeinheit der Polizei –, wo die allgemein blutigsten Verbrechen auf Landesebene untersucht wurden. Ihrer Akte nach war sie nach einigen Jahren in Rom, wo sie beim SCO in der Zentralen Direktion für Verbrechensbekämpfung ausgebildet worden war, als unterstützende Ermittlerin in die Squadra Mobile ihrer Heimatstadt Mailand versetzt worden. Zurzeit arbeitete sie in der Abteilung Cold Cases, einer nationalen Einrichtung, die die regionalen Squadre Mobili unterstützte und beriet.

»Das freut mich sehr für sie, aber …«

»Lies auch das Begleitschreiben.«

Die zweite Seite enthielt eine Dienstanweisung, mit der der Frau und dem Einsatzkommando in der Via Amat mitgeteilt wurde, dass sie nach Cagliari versetzt wurde, um die Arbeit der kürzlich versuchsweise gegründeten Abteilung für unaufgeklärte Verbrechen bei der dortigen Mordkommission zu unterstützen.

»Jetzt sag mir nicht, dass …«

»Doch, das ist deine neue Kollegin.«

»Na klar, warum bin ich da bloß nicht selbst drauf gekommen? Mich aus dem Einsatzteam zu schmeißen, hat nicht gereicht. Jetzt schickt ihr mir auch noch einen Babysitter vom Festland. Vielen Dank auch, Giacomo«, sagte Mara und klappte die Akte mit einer heftigen Bewegung zu.

»… versuch noch einmal, deine Klappe aufzureißen, und ich versetz dich sofort zum Streifendienst nach Sant’Elia, cumprendiu?«

Der harsche Ton ihres Vorgesetzten erwischte Mara kalt. Unter der rauen Schale war Farci im Grunde eine Seele von Mensch, einer der wenigen Verbündeten, die sie noch im Präsidium hatte, und wenn er im Dienst war, benutzte er fast nie das Sardische.

Dass er es jetzt tat, bedeutete, dass sie mit ihrer großen Klappe über das Ziel hinausgeschossen war.

»Ich habe keine Ahnung, wie diese Croce ist, aber wenn man sie bei so einem Lebenslauf hier zu uns geschickt hat, ist das bestimmt eine Strafversetzung«, fuhr Farci fort. »Sie war über ein Jahr krankgeschrieben, und anschließend wurde sie vorsichtshalber für vier Monate in bezahlten Urlaub geschickt, was auch immer das bedeuten mag. Sie muss irgendeinen Blödsinn angestellt haben oder jemand Wichtigem auf die Füße getreten sein. Aber mir ist das egal. Mich interessiert nur, dass ihr zwei euch sofort an die Arbeit macht.«

»Und an welche Arbeit, bitte? Kindermädchen für diesen durchgeknallten Barrali spielen?«

»Nein. Ich hab dir das doch schon erklärt, also bitte nun zum letzten Mal: In der Abteilung für unaufgeklärte Verbrechen müsst ihr drei Dinge tun. Erstens: die aus Rom kommenden Akten durchgehen und herausfinden, ob es irgendwelche Spuren gibt, die untersuchenswert sind, oder Richtungen, in die man damals nicht ermittelt hat. Zweitens: feststellen, ob man noch Observierungen oder Abhörmaßnahmen einleiten sollte. Dabei geben wir euch einen genauen Zeitrahmen vor, maximal zwei, drei Monate pro Akte. Drittens: der Staatsanwaltschaft für die vielversprechendsten Fälle eine Ermittlungsstrategie vorschlagen, und wenn wir deren Placet bekommen, das Ganze in die Wege leiten. Alles klar?«

»Das ist doch echt krank«, murmelte Mara.

»Ich habe dich nicht gehört.«

»Ich habe gesagt, die altgedienten Kollegen werden das bestimmt nicht gut aufnehmen, wenn ich ihre Fälle …«

»Wir sind nicht dazu da, die Fehler der Kollegen zu korrigieren. Im Gegenteil. Nehmt Kontakt mit ihnen auf, wenn sie noch am Leben sind, denn wir brauchen ihren Rat. Euch wird ein kleines Team Gerichtsmediziner zur Verfügung gestellt, das euch mit Untersuchungen unterstützt, wenn die Staatsanwaltschaft das genehmigt.«

»Das ist doch Zeitverschwendung!«

»Wir brauchen Zahlen: Als Squadra Mobile müssen wir mehr Fälle aufklären. Wenn wir das nicht schaffen, können wir uns von höheren Subventionen und Personal- aufstockung gleich verabschieden. Wir müssen die Aufklärungsquote steigern. Ob das aktuelle Fälle sind oder welche von vor dreißig Jahren, ist der Statistik ziemlich egal.«

»Was ist mit Barrali?«

»Ob wir nun seiner Meinung sind oder nicht, er ist eine feste Größe im Präsidium. Einer, der sich mehr als vierzig Jahre den Arsch aufgerissen hat. Niemand hat sich je mit seinen Theorien beschäftigt …«

»Ach, komm schon. Und du hast dich nie gefragt, warum?«, sagte Mara mit gespielter Überraschung.

Farci ließ ihr das durchgehen. »Der Vicequestore, Del Greco und ich wollen ihm eine Chance geben. Wie gesagt, wir schulden ihm das. Du und Croce, ihr nehmt ihn als Berater dazu und arbeitet an seinen Morden parallel zu anderen cold cases.«

»Das sind doch alles bloß Legenden.«

»Nur bis jemand den Fall abschließt. Wir möchten jedenfalls, dass ihr euch alle anseht. Es gibt mindestens zwei bestätigte Opfer. Die Morde wurden nie aufgeklärt, und das bedeutet, dass mindestens ein Mörder frei herumlaufen könnte.«

»Selbst wenn, der Mörder ist doch heute längst tot.«

»Das kann sein, aber Barrali will sich nicht mit diesen Gewissensbissen auf seine letzte Reise machen, und ich ehrlich gesagt auch nicht. Hier, das ist die Nummer deiner Partnerin«, sagte Farci und gab ihr einen Zettel. »Ich weiß, dass du gerade lieber allein arbeiten würdest, aber ich mache weder die Regeln noch stelle ich die Teams zusammen.«

»Ich fass es nicht«, flüsterte Mara und massierte sich heftig die Stirn, eine Übersprungshandlung, mit der sie ihre Selbstbeherrschung wiederzuerlangen versuchte.

»Ihr werdet viel Zeit miteinander verbringen, also sieh zu, dass du es nicht vermasselst. Freunde dich mit ihr an. Ruf sie an und frag, ob sie etwas braucht. Zeig ihr, dass die berühmte sardische Gastfreundschaft kein Mythos ist.«

»Giacomo …« Mit einem tiefen Seufzer stand Mara auf und warf die Akte auf den Schreibtisch.

»Dottore. Für dich bin ich ab jetzt dottor Farci.«

»Na klar. Soll ich dich auch wieder siezen?«

»Spar dir deinen Sarkasmus, Rais. Denk daran, dass du unter besonderer Beobachtung stehst, und dass das hier«, er schlug mit der Hand auf die Akte, »ein Gefallen ist, denn hätte ich mich nicht für dich verbürgt, dann hätte der Questore dich in die Barbagia versetzt.«

»Das sagst du nur, weil er nicht dich angegrabscht hat, dieser schleimige malarione.«

»Es hat eine interne Ermittlung gegeben.«

»Die mir das Genick gebrochen hat, weil man allein mir die Schuld gegeben hat, Farci, oh, pardon, dottor Farci. Dieser Scheißkerl hat meine Karriere ruiniert, kapierst du das nicht? Und das dank dieser gekauften Schlampen, unserer lieben Kolleginnen, die sich auf seine Seite gestellt haben.«

»Rais, lass es gut sein und sei dankbar, dass du überhaupt noch einen Job hast. Du hast gekämpft, aber er hat gesiegt. Ich rate dir dringend, die Geschichte als abgeschlossen zu betrachten, das ist für alle Beteiligten das Beste, vor allem für dich selbst.«

Mara warf ihm einen verachtungsvollen Blick zu und wandte sich zum Gehen.

»Und vergiss nicht«, fügte Farci hinzu, »meine Mutter hat immer gesagt: Reden ist Silber, Schweigen ist Gold.«

»Meinst du das ernst?«

»Das Sprichwort ist wie für dich gemacht.«

»Ma ha’ fari coddai«, beschimpfte ihn Mara im Stillen, während sie das Büro verließ.

5

Villa Invernizzi, Via Cappuccini, Mailand

›Du hast den Fall zu persönlich genommen … Du hast ihn zu nah an dich rangelassen … Du hast vergessen, was dein Job ist, hast richtig Scheiße gebaut … Mit dem, was du getan hast, hast du die ganze Ermittlung ruiniert … Ist dir eigentlich bewusst, was du angerichtet hast? Vielleicht brauchst du eine Auszeit, um mal gründlich über deine Fehler nachzudenken …

Diese Worte gingen ihr ständig durch den Kopf, und es gelang ihr nicht, sie abzustellen. Sie hatte gehofft, vier Monate Freistellung hätten die Wogen geglättet, ihre Vorgesetzten hätten sich beruhigt. Doch diese ganze Zeit hatte nichts gebracht, sondern deren Erbitterung nur noch verstärkt. Ihre Chefs hatten nur auf einen Vorwand gelauert, um sie sich vom Hals zu schaffen. Diese Worte waren der Auftakt zu einer Verurteilung ohne Möglichkeit zur Berufung gewesen: »Wir haben beschlossen, dich für eine Weile zu versetzen. Der Staatsanwalt hat da ein wenig Druck gemacht, aber nicht nur er. Diesmal bist du zu weit gegangen, Eva. Wir verstehen ja alle, in welcher Situation du bist, was du durchgemacht hast … Aber uns sind die Hände gebunden. Wir müssen ein Zeichen setzen.«

»Wohin?«, hatte sie nur gefragt.

»Cagliari. Sardinien. Du kommst in ihre Abteilung für unaufgeklärte Verbrechen.«

Ispettore Capo Eva Croce hatte bitter gelächelt. Das war keine Versetzung, sondern nur eine perfide Methode, um sie zum Aufgeben zu bewegen, dazu, dass sie den Kram endgültig hinschmiss.

»Das ist eine Abteilung, die dort versuchsweise neu eingerichtet wird und Fälle aus der gesamten Region übernimmt. Du wirst sie dabei unterstützen, das Team aufzubauen. Sieh es als eine Art Urlaub an, eine Zeit, um Abstand zu gewinnen und deine Batterien aufzuladen«, hatte man versucht, ihr die bittere Pille zu versüßen.

Zur allgemeinen Überraschung hatte Eva ohne jeden Protest akzeptiert. Sie hätte jede Auflage akzeptiert, nur um wieder arbeiten zu können. Die Arbeit war alles, was ihr noch geblieben war, der einzige Weg, um die innere Leere wieder mit etwas anderem zu füllen. Noch ein paar Tage in Erinnerungen und Trauer versinken und sie wäre durchgedreht. Besser ein Schreibtisch in Cagliari als ein Sofa voller schmerzlicher Erinnerungen in einer Wohnung in Mailand. Besser das Meer zwischen sich und dieses Gefängnis aus Bildern der Vergangenheit bringen.

»Wann fange ich dort an?«

Weil ihre Vorgesetzten es so eilig gehabt hatten, sie loszuwerden, hatten sie die Verwaltungsvorgänge beschleunigt. Schon vier Tage später erhielt sie einen Anruf aus dem Personalbüro: Sie solle kommen und einige Dokumente vom Ministerium durchsehen und unterschreiben. Eva hatte es getan, ohne auch nur eine einzige Frage zu stellen. In den Augen jener Leute mochte es eine Strafe sein, sie aus Mailand wegzuholen, für sie hingegen war es eine Art Erlösung und vielleicht sogar der Auftakt zu einem neuen Leben. Gott allein wusste, wie dringend sie das brauchte.

Die Sonne hatte sich an diesem Nachmittag in die Wolken verkrochen, und es drohte Regen. Der kalte Himmel von Mailand war von einem bleigrauen Wolkenschleier überzogen, der die Straßen in einen düsteren Schatten tauchte. In der Luft lag ein fauliger Schwefelgeruch, der die Menschen mit Traurigkeit benebelte. Ein beißend kalter Oktober wütete seit Wochen in der Stadt, als wollte er sich für den Sommer rächen, der sie mit zu viel Sonne verwöhnt hatte. Den einzigen Farbfleck in all dem Grau bildete das rosa Gefieder der Flamingos, die Eva durch das schmiedeeiserne Gitter der Villa Invernizzi beobachtete. Sie wusste nichts über ihren zukünftigen Aufenthaltsort. War noch nie auf Sardinien gewesen. Daher hatte sie im Internet recherchiert und herausgefunden, dass die rosa Flamingos eines der Wahrzeichen von Cagliari waren. Dieses Detail hatte sie daran erinnert, dass es auch in Mailand eine kleine Flamingo-Kolonie gab, was sogar die meisten Mailänder nicht wussten. Eva hatte daraufhin beschlossen, aus dem Haus zu gehen, um sich die Tiere anzusehen, als wollte sie auf diesem Weg einen ersten Kontakt zu ihrer neuen Stadt aufnehmen.

Der Anblick der Flamingos gab ihr ein Gefühl von Leichtigkeit zurück, ihre Schönheit und Eleganz faszinierte sie und beschwichtigte ihre Ängste. Die Villa befand sich in einer Gegend, die man das »Viereck der Stille« nannte: ein paar Straßen jenseits des Corso Venezia, wo die Geräusche der Stadt von den prunkvollen Wohnhäusern aus dem Historismus und dem Jugendstil geschluckt wurden, von Statuen und verborgenen Gärten und von Häusern, die ein solcher Inbegriff von Eleganz waren, dass man den Eindruck hatte, hier wäre die Zeit in den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts stehen geblieben.

Eva war nicht etwa nur hierhergekommen, um sich an der Kunst sattzusehen oder um ein wenig Ruhe in einer geschützten Oase zu suchen, und, sosehr sie sich das auch einreden wollte, nicht einmal, um eine erste Verbindung zu der Stadt herzustellen, die ihr neues Zuhause werden sollte.

Der eigentliche Grund ging viel tiefer.

Sie legte die Hände an die Gitterstäbe des Tors, und ihre Finger umklammerten sie fest. Sie schloss die Augen. Im ersten Moment spürte sie nichts als die Kälte des Metalls. Doch dann, als wäre dieser Zaun mit Erinnerungen getränkt, tauchten in ihrem Kopf Bilder und Gesprächsfetzen auf.

»Sie sind wunderschön«, hörte sie im Kopfkino ihrer Erinnerung. »Können wir einen mit nach Hause nehmen?«

Instinktiv musste Eva lächeln. Schließlich wischte sie sich mit dem Handrücken eine Träne von der Wange und machte sich auf den Heimweg.

Jetzt hatte sie keine Ausrede mehr.

Es war an der Zeit, die Koffer zu packen und aufzubrechen.

6

Oberland der Barbagia, im Landesinneren Sardiniens

Sie wurden die »Ladu vom Berg« genannt, um sie von denen, die im Dorf lebten, zu unterscheiden. Zahllose Legenden rankten sich um sie. Zum Beispiel erzählte man sich, dass die Ladu seit Urzeiten Inzucht betrieben und so eine Sippe von gewalttätigen, wilden Menschen geschaffen hatten, die ebenso unberechenbar waren wie wilde Tiere und eine althergebrachte, beinahe primitive Lebensweise beibehalten hatten, die nichts mit den Regeln der Zivilisation gemein hatte. Zente mala. Leute, denen man besser aus dem Weg ging. Sie wurden respektiert, aber mit einer Art von Achtung, deren Ursprung Angst war. Das Territorium der Ladu vom Berg begann ein paar Kilometer außerhalb eines sagenumwobenen Dorfes, dem Zentrum des Oberlands der Barbagia, auf etwa tausend Metern Höhe, an den Hängen des Monte Santu Basili; ein Gebiet mit dichten uralten Wäldern, voller Bäche und Flussläufe, das unberührte Reich einer üppigen, wilden und ursprünglichen Natur. Man sah die Ladu selten im Dorf, denn sie mischten sich nicht gern unter andere Leute, sondern hegten ihnen gegenüber ein instinktives Misstrauen, das nicht selten in offene Feindseligkeit mündete.

Man sagte von den Ladu, sie verstünden sich besser mit Tieren als mit Menschen. Ihre lange, selbst gewählte Zurückgezogenheit hatte auch zu einem jahrhundertelangen Stillstand auf sprachlicher Ebene geführt: Wer sie untereinander reden hörte, hätte kaum etwas von ihrem Sardisch verstanden, das sich in einer ursprünglichen Reinheit aus längst vergangenen Zeiten erhalten hatte; eine Sprachvariante, die selbst von den Leuten kaum verstanden wurde, die nur wenige Kilometer entfernt lebten. All dies verstärkte die Bildung von Mythen und Legenden, die diese Familie mit der Zeit umgab. Man munkelte zum Beispiel, dass sie gern Menschenfleisch äßen, dass ihre Frauen auf dem dreihundert Hektar umfassenden, aus Feldern und Wäldern bestehenden Besitz heidnische Rituale praktizierten; dass viele ihrer Kinder nie im Melderegister eingetragen worden seien; dass einige Hirten versucht hätten, die Grenzen zu ihrem Gebiet zu überschreiten, und nie von dort zurückgekehrt wären. Wahrscheinlich, so erklärten böse Zungen, hatte man sie in den blutgetränkten Feldern verscharrt oder in die Kalksteinhöhlen dieser Berge geworfen, oder – das erzählte man den Kindern, um sie von jenen Wäldern fernzuhalten – man hatte sie auf Spieße gesteckt wie Spanferkel und in Vollmondnächten während ihrer makabren ausschweifenden Festmähler verspeist.

Die Legenden zogen weitere Geschichten nach sich, und im Laufe der Jahre hatten sich viele Gerüchte angesammelt, darunter auch jenes, die Ladu seien die einzigen Nachfahren der Civitates Barbariae, jener sardischen Ureinwohner, die der Christianisierung durch die Römer und die Byzantiner getrotzt hatten. Diese sollten sich in jenen rauen Regionen verschanzt und ihren Spott getrieben haben mit den Soldaten, die über Jahrhunderte vergeblich versucht hatten, sie zu »bekehren«. All diese Geschichten hatten vermutlich zu ihrer Ausgrenzung geführt.

Mit der Zeit wurden diese Legenden zu einer Art Volksglauben: Hirten, die vom Erdboden verschwunden waren; Banditen und balentes, also Briganten, die vorhatten, das Gebiet aus dem Hinterhalt zu bedrohen, und deren Pferde oder Maultiere schließlich allein zurückkamen; Priester, die sich in die Berge der Ladu gewagt hatten, um sie zum Christentum zu bekehren, und die kastriert und als Sklaven gehalten oder den Schweinen zum Fraß vorgeworfen wurden. Am deutlichsten spiegelte sich dieser Volksglaube im Verhalten der alten Frauen im Dorf wider, die sich bekreuzigten, wenn sie einmal einem von den Ladus begegneten, oder wenn es plötzlich ganz still wurde in der tzilleri, der Dorfkneipe, weil gerade ein Ladu zur Tür hereingekommen war, um dort seinen Durst zu löschen, und noch kein Wirt hatte jemals gewagt, Geld dafür von ihm anzunehmen.

Sebastianu Ladu kannte natürlich die Gerüchte über seine Familie, und in der Tiefe seines Herzens gefiel ihm das. Über ihn sagte man, er habe die Statur eines Stiers, und sein Verstand sei so scharf wie die Zähne eines Wildschweins. Er war zweifellos der Erste aus seiner Familie, der Abitur gemacht hatte, während seine Brüder oder Vettern größtenteils nicht einmal die Mittelschule abschließen konnten, ehe sie bereits in zartem Alter auf den Weiden des Clans die Tiere hüten mussten. Bastianu war bereits sehr jung bei der Forstverwaltung angestellt worden und kannte die verschiedenen Barbagia-Gebiete an den Hängen des Monte Gennargentu wie seine Westentasche. Obwohl er ein Ladu vom Berg war, hatten ihn wegen seiner Uniform schon viele Hirten und Jäger um Gefallen gebeten. Denn im Gegensatz zu seinen Verwandten hielt man ihn für jemanden, mit dem man reden konnte. Im Lauf der Jahre hatte er sich bemüht, für jeden, der seine Unterstützung brauchte, ein offenes Ohr zu haben, und sich dadurch in der Bauern- und Hirtengesellschaft der Barbagia Respekt erworben. Einen Respekt, der sich auch auf seinen Clan übertrug; seinetwegen hatte sich der Ruf der Ladu, sie seien animas dannadas, verdammte Seelen, in den letzten Jahren abgeschwächt.

An diesem späten Nachmittag war Bastianu düster gestimmt. Sein Jeep glitt über die befestigte Straße, die zur Siedlung der Ladu führte, und wie üblich folgten ihm einige Hunde in den Staubwolken, die der Geländewagen aufwirbelte. Er fuhr am rostigen Wrack eines auf den Feldern stehen gelassenen Traktors vorbei und hielt schließlich in der Nähe der kleinen Siedlung an, die aus etwa dreißig einzeln verstreuten Häusern bestand. Sobald er ausgestiegen war, drang ihm der Harzgeruch der Büsche in die Nase. Die Ansammlung von kleinen, zweistöckigen Steinhäusern ähnelte einer Klostersiedlung, die sich dort an den Hang klammerte und fast vom nah angrenzenden Wald verschluckt wurde. Über den niedrigen Dächern, die von schräg stehendem, mit Moos und Flechten bewachsenen Ziegeln bedeckt waren, lag der Rauch aus den Schornsteinen. Die Häuser wirkten genauso still wie die ziodde, die »alten Tanten«, die ihn, in ihre schwarzen Tücher gehüllt, stumm durch die Fenster beobachteten, ausdruckslos wie die nackten Steine der Hauswände. Dürres Buschwerk wirbelte über die engen Kopfsteinstraßen, die sich zu einem Spinnennetz aus vollkommen gleich aussehenden Gassen verwoben. Ein paar seiner älteren Onkel, die auf den Steinbänken vor den Häusern saßen, hoben das Kinn zu einem stummen Gruß.

Die ursprüngliche Stille wurde durch das laute Geräusch eines Beils unterbrochen, mit dem jemand auf Holzstücke einschlug. Bastianus Vetter Zirolamu, der taubstumm und ein wenig langsam beim Denken war, stand da draußen und hackte trotz der Kälte mit nacktem Oberkörper Holz, wobei er vor Anstrengung ächzte wie ein Ochse. Bastianu nickte ihm zu und beobachtete seine Brüder und Vettern, die auf Eselskarren von ihrer Arbeit auf den Feldern zurückkehrten. Für gewöhnlich entspannte ihn der Anblick dieser Bilder des bäuerlichen Alltags, aber nicht an diesem Abend. Er ging direkt zum Stall und führte eins der ganz jungen Pferde nach draußen. Ohne Sattel saß er auf und machte sich im Galopp zu einem Haus auf, das weit außerhalb oben auf dem Rücken der Weinberge lag.

Er ließ das Tier einfach stehen, ohne es anzubinden, und betrat das Haus. Ein Bau aus ungebrannten Ziegeln, dessen Wände von der Feuchtigkeit zersetzt waren. Im Innern war der Geruch nach Holz und Farbe so beißend, dass einem die Augen brannten. Es herrschte vollkommene Dunkelheit, aber selbst wenn das Innere taghell erleuchtet gewesen wäre, hätte es für den alten Mann dort drinnen keinen Unterschied gemacht, denn er war seit ungefähr zehn Jahren vollkommen blind.

»Wer ist da?«, fragte der Mann in altem Sardisch.

»Ich bin’s, Bastianu.«

Benignu Ladu legte den Meißel hin, mit durch seine Arthritis verlangsamten Bewegungen, und wandte sich seinem Enkel zu. Das wenige Licht, das von draußen hereinfiel, erhellte schwach sein Gesicht; eine starre Maske aus Runzeln und Falten, in der zwei leblose Augen so verwirrt wirkten wie Fledermäuse, die plötzlich aus der Dunkelheit einer Höhle ins Licht geschleudert wurden.

»Deine Stimme verheißt nichts Gutes«, sagte der Greis.

»Die Ciriacu haben nicht auf uns gehört, sie machen weiter.«

»Wer hat dir das erzählt?«

»Sos carabineris.«

Viele Gefallen, um die Bastianu gebeten wurde, kamen von den Kommandanten der Carabinieristationen in den kleinen Bergdörfern. Die meisten dort stationierten Leute stammten vom Festland, es war ihre erste Dienststelle überhaupt, und sie verstanden weder die Sprache noch die Sitten und Gebräuche der Einheimischen. Bastianu fungierte oft für sie als Vermittler und verhandelte mit untergetauchten Banditen oder Wilderern. Im Austausch dafür schauten die Carabinieri bei einigen seiner Aktivitäten nicht so genau hin und hielten sich vom Territorium der Ladu fern.

»Haben wir diesen Mistkerlen nicht schon Tiere dafür gegeben?«

»Zwei Pferde, zwanzig Ziegen, einen Widder, zwei Esel und drei Säue«, zählte Bastianu auf. »Das hätte sie schon reich genug machen müssen.«

Benignu Ladu holte eine Handvoll Früchte des Erdbeerbaums aus der taschedda, einem Lederbeutel, den seine jüngsten Enkel ihm jeden Morgen mit Obst füllten, und kaute sie mit seinen wenigen verbliebenen Zähnen.

Nach einer kurzen Weile sagte er entschieden ein einziges Wort, bevor er sich wieder an seine Holzarbeiten machte: »Sàmbene.«

Bastianu verließ die Hütte, die seinem Großvater als Werkstatt diente, pfiff zwei Mal so gellend laut, dass es im ganzen Tal zu hören war, und versammelte so seine Brüder.

»He, und nimm Micheli mit«, rief sein Großvater aus der Hütte. »Für ihn ist die Zeit gekommen. Überzeuge dich, dass der Wolf nun Reißzähne hat.«

Bastianu stieg auf sein Pferd, die Hände fest in dessen Mähne verkrallt, und trieb das Tier im Galopp auf die Siedlung zu.

Dein Wille geschehe, mannoi, dachte er. Blut soll fließen.

7

Cagliari

Das Band, das zwischen dem Ermittler und dem Opfer eines Mordes entsteht, ist etwas Heiliges. Weit mehr als schlichter Bürokratiekram, Ermittlungsakten, Autopsieberichte, die gesamte Dokumentation zur Vorlage bei der Staatsanwaltschaft. Es wird zu etwas wesentlich Intimerem. Und falls der Fall nicht gelöst wird und der Mörder weiterhin frei herumläuft, kann sich dieses heilige, unlösbare Band zu einer kräftezehrenden Obsession entwickeln, aus der es kein Entkommen gibt. Im Laufe der Zeit gären die Schuldgefühle, und der Zweifel wächst, dass der Mörder wieder und immer wieder zuschlagen könnte … Das Leben geht weiter, das ist offensichtlich, aber die Angst, einen Fehler gemacht zu haben, der Aufgabe nicht gewachsen gewesen zu sein, zugelassen zu haben, dass weitere Leben ausgelöscht wurden, krallt sich an Herz und Seele fest, und je mehr Jahre vergehen, desto schwerer ist diese Last zu ertragen. Ein ungelöster Fall ist die schlimmste Strafe, die einem Polizisten passieren kann. Manchmal gibt es kein Zurück mehr.

Als Mara Rais Moreno Barrali nun mehr als ein Jahr nach seiner Krankschreibung wiedersah, begriff sie schlagartig, wie sehr ein ungelöster Mord das Leben und die Gesundheit eines Ermittlers in Mitleidenschaft ziehen kann. Der Schmerz wegen dieser Toten hatte ihn verzehrt und war zugleich sein Lebenselixier gewesen, und mittlerweile war er vielleicht das Einzige, was ihn noch am Leben hielt.

»Ciao, Barrali«, sagte die Beamtin und schüttelte die kraftlose Hand ihres Kollegen. »Also nicht mal der Krebs schafft dich, was? Ich glaub ja, du überlebst noch uns alle.«

Barrali lächelte über Maras makabre Spitze. Im Unterschied zu den anderen bediente sie sich keiner höflichen Zurückhaltung oder sentimentalen Anteilnahme, was ihm die eigene Verfassung nur noch stärker hätte bewusst werden lassen, sondern bedachte ihn mit dem scharfen Zynismus einer waschechten Cagliaritana, die vor nichts und niemandem haltmachte, auch nicht vor einem Mann am Ende seiner Kräfte.

»Ciao, Ispettore. Na klar, denn ehe ich sterbe, muss ich dir doch erst noch unseren Beruf beibringen«, parierte er.

»Hm, ich glaube, das wäre vergebliche Liebesmühe, Barrali. Du kennst doch das Sprichwort? Einmal Esel, immer Esel.«

»Richtig, Rais, genau! Ich habe schon gehört, dass du auch nicht viel besser dran bist als ich, also zumindest was das Berufliche betrifft. Von der Mordkommission zu den Ungelösten Fällen … Wenn du nicht aufpasst, dann kommt als Nächstes Streifendienst im Park, und du jagst Spannern und Taschendieben hinterher.«

»Ach, hör bloß auf! Irgendwann klär ich dich auf, was da wirklich abgegangen ist, aber jetzt erzähl du mal.«

»Da gibt es nicht viel zu sagen, wie du ja siehst.«

Die Kleider schlotterten um den Körper des Polizisten: Er hatte mindestens zehn Kilo abgenommen, seit sie ihn zum letzten Mal gesehen hatte, dabei war er nie sonderlich dick gewesen. Mara sah auch den Stock, der am Tisch lehnte.

»Das tut mir leid. Wirklich«, sagte sie.

»Ich weiß. Danke. Aber ich habe dich nicht angerufen, weil ich dein Mitleid will.«

»Natürlich, und ich glaube, ich weiß auch, warum du um ein Treffen mit mir gebeten hast. Ich wollte dir gleich sagen, wie sehr du auch …«

Sie verstummte, als Barrali eine Handvoll Fotografien auf den Tisch legte. Bei einigen handelte es sich um alte Polaroids. Andere waren Bilder, die mit der Zeit nachgedunkelt und verblasst waren und einen Braunstich bekommen hatten. Der Gegenstand der Fotos war aber auf allen noch klar zu erkennen. Die Aufnahmen zeigten zwei Leichen, die einige Details gemeinsam hatten: Bei beiden handelte es sich um Frauen, die vornübergebeugt am Boden knieten, die Hände hinter dem Rücken gefesselt; sie waren mit zotteligen Schafsfellen bedeckt, und ihre Gesichter waren unter einer hölzernen Tiermaske mit langen, spitzen Hörnern verborgen. Auch die Todesursache war die gleiche: eine klaffende Wunde an der Kehle; wer immer sie getötet hatte, hatte sie geschächtet wie Ziegen. Aus der Qualität der Bilder schloss Mara, dass zwischen den beiden Morden eine längere Zeitspanne liegen musste, mindestens zehn, zwölf Jahre. Eine andere Gemeinsamkeit war der Tatort: Bei dem älteren Fall wirkte er wie der Brunnen eines auf einer Anhöhe errichteten Nuraghenheiligtums; die neueren Fotos dagegen zeigten das Opfer zu Füßen eines heiligen Brunnens, der zwar dem ersten genau glich, aber von zwei anderen, in den felsigen Untergrund gegrabenen Brunnentempeln umgeben war. Beide waren Kultstätten aus weit zurückliegenden Zeitaltern.

»Sicher hast du schon davon gehört. Das erste Opfer ist aus dem Jahr 1975, das zweite wurde elf Jahre später getötet: 1986. Das erste in der Provinz Nuoro, das zweite in den Bergen von Vallermosa. Mehr als zweihundert Kilometer auseinander, zwei praktisch entgegengesetzte Punkte der Insel … Das Alter der Opfer ist mehr oder weniger gleich: zwischen achtzehn und neunzehn das erste, und sechzehn, siebzehn das zweite. Die Morde unterscheiden sich nur durch kaum wahrnehmbare Details. Kleinigkeiten, die man vollkommen vernachlässigen kann. Beide Fälle sind ungelöst, und es wurde auch nie eine Akte eröffnet, die die beiden in Zusammenhang gebracht hätte. Die Frauen wurden beide in der Nacht von sa die de sos mortos getötet, in der Nacht der Toten oder der Seelen. Keine Zeugen, keine Verdächtigen. Ein nie gelöstes Rätsel.«

Die Polizistin sah ihren Kollegen an. Nach Jahren in der Mordkommission waren ihre Augen an Grausamkeit und Gräuel gewöhnt, aber die Bilder von diesen zwei Mädchen hatten sie zutiefst erschüttert, vielleicht wegen des bestialischen Rituals, mit dem die beiden ermordet worden waren.

»Das größte Rätsel ist aber noch ein anderes«, fuhr Barrali fort. »In beiden Fällen wurde das Opfer nie identifiziert. Kein Name, keine Vermisstenanzeige. Niemand hat je nach ihnen gesucht. Kein Vater, keine Mutter, keine anderen Verwandten. Als wären sie aus dem Nichts aufgetaucht. Pantumas. Geister.«

Als Mara dieses Wort in ursprünglichem Sardisch hörte, fiel ihr ein, dass Barrali aus der Barbagia kam, wo es noch immer gesprochen wurde, aber sie erinnerte sich nicht mehr, aus welchem Ort. »Hör zu, Barrali …«

»Im Laufe der Jahre hat man alles Mögliche zu mir gesagt. Dass ich verrückt bin, war noch das Harmloseste. Dass ich die Fakten zurechtgebogen hätte, damit sie zu meinen Theorien passten, dass ich irgendwelche esoterischen Interessen hätte und tausend andere blödsinnige Dinge. Die hier …«, er zeigte auf die Fotos, »haben mir bestimmt in beruflicher Hinsicht im Weg gestanden. Sie haben definitiv meiner Karriere geschadet. Also, ich bin bestimmt kein Masochist, aber das ist etwas, wofür ich mich irgendwie verantwortlich fühle, das ich nicht ignorieren oder beiseitelegen kann.«

»Und ich verstehe und respektiere das …«, versuchte Mara ihn erneut zu unterbrechen, aber er ließ sie wieder nicht ausreden.

»Und jetzt sterbe ich, Rais. Buchstäblich. Nur noch ein paar Monate und dann, addio, Welt. Und das hier oben«, er tippte sich an die Schläfe, »hält noch weniger lange durch. Ich habe nicht die Absicht, dich zu irgendetwas zu überreden, aber ich möchte, dass die Arbeit all dieser Jahre nicht völlig für die Katz war. Ich möchte, dass der Fall nicht zu den Akten gelegt wird.«

»Da kannst du ganz beruhigt sein. Farci hat mir versichert, dass er bearbeitet wird und dass er bei den Ungelösten Priorität hat, daher …«

»Nein, vielleicht habe ich mich nicht richtig ausgedrückt«, sagte Barrali. Seine Augen hatten sich schlagartig verschleiert. »Hier handelt es sich nicht nur um alte, nie gelöste Fälle oder irgendwelche archaischen Rituale.«

Er zeigte ihr ein anderes Foto, das ziemlich neu war. »Sie heißt Dolores Murgia, ist zweiundzwanzig und seit ein paar Tagen verschwunden. Ich glaube, dass es in all diesen Jahren noch viel mehr Morde gegeben hat, dass das Morden niemals aufgehört hat. Und ich habe Angst, dass Dolores das nächste Opfer wird.«

8

Corso Indipendenza, Mailand

Wenn sie sich im Spiegel ansah, war es jedes Mal, als würde sie sie betrachten. Die Ähnlichkeit war verblüffend, aber zugleich herzzerreißend. Sie konnte diesen Schmerz nicht länger ertragen. Sie musste die Erinnerung an sie neutralisieren, damit sie nicht jeder Blick in den Spiegel wie mit Klingen aus der Vergangenheit durchbohrte.

Eva Croce kehrte ins Bad zurück, nachdem sie das Haarfärbemittel eine halbe Stunde hatte einwirken lassen. Sie trug nur einen schwarzen BH und Jeans. Während sie die Haare im Waschbecken ausspülte, beobachtete sie, wie die dunkle Farbe im Abfluss wegstrudelte, bis das Wasser klar war. Dann rubbelte sie die Haare mit einem Handtuch trocken und sah wieder in den Spiegel. Von dem früheren Tizianrot war nichts mehr zu sehen. Die pechschwarze Tönung hatte jeden Kupferton ihrer natürlichen Farbe getilgt.

Sie erkannte sich selbst kaum, aber das war gut so. Durch die schwarzen Haare kamen die blauen Augen, die durchscheinende Haut, die leichten Sommersprossen und die zarte bläuliche Ader unter dem rechten Lid besonders zur Geltung. Sie empfand eine angenehme Verwirrung: Es war, als würde sie eine Fremde betrachten.

Jetzt musst du dich nur noch selbst davon überzeugen, dass du das bist, dachte sie. Ein neuer Mensch.

Sie wickelte sich ein Handtuch um den Kopf und ging ins Schlafzimmer zurück, um die letzten Dinge in die Koffer zu legen.

Es war an der Zeit, diese Wohnung voller Leid hinter sich zu lassen und wieder zu leben.

Oder es zumindest zu versuchen.

9

Ländereien im Oberland der Barbagia, im Landesinneren von Sardinien

Das Land ist weniger betrügerisch als die Menschen. Diese Lektion hatten die Sarden längst vergessen, als sie sich dem technischen Fortschritt verschrieben. Sie hatten sich von den Verlockungen des Gottes der Industrie verführen lassen, dem sie begeistert huldigten und dabei der Natur abschworen, die ihren Vorfahren seit Jahrhunderten eine Heimstatt geboten und sie genährt hatte. Aber nach den glänzenden Versprechungen von einem besseren Leben in Wohlstand hatte diese jähzornige, wankelmütige Gottheit sich aus dem Staub gemacht und nur verrostete Ruinen hinterlassen, außerdem Arbeitslosigkeit, abgeholzte Wälder, massenhafte Auswanderung, Menschen, die ihre Seelen im reichlich fließenden Abbardente, dem selbst gebrannten Schnaps, ertränkten, und für immer vergiftete Ländereien und Tiere. Über Jahre hatten sich die jüngeren Generationen an die Welt ihrer Vorfahren nur zu Weihnachten und Ostern erinnert, wenn sie »regionale« Lämmer und Spanferkel brauchten, um sich damit vor ihren Freunden aus der Stadt zu brüsten, um sich einen bäuerlichen Anstrich zu verleihen, obwohl sie in Wirklichkeit noch nie eine Hacke oder eine resolza, das sardische Klappmesser, in die Hand genommen hatten, und in ernsthafte Bedrängnis gekommen wären, wenn es darum ginge, einen Ochsen von einer Kuh zu unterscheiden.

Im Übrigen hatte der Wohlstand Berufe in Vergessenheit