Die Lilieninsel - Sophia Cronberg - E-Book
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Die Lilieninsel E-Book

Sophia Cronberg

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Beschreibung

Ein verwunschenes Haus an den Klippen von Guernsey. Ein Verbrechen, das Jahrzehnte zurückliegt. Eine junge Frau, die einen Neuanfang wagt. Nach dem Tod ihres Mannes zieht Marie mit ihren zwei kleinen Kindern in ein Landhaus an der schroffen Küste der Kanalinsel Guernsey. Bereits bei der Ankunft erwartet sie eine Enttäuschung: Das Haus liegt zwar direkt an den malerischen Klippen, ist jedoch völlig heruntergekommen. Zudem gibt es einen feindseligen Nachbarn, Bartholomé de Clairmont, Besitzer eines prachtvollen Anwesens. Dennoch beschließt Marie, mit Hilfe des attraktiven Architekten Vincent ihr Cottage zu renovieren. Doch da taucht in den Fundamenten das Skelett einer Frau auf, die vor vielen Jahrzehnten spurlos verschwunden ist. Als Marie mehr über die Hintergründe ihres Todes herausfinden will, enthüllt sie das Schicksal der rätselhaften Liliane de Clairmont... Zwei Frauenschicksale vor einer atemberaubenden Kulisse – stimmungsvoll, mysteriös und voller überraschenden Wendungen.

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Seitenzahl: 608

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Sophia Cronberg

Die Lilieninsel

Roman

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Inhalt

MottoProlog12345678910111213141516171819202122232425262728293031Epilog

»Der König sah sich nach der Stadt Ys um, aber vergeblich suchte er die einstige Königin der Meere. Nach der großen Flut war, wo es noch vor wenigen Augenblicken einen Hafen, Paläste, so viele Reichtümer und Tausende von Menschen gegeben hatte, nur noch eine tiefe Bucht, in der sich die Sterne spiegelten.

Wenn das Meer still ist, sieht man bis heute auf dem Grunde dieser Bucht die Spuren der großen Stadt, und die Dünen ringsumher sind voller Ruinen, die ihren Reichtum beweisen.«

 

Aus »Die versunkene Stadt Ys«,bretonisches Märchen

Prolog

Guernsey 1923

Eben noch hatte das Lied der Brandung fröhlich und kraftvoll geklungen, nun mischte sich vom Himmel her ein dunkles Grollen in die Musik des Meeres. Wenn die Gischt gegen die Klippen spritzte, glich es einem bösartigen Zischen. Nicht länger klangen die Schreie der Möwen wie ein Juchzen, als frohlockten sie über die letzten warmen Sonnenstrahlen des Jahres, sondern klagend und warnend zugleich. Auch der Himmel stand nicht mehr in einem kräftigen, herbstlichen Blau, das Reinheit, Weite und Freiheit verhieß, sondern war so schmutzig grau wie die unruhige See.

Die junge Frau beschleunigte ihren Schritt. Aus dem Spaziergang entlang des schmalen Küstenpfades war längst eine Flucht geworden. Jemand beobachtete sie, sie fühlte es ganz deutlich.

Noch war er hinter einem Gebüsch verborgen, doch je fahler das Licht wurde und je näher der Sturm kam, desto größer wurde sein Mut. Bald würde er sein Versteck verlassen und hinter einem der hohen Bäume hervortreten, bald würde er ihr nachschleichen, und wenn sie beginnen würde zu rennen, würde er es ihr gleichtun.

Der Wind blähte ihre Kleider, riss ihr Haar in sämtliche Himmelsrichtungen, kündete mit klagendem Pfeifen von Unheil.

Beeil dich … lauf, so schnell du kannst … bring dich in Sicherheit!

Doch wo sollte sie Zuflucht finden? Und vor allem: Bei wem?

Es gab doch niemanden auf der Welt, der sich schützend vor sie stellen würde …

Die Möwen flogen flacher; einige von ihnen ließen sich auf den Wellen nieder und harrten schaukelnd des kommenden Unwetters.

Wie schön es wäre, dachte die junge Frau plötzlich, einfach die Flügel auszubreiten, wegzufliegen, alles hinter sich zu lassen – das Elend, die Not … und vor allem das Rascheln im Gebüsch.

Aber sie konnte nicht fliegen, stolperte stattdessen über eine dornige Ranke, fiel zu Boden und spürte, wie sich spitze Steine und raue Wurzeln in ihre Handfläche gruben. Kurz übertönte ihr Schnaufen jeden anderen Laut, doch als sie den Atem anhielt, vernahm sie es wieder: dieses schleifende Geräusch, als würde jemand seinen Fuß hinter sich herziehen.

Wer immer dieses Wesen war, es kam näher … immer näher.

Sie sprang auf. Wald, Meer, Klippen – nichts bot Zuflucht –, aber jetzt sah sie inmitten von Grau, dunklem Grün und Braun etwas Rötliches aufblitzen. Ein Dach.

Sie wusste, das Haus stand leer, niemand würde herbeieilen, wenn sie um Hilfe rief, aber sie konnte darin Unterschlupf finden, die Tür ebenso verschließen wie die Fensterläden, konnte den aufziehenden Sturm und Regen nach draußen verbannen … und auch den geheimnisvollen Verfolger.

Ihre Stiefel scheuerten schmerzhaft an ihrer Ferse, als sie wieder zu rennen begann, der Druck auf der Brust – nicht nur von der ungewohnten Anstrengung, sondern von Beklommenheit, ja Panik rührend – nahm zu, und trotz des kühlen Windes brach ihr der Schweiß aus. Aber sie stolperte kein weiteres Mal, lief schneller, schüttelte ihren Verfolger ab – glaubte es zumindest, denn da waren keine Schritte mehr zu hören – und erreichte endlich das Haus.

Zum Glück stand die Tür weit offen. Sie fiel beinahe über die Schwelle, als sie hineinstürzte, sank, kaum dass sie im Inneren war, auf die dunklen Eichendielen, gönnte sich jedoch nur eine kurze Pause, ehe sie wieder aufsprang. Als sie sich umdrehte, hätte sie schwören können, dass da schon jemand stand und sie nicht mehr rechtzeitig die Tür zuschlagen könnte. Doch nichts. Nur der Wind hatte sie die letzten Schritte über begleitet, zerrte an den Blumen im Vorgarten, riss ihre Blätter ebenso ab wie die schon welken Blüten und ließ sie nackt zurück.

Die junge Frau packte entschlossen die Klinke, zog die Tür zu und schob den Riegel vor. Der Wind schien ärgerlich aufzuheulen, als er durchs Gebälk fuhr, weil ihr die Flucht gelungen war, doch er konnte ihr nichts mehr anhaben.

Ihr Atem beruhigte sich, das Haar hing ihr zerzaust ins Gesicht. Sie machte sich nicht die Mühe, es zurückzustreichen, sondern eilte von Zimmer zu Zimmer, um sämtliche Fensterläden zu schließen.

Als sie fertig war, war nicht nur der Sturm nach draußen verbannt, sondern auch das letzte Abendlicht. Sie nahm nur die Konturen der Einrichtung war, dunklen, gedrungenen Gestalten gleich, unheimlich, aber nicht bedrohlich. Sie stöhnte, begann verspätet zu zittern.

Ich hätte ihr nicht trauen dürfen, dachte sie. Ich hätte wissen müssen, dass sie sich nicht an ihr Versprechen hält. Gewiss steckt sie dahinter. Sie hat jemanden auf mich gehetzt.

Nun, hier war sie fürs Erste sicher. Das dachte sie jedenfalls fünf Atemzüge lang. Dann vernahm sie ein Knarren. Es kam nicht vom Dachstuhl, sondern von der Treppe, wurde nicht vom röhrenden Wind verursacht, sondern von einem Gewicht, das sich langsam verlagerte – dem Gewicht von Schritten, die langsam die Treppe herunterkamen.

Noch hielt sie ihm den Rücken zugewandt, aber sie wusste: Wenn sie sich jetzt umdrehte, würde sie ihn sehen, ihren Verfolger. Oder nein: Er hatte sie ja gar nicht verfolgt, er hatte einfach hier gewartet.

Die unsichtbaren Augen, die sie auf sich ruhen wähnte, hatten sie nicht von den Büschen her belauert, sondern vom Haus aus, und das bedeutete, dass sie ihm direkt in die Arme gelaufen war.

Sie sah sich nach einer Waffe um und griff nach dem erstbesten Gegenstand, der ihr in die Hände kam, ohne recht zu wissen, was es überhaupt war. Beinahe entglitt er ihren feuchten Händen, doch sie umklammerte dieses Ding energisch. Weiß traten ihre Fingerknöchel hervor.

Jetzt war sie dafür gerüstet, sich umzudrehen. Doch als sie es tat, erkannte sie, dass ihr diese Waffe nichts nutzen würde.

Sie blickte ihrem Mörder direkt ins Gesicht.

1

Als sie in die kleine Straße Richtung Cottage abbog, bereute Marie zum ersten Mal, dass sie so überstürzt nach Guernsey aufgebrochen war. Die Straße war schmal und wurde an beiden Seiten von riesigen Hecken begrenzt, die sämtliches Licht verschluckten. Was sollte sie nur tun, wenn ihr ein Fahrzeug entgegenkam? Zurückfahren war unmöglich: Die Straße, die hinter ihr lag, war ebenso steil wie kurvig.

Ihr brach der Schweiß aus. Als ob der Linksverkehr nicht schon genug Herausforderung wäre – obendrein waren auf der Insel die Wege abseits der Hauptstraße wohl eher für Fußgänger und Radfahrer vorgesehen als für ihren Familienkombi!

Jonathan entging nicht, wie angespannt sie war. »Sind wir bald da?«, fragte er ungeduldig.

»Gleich, gleich …«

»Das sagst du schon die ganze Zeit.«

Marie wagte einen Blick in den Rückspiegel. Hannah, ihre achtzehn Monate alte Tochter, schlief noch, allerdings zuckten dann und wann ihre Hände und Beine, ein Zeichen, dass der Friede nicht mehr lange andauern würde. Und Jonathan, ihr sechsjähriger Sohn, wollte endlich das Cottage sehen und würde sich weigern, Hannah zu trösten und abzulenken.

Sie umklammerte das Lenkrad, starrte wieder auf die Straße und war sich plötzlich nicht einmal mehr sicher, ob es überhaupt die richtige war. Wo, verdammt nochmal, sollte sie wenden, wenn sie in einer Sackgasse gelandet war?

Verdammt, verdammt, verdammt. Worauf hatte sie sich da nur eingelassen?

Nicht dass sie nicht gewarnt worden wäre.

»Spinnst du?«, hatte ihre Freundin Isabella empört gerufen, als sie von ihren Plänen berichtete. »Du willst von Berlin nach Guernsey mit dem Auto fahren? Dann bist du ja tagelang unterwegs. Und das mit zwei Kindern!«

»Ich habe alle Zeit der Welt«, hatte Marie erklärt. »Wenn die beiden schwierig werden, lege ich eben eine Rast ein.«

Bis Saint-Malo war tatsächlich alles gutgegangen: Sie hatten einmal in Deutschland, das zweite Mal in Belgien übernachtet und die letzte Nacht bereits in Frankreich verbracht. Und es war, anders als erwartet, völlig problemlos gewesen, den Fährhafen zu finden. Danach jedoch hatten die Probleme begonnen: Anstatt, wie ursprünglich geplant, direkt nach Guernsey zu fahren, hatte die Fähre einen Zwischenstopp auf Jersey eingelegt, wo sie ewig lange Passkontrollen über sich ergehen lassen mussten.

»Man hat ja das Gefühl, dass man in die DDR einreisen will«, hatte der Mann rechts hinter ihnen gebrummt.

»Guernsey gehört ja offiziell auch nicht zu Großbritannien und folglich der EU, sondern ist als Kronland direkt der Queen unterstellt«, hatte seine Frau besserwisserisch erklärt – eine Information, die sie offenbar gerade in ihrem Reiseführer nachgelesen hatte.

Jonathan schien die lange Wartezeit nicht zu stören. Die Schusswaffe des rothaarigen Grenzbeamten, der mit strengem, ausdruckslosem Gesicht ihre Pässe kontrollierte, hatte ihn völlig in Bann gezogen. Hannah hingegen hatte sich vor Schreck an sie geklammert und war nach der bis dahin so friedlichen Reise quengelig geworden. Zunächst hatte sie sich noch von einem Teddybär mit der Aufschrift »Condorferry« besänftigen lassen, den Marie ihr gekauft hatte, später mit einem Stück Lasagne, das sie zwar nicht essen wollte, aber deren Zutaten sie auf dem Tablett verschmierte. Doch als sie mit dem Auto die Fähre verließen und Marie geflucht hatte, weil der nachkommende Fahrer fast in sie gekracht wäre, war die Kleine in Tränen ausgebrochen.

Zum Glück hatte die Erschöpfung sie bald überwältigt, doch nun hatte Marie mit den Tücken des Linksverkehrs und der schmalen Straßen zu kämpfen. Und dass es schon dunkel war und obendrein nieselte, machte die Sache nicht leichter.

»Sind wir bald da?«, fragte Jonathan wieder.

»Herrgott, wir sind da, wenn wir da sind!«

Sie biss sich auf die Lippen und schämte sich, dass sie ihre Nerven verloren hatte. Jonathan konnte schließlich nichts dafür, dass ihr Guernsey fremd geworden war. Es gab schon so viel, mit dem er zurechtkommen musste, da sollte sie ihm wenigstens eine genervte Mutter ersparen.

»Tut mir leid«, murmelte sie.

Sie reichte ihm ihr iPhone, damit er »Fingercutter« spielen konnte, ein eigentlich grässliches Spiel, bei dem es darum ging, den Finger so schnell wie möglich aus einer virtuellen Guillotine zu ziehen, aber Hauptsache, er war fürs Erste abgelenkt.

Sie hielt nach einem Schild Ausschau. Das Cottage lag unmittelbar in der Nähe vom Fermain Bay, einem der berühmtesten und malerischsten Strände der Insel, und der musste doch irgendwo ausgeschildert sein!

Tatsächlich entdeckte sie ein Schild, doch es war so klein, dass es nur Wanderer, bestenfalls Radfahrer entziffern konnten. So ein Mist!

»Hier geht’s nicht weiter«, erklärte Jonathan gnadenlos.

Auch wenn sie es sich bis jetzt nicht hatte eingestehen wollen – sie war tatsächlich in einer Sackgasse gelandet. Zumindest gab es an deren Ende genügend Platz zum Wenden, und als sie zurückfuhr, entdeckte sie, dass eine kleine Straße nach rechts abbog und diese – wie ein weiteres, diesmal lesbares Schild angab – nach Clairmont Manor führte. Das wiederum war ein altes Herrenhaus in der Nähe ihres Cottage. Wenn sie sich recht erinnerte, hatte beides einmal zusammengehört.

Sie rang sich ein Lächeln ab.

»Jetzt sind wir gleich da, versprochen, und heute Abend packen wir nur das Nötigste aus. Du wirst sehen, wir werden einen tollen Sommer haben. Als Kind bin ich in den Ferien immer hier gewesen und habe die Zeit total genossen.«

Seitdem waren allerdings ein paar Jahre ins Land gezogen, und sie hatte keine Ahnung, in welchem Zustand sich das Cottage mittlerweile befand. Millie, ihre Halbschwester und Mitbesitzerin des Anwesens, hatte ihr zwar den Schlüssel geschickt, aber zu bedenken gegeben, dass sich seit Jahren niemand mehr darum gekümmert hatte.

»Na ja«, hatte Marie all ihre Warnungen in den Wind geschossen. »Ein Dach wird es ja wohl schon noch haben.«

Jetzt, da das letzte Dämmerlicht endgültig von dunklen Wolken verschluckt wurde, war sie sich nicht einmal mehr sicher, ob hier überhaupt ein Haus stand.

Guernsey war nicht gerade eine einsame Insel, sondern großflächig verbaut, aber je tiefer sie in das Stück Wald fuhr, desto gottverlassener fühlte sie sich. Weit und breit war kein Licht zu sehen, nur Bäume und Hecken, hinter denen sich nur Niemandsland zu verbergen schien, kein gemütliches Häuschen.

Marie fuhr sich mit dem Handrücken über die Stirn. Immerhin, sagte sie sich, so abgeschieden wie das Cottage liegt, wird uns wohl kein Auto entgegenkommen.

Endlich fanden die Hecke und der Wald ein Ende, und sie kamen an einem breiten Tor vorbei.

»Ist es das?«, fragte Jonathan aufgeregt.

»Nein, dahinter befindet sich Clairmont Manor. Scheint nicht bewohnt zu sein, so finster, wie es hier ist.«

Sie trat aufs Gas. Die Straße war nicht länger asphaltiert, und sie betete darum, dass Hannah nicht aufwachte, als sie über Wurzeln und Steine rumpelten. Schließlich knirschten Kiessteine unter den Reifen, und der Scheinwerfer richtete sich auf eine Hauswand aus beige-grau anmutendem Naturstein.

Noch sah sie zu wenig vom Cottage, um seinen Zustand einschätzen zu können.

»Aber das ist es jetzt?«, fragte Jonathan.

Er klang enttäuscht.

Marie war sich sicher, dass die Fensterläden einst in strahlendem Blau gestrichen worden waren, aber ob es nun an der Finsternis lag oder daran, dass die Farbe längst abgeblättert war – sie glichen dunklen Löchern, und die Räume, die sie verbargen, wirkten nicht einfach nur leer, sondern wie tot.

»Du wirst sehen, bei Tageslicht wird alles ganz toll ausschauen!«

Es fiel ihr schwer, fröhlich und zuversichtlich zu klingen, und noch schwerer, Jonathan im Rückspiegel anzulächeln.

Er murmelte ein paar undeutliche Worte und spielte ein letztes Mal Fingercutter.

Maries Lächeln schwand. Vielleicht war es tatsächlich ein großer Fehler gewesen hierherzukommen, dachte sie wieder.

 

Anders als erwartet, wachte Hannah nicht von selbst auf, als sie die Autotüren öffnete, weswegen Marie sie aufwecken musste. Dass sie nicht in lautstarkes Protestgebrüll ausbrach, sondern ihren Condorferry-Teddy fest an sich presste und ihren Kopf in Maries Halsbeuge schmiegte, deutete diese schon mal als gutes Zeichen. So hatte sie zwar keine Hand frei, um neben der Handtasche mit dem Schlüssel auch einen der großen Koffer mitzunehmen, aber das war vielleicht ganz gut, solange sie keine Ahnung hatte, was sie im Inneren erwarten würde.

Zunächst war es nur Finsternis.

Sie konnte sich nicht erinnern, wo sich der Lichtschalter befand, und tastete eine Weile vergebens die Wand im Flur ab, doch als sie endlich darauf drückte, tat sich nichts. Hannah, die es mittlerweile auf zehn Kilo brachte, fühlte sich gleich doppelt so schwer an und begann, nun doch zu quengeln. Wann hatte sie das letzte Mal etwas getrunken? Und wo genau war eigentlich das Fläschchen?

Plötzlich fiel ein Lichtschein auf sie. Jonathan hatte die kleine Laserlampe, die sich am Autoschlüssel befand, angemacht.

»Irgendwo muss es einen Sicherungskasten geben«, erklärte er altklug.

Was für ein lebenspraktischer, kleiner Mann, dachte Marie stolz.

»Ja, klar!«, rief sie enthusiastischer, als ihr zumute war.

Im Flur entdeckte sie den Sicherungskasten allerdings nicht – nur ein Wandregal und, an einem Haken hängend, eine Taschenlampe. Offenbar war sie nicht die Erste, die hier hilflos im Finsteren gestanden war, und irgendeine gute Seele hatte beschlossen, sie sprichwörtlich nicht im Dunkeln tappen zu lassen.

Sonderlich stark war die Taschenlampe nicht, aber ihr Lichtschein reichte fürs Erste, den Boden zu beleuchten. Im Flur und im Wohnzimmer waren es alte Holzdielen, die von einer undefinierbaren grauen Masse bedeckt waren, und in der Küche ein grünlicher Linoleumboden, an den sie sich vage erinnern konnte. Als Kind hatte sie ihn nicht weiter schlimm gefunden, doch jetzt empfand sie ihn als Gipfel der Geschmacklosigkeit. Sie fuhr mit der Hand über den Tisch und blieb förmlich daran kleben, so dreckig wie er war. Alles wirkte feucht und modrig, was offenbar an den schlecht schließenden Fenstern lag. Es musste reingeregnet haben, und da seit Ewigkeiten nicht mehr gelüftet worden war, hatte die Feuchtigkeit nicht abziehen können. Im Wohnzimmer, zu dem von der Küche aus eine zweite Tür führte, begannen sich die Tapeten – ein Blumenmuster Marke Ashley – bereits zu lösen.

»Was ist das?«

Jonathan deutete auf das Uraltmodell eines Fernsehers, der so aussah, als könnte man hier bestenfalls Schwarzweißprogramme empfangen – eine riesige quadratische Kiste auf einem Plastikbein, der neben einem völlig durchgesessenen lindgrünen Sofa und zwei nicht nur enorm hässlichen, sondern auch riesengroßen Lampen das Wohnzimmer komplett verstellte.

Marie seufzte tief. »Den muss man wegschmeißen«, erklärte sie.

Doch wie wurde man hier auf Guernsey solch einen alten Apparat los? So wuchtig, wie er aussah, konnte sie ihn bestenfalls um ein paar Zentimeter verschieben.

Hannah quengelte immer lauter, aber als Marie sie auf dem Boden absetzen wollte, klammerte sie sich an ihr fest. Am liebsten hätte sie sich auf das lindgrüne Sofa gelegt, ob nun durchgesessen oder nicht, um für ein paar Minuten die Augen zu schließen, aber sie zwang sich dazu, der Müdigkeit nicht nachzugeben.

Jonathan trat zu dem alten, wurmstichigen Schrank. »Da sind ja nur Bücher drin, gar keine Spielsachen«, maulte er. »Du hast mir doch versprochen, dass es hier ganz viel zum Spielen gibt …«

Ein Plan, sie brauchte einen Plan!

Erstens: Sie musste die Arme frei kriegen.

Zweitens: Sie musste für Licht sorgen.

Drittens: Sie musste Hannah etwas zu trinken geben.

»Pass mal auf, halt du mal die Taschenlampe und leuchte mir den Weg. Ich hol aus dem Auto das Reisebett für Hannah.«

Das Ding war zwar unförmig, aber nicht schwer. Während sie Hannah auf dem einen Arm trug, schleppte sie es mit der freien Hand ins Haus, klappte es im Wohnzimmer auf und setzte Hannah hinein. Die Babyflasche hatte sie mittlerweile auch gefunden, und sie war erleichtert, dass Hannah friedlich daran zu nuckeln begann, anstatt loszuheulen. Aber ehe sich ein gewisses Hochgefühl einstellen konnte, begann das Licht zu flackern. Die Batterien der Taschenlampe waren wohl ziemlich altersschwach.

Auf der Suche nach Ersatz riss sie mehrere Schubladen des Schreibtisches auf, der direkt neben dem Wandschrank stand, und die allesamt randvoll gesteckt mit Unmengen Papieren und unnützen Sachen wie Kerzenständern, kleinen Zinndöschen und Stoffblumen waren. Als sie die dritte Schublade öffnete, fiel diese ihr förmlich entgegen. Sie musste ihr ganzes Gewicht aufbringen, damit sie ihr nicht auf den Fuß krachte, doch auch wenn sie sie gerade noch halten konnte, landete ein Teil des Inhalts auf dem Boden.

Marie biss sich auf die Lippen. Das Licht flackerte noch stärker. Irgendwo mussten doch Kerzen sein und Streichhölzer, warum gab es sonst die vielen Ständer!

»Schau mal, da!«

»Jonathan, ich habe jetzt wirklich keine Zeit, ich muss …«

»Schau mal da-ha!« Er klang leicht genervt und richtete die flackernde Taschenlampe auf einen Zettel, der auf den Boden gefallen war. Marie überflog ihn und erkannte, dass es Instruktionen für Gäste waren und unter anderem angegeben wurde, wo sich der Sicherungskasten befand, nämlich direkt unter dem Treppenaufgang.

»Gott sei Dank!«

Die Batterie reichte gerade so lange, um den Stromkasten zu öffnen und den Hauptschalter zu drücken. Ein lautes Summen ertönte, und einen Moment lang schien das ganze Haus zu vibrieren. Doch endlich leuchtete eine Glühbirne auf, die von der Decke baumelte.

Marie hatte schon vorher erkannt, dass es um das Haus – freundlich ausgedrückt – nicht zum Besten stand, doch in diesem grellen Licht wirkte es erst richtig trostlos. Am liebsten hätte sie das Licht sofort wieder ausgemacht.

»Ach du Scheiße!«, entfuhr es ihr.

»Scheiße sagt man nicht«, belehrte Jonathan sie besserwisserisch.

 

Es dauerte ungefähr eine halbe Stunde, bis alles aus dem Auto geräumt war. Bei jedem einzelnen Koffer packte Marie der Zweifel, ob es nicht doch besser wäre, in ein Hotel zu fahren. Doch sie wollte so spät am Abend nicht mehr ins Auto steigen und den Kindern eine weitere Fahrtstrecke zumuten. Wann immer sie mit einem neuen Koffer das Haus betrat, hielt sie den Blick hartnäckig auf den Boden gerichtet, um nicht darüber nachdenken zu müssen, was alles zu renovieren war und wie viele Tage sie hier ausschließlich putzen musste, um sich halbwegs wohl zu fühlen.

Jonathan, der neben Hannahs Bettchen wartete und einmal mehr den »Baby-Animateur« gab, um sie bei guter Laune zu halten, zählte schonungslos alle Missstände auf.

»Hast du schon das Klo gesehen? Der Klodeckel hat einen Sprung!«, rief er ihr entgegen. Als sie das zweite Mal zum Haus zurückkehrte, meldete er: »Die Vorhänge sind von der Stange gerutscht.« Und seine letzte Hiobsbotschaft lautete: »Vor dem Fenster liegt ein totes Tier.«

Bis jetzt hatte Marie ihn ignoriert, aber nun schrie sie entsetzt auf: »Was?«

Sie stürzte zum Fenster, riss es auf und stellte erleichtert fest, dass das, was man mit viel Phantasie – und Jonathan hatte davon mehr als reichlich – für eine tote Katze halten konnte, in Wahrheit völlig verrottete Blumenkisten waren. Resigniert schloss sie das Fenster wieder.

Als sie in der Küche die Tasche mit dem Reiseproviant auspackte, bemühte sie sich, nirgendwo anzustoßen. Kurz wagte sie es, den Kühlschrank zu öffnen, schlug ihn aber sofort wieder zu. Er war zwar leer, aber nicht geputzt, und überall standen gelbliche oder graue Schimmelflecken, ganz zu schweigen vom üblen Geruch, der ihr entgegenschlug.

»Ich will Pommes!«, erklärte Jonathan unbeeindruckt.

»Woher soll ich denn jetzt, bitte schön, Pommes nehmen? Du hast heute doch schon Lasagne gegessen, und hier, du kannst eine Banane haben.«

Er murmelte irgendetwas Unwilliges, aß aber die Banane. Auch Hannah steckte sich ein Stück in den Mund – wie immer ein so großes, dass sie es kaum kauen konnte und Marie Angst hatte, dass sie sich daran verschlucken würde – und war hinterher so gestärkt, dass sie gerne das Haus erkunden wollte. Als Einzige schien sie sich nicht daran zu stören, wie verdreckt und heruntergekommen alles war, und Marie konnte sie nur mühsam davon abhalten, indem sie ihr den Inhalt eines Hippgläschens in den Mund schaufelte.

»Da steht aber ›Guten-Morgen-Müesli‹ drauf!«, krähte Jonathan. »Und jetzt ist es Abend.«

Seit einigen Wochen konnte er lesen, und er war so stolz darauf, dass er es bei jeder Gelegenheit demonstrierte.

»Manchmal muss man eben improvisieren«, sagte Marie.

»Was heißt das?«

Marie überlegte kurz, wie sie es ihm am besten erklären sollte. »Nun«, meinte sie schließlich, »stell dir vor, wir sind auf der Flucht, und mit letzter Not haben wir dieses Haus erreicht. Es ist weit und breit der einzige Unterschlupf vor Feinden.«

»Welchen Feinden?«

»Egal jetzt!«

»Aliens?«

»Meinetwegen. Auf jeden Fall sind wir hier sicher. Am besten, wir verbringen die Nacht im Wohnzimmer.«

»Aber die Treppe führt doch in den ersten Stock, und dort oben sind die Schlafzimmer, oder?«

Ihr Sohn hatte recht, aber Marie konnte sich unmöglich aufraffen, weitere Räume in Augenschein zu nehmen und auf noch mehr Katastrophen zu stoßen.

»Hier ist es gemütlicher«, sagte sie schnell. »Wir ziehen für uns beide die Couch aus, und Hannah kann in ihrem Reisebettchen schlafen.«

Im Schrank im Flur befand sich Bettwäsche. Sie fühlte sich zwar klamm an und verströmte einen süßlichen Geruch, aber das war jetzt auch egal, zumal sich zu ihrer Müdigkeit Kopfschmerzen gesellten. Trotzdem nahm sie sich die Zeit, zumindest ein Regal sauber zu wischen, um darin die Essensreste zu verstauen. Das völlig verdreckte Putztuch, das sie in der Spüle vorgefunden hatte, musste dafür reichen. Als sie den Wasserhahn aufdrehte, tat sich erst mal gar nichts. Dann schoss ihr eine braune Ladung entgegen, der wenig später ein rötliches Rinnsal folgte.

Nur mit Mühe verkniff sie sich ein neuerliches »Scheiße«.

»Müssen wir nun alle ungebadet ins Bett gehen?«, fragte Jonathan. Anders als seine Mutter schien ihn der Gedanke daran sichtlich zu faszinieren.

Marie seufzte. Immerhin, sie hatte noch Baby-Feuchttücher, damit konnten sie sich notdürftig die Hände reinigen. Und sie war bereit, eine halbe Wasserflasche zu opfern, um das Regal sauber zu bekommen.

Aber wie sollte es nur morgen weitergehen?

Die Müdigkeit wurde immer übermächtiger, und auch Jonathan begann zu gähnen. Nur Hannah begann tatenhungrig, den Inhalt der Schublade zu inspizieren, die vorhin auf den Boden gefallen war.

»Pass auf, dass sie nichts in den Mund nimmt!«

So schnell wie möglich errichtete sie ein provisorisches Nachtlager. »Auch wenn wir kaum Wasser haben, die Zähne müssen wir uns trotzdem putzen«, verkündete sie hinterher.

Jonathan maulte, während Hannah am liebsten die Tube Zahnpasta aufgegessen hätte. Als Marie sie ihr wegnahm, brach sie in empörtes Gebrüll aus, und Marie beeilte sich, Wasser aufzusetzen, um ihr Abendfläschchen zuzubereiten. Immerhin, einer der Töpfe schien nur mit ein paar Kalkflecken beschlagen und nicht völlig verdreckt zu sein, und der Herd funktionierte.

Hannah hatte das Fläschchen noch nicht mal zur Hälfte leergenuckelt, als ihr zu Maries Erleichterung die Augen zufielen: Trotz des Nickerchens im Auto machten sich die Reisestrapazen bemerkbar. Jonathan war auch bereits eingeschlafen.

Marie legte sich zu ihm auf die Couch. Sie war so weich, dass sie morgen früh wohl üble Rückenschmerzen haben würde, aber im Moment war es einfach nur eine Wohltat, endlich die Augen zu schließen.

 

Als Marie nach ein paar Stunden hochfuhr, hatte sie einen Moment lang keine Ahnung, wo sie war. Panik stieg in ihr hoch, und erst als sie die tiefen, gleichmäßigen Atemzüge ihrer Kinder vernahm, beschwichtigte sich ihr Herzschlag. Egal, wo sie war: Solange die beiden so friedlich schliefen, war es ein guter Ort. Kaum, dass sie sich entspannte, begannen jedoch Erinnerungen auf sie einzuprasseln, und sie konnte nicht mehr einschlafen.

Dass sie völlig überstürzt hierhergekommen war, erschien ihr jetzt bei Dunkelheit nicht länger als spontaner Einfall, sondern als eine Flucht. Sie wälzte sich hin und her und machte schließlich eine der monströsen Lampen an. Das Licht war nur diffus, reichte aber aus, um ihre vielen Koffer und Taschen zu beleuchten.

Wo nur sollte sie in diesem verdreckten Haus all ihr Gepäck verstauen?

Sie verdrängte den Gedanken, stand auf und ging zu einer der Taschen. Drei Leinwände ragten hervor, und gedankenverloren strich sie darüber. Noch waren sie völlig weiß …

Und die Pinsel, die ebenfalls in der Tasche steckten – wann waren sie zuletzt feucht gewesen? Wann hatte sie das letzte Mal gemalt?

Es musste Monate, nein, Jahre her sein. Bis jetzt hatte sie sich immer gesagt, dass sie in all den Turbulenzen schlichtweg keine Zeit dafür gefunden hatte, doch wie sie da im trüben Licht hockte, musste sie sich eingestehen: Ich kann es nicht … nicht mehr … nicht nach allem, was geschehen ist.

Sie war nicht nur nach Guernsey gekommen, um Erholung zu finden und den Kindern mit einem Tapetenwechsel über ihren Verlust hinwegzuhelfen, sondern hatte auf einen Neuanfang gehofft – als Malerin. Doch nun war es ihr unvorstellbar, inmitten von Chaos und Verfall in Ruhe hinter der Staffelei zu sitzen. Wie hatte sie sich nur der Illusion hingeben können, dass vor ihr ein wunderschöner, unbeschwerter Sommer in einem gemütlichen Cottage liegen würde?

Sie fröstelte, legte sich rasch wieder ins Bett, kuschelte sich an Jonathan und machte das Licht aus.

Tränen traten ihr in die Augen, und sie ließ zu, dass sie ihr übers Gesicht perlten. In den letzten Wochen hatte sie sie immer heruntergeschluckt und sich gesagt, dass sie für die Kinder stark sein müsste, doch jetzt fühlte sie sich unendlich schwach … und sie war Tausende Kilometer von Isabella, ihrer besten Freundin, entfernt. Sie überlegte, sie anzurufen, aber war sich nicht sicher, wo ihr iPhone geblieben war. Zuletzt hatte Jonathan im Auto damit gespielt, wahrscheinlich war es noch dort. Über diese Überlegungen versiegten die Tränen, und ehe sie sich entscheiden konnte, ob sie aufstehen und das iPhone holen sollte, war sie eingeschlafen.

 

Als sie wieder erwachte, drang Dämmerlicht durch die Fensterläden.

Jonathan schlief immer noch friedlich, Hannah war im Schlaf regelrecht herumgewandert und lag mit dem Kopf am Fußende. Aber sie war kein einziges Mal in der Nacht aufgewacht – ein Zeichen, wie groß ihre Erschöpfung gewesen war.

Marie lauschte. In weiter Ferne vernahm sie ein Geräusch, das langsam, aber sicher näher kam. Zuerst hielt sie es für das Miauen einer Katze, doch je länger dieser klagende Laut ertönte, desto größer wurde ihre Gewissheit: Jemand weinte, und es klang ziemlich verzweifelt.

 

Marie war jetzt hellwach. Sie setzte sich auf und hielt den Atem an. Das Weinen erklang wieder, aber nicht mehr ganz so laut, sondern irgendwie gedämpft. Im ersten Moment hätte sie schwören können, dass es eine Frau war, die weinte, aber mittlerweile war sie sich nicht mehr so sicher. So hoch, wie die Stimme klang, konnte sie auch von einem Kind stammen.

Sie stand auf, tappte zum Fenster, ließ den Laden aber dann doch geschlossen. Er hätte zu laut gequietscht und die Kinder womöglich aufgeweckt. Also schlich sie sich in die Küche, öffnete dort das Fenster und sah in den Garten hinaus. Nach einer wenige Meter breiten, ebenen Fläche fiel er steil bergab. An der Grenze des Grundes standen ein paar Bäume, und auch wenn er von hier aus nicht zu sehen war, wusste sie, dass dahinter ein schmaler Küstenpfad folgte, der bis zur Hauptstadt der Insel, Saint Peter Port, führte. Hinter dem Weg befand sich ein weiteres Stück Wald und dann schon das Meer. An sonnigen Tagen konnte man es türkis hinter den Bäumen durchschimmern sehen, und sobald sich der Morgendunst gehoben hatte, ließ sich ein Blick auf die kleine Insel Herm erhaschen. Als Kind hatte sie ein paar Ausflüge dorthin unternommen und am berühmten Shellbeach Muscheln gesammelt.

Heute hing der Nebel jedoch zäh über den Bäumen. Das Meer, ein schmaler, grauer Streifen, hob sich kaum vom Himmel ab, und obwohl der Garten vor Blumen überquoll, bot er einen tristen Anblick: Die für Guernsey so berühmten Bluebells – eine Hyazinthenart, die an manchen Stellen so dicht wuchsen, dass sie blauen Teppichen glichen – ließen ebenso die Köpfe hängen wie die roten und weißen Lichtnelken, die Narzissen und die Iris. Am Steilhang wuchsen die rötlichen Guernsey-Lilien, die einst auf der Insel gezüchtet worden waren und sich zu ihrem Wahrzeichen entwickelt hatten, doch ihre Blütenblätter erbebten im Wind, als würden sie frösteln.

Marie hatte den Kopf aus dem Fenster gestreckt, zog ihn aber schnell zurück, als sie die ersten Regentropfen abbekam. Bei Sonne wäre der Ausblick in den Garten wunderschön gewesen, aber so verstärkte er ihre Beklommenheit. Hastig schloss sie das Fenster. Die Tropfen, die gegen die Scheibe platschten, wurden immer dicker, und bald schon war hinter der grauen Nebelwand kaum mehr etwas zu erkennen.

Immerhin, das Weinen war verstummt. Plötzlich war sie sich auch sicher, dass es weder aus dem Mund einer Frau noch eines Kindes stammte, sondern lediglich Möwen waren, die, von Wind und schlechtem Wetter unbeeindruckt, den Himmel durchpflügten und ihre klagenden Rufe ausgestoßen hatten.

Sie wandte sich ab, und ihr Blick fiel auf eine Kaffeemaschine – ein ziemlich altmodisches Teil, das obendrein völlig verkalkt war, aber ihren Kaffeedurst ins Unermessliche wachsen ließ. Allerdings hatte sie kein Kaffeepulver, weswegen ihr nichts anderes übrigblieb, als zu warten, bis die Kinder wach waren, und mit ihnen frühstücken zu gehen. Die Aussicht, sich wieder ins Auto zu setzen, war wenig verführerisch, aber sie könnten zu Fuß zum Fermain Bay spazieren, wo es, soweit sie sich erinnern konnte, ein Strandcafé gab.

Ihr Frösteln verstärkte sich, und sie beschloss, sich anzuziehen.

Als sie an den schlafenden Kindern vorbei durch das Wohnzimmer schlich, blieb etwas an ihrer Fußsohle kleben. Sie bückte sich danach und sah, dass es ein altes Schwarzweißfoto war. Einen kurzen Moment fragte sie sich, wie es hierhergekommen war, doch als sie sich umblickte, erkannte sie, dass es in der überfüllten Schublade gelegen haben musste und – wie so vieles andere – auf den Boden gefallen war, als sie daran gezogen hatte.

Sie betrachtete das Foto eingehender. Es zeigte eine Frau, die an einen runden Stein gelehnt saß und ziemlich altmodisch gekleidet war: Ihr dunkles Kleid reichte bis zu den Knöcheln, die spitz zulaufenden Stiefel waren bis oben hin geschnürt, die helle Bluse mit voluminösen Puffärmeln ausgestattet. Die Haare trug sie zu einem Knoten aufgesteckt, und auch wenn Marie nicht mit Sicherheit sagen konnte, welche Farbe sie hatten, vermutete sie einen dunklen Rotton oder Kastanienbraun. Obwohl Kleidung und Frisur streng anmuteten, versprühte die Frau eine unglaubliche Lebendigkeit. Die Augen funkelten, und ihr Mund war zu einem breiten Lächeln verzogen, das nicht im Geringsten aufgesetzt, sondern durch und durch echt schien und von überbordender Fröhlichkeit kündete.

Vom Hintergrund war bis auf den Stein, auf dem sie saß, nicht viel zu erkennen, nur ein Stück Himmel und ein weißer Punkt, der sich als Möwe ausmachen ließ – ein Zeichen, dass sich dieser Ort irgendwo in Küstennähe befand.

Eine Weile betrachtete Marie das Bild und fühlte sich – so verzagt und verlassen wie sie sich selbst vorkam – von der guten Laune der Frau nahezu provoziert. Als sie das Bild umdrehte, war dort weder eine Jahreszahl noch der Name des Fotostudios zu lesen, jedoch zwei Wörter in einer dünnen, fast schon verblichenen Schrift. Marie musste zurück in die Küche gehen und das Foto ans Fenster halten, um sie entziffern zu können.

Geliebte Anouk.

»Anouk, Anouk«, murmelte sie. Sie konnte sich nicht erinnern, diesen Namen jemals gehört zu haben. Sie wusste ja nicht einmal, wie alt genau das Cottage war. Auf den ersten Blick hätte sie das Foto auf die Zeit des Zweiten Weltkriegs datiert, doch genau betrachtet, konnte sie sich nicht vorstellen, dass eine junge Frau so glücklich lachte, während die Bevölkerung der Insel unter der deutschen Besatzung litt. Auch die Mode ließ ein noch älteres Entstehungsdatum vermuten – vielleicht Anfang des 20. Jahrhunderts.

Ob die Frau hier im Cottage gelebt hatte? Und warum sie wohl so glücklich und befreit lachte?

Marie ahnte, dass sie das womöglich nie herausfinden würde, aber der Neid, den sie auf diese lebensfrohe Frau empfand, wich plötzlich einer wilden Entschlossenheit. Ja, das Cottage befand sich in einem erbärmlichen Zustand, und ja, Regen und Nebel machten es nicht besser, ganz zu schweigen von ihrem knurrenden Magen. Aber sie hatte schon Schlimmeres bewältigt, und irgendwie würde sie sich hier schon halbwegs behaglich einrichten können. Auf keinen Fall wollte sie sich von ihrer Trauer, der Verzagtheit und den Zukunftsängsten bezwingen lassen, sondern endlich wieder ihre Träume leben.

2

1918

Lilian fiel dem fremden Mann um den Hals und küsste ihn auf die Wangen. Zunächst sah er sie entgeistert an, doch er erwiderte ihr breites Lächeln, als sie rief: »Ist es nicht herrlich?«

»Ja«, entgegnete er, »heute ist in der Tat ein Freudentag.«

Lilian nickte strahlend, löste sich von ihm und ging weiter – oder vielmehr versuchte sie es: Genau betrachtet war an ein rasches Fortkommen nicht zu denken. Obwohl es November und das Wetter regnerisch war, begann sie, inmitten der vielen Menschen auf Londons Straßen und Plätzen zu schwitzen.

Seit Stunden war sie auf den Beinen. Eigentlich hatte sie mit dem Bus hierher fahren wollen, doch der war bis zum letzten Platz besetzt gewesen. Männer und junge Burschen hatten sich an Türen und Fenster geklammert, um mitzufahren. Schließlich hatte sie sich zu Fuß bis zum Trafalgar Square durchgekämpft und überlegte nun, ob sie Richtung St. James Park gehen oder lieber den Buckingham Palace ansteuern sollte. Natürlich könnte sie über die Whitehall auch bis zur Downing Street gelangen, wo der Menschenauflauf kaum geringer war: Schließlich wollte jeder einen Blick auf David Lloyd George, den Premierminister, erhaschen.

Ehe sie sich entschieden hatte, wurden die Jubelschreie, die nun schon seit Stunden nicht abrissen, plötzlich lauter: Berittene Polizisten folgten einem offenen Pferdewagen, in dem König George V. und seine Gattin Mary Platz genommen hatten.

»Was für eine würdige Erscheinung!«, sagte eine Frau dicht neben ihr.

Im Grunde bekam Lilian nichts von der königlichen Kutsche zu sehen, war ihr die Sicht doch nicht nur von Köpfen, sondern obendrein von Regenschirmen verstellt, aber sie nickte dennoch eifrig.

»Wir können wirklich stolz auf unseren König sein.«

Die Frau tätschelte ihren Arm, und Lilian lächelte strahlend. Insgeheim musste sie jedoch daran denken, wie verhasst der König seinem Volk lange Zeit gewesen war – und nicht nur diesem. Als der britische Premierminister einmal zu ihm bestellt wurde, hatte er zuvor abfällig erklärt: »Ich möchte wissen, was mir mein kleiner deutscher Freund zu sagen hat.«

Doch man mochte dem König viel nachsagen, an Gerissenheit, so war Lilian überzeugt, fehlte es ihm nicht: Erst im letzten Jahr hatte er für sich und alle seine Nachkommen auf seine deutschen Namen und Titel verzichtet, um künftig den Namen Windsor tragen zu können, und ob die Menschen nun schlichtweg dumm, vergesslich oder gutmütig waren: Kaum einer dachte mehr an seine wahre Herkunft, schon gar nicht an einem Tag wie heute.

Lilian fiel auch der fremden Frau um den Hals: »Ich bin so froh, dass der Krieg endlich vorbei ist!«, rief sie.

Die Frau erwiderte ihre Umarmung, und als Lilian sich von ihr löste, war ihr Lächeln noch breiter. Sie drängte sich weiter durch die Menge und kam an einer Gruppe junger Männer vorbei, die schon ziemlich betrunken waren. Sie schwenkten den Union Jack, aber auch das amerikanische Sternenbanner und sangen ebenso laut wie falsch.

Lilian legte ihren Kopf schief: »Darf ich mit euch tanzen?«

»Wer könnte zu einer so hübschen Frau nein sagen?«

Lilians Lächeln war nicht länger strahlend, sondern kokett. Sie wusste, dass sie keine klassische Schönheit war: Ihre Haut war nicht vornehm blass, sondern mit Sommersprossen übersät, das Haar fiel nicht in goldenen Locken über ihre Schultern, sondern in Form ungebärdiger, brauner Krausen, aber ihre dunklen Augen waren groß und glänzten, die Grübchen auf den Wangen wirkten neckisch, und sie konnte sich ebenso leichtfüßig wie wendig bewegen.

Eine Weile tanzte sie mit den jungen Männern, ehe sie sie stehen ließ und Richtung Green Park aufbrach. Immer wieder fiel sie weiteren fremden Menschen um den Hals und beteuerte, wie glücklich sie sich alle schätzen konnten.

»Welche Erleichterung, dass der Krieg vorbei ist.«

»Unsere Jungs haben so tapfer gekämpft.«

»Den Hunnen haben wir es aber gezeigt.«

Schließlich entfernte sie sich aus dem dichten Gedränge und zog sich in eine stille Ecke zurück. Sie lehnte sich an die Wand eines Tabakwarenladens und genoss es, das Gewicht in ihrer Tasche zu spüren. Noch war nicht der rechte Zeitpunkt, das Diebesgut, das sie den Menschen unbemerkt abgenommen hatte, eingehend zu betrachten und seinen Wert zu bestimmen. Aber sie war sicher, dass sie seit langem nicht mehr mit solch einer üppigen Ausbeute nach Hause gekommen war. Sie lächelte in sich hinein.

Ja, heute war ein guter Tag.

 

Als Lilian in die ärmliche Mietwohnung im Eastend zurückkehrte, war sie völlig vom Regen durchnässt. Sie pustete in ihre eiskalten Hände, spürte aber dennoch fast nichts. Ihre Finger waren zu steif, um das Diebesgut Stück für Stück aus der Tasche zu ziehen, weswegen sie es einfach auf dem Boden ausleerte.

»Suzie, schau! Die Taschenuhr ist von einem jungen Mann. Als ich ihn umarmte, wurde er ganz steif, und hinterher war er so wild darauf, den Staub von der Jacke zu wischen, dass dieser Dummkopf gar nicht bemerkt hat, was ich habe mitgehen lassen. Die Brosche ist von einem alten Weib. Die hatte so viel Schmuck, da fällt ein fehlendes Stück nicht weiter auf. Und außerdem machen sie alle die Juwelen auch nicht schöner, im Grunde kann sie mir dankbar sein. Die Münzen stammen von ein paar jungen Männern. Auch die sind besser dran, weil ich das Geld habe – sie würden es ja doch nur für Schnaps ausgeben, und besoffen waren sie schon genug.«

»Wenn man dir zuhört, könnte man denken, du tust den Menschen einen Gefallen, wenn du sie bestiehlst!«

Suzie runzelte skeptisch die Stirn. Obwohl sie zu Hause geblieben war, fröstelte auch sie – kein Wunder, da sie bislang keine Kohle hatten kaufen können.

»Nun können wir endlich einheizen!«, schwärmte Lilian. »Und uns einmal richtig satt essen. Wir werden feiern!«

»Was denn?«, fragte Suzie skeptisch. »Weil der Krieg vorbei ist oder weil du so viel erbeutet hast?«

»Weder noch! Vielmehr, dass wir jung sind und ein Dach über dem Kopf haben. Die Zukunft gehört uns!«

Lilian eilte auf sie zu, zog sie an sich und drehte sich ein paarmal mit ihr im Kreis.

»Hör auf!«, wehrte sich Suzie. »Mir wird ganz schwindlig! Und was das Dach über dem Kopf anbelangt – Mrs Merrywether war vorhin gerade hier und wollte ihre Miete haben.«

Lilian unterdrückte ein Seufzen. Mrs Merrywether zeigte gegenüber den zwei jungen unverheirateten Dingern, wie sie sie nannte, großes Misstrauen. Immer wieder fragte sie neugierig, was sie den ganzen Tag so trieben. Dass Suzie als Näherin fleißig zu Hause arbeitete, hatte sie irgendwann zufriedengestellt, doch dass Lilian den ganzen Tag über fort war und nie sagte, welcher Arbeit sie nachging, nahm sie ihr sichtlich übel.

»Sie kann froh sein, dass wir für dieses Loch überhaupt etwas bezahlen.«

Dieses Loch war ein winziger Raum mit einem Herd, einem wackeligen Tisch, zwei noch wackeligeren Stühlen und zwei durchgelegenen Matratzen anstelle von Betten. Im Winter war es so kalt, dass sie zusammengekuschelt auf einer lagen – so wie einst schon im Waisenhaus, wo sie sich nicht nur gegenseitig gewärmt, sondern sich die Läuse geteilt hatten, den Hunger und die Sehnsucht nach den Eltern, die sie beide in früher Kindheit verloren hatten. Mittlerweile hatten sie die Eltern vergessen, waren einander wie Schwestern und kämmten sich die Läuse gegenseitig aus dem Haar – was bei Lilians kräftigen Krausen eindeutig schmerzhafter war als bei Suzies rötlichen, glatten Strähnen. Was wiederum den Hunger anbelangte, hatte Lilian diesen im Waisenhaus stoisch ertragen, doch als sie alt genug waren, um von dort zu fliehen, hatte sie geschworen, dass sie von nun an gut und reichlich essen würde, koste es, was es wolle. Auch wenn sie irgendwann in die Hölle kommen sollte – lieber wollte sie mit vollem Bauch sündigen, als darbend, fahl und schwach vor Gott auf den Knien zu rutschen.

Satt zu sein war etwas, was auch Suzie genoss – nur bei der Wahl der Mittel, den Magen zu füllen, war sie etwas zimperlicher.

Sie machte sich von Lilian los: »Eigentlich ist es gemein, die Freude der Menschen über das Ende des Krieges so schamlos auszunutzen.«

»Wir haben endlich Frieden, und dafür mussten die meisten größere Opfer bringen als eine Brosche oder eine Taschenuhr. Ich werde zusehen, dass ich sie in den nächsten Tagen zu Geld mache. Nimm einstweilen die Münzen und geh einkaufen.«

»Und was machst du?«, fragte Suzie entgeistert.

»So leicht und viel wie heute habe ich es noch nie gehabt – das muss ich ausnutzen. Die Menschenmenge hat sich langsam zerstreut, aber die, die noch auf den Straßen rumlungern, sind so betrunken, dass sie leichte Beute sind.«

Suzie schüttelte mahnend den Kopf. »Kannst du denn gar nicht genug bekommen?«

»Genug? Was soll das sein? Vom Geld hat man immer nur zu wenig … nie zu viel.«

Suzie wollte noch einen Einwand hervorbringen, aber Lilian hob die Hand. »Kannst du dich erinnern, wovor wir im Waisenhaus immer gewarnt wurden? Wenn wir uns nicht brav und sittsam benähmen, würden wir dereinst in der Gosse landen. Das war natürlich Unsinn, denn rechtes Benehmen bewahrt nicht vor der Gosse – nur Reichtum. Aber dass keiner in der Gosse landen will, das stimmt, und du siehst das genauso. Schlimmer als zu stehlen ist es, den eigenen Körper zu verkaufen, und lieber bestehle ich den König höchstpersönlich, als so tief zu sinken.«

Suzie blickte etwas missmutig. »Du denkst also, es gibt für Frauen wie uns nur diese zwei Wege: zu huren oder zu stehlen? Wie wär’s mit rechtmäßiger Arbeit?«

Lilian zuckte die Schultern. »Näh du, so viel du willst, ich steche mir ja doch nur die Finger dabei blutig. Und schau vor allem nicht so streng an einem Freudentag wie heute.« Lilian beugte sich vor, hauchte einen Kuss auf Suzies Wange und stürmte nach draußen, ehe die andere einen weiteren Einwand erheben konnte.

 

Der Nieselregen hatte aufgehört, doch die Kälte wurde immer schneidender, und vom Boden stiegen graue Schwaden hoch. Lilian war hin- und hergerissen. Dort vorne im Pub ging es fröhlich zu, Spirituosen wurden in großen Mengen ausgeschenkt, und sie würde gewiss auch ein Glas abbekommen, um sich zu wärmen. Allerdings, so viele betrunkene Männer an einem Ort waren nicht ungefährlich, und wenn Suzie sie auch zu Recht eine Draufgängerin nannte – wahnsinnig war sie nicht. Sie war stolz darauf, Gefahren richtig einzuschätzen und ihr Glück nicht überzustrapazieren.

Während sie noch zögerte, ertönten plötzlich Schritte hinter ihr. Sie fuhr herum und stellte erleichtert fest, dass aus dem grauen Nebel kein Gesindel auftauchte, sondern ein Mann mit schwarzem Mantel und Zylinder.

Aus den Augenwinkeln musterte sie seine Gestalt, und trotz Nebel und Dunkelheit hatte sie in kürzester Zeit das Wichtigste erfasst: Er schwankte nicht, sondern ging forschen Schrittes, was bedeutete, dass er nicht betrunken war. Außerdem hatte er den Mantelkragen hochgeschlagen, um sein Gesicht zu verbergen – ein Zeichen, dass er sich von den Betrunkenen abgestoßen fühlte und so wenig wie möglich von ihnen sehen wollte. Obwohl er zunächst schnellen Schrittes am Pub vorbeiging, wurden seine Schritte danach immer zögerlicher – wohl, weil er mit diesem Viertel nicht vertraut war, sondern offenbar in einem besseren lebte.

Lilian triumphierte. Ein Opfer ganz nach ihrem Geschmack.

Sie trat auf ihn zu. »Entschuldigen Sie …«

Der Mann stand mit dem Rücken zur Straßenlaterne, als er sich zu ihr umdrehte und zu ihr beugte, wobei sein Gesicht im Dunkeln blieb. »Ja, Miss?«

Einmal mehr rieb sie die Hände fröstelnd aneinander. »Ich war viel zu lange bei der Siegesfeier, und jetzt traue ich mich nicht, das letzte Stück nach Hause zu gehen«, jammerte sie. »Es ist so finster, und keiner weiß, wer hier einem unschuldigen Mädchen womöglich auflauert. Ich wohne gleich dort hinten, könnten Sie mich vielleicht begleiten?«

Sein Gesicht blieb weiterhin im Dunkeln, so dass sie nicht in seiner Miene lesen konnte, aber er nickte und reichte ihr bereitwillig den Arm. Lilian konnte ihr Glück kaum fassen.

Was für ein Idiot, einem fremden Mädchen einfach zu vertrauen! Er stammte wirklich nicht von hier!

Trotz des Triumphes verkniff sie sich ein Grinsen. Noch war es zu früh, um zu frohlocken, und auch, wenn er ihr zu helfen bereit war – er passte sich mitnichten ihrem Tempo an, sondern ging zielstrebig auf das Haus zu, in dessen Richtung sie gedeutet hatte. Viel Zeit blieb ihr also nicht.

»Es ist großartig, dass der Krieg vorbei ist, nicht wahr?«

Der Mann nickte nur.

»Jetzt kommen bessere Zeiten«, fuhr sie fort. »Meine Mutter hat so um unseren Jüngsten gebangt, Johnny heißt er. Er hat bei der Expeditionary Force in Frankreich gekämpft, aber jetzt ist alles gut, bald kommt er heim. Meine Mutter ist übrigens Schneiderin, sie hat tüchtig Uniformen genäht, und ich habe in einer Rüstungsfabrik gearbeitet.«

Die Lügen gingen ihr leicht über die Lippen. Im Laufe ihres achtzehnjährigen Lebens hatte sie so viele Geschichten über ihr Leben erfunden, dass man mit diesen, hätte jemand sie aufgeschrieben, ganze Bibliotheken füllen könnte.

Der Mann sagte weiterhin nichts, und sie schwieg nun auch, zumal sie ihr Ziel längst erreicht hatte. Während sie von Johnny erzählte, hatte sie ganz unauffällig in seinen Mantel gegriffen, die Geldbörse hervorgezogen und in der eigenen Tasche verstaut. Sie hängte sich fester ein, damit er nicht das fehlende Gewicht der Börse bemerkte, löste sich jedoch nach einigen Schritten von ihm.

»Vielen Dank! Meine Mutter wird sich freuen, dass ich endlich nach Hause komme – und mir gewiss ordentlich die Leviten lesen, weil ich ihr so viel Sorgen bereitet habe.«

Der Mann nickte wieder, wandte sich grußlos ab und verschwand im Nebel, ohne sich zu vergewissern, dass sie auch wirklich wohlbehalten ihr Zuhause erreichte.

Umso besser, sie hatte keine Lust, in der Finsternis herumzustehen. Zwar zwang sie sich, bis zehn zu zählen, lief dann aber hastig wieder zurück zur Hauptstraße. Das Gegröle in der Ferne war lauter geworden, doch sie achtete nicht darauf, sondern blieb vor einer Laterne stehen, um die Börse zu öffnen und nachzuzählen. Gewiss, es wäre klüger gewesen, damit zu warten, aber so schwer wie sie war, hatte dieser Fremde ein Vermögen bei sich getragen. Undenkbar, ihre Neugierde zu bezwingen!

Zu ihrer Enttäuschung musste sie allerdings feststellen, dass sich kein Papiergeld in der Börse befand, nur Münzen – und zwar großteils fremde. Sie mussten aus aller Herren Länder stammen. Wie und wo sollte sie sie nur in Pfund wechseln, ohne Verdacht zu erwecken, das Geld gestohlen zu haben? Verdammt!

Im nächsten Augenblick fiel die Börse auf den Boden, und die Münzen kullerten über die Straße. Etliche blieben in den Ritzen zwischen den Pflastersteinen stecken.

Lautlos hatte sich jemand von hinten genähert, Lilian gepackt und ihr die Hand vor den Mund gepresst.

 

Sie wusste sofort, dass es der Mann mit dem Zylinder war – und sie wusste auch, dass er stark war, stärker als sie. Es geschah nicht zum ersten Mal, dass fremde Hände sie packten, doch für gewöhnlich konnte sie auf simple Tricks zurückgreifen, um sich daraus zu befreien: Meist genügte es, sich ein paar Atemzüge lang schwach zu stellen, um dann unerwartet gegen die empfindlichste Stelle des Angreifers zu treten. Doch dieser Mann schien aus Stahl zu sein. Als sie mit ganzer Kraft gegen sein Schienbein trat, entwich ihm kein Schmerzenslaut, und auch seine schwielige Hand löste sich nicht von ihrem Mund. Lilian unterdrückte die Regung, ihn erneut zu treten, versteifte sich stattdessen und wartete, bis er sie mit sich zerrte. Dann zog sie blitzschnell eine Nadel aus ihrer Tasche und stach in seinen Bauch. Suzie besaß jede Menge davon, und Lilian hatte immer welche eingesteckt, denn sie waren eine unauffälligere, vor allem aber kleinere Waffe als ein Messer.

Und tatsächlich: Der erhoffte Schmerzensschrei ertönte, außerdem lockerte sich der Griff der unbarmherzigen Hände. Lilian riss sich los und lief davon. Blitzschnell setzte der Mann nach.

»Hilfe!«, schrie sie. »Zu Hilfe!«

In der Ferne hörte sie Gelächter, dann presste sich erneut die Hand über ihre Lippen, und sie spürte den kalten Stahl eines Messers an ihrer Kehle. »Keinen Mucks.«

Lilian war klug genug, um zu wissen, dass ihre Lage hoffnungslos war. Sie wehrte sich nicht länger, hatte nicht einmal Angst, dachte sogar, dass sie es immer gewusst hatte: Irgendwann würde dieser Moment kommen … irgendwann würde sie im Zuchthaus landen, das hatten ihr auch die Nonnen oft genug prophezeit.

Doch der Weg führte vorerst nicht ins Zuchthaus, sondern zwei Straßen weiter. Unter einer Straßenlaterne blieb der Fremde stehen und presste sie gegen eine Hauswand. Obwohl das Licht sie blendete, zwang sie sich, die Augen offen zu halten, auf dass ihr nichts entging. Das Messer war immer noch auf sie gerichtet, und als sie in sein Gesicht sah, zweifelte sie keinen Augenblick lang, dass er sie notfalls töten würde. Der Fremde war groß und zäh, aber schmaler, als sein fester Griff vermuten ließ. Seine Haut war fahl, die Wangen eingefallen, und die vielen kleinen Narben ließen ihn nicht einfach nur unansehnlich, sondern hässlich wirken. Sein Blick war verschlagen, der Mund zu einem schmalen Lächeln verzogen.

»Ich beobachte dich schon eine Weile … Lilian Talbot.«

Großer Gott, er kannte ihren Namen!

Der Mund wurde ihr ganz trocken.

»Woher …«, setzte sie an. Mehr brachte sie nicht hervor.

»Ich kenne Mädchen wie dich. Die Not steht ihnen allzu deutlich in die Augen geschrieben. Menschen wie du sind zu allem bereit.«

Sie entschied, keine Fragen mehr zu stellen, sondern versuchte, ohne zu zittern, den Blick zu erwidern. »Worauf warten Sie?« Sie legte größtmögliche Verachtung in die Stimme. »Na los, bringen Sie mich schon ins Zuchthaus!«

Ein Ton entwich seinen schmalen Lippen, von dem sie nicht sagen konnte, ob es ein Lachen oder Zischen war. »Es wäre jammerschade, dein Talent im Zuchthaus verkümmern zu lassen.«

Sein Lächeln wurde breiter, sein Griff lockerte sich, und er zog endlich das Messer zurück, jedoch nicht, um es einzustecken, sondern um vorsichtig über die Klinge zu streichen. Lilian hätte schwören können, dass er noch nie eine Frau so zärtlich berührt hatte wie diese Waffe. Sie fragte sich unwillkürlich, ob er sich die Narben selber zugefügt hatte.

»Ich habe keine Angst«, erklärte sie ihm kühl. »Sagen Sie mir, was Sie von mir wollen!«

Endlich ließ der Mann das Messer sinken.

»Hast du schon mal etwas vom Blauen Ring gehört?«, fragte er.

 

Als Lilian viele Stunden später heimkehrte, brannte Feuer im Herd. Erst jetzt merkte sie, dass die Kälte jede Faser ihres Körpers durchdrungen hatte. Obwohl sie sich ganz dicht an den Ofen stellte, konnte sie nicht aufhören zu zittern. Beinahe wäre sie stehend eingenickt vor Müdigkeit, doch als sie sich vom Ofen löste und neben Suzie legen wollte, wurde diese wach.

»Mein Gott, Lilian, wo bist du so lange gewesen? Ich habe mir solche Sorgen gemacht!«

Trotz der Kälte und Erschöpfung erschien ein triumphierendes Lächeln auf Lilians Lippen. Mit einem genussvollen Stöhnen streckte sie sich neben Suzie auf der Matratze aus.

»Bald werden wir in einem richtigen Bett schlafen …«

»So viel hast du gestohlen?«

»Nein, aber ich habe Maxim Brander kennengelernt.«

»Wer ist Maxim Brander?«

»Der Anführer des Blauen Rings.«

Lilian merkte plötzlich, dass der Hunger noch größer als ihre Müdigkeit war. Ihr Magen knurrte.

»Es sind noch Kartoffeln da«, murmelte Suzie.

Wie so oft spürte sie, was die Freundin brauchte, noch ehe die es aussprach.

Lilian erhob sich und aß Kartoffeln, während sie vom Blauen Ring erzählte. Die Schalen blieben ihr am Gaumen kleben und schmeckten bitter.

Eines Tages werden andere für mich die Kartoffeln schälen, dachte sie. Und ich werde keine gewöhnlichen Kartoffeln mehr essen, sondern Pommes Dauphine, feines Fleisch und knuspriges Brot …

Suzie lauschte ihrer Erzählung ausdruckslos. Erst als Lilian geendet hatte, richtete sie sich empört auf. »Sag, bist du wahnsinnig geworden, dich mit solchem Abschaum einzulassen? Wie konntest du nur?«

»Abschaum? Hast du mir nicht zugehört? Wenn du Maxim Brander sehen würdest, würdest du ihn für einen ehrenwerten Mann halten. Er ist gekleidet wie ein Arzt oder Anwalt!«

Sie dachte an die Narben in seinem Gesicht, unterdrückte jedoch ihr Schaudern und erzählte Suzie nichts davon. Auch reiche Menschen konnten nun mal hässlich sein. Was zählte, war, dass Maxims Mantel aus edlem Stoff war. Und dass sie selber feine Kleider tragen wollte.

»Du willst doch nicht ernsthaft …«

»Hast du dir überlegt, wie viel Geld ich machen kann? Ich habe gar nicht gewusst, was es alles für Möglichkeiten gibt, reich zu werden!«

Sie war immer stolz auf ihre Geschicklichkeit als Taschendiebin gewesen, aber verglichen mit den Gaunern, die sich zum Blauen Ring zusammengeschlossen hatten, war sie ein Nichts. Sie verdienten am Schmuggel, an Pferdewetten und Lebensmittelfälschung … und das im großen Stil. Selbst als kleines Rädchen im großen Getriebe würde sie mehr verdienen als auf sich allein gestellt auf der Straße. Vor allem aber konnte der Blaue Ring notfalls die Polizei bestechen, falls sie eines Tages auf frischer Tat ertappt wurde.

»Wir sollten lieber bescheiden bleiben«, sagte Suzie. »Genügt es nicht, dass wir diese Wohnung haben und vorerst sogar genug Kohlen und zu essen? Wir können überleben, mehr recht als schlecht, und wenn ich irgendwann eine eigene Schneiderei aufmache …«

Lilian ließ vor Empörung die letzte Kartoffel fallen. »Das ist zu wenig!«, schrie sie. »Ich will ein besseres Leben! Bessere Möbel, bessere Kleidung, bessere Nahrung.«

»Du hast die Ansprüche einer Königin, aber wer bist du schon?«, tadelte Suzie sie. »Nichts weiter als eine armselige Waise, die noch nicht einmal …«

Lilian stampfte auf. »Sprich es nicht aus! Was zählt es, aus welchem Loch wir gekrochen sind? Man kann alles erreichen, wenn man es nur will! Und ich will unbedingt reich werden. Das Leben … es … es tut nicht so weh, wenn man genug Geld hat …«

Sie presste die Lippen zusammen, um nicht noch mehr zu bekennen. Früher im Waisenhaus war es vor allem Suzie gewesen, die unter den Schlägen der Nonnen, der Kälte, dem Hunger und vor allem dem Verlust der Eltern gelitten hatte. Lilian hingegen hatte immer so getan, als störte sie das alles nicht, wollte sie der Gefährtin doch Zuversicht und Hoffnung geben – genauso wie sich selbst. Nicht zu zeigen, dass sie litt, hatte jedoch nichts daran geändert, dass sie es dennoch tat.

Hastig wandte sie sich von Suzie ab und legte Kohlen nach, damit die andere nicht in ihrem Gesicht lesen konnte.

»Ich habe Angst um dich«, murmelte Suzie und ließ offen, woher diese Furcht rührte: Weil Lilian sich dem Blauen Ring anschließen wollte oder weil sie von ihrer Gier nach einem besseren Leben förmlich aufgerieben wurde.

»Das musst du nicht.« Als Lilian sich ihr wieder zuwandte, hatte sie ein gleichmütiges Lächeln aufgesetzt. »Ich bin wie eine Katze. Ich lande immer und überall auf den Füßen, und ich habe sieben Leben.«

3

Als die Kinder erwachten, regnete es so stark, dass von den Blumen im Garten nichts mehr zu sehen war. Obwohl Marie zwei Pullis übereinandergezogen hatte, fühlte sie sich immer klammer. Kein Wunder, dass Hannah beim Wickeln brüllte, als wollte man sie töten. Hinterher ließ sie sich von einer Reiswaffel besänftigen, aber der hungrige Jonathan begann aufzuzählen, worauf er große Lust hätte, was aber alles nicht vorhanden war: Toast, Marmelade, Nutella, ein weiches Ei.

Marie war mittlerweile selbst so weit, dass sie für eine Tasse Kaffee hätte morden können. »Ist ja schon gut, wir gehen frühstücken.«

Angesichts des Regens wäre es besser gewesen, den ursprünglichen Plan aufzugeben und nach Saint Peter Port zu fahren, aber Nebel UND Linksverkehr UND Hauptstraße waren eins zu viel, und Marie redete sich ein, dass der Himmel etwas lichter und die Tropfen etwas kleiner wurden. Wenn sie es erst mal bis zum Parkplatz in der Nähe des Fermain Bays geschafft hatten, würde der Rest zu Fuß und mit Buggy zu bewältigen sein.

In der Tat war die Strecke mit dem Auto schnell zurückgelegt. Doch anders als erhofft gab es am Ende der Straße keinen Parkplatz, zumindest keinen öffentlichen. Der vor dem Hotel Le Chalet war zwar gähnend leer, doch große Schilder drohten eine Strafe von fünfzig Pfund an, stellte man das Auto hier widerrechtlich ab.

Hannah begann zu quengeln, und Jonathan rief ungeduldig: »Ich habe Hunger, Hunger, Hunger!«

Marie entschied, dass fünfzig Pfund Strafe gemessen an zwei hungrigen Kindern das geringere Übel waren, zumal sie sich nicht vorstellen konnte, dass ein Ordnungshüter durch den Regen stapfen und Strafzettel verteilen würde.

Sie wuchtete den Buggy aus dem Auto. Zum Strand waren es nurmehr zweihundert Meter, aber die führten steil bergab. Der Regen war in ein Nieseln übergegangen, aber auf der Straße hatten sich regelrechte Sturzbäche gebildet, und es tropfte von den vielen Bäumen, die sie säumten – Buchen, Kastanien, Kiefern und Pinien.

»Was stinkt hier denn so?«, fragte Jonathan und rümpfte die Nase.

Marie lächelte. »Das ist Stechginster. Wenn der so gelb blüht wie jetzt, riecht er ziemlich stark.«

»Ist ja ekelig.«

»Schau, da vorn ist schon das Meer«, lenkte Marie ihn ab. »Hier bin ich als Kind oft geschwommen.«

Obwohl eigentlich einer der malerischsten Orte der Insel, lud der Fermain Bay heute nicht gerade zum Verweilen ein: Das Meer war schmutzig grau, die Steine am Strand glitschig. Marie, deren Schuhe mittlerweile ebenso durchnässt waren wie die Haare, fühlte sich um das Paradies ihrer Kindheit betrogen. Trotz ihres guten Willens: Ein Teil in ihr wäre am liebsten sofort wieder umgedreht, hätte alles zusammengepackt und die Rückreise angetreten. Allerdings konnte sie den Kindern die weite Fahrt unmöglich erneut zumuten, und ehe sie eine Entscheidung traf, ob sie nicht doch besser ein Hotelzimmer nehmen sollte, brauchte sie einen Kaffee. Wie erhofft, befand sich zur rechten Seite der Bucht ein kleines Strandcafé. Die Terrasse mit den Sonnenschirmen war zwar verwaist, aber hinter der Glasfront sah sie Licht. Hastig schob sie den quietschenden Buggy über die letzten Meter.

Die Erleichterung, ins Warme und Trockene zu kommen, hielt nicht lange an. Die Kellnerin betrachtete sie ungläubig, nahezu feindselig.

»Wir haben erst ab zehn geöffnet«, erklärte sie schnippisch.

Marie warf einen Blick auf die Uhr. »Das ist doch schon in fünfzehn Minuten. Wir kriegen sicher schon jetzt was zu essen, oder?«

Unschlüssiges Schweigen folgte, dann die weiterhin schnippische Ansage: »Ich kann Ihnen nur Hotdog anbieten.«

Jonathan nickte sofort begeistert, aber Maries Mut sank.

»Auf dieser Tafel hier werden doch Crêpes und Waffeln angeboten.«

Die Kellnerin war ihrem Blick gefolgt, aber ehe Marie Hoffnung schöpfen konnte, erklärte sie eisern: »Die gibt’s aber erst am Nachmittag.«

Marie seufzte. »Also meinetwegen, dann zwei Hotdogs, eine Tasse Kaffee, ein Glas Orangensaft und ein trockenes Brötchen ohne Hotdog für meine Tochter.«

»Haben wir nicht.«

Waren die Menschen auf Guernsey nicht für ihre ausgesuchte Höflichkeit bekannt?

»Dann eben ein Hotdog ohne Würstchen!« Marie klang ungehalten, und als die Kellnerin sich schmallippig abwandte, war sie sich sicher, dass sie dafür ihre Strafe bekommen würde – nämlich ein Brötchen mit Senf.