Die Insel der Unschuldigen - Jess Kidd - E-Book
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Die Insel der Unschuldigen E-Book

Jess Kidd

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Beschreibung

1629 begibt sich die neunjährige Mayken mit ihrem Kindermädchen auf eine abenteuerliche Reise. Auf dem berühmtesten Schiff der holländisch-indischen Kompanie, der Batavia, will sie nach Java zu ihrem Vater, an den sie sich kaum noch erinnern kann. Fasziniert von dem Leben an Bord, erobert sie mit ihrer Neugier das riesige Schiff und gewinnt Freunde, wahre und falsche, auf Deck und unter Deck. Freunde, die ihr helfen zu überleben, als das Schiff auf ein Riff aufläuft und Chaos und Terror ausbrechen. 1989 ist der neunjährige Gil fasziniert von dem Schiffswrack der Batavia, das Wissenschaftler an der Küste vor einer kleinen Insel zu bergen versuchen. Seit dem Tod seiner Mutter lebt der Junge bei seinem Großvater, einem wortkargen Fischer, mit dem auf der Insel keiner etwas zu tun haben will. Das Leben mit dem alten Mann verstärkt in dem schüchternen Jungen das Gefühl der Einsamkeit. Doch vor allem bedrückt ihn, dass er nicht über die Geschehnisse nach dem Tod seiner Mutter reden kann.

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1628 begibt sich die neunjährige Mayken mit ihrem Kindermädchen auf eine abenteuerliche Reise: Auf dem berühmtesten Schiff der Niederländischen Ostindien-Kompanie, der Batavia, will sie nach Java zu ihrem Vater reisen, einem reichen Kaufmann, an den sie sich kaum noch erinnern kann. Fasziniert vom Leben an Bord erobert sie mit ihrer Neugier das riesige Schiff und gewinnt Freunde, wahre und falsche, auf und unter Deck. Freunde, die ihr helfen zu überleben, als das Schiff auf ein Riff aufläuft und Chaos und Gewalt ausbrechen.

1989 ist der neunjährige Gil fasziniert von dem Schiffswrack, das Wissenschaftler vor der Küste einer kleinen Insel zu bergen versuchen. Nach dem Tod seiner Mutter lebt der Junge bei seinem Großvater, einem wortkargen Fischer, mit dem niemand auf der Insel etwas zu tun haben will. Das Leben mit dem alten Mann verstärkt in dem schüchternen Jungen das Gefühl der Einsamkeit. Doch vor allem bedrückt ihn, dass er nicht über die Geschehnisse reden kann, die dem Tod seiner Mutter folgten.

Vergangenheit und Gegenwart, die Geheimnisse von Erwachsenen und die Unschuld von Kindern: Jess Kidd erzählt die Geschichte zweier junger Menschen, die mit beeindruckendem Mut und großer Fantasie versuchen, sich eine ungerechte Welt zu erklären.

© Cordula Treml

JESS KIDD, 1973 in London geboren, hat Literatur an der St.Mary’s University in Twickenham studiert. Bei DuMont erschienen 2017 ihr Debütroman ›Der Freund der Toten‹, der auf der Krimibestenliste stand, sowie 2018 und 2019 die Romane ›Heilige und andere Tote‹ und ›Die Ewigkeit in einem Glas‹. Die Autorin lebt mit ihrer Tochter in West London.

WERNER LÖCHER-LAWRENCE war lange als Lektor in verschiedenen Verlagen tätig. Heute ist er literarischer Agent und Übersetzer. Zu den von ihm übersetzten Autor*innen gehören John Boyne, Nathan Englander, Hilary Mantel, Hisham Matar und Louis Sachar.

JESS KIDD

Die Insel der Unschuldigen

Roman

Aus dem Englischen von Werner Löcher-Lawrence

Von Jess Kidd sind bei DuMont außerdem erschienen:

Der Freund der Toten

Heilige und andere Tote

Die Ewigkeit in einem Glas

Die englische Originalausgabe erschien 2022 unter dem Titel

›The Nightship‹ bei Canongate, Edinburgh.

Copyright © 2022 by Jess Kidd

eBook 2023

© 2023 für die deutsche Ausgabe: DuMont Buchverlag, Köln

Alle Rechte vorbehalten

Übersetzung: Werner Löcher-Lawrence

Umschlaggestaltung: Lübbeke Naumann Thoben, Köln

Umschlagabbildung: © rosapompelmo / Depositphotos

Satz: Fagott, Ffm

eBook-Konvertierung: CPI books GmbH, Leck

ISBN eBook 978-3-8321-8289-2

www.dumont-buchverlag.de

KAPITEL 1

1628

Das Kind fährt mit einem Boot bis ans Ende der Zuidersee. Vorbei an Werften und Lagerhäusern, neuen steinernen Gebäuden und dem einen oder anderen Kirchturm. Es ist ein trüber Tag, es nieselt unablässig, und die Kälte kriecht einem in die Knochen. Das Kind ist in mehrere Schichten gehüllt, eine untere, eine mittlere und eine obere. Mayken besteht aus bleicher Haut, winzigen weißen Zähnen, feinem, hellem Haar, Leinen, Spitze, Wolle und Leder. In die Säume ihrer Kleider sind Schätze eingenäht, klein und kostbar wie sie selbst.

Mayken hat einen Vater, den sie nie gesehen hat. Ein Handelsmann, der in einem fernen Land lebt, in dem die Mittagssonne heiß genug ist, ein holländisches Kind schmelzen zu lassen.

Maykens Vater lebt in einer marmornen Villa, hat man ihr erzählt. Er hat eine Unmenge Bedienstete und stapelweise goldene Teller, kastanienbraune Hengste und gescheckte Stuten. Rote und weiße Rosen ranken sich um seine Tür, Blut und Schnee. Am Tag heben die Rosen ihre Blüten zur Sonne, bei Nacht verströmen sie ihren Duft um sich herum. Schneide sie, und sie leben nur noch eine Stunde. Ihre Dornen sind gemein und können dich ein Auge kosten.

Maykens Vater hat Holland kurz vor ihrer Geburt verlassen, Maykens Mutter mit ihrem abwesenden Mann immer überall angegeben: So absolut entschlossen ist er, zu Wohlstand zu kommen, so unerschütterlich trotz aller fremdartigen Seuchen und Unruhen unter den Einheimischen. Dennoch hatte sie keinerlei Absicht, ihm zu folgen, war sie doch zu zart für eine solch gefahrvolle Reise. Mayken bezweifelte das. Ihre Mutter hatte kräftige Waden, einen gesunden Appetit und glänzende, volle Locken. Sie lachte gern laut und war so solide wie ein gut gebauter Schrank. Bis ein Baby in ihr stecken blieb.

Mayken darf das Baby nicht erwähnen, hätte es doch gar nicht dort sein sollen. Sie übt mit ihrer Kinderfrau.

»Deine Mutter ist tot?«

»Ja, sie hatte die Ruhr.«

»Woran ist deine Mutter gestorben, Mayken?«

»Meine Mutter ist an der Ruhr gestorben, Imke.«

»Sag mir, mein Kind, wie geht es deiner Mutter?«

»Sie ist, unglücklicherweise, an der Ruhr gestorben.«

An der Ruhr, sagt Mayken im Rhythmus der Ruder und dem Klatschen des Wassers gegen den Bug des Bootes, das sie zu ihrem Ostindienfahrer bringen wird. An der Ruhr, antwortet sie den Kühen, die hoch in die Luft gehievt werden und laut brüllen, als man sie ins Schiff hinabsenkt. An der Ruhr, sagt sie auch zu den Leuten, die über die Decks schwärmen. Den Seeleuten und noblen Kaufmännern, den Soldaten mit ihren Federmützen und den konfusen Passagieren. An der Ruhr, antwortet sie dem Pipp-Pipp-Pipp-Tuut der Trompeter, die ihre Kommandos weitergeben. Das Schiff liegt ruhig da, während ein wildes Durcheinander an Menschen und Gütern von einer wahren Flottille kleiner und größerer Boote und Kähne zugeladen wird, die wie Fliegen um eine geduldige Mähre schwirren.

Verdammte Ruhr, ist das ein großes Schiff!

Und es ist schön. Grün und gelb ragt es aus dem Wasser, und vorn am Bug – oh, das Beste überhaupt – hockt ein geschnitzter roter Löwe! Seine goldene Mähne ist gelockt, seine Krallen graben sich in den Bugspriet, und er faucht aufs Wasser hinab.

Maykens Boot schaukelt um den ausladenden Schiffsbauch. Hoch über ihr leuchtet das Schiff mit dem hellen Schandeck, der schön geschwungenen Reling und den in den Himmel wachsenden Achterdecks. Darunter ist es eine Festung, der Rumpf ist mit eng gesetzten quadratischen Nagelköpfen gepanzert, an denen bereits der Rost nagt.

Mayken ruft laut: »Das Schiff blutet!«

Ein Passagier, der ihr gegenübersitzt, lacht.

»Die Eisennägel halten die Würmer aus dem Rumpf. Die lieben frisches, saftiges Holz.« Der Mann beugt sich vor und macht es Mayken mit dem Finger auf ihrer Wange vor. »Sie wühlen und winden sich und fressen kleine Löcher hinein.«

Zum Glück hat auch Mayken Zähne.

Der Mann fährt zurück. »Sie hat mich gebissen!«

»Sie haben ihr in die Wange gestochen.« Die Kinderfrau sieht Mayken an. »Was bist du? Ein Frettchen? Eine Ratte? Ein Welpe? Man beißt niemanden.«

Der Mann hebt gutmütig seine Hand, er hat Handschuhe an. »Nichts passiert.«

Er trägt das schwarze Gewand eines Priesters, er ist ein Prädikant. Es gibt auch eine Frau Prädikant mit einem Kleid aus dem gleichen Stoff. Zwischen ihnen sitzen ihre Kinder wie die Orgelpfeifen und in die gleiche dunkle Wolle gekleidet wie ihre Eltern. Alle mit sauberen weißen Kragen. Ein Geistlicher mit seiner Familie, herausgeputzt wie für ein Porträtfoto, heringseng aneinandergedrückt, Knie an Knie mit den anderen Passagieren. Das älteste Mädchen hält ein sorgfältig eingewickeltes, bibelförmiges Päckchen im Arm. Der kleinste Junge, ein Engelchen mit Ringellocken, bohrt sich in der Nase und wischt den Finger am Bein seiner Schwester ab. Er erwidert Maykens Lächeln mit einem ausdruckslosen, blauäugigen Blick.

Mayken wendet sich höflich an den Vater. »Erzählen Sie mehr von den Schiffswürmern, bitte.«

»Die Löcher, die sie bohren, sind winzig«, sagt der Prädikant. »Aber wenn es zu viele werden …«

Er lässt ein glucksendes Geräusch hören und vollführt eine Bewegung mit der Hand: ein sinkendes Schiff. Das Engelchen macht einen Schmollmund, seine Schwester verdreht die Augen.

Rundum in der Bordwand des Schiffes sehen sie rot gestrichene Geschützklappen. Der Prädikant zeigt sie dem Engelchen.

»Die sind für die mächtigen Kanonen, Roelant. Gegen Räuber«, fügt er finster hinzu.

Das Heck des Schiffes ist mit einer Reihe großer hölzerner Männer geschmückt. Groß heißt fast lebensgroß, und alle haben einen Vollbart. Groß auch, weil sie lange Gewänder tragen.

»Die sollen die Piraten abschrecken.«

Mayken blickt den Prädikant mit gerunzelter Stirn an. Das bezweifelt sie. Einer der geschnitzten Männer sieht aus wie ein Schweinemetzger vom Haarlemer Markt, nur dass er ein Schwert und keine Haxe in der Hand hält. Die drei anderen gucken einfach nur verdrossen drein.

Sie wirft einen Blick zu ihrer Kinderfrau. Imke ist ganz verzückt, sie glaubt allen Unsinn: Aale sind aus nassen Pferdehaaren gemacht. Zu heftig die Nase zu putzen, kann den Tod bedeuten. Statuen und Schnitzarbeiten erwachen gelegentlich zum Leben, weil ein mit Liebe hergestelltes Objekt nicht anders kann, als eine Seele zu haben.

Sie haben es mit einem Kuchen probiert. Mayken hat ihn mit Teigschlangen dekoriert. Ungeheuer liebevoll hat sie die Schlangen gerollt, hat ihnen Augen eingeritzt und sie geküsst. Aber als der Kuchen fertig war, waren die Schlangen immer noch aus Teig, nur golden jetzt, haben sich nicht gewunden oder gezischt. Mayken hat sie angeekelt gegessen. Sie schmeckten nicht mal wie Schlangen. Imke meinte, sie wären nur schläfrig nach der Wärme des Ofens.

Bei einer anderen Gelegenheit hat Imke Mayken mit in die Kirche des heiligen Bavo genommen, das Juwel Haarlems. Die alte Kinderfrau meinte, alles, was sie tun müsse, sei, die Augen offen halten und aufpassen. Trotzdem verpasste Mayken, wie ein steinerner Wasserspeier das Gesicht verzog und ihr eine hölzerne Kröte vom Chorgestühl zuzwinkerte.

Und jetzt schmerzt ihr das Herz, wenn sie an Haarlem und all die Dinge denkt, die sie zurücklassen, das große, saubere Haus, die Marktjungen, die Küchenkatze, Mama und das geheime, stecken gebliebene Baby. Es war ein Bruder, da ist sich Mayken sicher. Sie hat sich immer nur einen Bruder gewünscht.

Das dickbauchige Schiff reckt sich über ihr empor! Ein, zwei, drei Masten wachsen durch das Netz der Takelage in die Höhe. Die dreieckigen Wimpel knattern vor dem düsteren Himmel im Wind.

Imke meldet sich: »Wenn sie die Segel hissen, wird es sein, als hätte die Welt Waschtag.«

Möwen laufen über die Rahen und wirken verglichen mit den Seeleuten unbeholfen, die überall in der Takelage herumsteigen, in die Höhe klettern, an den Armen hängen, sich drehen, winden, lose Enden festzurren und laut rufen und fluchen.

Mayken liebt die Seemänner auf der Stelle. Was die sich trauen, wie sie über die Taue rennen und wie hoch sie klettern! Der Prädikant zeigt auf die Kadetten und Offiziellen der Niederländischen Ostindien-Kompanie, die sich auf dem Heckkastell versammeln. Seht, da ist der Oberkaufmann im roten Mantel, der mit dem gefiederten Hut. Daneben, das ist der Unterkaufmann, auch mit einem großen Hut, und noch eins weiter der stabile, alte Skipper, der aber ohne Hut. Den drei Männern ist eine Fracht anvertraut, die wertvoller ist als der Staatsschatz so manchen Königreichs, dazu kommen die Leben vieler Hundert unschuldiger Seelen und dieses wundervolle, neu gebaute Schiff. Es ist seine Jungfernfahrt! Imke nickt, als wäre sie interessiert. Frau Prädikant starrt mit hängenden Mundwinkeln forellengleich vor sich hin und harrt der Dinge, die da kommen. Maykens Boot ist in Warteposition, erst wird noch ein anderes, bereits längsseits liegendes Boot entladen. Etlichen Passagieren scheint übel zu sein, während sie mit verkniffenen Gesichtern darauf warten, an Bord zu kommen. Eine feine Dame wird auf einem hölzernen Sitz an der Bordwand emporgehievt. Von Entsetzen gepackt sieht sie sich um und klammert sich an die Seile. Über ihr das Chaos schreiender Seemänner, unter ihr die schmutzigen Oktoberwellen.

Maykens Kinderfrau Imke verfolgt das alles mit Befriedigung. Sie genießt die Prüfung der anderen mit reiner, schamloser Freude.

»Wie heißt das Schiff, Imke?«

Natürlich weiß Mayken es, aber sie mag die Art, wie Imke den Namen ausspricht.

»Batavia.«

»Ist das ein Zauberwort?«

Imke antwortet nicht.

Imke spricht es aus wie ein Zauberwort, vorsichtig, mit der Achtung der einfachen Frau vor der versteckten Natur der Dinge. Ein achtlos dahingesagtes Zauberwort verdirbt alles Glück.

Das Schiff ist nach seinem Ziel benannt. Das muss reichlich Glück bringen, ein Schiff, das nach vorn schaut auf ein neues Leben an einem heißen, fremden Ort.

»Batavia«, singt Mayken ungebärdig. »Batavia. Baah-taah-wie-aah!« Sie wartet auf eine Katastrophe.

Ein Tau, das reißt, ein Fass, das herabstürzt, ein Seemann, der in der Takelage stolpert.

Imke ist beunruhigt. Selbst für eine einfache Frau vom Land ist sie ungewöhnlich abergläubisch. »Sei still.«

Mayken gehorcht. Mit Imke legt man sich besser nicht an.

Ihre Kinderfrau hat ausladende Hüften und breite Schultern, kurze Beine und große Füße. Sie ist fast so breit wie groß und wird in jedem Sturm fest auf den Beinen stehen. Sie hat acht Zähne, auf die sie stolz ist. Lächelt sie mit geschürzten Lippen (was sie unter Fremden tut), könnte man denken, sie hat noch ein volles Gebiss. Imke ist nicht mehr jung. Das Haar unter ihrer Haube ist weiß und fein wie Hühnerdaunen. Das liegt an den Sorgen, die Mayken ihr macht. Imke hat blassblaue Augen, wässrig wie eingelegte Eier. Ist sie wütend, treten sie hervor, ist sie sanft und liebevoll, scheinen sie so weich, dass man sie essen könnte.

Das Beste an Imke jedoch sind ihre zwei fehlenden Fingerspitzen. Mayken durchfährt ein Kitzel, wenn sie die nur ansieht. Am Zeige- und Mittelfinger der rechten Hand, verstümmelte Gelenke, glatt und rund, wo Nägel sein sollten. Imke will ihr nicht erzählen, wie sie die Spitzen verloren hat, und Mayken wird nicht müde, Vermutungen anzustellen.

Mayken ist eine Dame, weshalb sie einen Windensitz bekommt, das ist ein Brett mit einem Strick an jeder Ecke. Ein alter Seemann mit einem Tuch der Kompanie um den Kopf hilft ihr hinauf.

Ihre Knie zittern. Imke schaut ernst und geduldig.

Der Seemann lächelt Mayken zu. »Bist du bereit, kleine Großmutter?«

Mayken nickt.

»Sei tapfer.« Er legt seine großen auf ihre kleinen Hände. Seine alten, vernarbten Knöchel sind knorrig wie knotiges Holz.

»Vasthouden«, sagt der Seemann. »Immer gut festhalten!«

Mayken beißt nicht, als er sie anfasst, weil ihre Zähne klappern. Der Sitz schlingert himmelwärts. Das Boot unter ihr wird kleiner und damit auch Imke. Mayken fährt am breiten Bauch des Schiffes in die Höhe, die Hände fest an den Stricken, die Beine baumeln in der Luft. Oben stottert die Winde, und ihr Herz setzt kurz aus, doch schon wird sie an Bord gehievt und auf die Beine gestellt. Ein Schiffsjunge bringt sie dahin, wo sie warten muss, bis auch die übrigen Passagiere da sind. Wie die anderen Seeleute trägt auch er eine weite Hose, keine Schuhe und ein Tuch um den Kopf.

»Rühr dich nicht von der Stelle«, sagt er. »Es ist hier überall gefährlich, verstehst du?«

Er fährt mit der Hand durch die Luft, die Takelage hoch. Männer schleppen schwere Güter übers Deck, offene Luken warten auf sie, dunkle Öffnungen, die in den Bauch des Schiffes führen.

Mayken zweifelt nicht an den Worten des Schiffsjungen.

Unbedeutende Passagiere müssen über eine Strickleiter an Bord klettern. Imke kommt über die Reling, atemlos. Sie zeigt Mayken ihre von den Stricken wundgeriebenen Hände. Der Prädikant und seine Familie mühen sich hinter ihr her. Frau Prädikant taumelt, ihre Röcke flattern im Wind, mit rotem Gesicht zählt sie ihre Kinder und hebt Roelant vom Rücken eines Seemannes. Das Kind klammert sich an ihm fest, und seine kleinen Finger müssen einzeln gelöst werden.

Jetzt kommen Soldaten an Bord, einer nach dem anderen, verschlossen und grimmig dreinblickend. Mayken studiert sie interessiert, ihre verschiedenen Mützen, die Kniehosen, nicht alle sind Holländer. Sie tragen ihre wenigen Besitztümer in Leinensäcken mit sich und bewegen sich ungelenk. Das hier ist nicht ihre Welt. Einige von ihnen sind sehr jung, aber alle scheinen kampfgezeichnet. Mayken würde mit keinem von ihnen einen Streit anfangen wollen.

Eine beeindruckende Gestalt drängt das Deck herunter. Ein Riese von furchterregenden Ausmaßen mit einem dichten, blonden Bart und kahl geschorenem Kopf. Er trägt einen ledernen Uniformrock ohne ein Hemd darunter. Lederbänder liegen um seine nackten, muskulösen Arme.

Mayken fragt den Schiffsjungen: »Wer ist das?«

»Der Steinmetz.«

Mayken sieht fasziniert zu, wie der Steinmetz einem seiner Soldaten mit der unbefangenen Grausamkeit eines Bären ins Gesicht schlägt. Als er an den Männern vorbeigeht, zucken etliche vor ihm zurück. Keiner sieht ihm in die Augen.

»Er war tatsächlich mal Steinmetz«, sagt der Schiffsjunge. »Er kann Felsen zerschlagen und Schädel mit einer Hand zerdrücken.«

Mayken würde gern sehen, ob der Steinmetz einem der Soldaten den Schädel zerdrückt, aber jetzt müssen die Passagiere dem Schiffsjungen folgen.

»Sie wohnen hinter dem Mast«, sagt er und deutet auf den riesigen Hauptmast. »Sie dürfen niemals in den Bereich davor.«

Mayken zieht die Stirn kraus. »Was passiert, wenn ich’s doch tu?«

»Dann zerquetscht dir der Steinmetz den Schädel.«

Die Kabine ist so groß wie ein Wäscheschrank.

Mayken sieht den Schrecken in Imkes Gesicht, bevor die Kinderfrau sich wieder fassen kann. Es gibt zwei Regalbretter an der Wand, eines über dem anderen. Da werden sie schlafen, eingeräumt wie Teller in einen Schrank. Mayken klettert in die obere Koje und lässt den Blick über ihr Reich schweifen.

So winzig es ist, es gibt eine Laterne, ein Lattenfenster, einen schmalen Tisch und einen Hocker. Ihre Truhen warten bereits in der Ecke. Imkes enthält drei Käseräder, einen Ersatzrock und eine Schachtel mit Nähzeug. In Maykens ist hauptsächlich Silbergeschirr.

»Dein Vater hat ein Haus aus Marmor«, versichert Imke.

»Rote und weiße Rosen und gescheckte Stuten.«

Imke nickt. »Goldene Teller und einen schattigen Hof.«

Weil Imke aussieht, als könnte sie zu weinen anfangen, und Mayken sie liebt, streckt das Mädchen die Hand aus und streichelt die verstümmelten Finger der alten Frau.

»Lass meine verflixten Finger in Ruhe.«

»Erzähl mir, wie du sie verloren hast«, versucht Mayken sie zu überreden. »Nur dieses eine Mal.«

»Rate richtig, und ich tu’s.«

Mayken überlegt einen Moment. »Du hast die Schweine gefüttert, und sie waren sehr, sehr hungrig …«

»Nicht mal nah dran.«

Es ist sehr früh. Mayken und Imke schlummern noch. Die Kinderfrau ist nicht fürs Meer gemacht, sie hält einen Eimer im Arm, und ihr alter Kopf wippt hin und her. Ihr Mündel in der oberen Koje klammert sich schläfrig vom Auf und Ab des Schiffes an die Wand und atmet den Geruch des frischen Holzes ein. Sie haben die erste Nacht vor Anker im Windschatten von Texel verbracht. Das Wetter wird nicht besser. Es nieselt, die Luft ist regenschwer.

Batavia, die Schöne, ist so gut wie zur Abreise bereit. Auf dem Achterdeck steht der Oberkaufmann Francisco Pelsaert, ein hagerer Mann in einem prächtigen roten Mantel. Der rattengesichtige Unterkaufmann Jeronimus Cornelisz ist an seiner Seite, lacht und zeigt auf etwas. Pelsaert neigt den Kopf und lächelt höflich. Ariaen Jacobsz, der Skipper, steht hinter den beiden Kaufmännern. Er ist trist gekleidet, sein Schädel kahl rasiert. Seine fleischigen Beine stehen fest auf den Planken, und sein Blick ist überall. Die Besatzung hält den Blick allein auf ihn gerichtet.

Die Anker werden gelichtet. Die Batavia trägt sie eng vorn am Bug, auf den Kopf gedreht hängen sie beidseitig da. Die Geschützklappen sind geschlossen. Ein Riss in der Wolkendecke, die Sonne verfängt sich auf dem nassen Deck, in den sich entfaltenden Segeln und der blank polierten Hecklaterne. Die Laterne wird den anderen Schiffen des Verbands den Weg leuchten. Die Schwesterschiffe der Batavia haben bereits einen Tag Vorsprung. Die Dordrecht, die Galiasse (die arme Gravenhage ist bereits mit einem Sturmschaden auf dem Weg zurück in den Hafen), die Assendelft und die Sardam. Dazu kommen das Botenschiff Kleine David und ein robustes Kriegsschiff, die Buren. Die Batavia wird nicht allein sein auf den weiten Meeren.

Auf die Verdrossenheit des Wartens folgt die Erregung des Aufbruchs, jetzt, wo auch der letzte Schatz an Bord ist. Zwölf Kisten mit Münzen von beträchtlichem Gewicht und einem irrsinnigen Wert sind unter Bewachung zum Schiff gerudert, an Bord gehievt und von jeweils sechs Männern in die Große Kabine im Heck gebracht worden, wo sie rund um die Uhr bewacht werden.

Was sonst hat die Batavia geladen?

Güter, deklariert und undeklariert. Metall, Samt, Brokat, Juwelen, eine römische Kamee von der Größe einer Suppenschüssel, silberne Bettpfosten sowie eine hässliche, ungeheuer wertvolle Achatvase. Die Mannschaft, deklariert und undeklariert. Die Passagiere dito.

Was sonst hat die Batavia geladen?

Dreißig Kanonen aus Eisen und Bronze, die kleineren im Bug, ansonsten große, mächtige Geschütze, einige neu gegossen, andere Überbleibsel früherer Unternehmungen. Von den Kanonieren innig geliebt, steht jedes einzelne Geschütz mit blockierten Rädern festgezurrt an seinem Platz. Die Kanonen sind so massig wie launisch, und es lässt sich nicht sagen, ob sie beim Abfeuern bocken, hochspringen oder explodieren und den Männern, die sie bedienen, Gehör oder Augenlicht nehmen oder sie einfach zerfetzen.

Was sonst hat die Batavia geladen?

Gepökeltes Fleisch in dicken Fässern, Buchweizen und Erbsen, dreitausend Pfund Käse, Schiffszwieback (Wurmfestungen und Zahnbrecher), dazu tonnenweise eingelegte Heringe. Und entlang der Seiten des Laderaums einen steinernen Bogen für die Burg in Batavia.

Alles ist sicher verstaut, das Schiff segelt los.

Die Batavia sticht in See!

Aus der Ferne betrachtet gleitet sie königlich dahin, an Bord jedoch herrscht hektische Anstrengung aller verfügbaren Kräfte. Ein Brüllen und Fluchen, Trompetenrufe. Es gilt, das neue Schiff erst einmal kennenzulernen und ein Gefühl dafür zu entwickeln. Eine Woche auf See, und Schiff und Mannschaft werden eins sein.

Die Batavia fährt mit ihrer Fracht aus Kostbarkeiten, Wanderratten und Menschenseelen hinaus auf die stürmische Nordsee.

Mayken wird durch die veränderten Bewegungen des Schiffes geweckt und klettert aus ihrer Koje. Die alte Frau schläft weiter, mit offenem Mund, ihr Atem stinkt, die Haube sitzt schief.

Der Gang vor der Kabine ist leer. Mayken hat einige Mühe, die schwere Tür zum Deck zu öffnen, aber sie kämpft sich nach draußen. Das Achterdeck ist übervoll mit Männern der Kompanie, mit Kadetten und Passagieren der ersten Klasse. Auf dem Hauptdeck unten ist es noch schlimmer: Seemänner und Vor-dem-Mast-Passagiere drängen sich zwischen Schweinepferch, Ziegenpferch und zwei umgedreht festgezurrten Booten.

Die Batavia nimmt mit einer plötzlichen südwestlichen Brise Fahrt auf, die Segel blähen sich, aus den Wanten erschallen laut die Rufe der Seemänner, und das Deck neigt sich zur Seite. Mayken greift nach der Brüstung, in die ein hölzerner Kopf mit Bart und hervortretenden Augen geschnitzt ist.

»Oh, ja«, sagt sie zu dem Kopf. »Halt dich nur gut fest.«

Der Prädikant begrüßt Mayken wie ein Lieblingsmitglied seiner Gemeinde.

Frau Prädikant fügt säuerlich hinzu: »Wo ist denn deine Kinderfrau, Mayken van der Heuvel?«

»In der Kabine, Mevrouw.«

Der Fischmund zuckt. Die kalten Augen leuchten auf. »Geht es ihr nicht gut?«

»Oh, gar nicht gut. Sie hat einen ganzen Eimer vollgespuckt.«

Die große Tochter lauscht und verbirgt ein Lächeln.

»Dein Vater wird überglücklich sein, dass du nach Batavia kommst.«

»Das weiß ich nicht.«

»Deine verstorbene Mutter …«

»Die verdammte Ruhr«, sagt Mayken und sieht mit einem Auge zum Skipper hinüber, der eine saftige Ladung über Bord spuckt.

Mayken würde unheimlich gerne auch so spucken können.

Jemand fasst sie beim Arm. Die große Tochter sagt etwas Ernstes über Mütter und Engel.

Mayken ist mit ihren Gedanken anderswo. Ganz bei der Salve exquisiter Flüche, die aus dem Skipper hervorbricht.

Später klopft es an der Kabinentür. Ein großer Junge steht davor.

»Ich bin der persönliche Steward des Oberkaufmanns.«

»Schön für dich«, sagt Imke.

»Sie sind krank. Darf ich hereinkommen?«

Er ist bereits durch die Tür.

Mayken sitzt auf ihrer Koje und mustert den Steward interessiert. Er ist kahl rasiert, hat ein schmales Gesicht, einen breiten Mund und hervorstehende, schmutzig grüne Augen. Der Junge ist barfuß. Ein schnelles, wölfisches Lächeln huscht über sein Gesicht, als er zu ihr aufsieht.

Dann ist er überall gleichzeitig, kaum aufzuhalten, bringt den Eimer hinaus und sauber mit Meerwasser ausgespült wieder zurück. Er wischt den Boden, bringt Imke einen heißen Ingwertee, kniet sich neben sie und hält ihre Hand, während sie an der Tasse nippt.

»Bist ein guter Junge«, sagt die alte Frau. »Wie heißt du?«

»Jan Pelgrom.«

»Und der Oberkaufmann hat dich geschickt?«

»Es wurde berichtet, dass eine begüterte Passagierin ohne ihre Kinderfrau über die Decks gelaufen ist.«

Mayken beugt sich über den Rand der Koje, um zu sehen, wie Imke reagiert, aber die alte Frau ist eingeschlafen. Pelgrom zieht seine Hand zurück und wischt sie an der Decke ab. Er sieht zu Mayken hinauf. »Was?«

»Warst du schon mal in der Großen Kabine?«

»Natürlich.«

»Hast du die Schatztruhen gesehen?«

»Reingeguckt habe ich.« Pelgrom schnieft. »Der Oberkaufmann hat sie aufgemacht, um zu sehen, ob tatsächlich Münzen und keine Rüben drin sind.«

»Du hast das Silber gesehen?«

»Das Glitzern von tausend herabgefallenen Sternen. Und es gibt noch mehr Schätze. Bessere Schätze.«

»Was für bessere Schätze?«

»Die Juwelen des Oberkaufmanns. Saphire und Rubine so groß wie Enteneier und eine goldene Krone. Er setzt sie auf, einfach so.« Pelgrom zeigt mit ernster Miene, wie er es macht. »Er schläft nachts mit ihr.«

Mayken lächelt. »Tut er nicht!«

»Die Schlüssel zu den Schatztruhen bewahrt er in seiner Arschritze auf. Piraten würden im Traum nicht daran denken, da zu suchen.«

Mayken lacht laut heraus, und Imke regt sich in ihrer Koje.

Mayken flüstert: »Ich will nicht an Piraten denken.«

»Verständlich. Wenn Piraten angreifen, ist es für Kinder am schlimmsten.«

»Warum?«

»Piraten lieben kleine Zehen und Finger. Wenn sie das Schiff einnehmen, schneiden sie sie dir ab und essen sie. Dann hängen sie dich an die Rahen, häuten dich, werfen dich in den Kochtopf wie einen Hasen, und der Rest geht über Bord. Dein Gesicht tragen sie als Hut.«

Mayken ist so hingerissen wie entsetzt. »Ich habe keine Angst vor Piraten.«

»Nein? Ich schon.«

»Wo sonst noch warst du auf dem Schiff, Jan Pelgrom?«

»Wo war ich nicht, Lady Mayken?«

»Unten?« Sie deutet auf den Boden. »Im Bauch des Schiffes?«

Pelgrom sieht sie verschlagen an. »In der Unterwelt?«

»Was ist da?«

»Erst kommt das Kanonendeck. Wo sich die Seemänner in den Haaren liegen, fluchen, essen und schlafen und der Schiffsbarbier Beine abhackt. Wo die Kombüse des Kochs heißer als die Hölle ist und die Ratten, die den Katzen entwischen, groß genug werden, um Babys zu stehlen.« Er sieht sie an. »Das Orlopdeck darunter ist für die Kühe und die Soldaten. Und da drunter kommt der Laderaum.«

Sie sitzen da und lauschen dem keuchenden Auf und Ab der schlafenden Imke.

»Da will ich hin«, sagt Mayken leise, »in die Unterwelt.«

»Das geht nicht. Du gehörst hierher, in die Oberwelt.«

Mayken läuft rot an. »Ich kann gehen, wohin immer ich will. Genau wie du.«

»Nein, kannst du nicht. Dann bringen sie dich zurück und binden dich wie einen ungezogenen Hund in deine Koje.«

»Da müssen sie mich erst mal kriegen.«

Pelgrom sieht sie amüsiert an. »Denkst du, du kannst unbemerkt auf diesem Schiff voller Leute umherwandern?«

»Ja.«

»Und was ist mit den tausend Missgeschicken, die einer feinen Dame zustoßen können …?«

»Ich liebe Missgeschicke.« Mayken sammelt Spucke im Mund, denkt aber noch mal nach und schluckt sie herunter. »Und ich bin keine feine Dame.«

Pelgrom sieht Mayken mit vorgeschobenen Lippen und verengten Augen an. Genauso, wie Imke es bei einem Lachs tut, den ein Haarlemer Fischhändler in die Höhe hält. Mayken versucht wie ein möglichst frischer Lachs auszusehen.

»Es gibt einen Weg, über den du an jeden Ort auf diesem Schiff kommst«, sagt er. »Selbst in die Unterwelt.«

»Sag schon!«

Pelgrom lächelt.

KAPITEL 2

1989

Das Kind fährt mit dem Versorgungsschiff nach Beacon Island. Das Schiff hat Geraldton mit dem ersten Licht verlassen. Jetzt, am späten Vormittag, nähern sie sich ihrem Ziel, und Himmel und Meer sind von einem überwältigenden Blau. Gil hat bleiche Haut, rote Haare und trägt Secondhand-Klamotten. Seine Schuhsohlen sind außen abgelaufen und geben seinem Gang etwas unbeholfen Breitbeiniges. Alte Ladys mögen ihn, weil sie ihn für altmodisch halten. Fernfahrer mögen ihn, weil er sich für ihre Zugmaschinen interessiert. Alle anderen finden ihn eigenartig.

Mum hat gesagt, Leute kennenzulernen, ist etwas, das Übung braucht. Sieh den Menschen in die Augen, wenn du mit ihnen sprichst. Nicht ständig. Sieh manchmal auch woandershin.

Gil kann die Augen des Kapitäns nicht sehen, weil sie von einer Baseballkappe verschattet werden. Was das Reden angeht, so schreit der Kapitän immer wieder über den Maschinenlärm hinweg. Antworten scheint er nicht haben zu wollen. Gil sitzt oben bei ihm, weil das der von den stinkenden Ködersäcken im Heck am weitesten entfernte Platz ist. Die Lieblingsspeise von Krebsen und Langusten sind Rückgrat, Füße und Köpfe von Schafen. Gil würde sich die Köder gerne mal ansehen, aus Neugierde, mag sie aber nicht aus der Nähe riechen müssen. Bilder sind das eine, Gerüche das andere. Gerüche dringen auf andere Weise in den Menschen ein, und den übelsten Geruch schmeckst du auch.

Der Kapitän sagt Gil, er solle keine zu großen Erwartungen haben. Beacon Island ist kaum eine Insel, eher ein Haufen Korallenschutt, dessen Rand man in zwanzig Minuten ablaufen kann. Wenn er zu einer der anderen Inseln führe, Pigeon zum Beispiel, gäbe es einen Basketballplatz, eine Clubhalle und ein verdammtes bisschen Leben. Auf Beacon Island aber gibt es rein gar nichts, nicht mal eine Schule.

»Ich kannte deine Mum«, schreit der Kapitän. Der Schirm seiner Mütze zeigt in Gils Richtung.

Gil sieht aufs Meer hinaus. Wartet.

Keine weiteren Fragen.

Gil ist vorbereitet. Er hat das mit seiner und Mums früherer Nachbarin durchgesprochen.

»Deine Mutter ist tot?«

»Ja, es war ein Unfall.«

»Wie ist deine Mutter gestorben, Gil?«

»Es war ein Unfall, MrsBaxter.«

»Sag mir, Junge, wie geht es deiner Mutter?«

»Sie ist tot, unglücklicherweise. Es war ein Unfall.«

MrsBaxter meinte, alle, die wüssten, was mit Gils Mutter geschehen sei, würden nicht fragen. Im Übrigen schulde er niemandem eine Antwort, aber unhöflich zu sein, helfe auch nichts.

Ein Unfall. Das Wort greift zu kurz.

Gil wirft dem Kapitän einen heimlichen Blick zu. Der Mann hebt den Kopf. Sein Mund bewegt sich, er arbeitet an einem Satz, sammelt einzelne Wörter, wie er es mit Speichel tun würde, um ihn rauszuhusten.

Aber er bleibt stumm.

Voraus ein heller Punkt im Gleißen. Der Punkt wird größer. Selbst an diesem strahlenden Sonnentag mit glitzernden Wellen wirkt die Insel trostlos. Eine Ansammlung grob zusammengezimmerter Hütten, Plumpsklos und Wassertanks inmitten von niedrigem Gebüsch und Steinen.

Der Kapitän erklärt Gil, dass sie am nordöstlichen Ende der Insel anlegen werden. Die Wissenschaftler haben da einen Steg in die Fahrrinne gebaut, damit auch größere Schiffe entladen werden können. Sie sind mittlerweile gut ausgestattet auf Beacon Island, haben eine Hütte mit sechs Schlafplätzen, eine Werkstatt, einen Lagerschuppen, eine Dunkelkammer und Wasserauffang-Tanks für die Regenzeit. Wobei sie wie die Inselbewohner von den Lieferungen des Versorgungsschiffs abhängen. Es gibt auf der Insel vier Fischerfamilien, die Walkers, die Villantes, die Nords und die Zanettis. Die Zanettis waren die Ersten und stehen am ordentlichsten da. Sie haben zwei Boote, Vater und Sohn fahren damit hinaus.

»Und dann ist da noch dein Großvater. Joss Hurley.«

Der Kapitän spricht den Namen aus, als sagte er Hämorrhoiden oder Verkehrsunfall. Als wäre Joss Hurley einer, dem man besser aus dem Weg geht.

Das Schiff nähert sich dem Anleger, auf dem eine Handvoll Leute warten. Alte Männer und eine junge Frau in einem Männerunterhemd mit streitlustigem Blick und vor der Brust verschränkten Armen.

Daneben eine zweite Gruppe in Badehosen und aufgeknöpften Hemden. Zwei junge Männer und eine ältere Frau. Die Frau trägt ihr dunkles Haar offen. Einer der Männer macht einen Witz, und alle lachen. Der andere Mann hat eine Kamera um den Hals hängen. Er hebt sie vors Gesicht, betrachtet die Szenerie vor sich durch den Sucher und lässt sie wieder sinken.

»Die Wissenschaftler«, sagt der Kapitän. »Sie sind hier, um nach dem Wrack zu tauchen.

Er deutet auf ein breites Reef Boat mit einer beachtlichen Winde, das einzige andere am Anleger vertäute Schiff. »Die holen alles Mögliche vom Meeresboden hoch. Kanonen …« Er wirft einen Blick zum Jungen hinüber. »Hörst du? Kanonen!«

Gil reagiert nicht.

Der Kapitän stellt den Motor ab und zieht sich seine Kappe tiefer ins Gesicht. Der Maat kommt in Bewegung und hängt die Fender vor die Bordwand.

»Bis dann«, sagt der Kapitän zu Gil.

Der Junge geht von Bord. Seine Tasche folgt ihm. Die Inselbewohner kommen den Anleger herunter. Sie haben keine Eile, aber die Waren werden schnell ausgeladen, die schwersten Kisten und Behälter mit Karren über die verwitterten Planken gefahren.

Gils Großvater macht sich bekannt, indem er die Tasche des Jungen nimmt.

Joss Hurley ist klein, nicht viel größer als sein Enkel. Er trägt keine Kappe, ist teerölbraun, und sein kahler Schädel ist mit krebsartig aussehenden Leberflecken überzogen. Unter den buschigen Brauen lugen dunkle Augen hervor. Sein Bart ist borstig wie die Halskrause eines Katers und grau durchwirkt. Wie alle anderen trägt er die Inseluniform aus Unterhemd, Shorts und Badelatschen. Die Beine bilden ein leichtes O, und auch der Bauch wölbt sich. Er ächzt und wirft Gil einen Sack mit Konserven zu, den er tragen soll.

Gil eilt hinter seinem Großvater her. Der alte Mann ist mit seiner Schubkarre voller Vorräte flott unterwegs. Gils Tasche wackelt obenauf hin und her.

Ein paar alte Männer nicken Gil zu, als er an ihnen vorbeikommt. Die junge Frau im Unterhemd lächelt schnell und wölfisch. Sie schleppt mehr, als sie müsste, mehr als die Männer, ohne dass ihr die Anstrengung anzusehen wäre.

Die Inselbewohner weichen vor Gils Großvater zurück. Es gibt kein Lächeln oder Nicken in seine Richtung, nur feindselige Blicke. Joss sieht keinen von ihnen speziell an, aber er guckt auch nicht weg. Gil folgt ihm. Schlittert über die Korallenkiesel. Der Sack ist schwer, es fühlt sich an, als wollte sein Großvater ihn testen.

»Da draußen liegt ein Wrack?«, fragt er ihn. »Mit Kanonen?«

Der Abstand wird größer. Gil müht sich, den Anschluss nicht zu verlieren, und lauscht auf eine Antwort.

Aber er hört nur die Vögel, das leise Rauschen des Meeres und das Dröhnen des ablegenden Versorgungsschiffs.

Ihre Hütte ist die, die am weitesten vom Steg entfernt liegt. Sie steht im Süden der Insel hinter dichtem Gestrüpp, als wollte sie keine Gesellschaft. Als würde sie sich lieber ins Meer stürzen, als mit ihren Nachbarinnen zu reden.

Die Hütte besteht aus Korallenplatten und hat ein Wellblechdach. Die Fenster sind klein, und die vorne haben sturmsichere Fensterläden. Es gibt ein paar verdorrte Pflanzen in Eimern, vielleicht waren es mal Tomaten. Eine Mauer aus dekorativen Ziegeln schützt den Eingang, die Dachtraufe wurde ein Stück vorgezogen und darunter eine Veranda angelegt. Dazu gibt es noch ein Klohäuschen und einen Generatorschuppen. Das Grundstück fällt zum Kiesufer hin ab. Das Wasser ist etwa sechs Meter von der einzigen Tür entfernt.

Gil folgt seinem Großvater durch diese Tür in einen kleinen Vorraum und weiter in eine schmale Küche, die nach Mäusen riecht. Trotz ihrer bescheidenen Größe gibt es eine Anrichte, einen Tisch, vier Stühle, einen Kühlschrank und einen Kerosinkocher, wodurch sie sich übervoll anfühlt. Eine Durchreiche geht unerklärlicherweise zum Flur hinaus.

Gils Zimmer liegt am Ende des Flurs. Es ist dunkel und winzig, und man guckt auf die Mauer des Generatorschuppens. Es gibt ein Campingbett, einen Haken in der Wand, ohne Bild, und eine umgedrehte Holzkiste mit einer Taschenlampe darauf.

Der alte Mann räuspert sich, was, wie es scheint, als Ersatz für den Namen seines Enkels dient. »In der Küche gibt’s Essen.«

Er stellt Gils Tasche in die Ecke, und dann ist Joss auch schon wieder draußen, geht den Flur hinunter, durch die mäusemuffige Küche, und die Fliegentür schlägt hinter ihm zu.

Als sein Großvater weg ist, sieht sich Gil erst einmal richtig um. Die Zimmer der Hütte sind alle beengend, aber es ist mehr Platz da als in den Wohnanhängern und Motels, in denen er mit seiner Mutter gewohnt hat. Die Asbestplattenwände sind in verwaschenen Farben gestrichen, einem rußigen Dunkelrot, einem schmutzigen Grün und einem gräulichen Gelb. Gil fängt vorne an. In dem kleinen Vorraum gibt es ein Regal mit Lampen und Wandhaken mit Bootsausrüstung. Es riecht nach Diesel und Salzlake. In der Küche scheint alles klebrig und fettig, schläfrige Fliegen ziehen tiefe Kreise durch den Raum. Gil linst in den Tiefkühler im Flur, ein wildes Durcheinander von vereisten Plastikbeuteln mit Fleischstücken. Er knallt den Deckel wieder zu. Am Ende des Flurs ist ein Wohnzimmer. Ein Sofa mit Schonbezug und ein Schrank voller verstaubter kleiner Figuren. Tänzerinnen.

Joss’ Schlafzimmer liegt gegenüber von Gils. Drinnen steht ein Doppelbett, das in der Mitte leicht durchhängt, links und rechts davon ein Nachttisch, auf beiden stehen Aschenbecher, einer voll, einer leer. Dazu kommt ein nierenförmiger Frisiertisch mit Spiegel, den man verschieben kann, und ein Hocker mit Rüschen. Gil wird überrascht bewusst, dass er diesen Tisch kennt.

Er erinnert sich an eine Frau, die da gesessen hat. Nicht an ihr Gesicht, aber wie sich ihre Hände bewegt haben. Sie hat sich frisiert, den Kamm dazu in eine Tasse Wasser getaucht, alles sehr schnell. Helle Spritzer, eine ordentliche Reihe Lockenwickler, stramm aufgedrehte Strähnen, dazwischen die weißrosa Kopfhaut.

Es ist seine eigene Erinnerung, keine, die er von Mum hat. Wäre es Mums Erinnerung, wäre etwas Dramatisches damit verbunden, ein in der Tasse lauernder Aal oder dass der Teufel plötzlich im Spiegel erscheint.

Schon drängen die Erinnerungen heran. Gil zieht die Stirn kraus. Lass eine von ihnen Fuß fassen, und alle wollen einfallen.

Er geht durch die Hütte, jetzt wachsam.

Er erinnert sich an den Plüschsessel im Wohnzimmer und das Fenster hinaus ins Blaue. Die Scheiben klirren im Wind, und das Blechdach murmelt in der Sonne. In der Küche weiß Gil, dass die Tür links in eine Vorratskammer führt, und er weiß auch, wonach es darin riecht, nach Ameisenpulver und verschüttetem Essig. Er geht nach draußen und erinnert sich an die sonnenbeschienenen Eimer und wie sich die Pflanzen in ihnen bewegten. Hier auf der Veranda, auf der Hollywoodschaukel, hat er auf Mums Schoß gesessen. Das Dach der Schaukel ist verschwunden, der Rahmen verrostet und verbogen. Mit den Händen unter seinen Achseln hat Mum ihn in den Sonnenuntergang gehalten, der die ganze Welt erfüllte. Seine Babyaugen waren weit offen gewesen.

Falls Gil irgendwelche Erinnerungen an seinen Großvater hat, kann er sie im Moment nicht wecken. Aber Mums Vater war auch mehr eine Randfigur. Nie nannte sie ihn »Dad«, er war immer nur Joss Hurley, ein Statist, der am Anfang oder Ende von etwas stand.

Als Joss Hurley das Lager an dem Morgen verließ, fingen die Kinder an …

… und dann mussten sie aufhören, weil Joss Hurley zurückkam.

Gil sitzt auf der Veranda und wartet, doch der alte Mann kommt nicht nach Hause. Als er Hunger kriegt, geht er zurück nach drinnen. Er ist es gewohnt, selbst für sein Essen zu sorgen, und der Vorratsraum ist so gut bestückt, dass es für eine Belagerung reichen würde. Gil öffnet eine Dose Pfirsiche und isst die Hälften direkt mit dem Löffel aus der Dose. Er trinkt den süßen, lauwarmen Sirup und verschüttet dabei etwas, weil er sich nicht am scharfen Rand verletzen will.

Ein Geräusch aus dem Vorraum. Gil schreckt zusammen, dreht den Kopf und schneidet sich in die Lippe.

Eine junge Frau kommt herein, nimmt ein Geschirrtuch und drückt es ihm auf die blutende Stelle. Die andere Hand legt sie ihm in den Nacken, aber sehr sanft, das ist okay.

»Das sieht schlimmer aus, als es ist«, sagt sie. »Eine kaputte Lippe macht immer was her, heilt aber auch schnell wieder.«

Gil kennt die Frau vom Anleger, es ist die mit dem Männerunterhemd und dem grimmigen Gesichtsausdruck. Braun gebrannt verströmt sie Nachmittagshitze. Sie hat markante braune Augen und eine Stupsnase. Ihr Gesicht ist rund, und sie ist nicht groß, aber stämmig. Die Zehen in ihren Latschen ragen weit auseinander.

Sie legt Gils Hand auf das Geschirrtuch, genau da, wo er drücken soll.

»Blute hier nicht auf den Boden.« Sie wischt schnell auf, was herabgetropft ist. »Nicht mal einen Tropfen. Diese Insel hat genug Blut getrunken.«

Gil drückt das Geschirrtuch fest auf die Wunde. Die Frau nimmt ihre Kappe ab. Ihr Haar klebt verschwitzt auf ihrem Kopf. Es ist schlecht blondiert, frostig weiß an den Enden und schwarz an den Wurzeln. Die Frau hat ein gutherziges Gesicht, auch wenn in ihrem Lächeln etwas Verdorbenes liegt. Sie ist ungefähr in Mums Alter, und die war fünfundzwanzig.

»Du bist der Enkel, stimmt’s?«

Gil versucht zu antworten.

»Sag nichts. Fang das Blut auf.«

Gil sieht zu, wie sie durch die Küche läuft. Sie heißt Silvia Zanetti, und sie hat die Zeitschriften mitgebracht, die Ropers Kinder bei ihrem letzten Besuch dagelassen haben.

»Roper ist mein Stiefsohn. Drück weiter.«

Gil presst das Tuch auf den Schnitt.

»Der Sohn meines Mannes ist älter als ich. Kannst du dir vorstellen, die Mutter von jemandem zu sein, der älter ist als du?«

Die Zeitschriften sind langweilig, für jüngere Kinder. Gil blättert sie durch, und Silvia redet immer weiter. Sie zieht den ganzen Tag auf der Insel herum, jeden Tag, aber sie stammt aus einer Fischerfamilie, und deshalb versteht sie dieses Leben. Frank, ihr Mann, ist der tonangebende Fischer hier und hoch angesehen.

Sein Sohn Roper ist nicht so hoch angesehen, weil er ein Arschloch ist.

»Er hat eine Metallplatte im Kopf, und die hat sich in sein Gehirn gefressen.«

Gil interessiert das, sie kann es sehen.

»Er bürstet sich die Haare drüber.« Silvia setzt die Kappe wieder auf. »Soll ich dich mal rumführen?«

»Okay.«

Silvia sieht sich seine Lippe an. »Es hat aufgehört.« Sie legt das Geschirrtuch zusammen, und Gil soll es einstecken. »Du sollst wirklich nicht auf die Insel bluten.«

Sie laufen herum, es ist heiß, und es gibt nichts zu sehen.

»Doch, da ist immer was«, sagt Silvia.

Der Himmel, das Meer, das steinige Ufer, die holprigen Wege, die Wolken, wenn denn welche da sind – das alles verändert sich von einem Moment auf den anderen. Gil ist nicht überzeugt. Er hört ihr zu, weil er ihren Akzent mag.

»Jeder Spaziergang führt über eine andere Insel.«

»Was hast du für einen Akzent?«

Silvia lächelt. »Italienisch. Ich komm von Pigeon Island, bin jetzt aber hier.«

»Okay. Erzähl weiter.« Und dann, weil es vielleicht von ihm erwartet wird, erwidert Gil ihr Lächeln, aber da platzt seine Lippe wieder auf.

»Wisch das Blut weg! Lächle nicht mit dem Mund. Lächle mit den Augen.« Um ihre herum bilden sich Fältchen. »Verstehst du?«

Gil versteht nicht, blinzelt aber ähnlich wie sie.

Sie gehen weiter, und Silvia erklärt ihm, dass das hier die Abrolhos-Inseln sind, und das Wort Abrolhos kommt aus dem Portugiesischen, und es bedeutet: Mach die Augen auf. Pass auf, oder vielleicht auch: Schlaf nicht ein, verdammt, oder alles zusammen.

»Warum?«

»Es gibt hier überall Riffe, toll zum Schiffeversenken.«

Sie bleiben bei einem Korallenhaufen mit einem Beacon stehen, einem zweieinhalb Meter hohen Leuchtfeuer.

»Danach ist die Insel benannt«, sagt Silvia. »Die alten Schnapper-Fischer früher wollten ihre Insel von den anderen unterscheiden können. Frank sagt, dass sie von einem Leichtflugzeug aus alle gleich aussehen, wie verschorfte Knie.«

Gil versucht es sich vorzustellen, eine Ansammlung ekliger, flacher Inseln.

»Das Meer ist heute dunkel«, sagt Silvia, »was heißt, dass es Übles im Sinn hat. Man kann nie sagen, was es als Nächstes tut, es ist unberechenbar.«

Gil sieht hinaus aufs unberechenbare Meer.

»Weißt du, wie Roper an seine Metallplatte gekommen ist? Das Meer hat ihm ein Stück aus der Schädeldecke gerissen.«

Gil sieht mit größerem Respekt aufs Wasser hinaus.

»Er war auf dem Riff fischen, und eine Welle hat das Boot umgeworfen und ihn ins Wasser geschleudert, wo ihn die Schraube böse erwischt hat.« Sie wirkt befriedigt. »Er ist dann durch die Brandung zurückgeschwommen, den Kopf offen wie ein Ei. Ein Stück Schädel war weg, aber die Ärzte haben ihm ein neues reingeschweißt.«

»Sagst du die Wahrheit?«

Silvia lächelt ihr wölfisches Lächeln. So stehen sie eine Weile da und sehen auf das Meer hinaus, das Ropers Kopf wie ein Ei aufgeschlagen hat.

»Das Meer hat keine Schuld«, sagt Gil. »Es war die Schraube, die ihn verletzt hat.«

»Das ist Haarspalterei. Wenn du zum Fischen hinausfährst, musst du das Meer respektieren.«

»Ich will nicht fischen.«

»Aber darum geht’s. Joss wird dich als Deckie anlernen.«

»Ich will aber nicht auf einem Boot arbeiten.«

»Es wird Zeit, dass dein Opa Hilfe bekommt. Vierzig Reusen, das ist selbst für einen jüngeren Mann eine Menge. Und Joss macht das alleine.«

Gil zuckt mit den Schultern. Es scheint ihm die beste Antwort.

»Was bleibt ihm sonst?« Silvia beißt an einem Fingernagel herum und wirft Gil einen lauernden Blick zu. »Keiner will mit ihm rausfahren.«

Die Umkreisung der Insel wird von drei selbst gedrehten Zigaretten unterbrochen, stumm und im Stehen geraucht. Silvia holt sie vorsichtig aus einer alten Drum-Tabakdose hervor. Sie benutzt ein Sturmfeuerzeug mit wilder Flamme und macht eine große Sache daraus. Silvia raucht mit dem Rücken zum Wind. Die Augen zu schmalen Schlitzen verengt hält sie die Zigarette durch ständiges Paffen am Brennen.

Gil fragt, ob er auch eine bekommt. Silvia sieht ihn streng an. »Wie alt bist du?«

»Neun.« Gil zögert und sagt dann: »Mum hat mich auch gelassen.«

»Mag ja so sein.«

Gil steht neben ihr und atmet den Tabakrauch und die mineralische Luft ein. Ihre dritte Zigarette raucht Silvia mit Blick auf ein Gebüsch. Ein Strauch ist größer und knorriger als die anderen und steht ein wenig abseits. An seinen Zweigen hängen Bänder und Perlen, und um ihn herum liegen Kinderspielzeuge, einige noch ganz neu: ein gelbes Plastik-Jo-Jo, ein kleiner roter Bus. Andere sind alt und verwittert: gesichtslose Puppen, verblichene Teddys.

»Das ist der Lumpenbaum. Jetzt hast du alles Wichtige gesehen, nur Bill Nords neues Klo noch nicht.«

Gil sieht zu, wie die Bänder im Wind flattern. »Wofür ist das alles?«

»Für das tote Mädchen, das auf der Insel herumgeistert. Die meiste Zeit hängt sie hier rum.«

Gil schnappt nach Luft und denkt an seine Mutter. Als sie jung war, hat sie hier auf der Insel gelebt. »Welches tote Mädchen?«

»Ist lange her, sie ist ein alter Geist. Von einem Schiffbruch.«

Gil spürt, wie er sich beruhigt. »Es gibt keine Geister.« Er tritt ein Stück vor, berührt die Bänder und stellt ein umgefallenes Spielzeug am Fuß des Strauches wieder auf.

»Weißt du von dem Schiffbruch?« Silvia nimmt ein paar tiefe, nachdenkliche Züge. »Es ist lange, lange her. Es waren Holländer. Die eine Hälfte der Gestrandeten hat die andere umgebracht. Das Schiff hieß Batavia.«

Gil fällt auf, wie Silvia Batavia sagt. Leise und vorsichtig. Er wiederholt das Wort in seinem Kopf und verspürt einen Kitzel – Batavia. Batavia. Batavia.

Nichts geschieht.

Aber es auszusprechen, setzt etwas in Gang, das weiß Gil.

Es gab Worte, die auch Mum leise und vorsichtig ausgesprochen hat, weil sie gefährlich waren: Teufel. Henker. Tutanchamun. Krebs.

»Sie waren von Beginn an dem Tod geweiht, weil sie mit einem Irren an Bord losgefahren sind. Dann sank das Schiff, und sie wurden hier angeschwemmt. Stell dir vor, ein Irrer ist auf dieser Insel hinter dir her. Dann bist du verratzt.«

»Ja.«

»Wo würdest du dich verstecken?« Silvia macht eine ausladende Geste über die flache Insel und das glitzernde Meer.

»Man kann sich hier nicht verstecken.«

Die Bänder flattern im Wind, über ihnen kreisen ein paar Vögel und schreien. Gil wird von der Einsamkeit der Insel erfasst.

»Sie könnte eine kleine Freundin für dich sein.« Silvias Ton ist spöttisch. »Das tote Mädchen. Wo du sonst das einzige Kind auf der Insel bist.«

Gil wirft ihr einen Blick zu. Silvia unterdrückt ein Lächeln. Sie zwickt die Glut von ihrer Zigarette und steckt den Rest ein. »Komm. Ich zeige dir die Wissenschaftler.«

Die Wissenschaftler sind vor ihrer Hütte beim Anleger. Sie sitzen vor Eimern, in denen sie kleine Dinge waschen. Das machen sie, wenn Wetter und Meer sie nicht tauchen lassen, sagt Silvia. Sie rät Gil, ihnen nicht zu nahe zu kommen.

Einer der Männer hebt den Blick und winkt.

»Wink nicht zurück«, sagt Silvia. »Und rede nicht mit ihnen.«

Der Mann sieht Silvia an und wendet sich wieder seinem Eimer zu.

Sie steckt sich ihren Zigarettenstummel an, zieht heftig daran und sieht zum Himmel hinauf. »Sie stören die Toten.«

Gil denkt an die Kanonen und die Silbermünzen, die unten auf dem Meeresboden funkeln. »Suchen sie nach Schätzen?«

»Wenn du Knochen, Zähne und rostige Nägel Schätze nennen willst«, murmelt Silvia durch ihre Zigarette.

»Gibt es da keine Münzen?«

»Die haben sie schon vor Jahren heraufgeholt.«

Die einzige Wissenschaftlerin sieht zu ihnen her und steht auf, als wollte sie herüberkommen. Silvia macht ein finsteres Gesicht. »Gehen wir weiter.«

»Du rauchst«, sagt Gil.

»Ich kann auch im Gehen rauchen, wenn es sein muss.«

Sie steigen den Pfad wieder hinauf.

»Was sie machen, ist ekelhaft.« Silvia wirft ihre Zigarette weg und tritt sie aus. »Verdammte Geister wecken.«

Gil schnappt sich den Stummel und steckt ihn in die Tasche seiner Shorts.

Sie kommen zu Silvias Camp. Die Hütte der Zanettis ist größer und in besserem Zustand als die seines Großvaters. Sie hat ein neu aussehendes Metalldach, und an den Fenstern sind Rollos heruntergelassen.

»Weiter kannst du nicht mit. Frank will dich nicht drinnen haben: wegen dem, was du getan hast, und wegen deinem Großvater.« Silvia schenkt ihm ihr wölfisches Grinsen. »Ich kann dich nur treffen, wenn die Boote draußen sind.«

Gil spürt, wie er rot wird, dreht sich um und geht den Pfad zurück.

Silvia ruft ihm hinterher: »Es war Pop Marten, der damit angefangen hat. Er hat die Wissenschaftler hergebracht. Pop Marten hat den ersten Schädel gefunden.«

Gil geht weiter.

»Unter seiner verdammten Wäscheleine.«

Ein Vogel stößt im Sturzflug herab. Das Gestrüpp erzittert im Wind, der vom Meer kommt.

Joss kocht, und Gil sitzt am Tisch und zeichnet mit seiner Gabel Irrgärten und Labyrinthe in die Wachstuchtischdecke. Er kennt den Unterschied.

»Morgen kommst du mit zum Fischen«, sagt der alte Mann, den Blick auf den Kochtopf gerichtet.

»Wann kann ich zurück?«

Joss legt seine Zigarette auf dem Rand der Arbeitsplatte ab und krümelt irgendein Zeug in die Masse auf dem Herd.

»Ich könnte zu MrsBaxter. Sie hat gesagt, das würde gehen.«

Joss scheint verärgert, mit wütenden Bewegungen rührt er im Topf herum.

»Was gibt es?«

»Eintopf.«

»Du könntest mir zeigen, wie der geht. Dann kann ich ihn fertig haben, wenn du vom Fischen zurückkommst«, versucht Gil es.

»Du wirfst alles zusammen und kochst die Scheiße. Was gibt’s da zu lernen?«

Gil sieht auf seine Gabel und drückt die Zinken ins Wachstuch. Joss schaltet den Brenner aus und stellt den Topf und zwei Teller auf den Tisch. Auf einem weiteren Teller liegen zwei Scheiben Brot, gebuttert und zusammengeklappt. Joss zeigt darauf, und Gil nimmt sich eine.

Der alte Mann setzt sich hin und macht dabei ein Geräusch, als wäre Sich-Hinsetzen sehr anstrengend.

Gil hält den Blick gesenkt. Wann immer er sich umsieht, springen ihm eklige Dinge ins Auge. Der Schmier am Hals der Soßenflasche, die vollen Fliegenfänger an der Decke, das offene Hemd des alten Mannes mit dem angegrauten Brusthaargestrüpp.

Joss zieht eine Tasse durch den Topf und füllt die beiden Teller. Zwei Portionen. Ein fettiger Film überzieht das Essen. Genau wie alles andere in dieser Küche.

Joss reicht ihm einen der Teller. In seine Hand haben sich Schmutz und Öl eingefressen, und Gil sieht, dass sein Großvater zwei verstümmelte Finger hat. Am Zeige- und Mittelfinger fehlen die vorderen Glieder. Wo Nägel sein sollten, sind weiche runde Stummel. Gil erschrickt. Er fragt sich, wie er die Finger verloren hat.

»Nimm schon«, sagt Joss. »Was ist los mit dir?«

Gil nimmt seinen Teller. Joss isst hastig und gereizt, als wollte er es möglichst schnell hinter sich bringen. Gil sieht zu, wie sein Eintopf abkühlt, fest wird und sich eine Haut auf ihm bildet. Er versucht, etwas zu finden, das er sagen könnte. Über die Insel, die Hütten, die Vögel und das Meer, die Wissenschaftler und die Knochen. Über das Wrack. Über Mum, und wie es war. Und warum er getan hat, was er getan hat.

»Pop Marten hat einen Schädel gefunden, oder?«

Sein Großvater hebt den Blick. »Hast du mit Silvia Zanetti geredet?«

Gil nickt.

»Tu das nicht. Silvia erzählt nur Müll. Morgen geht es früh los.«

KAPITEL 3

1628

Die Batavia ist eine ganze Welt, und diese Welt ist ständig in Bewegung. Mayken hat neu laufen gelernt. Sie hat zugesehen, wie der Skipper das Rollen und Stampfen des Schiffs mit weichen Knien und einem wiegenden Gang auszugleichen weiß. Ein Seemann kämpft nicht darum, aufrecht zu stehen, denn es gibt kein »aufrecht«, er lässt das Schiff seine Füße führen. Und wie ein guter Kapitän führt auch Mayken ein Logbuch.

Habe einen Schiffszwieback gegessen, und jetzt wackelt ein Zahn. Imke sagt, ich muss auf meine Zähne aufpassen, weil ich neun bin und keine neuen mehr nachwachsen. Ich musste mit den Damen an Deck nähen, mit Frau Prädikant und ihrer großen Tochter Judick. Dem kleinen Roelant habe ich ein Klatschspiel beigebracht. Judick hat dazu wie eine warme Sonne gelächelt, Frau Prädikant düster wie eine Regenwolke zugesehen. Dann kam der Skipper ohne Jacke auf Deck, und wir mussten wieder nach drinnen. Heute sind die Wellen hoch, und das Schiff springt in sie hinein. Der Löwe vorne taucht seine großen Pranken tief ins Wasser. Ich übe spucken und fluchen, wenn Imke schläft. Ich spucke schon ziemlich weit. Ich wäre ein toller Seemann. Wir sind jetzt seit elf Tagen auf See.

Mayken überlegt, ob sie, was Jan Pelgrom gesagt hat, mit in ihr Logbuch schreiben soll. Dass das Schiff aus dem englischen Kanal hinaus ist und in Richtung Biskaya fährt. Und dass der Skipper wütend ist, weil er im Verband bleiben muss. Er könnte auch schneller fahren und zwei Monate früher in Batavia sein.

Pelgrom sammelt Neuigkeiten, wenn er in der Großen Kabine Wein einschenkt und Fischgräten vom Boden aufliest. Es gibt da einen großen, runden Tisch, an dem Skipper Jacobsz und Oberkaufmann Pelsaert abwechselnd ihr Abendessen einnehmen. Die beiden weigern sich, zusammen am selben Tisch zu sitzen, wie groß und wie rund er auch sein mag. Sie haben eine gemeinsame Geschichte und hassen einander aus tiefstem Herzen. Pelgrom mag die Abende des Skippers lieber, weil sich alle betrinken und Spaß haben. Die Rumrennerei mit dem Krug macht ihn fertig, aber er kann essen und trinken, ohne dass es jemand merkt. An den Abenden des Oberkaufmanns schläft er im Stehen ein, weil sich alle ganz leise unterhalten und ewig nichts nachgeschenkt haben wollen.

Mayken liest ihren Logbucheintrag noch einmal durch und beschließt, dass für heute genug drinsteht. Sie legt ihr Schreibzeug weg. Es ist Zeit für ihren Rundgang. Ihr erlaubter Bereich ist strikt auf den Teil hinter dem Hauptmast beschränkt und umfasst ihre eigene Kabine sowie das Poop- und das Achterdeck.

Wenn sie die Grenze überschreitet, wird sie einem schrecklichen Unglück zum Opfer fallen. Da sind Taue, die um sich schlagen, sich verdrehende Winden, dahinschwenkende Segel und ein Meer, in das man gespült werden kann. Und das Schiff dreht für niemanden um.

An ruhigeren Tagen kommt Imke mit Mayken an Deck. Die alte Kinderfrau sucht sich eine geschützte Ecke, während Mayken den Seemännern zuzwinkert. Imke hält Vorträge über maritime Vorzeichen (Wolken, Wellenformationen und Seevögel, die in merkwürdigen Anordnungen vorüberfliegen), und wohlhabende Passagiere und Kadetten stehen Schlange, um an ihrem Wissen teilzuhaben. Botschaften werden von unter Deck heraufgesandt, und so wächst Imkes Ruf.

Das ist nichts Neues. Imke war schon in Haarlem für ihre Fähigkeit bekannt, Liebesverbindungen und Geschäfte vorauszusagen, und das allein mit ein paar Truthahninnereien und einer Tüte getrockneter Erbsen.

Wenn Imke ihre Zuhörerschaft leid wird, winkt sie Mayken herbei, und auf dem Weg zurück in ihre Kabine streicht sie ganz sicher über den Bart eines hölzernen Seemannskopfes, bringt das doch Glück.

Pelgrom sagt, das werden sie brauchen.

Er erzählt Mayken, was ihnen alles bevorsteht. Extreme Hitze und Kälte werden das Holz der Batavia schrumpfen und anschwellen lassen. Die Kalfaterer und Schreiner werden rund um die Uhr damit beschäftigt sein, Lecks abzudichten. Seepocken werden sich an den Bauch des Schiffes heften, Algen und Tang sich darauf ausbreiten und die Fahrt der Batavia verlangsamen. Taue werden schwächer, Segel sich versteifen. Der Anstrich des Schiffes wird verblassen, die Decks werden an Farbe verlieren. Salz, Wind, die Gischt und Hunderte Füße werden ihre hölzerne Burg auf dem Meer auslaugen und zermürben. Das Schiff wird verrotten, genau wie seine Vorräte. Das Trinkwasser ist bereits voller Würmer, und wenn sie erst den Äquator erreichen, werden die Fässer mehr Gewürm als Wasser enthalten. Auch die Menschen wird es ereilen. Sie werden krank werden.

Mayken erfährt von Pelgrom vom Sechs-Monats-Skorbut. Der schrecklichen Schwächung der Muskeln, dem Anschwellen des Zahnfleisches, den Flecken auf den Beinen und dem Blut, das sich aus jeder Körperöffnung ergießt. Dann wirst du in einen Leinensack genäht, der letzte Stich geht durch die Nase, und ab geht’s, hau ruck!, über die Reling. Mayken sucht bei Imke nachts nach Anzeichen für Skorbut. Sie schiebt die Lippe der alten Frau hoch und fährt mit dem Finger über ihr Zahnfleisch. Anschließend hebt sie Imkes Nachthemd an und untersucht ihre dicken, blauadrigen Beine.

Mayken fragt sich, ob sie an Langeweile sterben wird, bevor der Skorbut sie holt. Sie wünscht sich einen Sturm. Nicht gleich einen monumentalen, eher so einen wie den, der sie einen Tag vor dem Hafen hat festliegen lassen. Einfach etwas interessantes Wetter.

Es gibt einen Sturm.

Sie donnern und taumeln durch biblische Wellen. Passagiere schreien, die Besatzung brüllt sich Kommandos zu, Wasser peitscht über die Decks, der Wind heult, und die Segel sind eingeholt und fest verzurrt. Die Wellen reichen bis zu den Hühnern in ihren Poopdeck-Nestern. Wenn das Schiff untergeht, ist es Maykens Schuld.

Sie schließt einen Handel mit Gott: Geht das Schiff nicht unter, wird sie nur noch gute Dinge denken, mit dem Fluchen aufhören und auf Imke aufpassen.

Das Wetter bessert sich.

Imke will ihr nicht beibringen, wie man Vorzeichen liest. Das ist nichts für eine Dame.

Bei Imkes nächster Sitzung meldet sich Mayken zu Wort und hält einem ihr fasziniert lauschenden Seemann einen Vortrag darüber, warum seine Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft vom Himmel abzulesen sind! Dem Flattern der Segel! Der Farbe des Meeres! Der Mann staunt – das Kind hat das zweite Gesicht. Mayken grinst Imke zu. Imke erwidert ihren Blick mit schmalen Lippen.

Wahrscheinlich haben Imkes Fähigkeiten auf Mayken abgefärbt. Die alte Frau gelobt, umsichtiger mit ihren Visionen umzugehen.

Die Kabine wird kleiner. Mayken hat sie vermessen. Fünf Schritte von einem Ende zum anderen. Am ersten Tag waren es noch neun. Sie selbst ist nicht gewachsen, und Imke ist vor lauter Seekrankheit noch geschrumpft, was bedeutet, dass sie eigentlich mehr Platz haben sollten. Der Inhalt der Kabine hat sich nicht verändert: zwei Truhen, zwei Schlafplätze, ihre Decken, ein Eimer, ein Tisch und ein Hocker.

Der Hocker, auf dem Mayken gerade balanciert.

»Und?«, flüstert Imke.

Mayken drückt ihr Ohr an das Loch in der Ecke unter der Decke. So kann sie lauschen, was in der Nachbarkabine gesprochen wird. Mayken gibt sich alle Mühe, doch es regt sich nichts.

»Na?« Imke stützt sich auf einen Ellbogen und sieht sie erwartungsvoll an.

»Die Dame schimpft ihr Mädchen aus«, berichtet Mayken.

»Nenn sie bei ihren Namen!«

Mayken verdreht die Augen. »Lucretia Jansdochter schilt Zwaantie Hendricx, weil das Mädchen alte wie junge Seemänner ermutigt.«

Imke nickt wissend. »Hat Zwaantie diesmal etwas darauf geantwortet?«

Mayken schüttelt den Kopf. »Nein, aber ich kann in ihrem Schweigen wütenden Groll hören.«

»Das würdest du.«

»Zwaantie soll ihre Brüste nicht so zeigen.«

»Ein weiser Rat.«

Mayken macht Anstalten, vom Hocker zu steigen.

»Hör weiter zu, Kind!«

»Sie sind weg.«

»Wohin?«

»Zum Weintrinken mit dem Oberkaufmann, in der Großen Kabine.«

»Er hat ein Auge auf Mevrouw Jansdochter.« Imke zieht die Brauen zusammen. »Zwaantie geht auch mit? Ein Dienstmädchen darf in die Große Kabine?«

Mayken überlegt schnell. »Nein, sie muss draußen warten, falls ihre Herrin etwas braucht, einen Kamm oder ihre Perlen. Sie darf bei der Wache sitzen, solange sie ihre Brüste bei sich behält.«

Befriedigt sinkt Imke zurück. »Komm jetzt herunter.«

Mayken ist erleichtert. Sie hat Besseres zu tun, als den ganzen Tag belauschte Gespräche zu erfinden. Im Übrigen ist es, so wie das Schiff schaukelt, nicht einfach, auf einem dreibeinigen Hocker das Gleichgewicht zu bewahren. Sie kann die Faszination für Lucretia Jansdochter, oder Creesje, wie ihre Freundinnen sie nennen, nicht verstehen. Selbst Imke, die für gewöhnlich nicht viel auf Wohlstand, Abstammung oder Schönheit gibt, ist fasziniert von den Geheimnissen um ihre Nachbarin, von denen das größte darin besteht, warum eine wohlhabende, schöne Frau aus guter Familie solch eine lange und gefährliche Seereise unternimmt. Es heißt, sie will zu ihrem Mann, einem der Oberen der Kompanie.

Mayken hat den Ausdruck des Schreckens nicht vergessen, den Creesje auf dem Gesicht trug, als sie die feine Dame zum ersten Mal gesehen hat – da wurde sie auf einem Mehlsack sitzend die Bordwand emporgehievt! Der Schrecken hat mittlerweile ständiger Verzweiflung Platz gemacht. Wie Imke es ausdrückt, hat sich Creesje vorher wahrscheinlich nie mit ihrer eigenen Pisse waschen müssen.

Ein elaboriertes Klopfen ist von der Tür zu hören, und es ist Jan Pelgrom.

»Wie geht’s den Nachbarn?«

Imke schnieft. »Die Dame geht zum Weintrinken mit dem Oberkaufmann in die Große Kabine, und das Mädchen soll ihre vorwitzigen Brüste bei sich halten.«