Die schwarze Frau - Simone St. James - E-Book
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Die schwarze Frau E-Book

Simone St. James

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Beschreibung

Vermont 1950. Idlewild Hall ist ein Ort für Mädchen, die keinen anderen Platz in der Gesellschaft haben. Abends erzählen sich die Schülerinnen Schauergeschichten von der »schwarzen Mary«. Doch als eines Nachts eine von ihnen unter mysteriösen Umständen ums Leben kommt, wird der Schrecken real. 2014 ist das Internat eine Ruine, aber die Journalistin Fiona Sheridan kann nicht von Idlewild Hall lassen: Hier wurde vor 20 Jahren ihre Schwester ermordet. Als man bei Renovierungsarbeiten eine weitere Mädchenleiche findet, beginnt Fiona zu recherchieren. Dabei rührt sie an dunkle Geheimnisse, die besser für immer verborgen geblieben wären …

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Buch

Vermont 1950. Das heruntergekommene Internat Idlewild Hall ist ein Ort für Mädchen, für die kein Platz in der Gesellschaft ist. Nachts in ihren Betten erzählen sich die Mädchen Gruselgeschichten von der »schwarzen Mary«, die in Idlewild Hall umgehen soll. Doch als eines Morgens eine Schülerin tot aufgefunden wird, tritt der Schrecken ans helle Tageslicht …

2014 ist Idlewild Hall wenig mehr als eine Ruine. Aber die Journalistin Fiona Sheridan kann nicht von dem Ort lassen, denn dort wurde vor zwanzig Jahren ihre Schwester ermordet. Als das Areal nach Jahrzehnten des Verfalls verkauft und mit Renovierungsarbeiten begonnen wird, findet man die sterblichen Überreste eines weiteren Mädchens. Fiona beginnt zu recherchieren und stößt auf dunkle Geheimnisse der Vergangenheit – und auf eine Stimme, die nicht schweigen will …

Autorin

Simone St. James schrieb schon in der Highschool ihre erste Geistergeschichte. Später war sie zwanzig Jahre in der Filmbranche tätig, bevor sie sich ganz dem Schreiben von Spannungsromanen widmete. Mit ihrem Mann und ihrer verwöhnten Katze lebt sie in der Nähe von Toronto, Kanada.

Simone St. James

Die schwarze Frau

Roman

Deutsch von

Anne Fröhlich

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
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Die amerikanische Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel »The Broken Girls« bei Berkley, an imprint of Penguin Random House LLC, New York.
Copyright © 2018 der Originalausgabe by Simone SeguinAll rights reserved including the right of reproduction in whole or in part in any form.This edition published by arrangement with The Berkley Publishing Group, an imprint of Penguin Publishing Group, a division of Penguin Random House LLC.Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2019by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 MünchenCovergestaltung: UNO Werbeagentur, MünchenCovermotiv: Lee Avison/Arcangel; Vladimir Serov/getty images; Lee Chee Keong/EyeEm/getty imagesRedaktion: Ann-Catherine GeuderAn · Herstellung: kwSatz: KompetenzCenter, Mönchengladbach
ISBN: 978-3-641-23435-5V002
www.goldmann-verlag.de
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Dieses Buch ist für meine Mutter, meine größte Heldin. Ich liebe dich, Mom.

Prolog

Barrons, Vermont

November 1950

Die Sonne verschwand bereits am Horizont, als das Mädchen den höchsten Punkt der Old Barrons Road erreichte. Die Nacht brach herein, und sie hatte noch drei Meilen vor sich.

Die Luft wurde in der Dämmerung blau, beinahe violett und kalt, und in diesem Licht verschwammen alle Details, als würde man durch Rauch schauen. Das Mädchen kniff die Augen zusammen und warf einen Blick zurück auf die steil abfallende Straße. Der Wind zerrte an ihren Haaren und kroch unter den dünnen Stoff ihres Kragens, aber es schien ihr niemand zu folgen.

Trotzdem: Schneller, dachte sie.

Sie eilte den Hang hinunter. Unter ihren derben Schulmädchenschuhen lösten sich Steine und flogen über das rissige Straßenpflaster, und sie hatte Mühe, auf ihren dünnen Beinen das Gleichgewicht zu halten. Ihr grauer Wollrock war ihr zu klein – er bedeckte noch nicht einmal die Knie –, aber dagegen konnte sie nichts machen. Der Uniformrock steckte in ihrem Koffer, der ihr ständig gegen die Beine schlug. Sie würde ihn bald genug wieder anziehen müssen.

Wenn ich Glück habe.

Hör auf, du Dummkopf.

Schneller.

Ihre Handflächen am Griff waren schweißnass. Als sie den Koffer hastig aus dem Bus gezerrt hatte, wäre er ihr beinahe entglitten, und als sie zu den Busfenstern hochgeblickt hatte, war ihr der Schweiß den Rücken hinuntergelaufen.

Alles in Ordnung?, hatte der Fahrer gefragt, den der panische Gesichtsausdruck des Teenagermädchens für einen Moment aus seiner Gleichgültigkeit gerissen hatte.

Ja, ja. Sie hatte verkrampft gelächelt, ihm zugewinkt und sich abgewandt. Der Koffer hatte gegen ihre Knie geschlagen, weil sie so schnell davoneilte, als befände sie sich auf einem gepflasterten Bürgersteig in der Stadt und nicht auf diesem holprigen Straßenabschnitt, der als North Road bekannt war. Die Schatten waren schon lang, und sie hatte kurz zurückgeblickt, als sich die Türen schlossen, und dann noch einmal, als der Bus losfuhr.

Niemand außer ihr war aus dem Bus gestiegen. Das Geräusch ihrer Schritte und der weit entfernte Ruf einer Krähe waren das Einzige, was sie hörte. Sie war allein.

Niemand war ihr gefolgt.

Noch nicht.

Als sie auf der Old Barrons Road am unteren Ende des Hangs ankam, keuchte sie vor Hast. Sie zwang sich, den Blick nach vorne zu richten. Zurückzublicken hätte bedeutet, es herauszufordern. Wenn sie nur nach vorne schaute, würde es fortbleiben.

Wieder kam kalter Wind auf und ließ ihr den Schweiß gefrieren. Sie duckte sich und lief schneller. Wenn sie direkt durch den Wald ging, würde sie beim Sportplatz herauskommen, wo es zumindest die Chance gab, dass sie jemandem auf dem Weg zu ihrem Schlafsaal begegneten. Die Strecke wäre kürzer als diese hier, die um den Wald herum zum Vordereingang von Idlewild Hall führte. Aber das hieß, dass sie die Straße verlassen und im Dunkeln durch den Wald gehen musste. Womöglich würde sie die Orientierung verlieren. Sie konnte sich nicht dazu entschließen.

Ihr Herz setzte für einen Moment aus, bevor es normal weiterschlug. Das passierte ihr immer, wenn sie erschöpft war oder Angst hatte. Die ungute Mischung aus beidem benebelte ihr für einen Augenblick die Sinne, und sie konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Ihr Körper war immer noch nicht ganz in Ordnung. Trotz ihrer fünfzehn Jahre waren ihre Brüste kaum entwickelt, und ihre Regel hatte sie erst letztes Jahr bekommen. Der Arzt hatte sie gewarnt: Eine Entwicklungsverzögerung als biologische Folgeerscheinung von Mangelernährung sei völlig normal. Du bist jung und wirst dich wieder erholen, hatte er gesagt, aber der Körper muss durch die Hölle. Der Satz hallte jetzt einen Augenblick in ihr wider, durchdrang den Wirrwarr ihrer Gedanken. Der Körper muss durch die Hölle. Das war sogar auf makabre Weise komisch. Als ihre Verwandten sie nach der Untersuchung forschend angesehen und gefragt hatten, was der Doktor meinte, hatte sie die Worte unwillkürlich wiederholt: Der Körper muss durch die Hölle. Weil sie ihren irritierten Blicken etwas Tröstendes entgegensetzen wollte, hatte sie gesagt: Wenigstens habe ich noch alle meine Zähne. Da hatten sie weggeschaut, diese Amerikaner, die nicht verstanden, was für eine Errungenschaft es war, noch alle Zähne zu haben. Danach hatte sie nichts mehr gesagt.

Jetzt näherte sie sich dem Haupteingang von Idlewild Hall. Ihre Erinnerung funktionierte auf eigenartige Weise: Die Namen ihrer Klassenkameradinnen, mit denen sie zusammenlebte, hatte sie zur Hälfte vergessen, aber an das Titelbild des alten Exemplars von Blackie’s Girls’ Annual, das sie auf einem Regal in ihrem Schlafsaal gefunden hatte, erinnerte sie sich genau: ein Mädchen in einem schmal geschnittenen Kleid der zwanziger Jahre mit windzerzausten Haaren vor einem Hügel. Mit einer Hand beschirmte es die Augen, während es an der anderen einen Hund an der Leine führte. Sie hatte dieses Bild schon so oft betrachtet, dass sie inzwischen davon träumte, und selbst jetzt konnte sie sich an jede Einzelheit erinnern. Zum Teil war es die Unschuld, die sie an dem Bild faszinierte, die adrette Weiblichkeit des Mädchens, das einen Hund spazieren führen konnte, ohne an Ärzte oder Zähne oder alte Wunden oder all die anderen Dinge zu denken, die sie selbst in ihrem Gedächtnis vergraben hatte. Dinge, die manchmal kurz an der Oberfläche auftauchten, bevor sie wieder in der Dunkelheit verschwanden.

Sie hörte kein Geräusch hinter sich, aber trotzdem wusste sie es. Hinter dem Rauschen des Windes und dem Schlurfen ihrer Schritte lag ein Murmeln, ein Flüstern, und als sie diesmal – gegen den Protest ihrer Nackenwirbel – den Kopf wandte, sah sie die Gestalt. Sie erreichte die Bergkuppe, über die sie selbst gerade gegangen war, und kam nun zu ihr herunter.

Nein. Ich war die Einzige, die aus dem Bus gestiegen ist. Da war sonst niemand.

Aber sie hatte es gewusst, oder? Genau deshalb lief sie ja schon die ganze Zeit so schnell, obwohl ihre Füße vor Kälte beinahe taub waren. Jetzt fing sie an zu rennen, und der Koffer, der heftig gegen ihr Bein schlug, rutschte ihr beinahe aus der Hand. Sie starrte angestrengt in die Dunkelheit und versuchte, etwas zu erkennen und sich zu orientieren. Wie weit war sie? Konnte sie es schaffen?

Wieder warf sie einen Blick zurück. Durch den dichten Nebel konnte sie einen langen schwarzen Rock erkennen, schmale Schultern, eine schmale Taille, einen dünnen schwarzen Schleier, der über dem Gesicht der Gestalt im Wind flatterte. Unsichtbare Füße, die sich unter dem Rock bewegten. Diese Einzelheiten konnte sie jetzt ausmachen, weil die Gestalt näher gekommen war – obwohl sie nur langsam zu gehen schien, war sie jedes Mal, wenn das Mädchen zurückschaute, irgendwie ein Stück näher gerückt. Das Gesicht hinter dem Schleier war nicht zu sehen, aber das Mädchen wusste, dass ihr Blick auf sie gerichtet war, dass die Gestalt sie anstarrte.

Voller Panik änderte sie abrupt die Richtung, verließ die Straße und rannte in den Wald. Es gab keinen Pfad, und sie bahnte sich mühsam einen Weg durch das Gestrüpp, spürte die Spitzen trockener Zweige schmerzhaft an ihren Beinen. Schon nach wenigen Sekunden war die Straße hinter ihr nicht mehr zu sehen, und sie konnte die Richtung nur erahnen und hoffen, dass sie direkt auf den Sportplatz zusteuerte. Das unwegsame Gelände zwang sie, langsamer zu gehen, und Schweiß sammelte sich zwischen ihren Schulterblättern, durchnässte die billige Baumwollbluse, die an ihrer Haut klebte. Der Koffer war sperrig und schwer, und bald ließ sie ihn stehen, damit sie im Wald schneller vorankam. Außer ihren keuchenden Atemzügen hörte sie nichts.

Sie knickte um und spürte einen stechenden Schmerz im Bein, aber sie rannte weiter. Ihr Haar hatte sich aus den Spangen gelöst, und Zweige zerkratzten ihr die Handflächen, als sie versuchte, sie wegzuschieben, aber sie rannte weiter. Vor ihr war der alte Zaun, der Idlewild umgab, verrottet und schadhaft, so dass es leicht war hindurchzukommen. Sie vernahm kein Geräusch hinter sich. Und dann hörte sie doch etwas.

Mary Hand, Mary Hand, tot in ihrem dunklen Grab …

Schneller, schneller. Sonst hat sie dich.

Sagt, sie will deine Freundin sein …

Der Wald vor ihr lichtete sich, und das milde Licht eines Halbmonds beschien die freie Fläche des Sportplatzes.

Lass sie niemals wieder rein!

Ihre Lunge brannte, und ein Schluchzen brach aus ihrer Kehle. Sie war nicht bereit. Nein. Trotz allem, was geschehen war – oder vielleicht gerade deshalb. Das Blut pulsierte noch in ihren Adern; ihr geschundener Körper rannte noch um sein Leben. Und in einem Augenblick reiner, dunkler Klarheit verstand sie, dass alles umsonst gewesen war.

Sie hatte immer gewusst, dass die Monster real waren.

Und jetzt waren sie hier.

Das Mädchen blickte in die Dunkelheit und schrie.

Kapitel 1

Barrons, Vermont

November 2014

Das Klingeln ihres Handys riss Fiona aus dem Schlaf. Sie fuhr hoch und umklammerte das Lenkrad ihres Autos, starrte durch die Windschutzscheibe in die Dunkelheit.

Blinzelnd versuchte sie, ihre Gedanken zu ordnen. Hatte sie etwa geschlafen? Sie hatte auf dem gekiesten Randstreifen der Old Barrons Road angehalten, daran erinnerte sie sich noch, um in Ruhe dasitzen und nachdenken zu können. Dabei musste sie eingenickt sein.

Das Mobiltelefon klingelte erneut. Sie hatte es auf den Beifahrersitz geworfen. Schnell warf sie einen Blick darauf. Das Display leuchtete in der Dunkelheit. Jamies Name und die Uhrzeit: drei Uhr morgens. Heute war der Tag, an dem Debbie vierzig geworden wäre, wenn sie noch leben würde.

Sie griff nach dem Telefon und nahm den Anruf an. »Jamie«, sagte sie.

Seine Stimme am anderen Ende der Leitung war nur ein leises Murmeln, verschlafen und vorwurfsvoll. »Ich bin aufgewacht, und du warst weg.«

»Ich konnte nicht schlafen.«

»Und deshalb bist du gegangen? Um Himmels willen, Fee, wo bist du?«

Sie öffnete die Wagentür und schwang die Beine hinaus in die kühle Luft. Er würde wütend sein, aber sie konnte es nicht ändern. »Ich bin an der Old Barrons Road. Unten am Hügel. Ich habe auf dem Seitenstreifen geparkt.«

Jamie schwieg einen Augenblick, und sie wusste, dass er überlegte, welches Datum heute war. Debs Geburtstag. »Fee.«

»Ich wollte gerade nach Hause fahren. Wirklich.« Sie stieg aus dem Auto, richtete sich auf und spürte, wie ihre steifen Beine protestierten. Die kalte Luft machte sie schlagartig hellwach, und der Wind fuhr ihr in die Haare. Sie ging zum Straßenrand und blickte nach links und rechts, während sie die freie Hand in die Tasche ihrer Windjacke steckte. In der Richtung, aus der sie gekommen war, sah sie ein Straßenschild – dreißig Meilen bis nach Burlington – und die verschwommenen Lichter der Nachttankstelle oben auf dem Hügel. Dahinter, und nicht mehr in Sichtweite, kreuzte sich die Straße mit der North Road, wo sich jede Menge Fastfood-Restaurants, noch mehr Tankstellen und ein paar Geschäfte befanden. In der anderen Richtung, hinter der Motorhaube ihres Wagens, war nur noch Dunkelheit – als würde die Barrons Road ins Nichts führen.

»Du musst nicht nach Hause fahren«, sagte Jamie gerade.

»Ich weiß«, antwortete Fiona. »Aber ich war unruhig, und ich wollte dich nicht wecken. Deshalb bin ich losgefahren, und dann habe ich angefangen nachzudenken.«

Er seufzte. Sie konnte ihn vor sich sehen, wie er in einem alten T-Shirt und Boxershorts dasaß, an die Kissen gelehnt, und sich die Augen rieb. Seine Schicht begann um halb sieben; sie hatte sich wirklich Mühe gegeben, ihn nicht zu wecken. »Über was nachzudenken?«

»Ich habe mich gefragt, wie viel Verkehr mitten in der Nacht auf der Old Barrons Road herrscht. Wie lange es dauern würde, bis jemand vorbeifährt und ein Auto bemerkt, das hier geparkt ist. Die Cops haben immer gesagt, es sei nicht möglich, dass Tim Christopher sein Auto so lange hier stehen gelassen hat, ohne dass es jemandem aufgefallen ist. Aber sie haben es auch nie überprüft, oder?«

Und da war sie wieder: diese hässliche Sache, die wie ein Dämon an die Oberfläche kam, sobald man darüber sprach. Das, was sie inzwischen so gut verdrängen konnte. In den letzten Tagen, während Debs Geburtstag näher gerückt war, hatte dieser Gedanke die ganze Zeit an ihr genagt. Sie hatte versucht, sich nicht aus der Ruhe bringen zu lassen, aber heute Nacht, schlaflos in ihrem Bett, war sie nicht mehr dagegen angekommen. »Das tut dir nicht gut«, sagte Jamie. »Das weißt du. Ich weiß, dass du viel an deine Schwester denkst. Ich weiß, dass du um sie trauerst. Aber einfach nach Idlewild zu fahren … das ist etwas vollkommen anderes, Fee.«

»Ich weiß«, sagte Fiona. »Ich weiß, dass wir das schon hinter uns haben. Ich weiß, was mein Therapeut immer gesagt hat. Ich weiß, dass es zwanzig Jahre her ist. Und ich habe wirklich versucht, mich nicht hineinzusteigern, das schwöre ich.« Sie versuchte, das Flehen in ihrer Stimme zu unterdrücken, aber vergeblich. »Hör mir einfach nur zu, ja?«

»Okay«, antwortete er. »Schieß los.«

Sie schluckte. »Ich bin hier angekommen und habe auf dem Seitenstreifen geparkt. Das war vor« – sie sah auf die Uhr – »dreißig Minuten. Dreißig Minuten, Jamie. Nicht ein einziges Auto ist vorbeigekommen. Kein einziges.« Nach ihrer Rechnung war sie sogar seit fünfundvierzig Minuten hier, aber eine Viertelstunde hatte sie geschlafen, also zählte die nicht. »Er könnte hier geparkt und es getan haben. Das Feld vor Idlewild Hall ist nur zehn Minuten entfernt, wenn man durch den Wald geht. Er hätte jede Menge Zeit gehabt.«

Am anderen Ende der Leitung hörte sie Jamies Atemzüge. Sie waren jetzt seit einem Jahr zusammen – eine Tatsache, die sie immer noch manchmal überraschte –, und er hütete sich, die üblichen leeren Phrasen zu dreschen. Das bringt doch nichts. Du kannst sie nicht zurückholen. Er sitzt im Gefängnis. Es ist zwanzig Jahre her. Das Leben muss weitergehen. Stattdessen sagte er: »1994 war die Old Barrons Road anders. Das Autokino auf der Ostseite hatte noch geöffnet. Da war in den Neunzigern zwar nicht viel los, aber die Jugendlichen haben dort immer Party gemacht, vor allem in der Zeit um Halloween.«

Fiona schluckte den Protest hinunter, der ihr auf der Zunge lag. Jamie hatte Recht. Sie drehte sich um und blickte in der Dunkelheit die Straße entlang, dorthin, wo das alte Autokino einmal gewesen war, jetzt ein verlassenes Gelände. Der schmierige Popcornstand war fort, und hinter den Bäumen war nur noch eine mit Unkraut überwucherte Lichtung. Sie erinnerte sich daran, wie sie und Debbie als Kinder ihre Eltern angebettelt hatten, zum Autokino zu fahren, in der kindlichen Überzeugung, dass das eine aufregende Erfahrung wäre, ein Wunder für die Sinne. Bald hatte sie gemerkt, dass es keinen Zweck hatte. Ihre intellektuellen Eltern würden eher einen Ausflug zum Mond unternehmen, als mit ihnen zum Autokino zu fahren, um Beverly Hills Cop II zu sehen. Deb, drei Jahre älter und klüger, hatte nur den Kopf geschüttelt und angesichts von Fionas Enttäuschung die Achseln gezuckt. Was hast du erwartet? »An einem Donnerstag im November waren sicher nicht viele Jugendliche im Autokino«, sagte sie.

»Aber es waren welche da«, sagte Jamie mit der einfachen Logik von jemandem, dessen Leben nicht aus den Fugen geraten war. »Keiner von ihnen konnte sich daran erinnern, Christophers Auto gesehen zu haben. Das hat man bei den Ermittlungen alles überprüft.«

Fiona verspürte einen Anflug von Erschöpfung, im Widerstreit mit einem plötzlichen Ansturm von Energie, die sie unruhig machte. Sie drehte sich um und ging zügig in die andere Richtung, weg von dem Hügel und den Lichtern der Tankstelle, an ihrem Auto vorbei auf die dunkle Seite der Old Barrons Road. »Natürlich glaubst du, dass sie bei den Ermittlungen alles überprüft haben«, sagte sie zu Jamie, und ihr Ton war schärfer als beabsichtigt. »Du bist schließlich Polizist. Du musst das glauben. In deiner Welt kommen bei so einer Tat die schlausten Köpfe von Vermont zusammen, um den Fall zu lösen und die bösen Jungs einzusperren.« Der Kies am Straßenrand knirschte unter ihren Stiefeln, und der Wind drang durch den Stoff ihrer Jeans. Ein eisiger Schauer durchlief sie, und sie zog den Kragen ihrer Windjacke etwas weiter hoch.

Jamie ging nicht darauf ein, was eins der Dinge war, die sie an ihm wahnsinnig machten. »Fiona, ich weiß, dass sie alles überprüft haben, weil ich die Akten durchgesehen habe. Mehr als einmal. Genau wie du, entgegen allen Regeln und Vorschriften in meinem Job. Es steht alles in der Mordakte. Schwarz auf weiß.«

»Sie war nicht deine Schwester«, sagte Fiona.

Er schwieg einen Augenblick, wie um diese Tatsache anzuerkennen. »Tim Christopher ist verurteilt worden«, sagte er schließlich. »Er wurde des Mordes an Debbie beschuldigt und dafür verurteilt. Er hat die letzten zwanzig Jahre in einem Hochsicherheitsgefängnis verbracht. Und du, Fee, bist immer noch da draußen auf der Old Barrons Road, um drei Uhr morgens.«

Je weiter sie ging, desto dunkler wurde es. Hier war es noch kälter, wie in einer merkwürdigen Wolke eisiger Luft, und sie zog den Kopf ein. Ihre Nasenspitze fühlte sich langsam taub an. »Ich muss wissen, wie er es getan hat«, sagte sie. Ihre Schwester, damals zwanzig Jahre alt, war 1994 erwürgt und mitten auf dem ehemaligen Sportplatz des verlassenen Grundstücks von Idlewild Hall zurückgelassen worden. Sie hatte mit angewinkelten Knien auf der Seite gelegen, die Augen geöffnet, T-Shirt und BH zerfetzt, Stoff und Gummiband mittendurch gerissen. Ihr Freund, Tim Christopher, saß für dieses Verbrechen seit zwanzig Jahren im Gefängnis. Er hatte damals behauptet, er sei unschuldig, und das tat er immer noch.

Fiona war siebzehn gewesen. Sie dachte nicht gern darüber nach, wie der Mord ihre Familie auseinandergerissen hatte, welchen Einfluss er auf ihr Leben gehabt hatte. Es war einfacher, hier am Straßenrand zu stehen und krampfhaft an der Frage festzuhalten, wie Christopher die Leiche ihrer Schwester dort hingebracht hatte. Eine Frage, die nie richtig beantwortet worden war, weil man weder auf dem Feld noch im Wald irgendwelche Fußspuren gefunden hatte und auch keine Reifenspuren am Straßenrand. Ein Zaun umgab das Grundstück von Idlewild Hall, aber der war jahrzehntealt und an vielen Stellen baufällig; Christopher konnte die Leiche ganz einfach durch eine der Lücken getragen haben. Vorausgesetzt, dass er auf diesem Weg gekommen war.

Jamie hatte Recht. Aber zum Teufel mit ihm und seiner Polizistenlogik, die mit ihrer journalistischen Denkweise ständig in Konflikt geriet. Das hier war ein Detail, an dem sie sich immer wieder aufrieb. Weshalb ihre Wunden noch immer nicht verheilt waren, während alle anderen die ihren längst verbunden hatten und davongehumpelt waren. Sie hätte sich auch eine Krücke schnappen können – Alkohol und Drogen waren die gebräuchlichsten –, um sich zusammen mit den anderen weiterzuschleppen. Aber … sie zitterte, während sie in den Wald starrte und dachte: Wie hat er sie nur durch den Wald getragen, ohne Fußspuren zu hinterlassen?

Sie hielt immer noch ihr Handy ans Ohr. Sie konnte Jamie hören, der am anderen Ende der Leitung wartete.

»Du machst mir Vorwürfe.«

»Nein, tue ich nicht«, protestierte er.

»Ich kann es an deinen Atemzügen hören.«

»Das kann nicht dein Ernst sein.«

»Ich …« Sie hörte ein Knirschen hinter sich und erstarrte.

»Fiona?«, fragte Jamie, als hätte er es durch das Telefon ebenfalls gehört.

»Schsch«, machte sie unwillkürlich. Sie blieb still stehen und legte den Kopf schief. Idlewild Hall, das ehemalige Mädcheninternat, war 1979 aufgegeben worden und stand seitdem leer. Die Tore waren schon lange vor Debs Tod geschlossen gewesen, das Grundstück verwildert. Hier, auf dieser Seite der Straße, vor den Toren der alten Schule, gab es keine Lichter. Nichts als den Wind in den Bäumen.

Steif drehte sie sich auf dem Absatz um. Da war ganz eindeutig ein Schritt auf dem Kies gewesen. Wenn jetzt irgendein fieser Typ aus dem Wald kam, hatte sie nichts, womit sie sich verteidigen könnte. Sie würde ins Telefon schreien und das Beste hoffen müssen.

Sie starrte in die stille Dunkelheit, sah die letzten Herbstblätter an den tintenschwarzen Bäumen schimmern.

»Was zur Hölle …«, bellte Jamie. Er fluchte nur, wenn er sehr erschrocken war.

»Schsch«, machte sie noch einmal. »Da ist niemand. Es ist nichts. Ich dachte, ich hätte etwas gehört, das ist alles.«

»Muss ich dir noch erklären, dass du nicht mitten in der Nacht auf einer dunklen, verlassenen Straße rumlaufen sollst?«, sagte Jamie.

»Hattest du jemals das Gefühl, dass die Old Barrons Road irgendwie gruselig ist?«, fragte sie. »Ich meine, warst du jemals hier draußen? Es ist irgendwie unheimlich. Als wäre hier irgendetwas …«

»Ich halte das nicht mehr lange aus«, sagte Jamie. »Geh zurück zum Auto und fahr heim, oder ich komme und hole dich.«

»Ich gehe ja schon.« Ihre Hände zitterten, auch die, mit der sie das Handy fest umklammert hielt, und sie spürte noch das Adrenalin durch ihren Körper strömen. Da war ein Schritt gewesen. Ein echter. Der Hügel war von hier aus nicht zu sehen, weil Bäume ihn verdeckten, und plötzlich sehnte sie sich nach den fluoreszierenden Lichtern der Tankstelle. Sie machte einen Schritt, dann bemerkte sie etwas. Sie blieb stehen, drehte sich wieder um und lief schnell auf die Tore von Idlewild Hall zu.

»Ich hoffe, das Geräusch, das ich höre, bedeutet, dass du zu deinem Auto gehst«, sagte Jamie finster.

»Da war ein Schild«, sagte Fiona. »Ich habe es gesehen. Es steht vor dem Tor. Das war früher nicht da.« Sie war nun nahe genug herangekommen, um die Schrift im Dunkeln erkennen zu können. BAUVORHABEN DER MACMILLAN CONSTRUCTION LTD. »Jamie, warum steht hier auf dem Schild, dass in Idlewild Hall gebaut wird?«

»Weil es so ist«, antwortete er. »Ab nächster Woche. Das Grundstück ist vor zwei Jahren verkauft worden, und der neue Eigentümer hat es jetzt übernommen. Nach allem, was ich gehört habe, soll es restauriert werden.«

»Restauriert?« Fiona kniff die Augen zusammen, während sie das Schild betrachtete und versuchte, diese Information zu verarbeiten. »Was soll daraus werden?«

»Eine neue Schule«, antwortete er. »Sie setzen alles instand und machen wieder ein Internat daraus.«

»Was machen die?«

»Ich wollte es dir nicht sagen, Fee. Ich weiß, was dieser Ort für dich bedeutet.«

Fiona wich einen Schritt zurück, ohne den Blick von dem Schild abzuwenden. Restauriert. Mädchen würden auf dem Feld spielen, wo Debs Leiche gelegen hatte. Sie würden neue Gebäude errichten, alte abreißen, einen Parkplatz hinzufügen, vielleicht die Straße verbreitern. Diese ganze Gegend, wie sie seit zwanzig Jahren war, das Landschaftsbild, das sie so gut kannte – die Kulisse von Debs Tod –, würde es nicht mehr geben.

»Verdammt«, sagte sie zu Jamie, während sie sich umdrehte und zurück zu ihrem Auto ging. »Ich ruf dich morgen an. Ich fahr jetzt nach Hause.«

Kapitel 2

Katie

Barrons, Vermont

Oktober 1950

Als Katie Winthrop Idlewild Hall zum ersten Mal gesehen hatte, hätte sie beinahe geweint. Sie hatte im Chevy ihres Vaters auf der Rückbank gesessen und zwischen den Schultern ihrer Eltern hindurchgeblickt – die ihres Dads in einer grauen Anzugjacke und die ihrer Mom in einer Seidenbluse –, und als die großen schwarzen Tore am Ende der Old Barrons Road aufgetaucht waren, hatten plötzlich Tränen in ihren Augen gebrannt.

Das Tor stand offen, was selten war, wie sie später erfuhr. Dad war schweigend hindurchgefahren und dann den langen, holprigen Zufahrtsweg entlang. Katie hatte auf das Gebäude gestarrt, das sich vor ihnen erhob: der Haupttrakt, drei Stockwerke hoch und endlos lang, mit spitz zulaufenden Fenstern, die aussahen wie Zahnreihen, durchbrochen nur durch die Säulen des Eingangsportals. Es war August, und die Luft war schwer und warm und kündigte Regen an. Als sie näher herankamen, sah es auf unheimliche Weise so aus, als führen sie in das Maul des Gebäudes hinein, und Katie hatte geschluckt und stumm und steif dagesessen, während das Haus vor ihnen größer und größer wurde.

Dad hielt an, und einen Augenblick hörte man nichts als das Ticken des abkühlenden Motors. In Idlewild Hall war alles dunkel, kein Zeichen von Leben war zu erkennen. Katie sah ihre Mutter an, aber die hatte das Gesicht abgewandt und starrte blicklos aus dem Beifahrerfenster, und obwohl Katie ihr so nah war, dass sie das Make-up sehen konnte, das sie sich mit einem Schwamm auf die Wangen getupft hatte, sagte sie nichts.

Es tut mir leid, wollte sie auf einmal sagen. Bitte zwingt mich nicht hierzubleiben. Ich kann es nicht. Es tut mir so leid …

»Ich hole dein Gepäck«, hatte Dad gesagt.

Das war nun zwei Jahre her. Katie hatte sich inzwischen an Idlewild Hall gewöhnt – die langen, schäbigen Flure, die nach Schimmel und Mädchenschweiß rochen, die Fenster, durch deren Ritzen im Winter eisige Luft drang, die modrigen, feuchten Schwaden über dem Hockeyfeld zu jeder Jahreszeit, die Uniformen der Mädchen, die seit Gründung der Schule im Jahr 1919 noch nie ausgewechselt worden waren.

Katie war der Typ Mädchen, auf den die anderen normalerweise hörten; dominant, dunkelhaarig, schön, unerschrocken und ein wenig aggressiv. Sie war nicht direkt beliebt, aber sie hatte auch nur zwei Mal ihre Fäuste einsetzen müssen, und da hatte sie spielend gewonnen. Die äußere Fassade war schon die halbe Miete, das wusste sie, und sie machte von ihrer Ausstrahlung gnadenlos Gebrauch. In einem Internat mit lauter abgeschobenen Mädchen zu überleben war nicht leicht, aber nachdem sie in diesem allerersten Moment ihre Tränen hinuntergeschluckt hatte, war Katie auch damit zurechtgekommen.

Sie sah ihre Eltern zweimal im Jahr, an Weihnachten und einmal im Sommer, und sie hatte nie zu ihnen gesagt, dass es ihr leidtue.

Im Wohntrakt Clayton Hall waren in jedem Schlafraum vier Mädchen untergebracht. Man konnte nie wissen, mit wem man es zu tun bekam. Eine von Katies ersten Zimmergenossinnen war ein Mädchen aus New Hampshire gewesen, das behauptete, von einer echten Hexe aus Salem abzustammen. Sie hatte strähniges Haar und die Angewohnheit, unablässig vor sich hin zu summen, wenn sie in ihrem Lateinbuch las, und dabei so eifrig an den Nägeln zu kauen, dass Katie sie hätte umbringen mögen. Nach der Salem-Hexe war ein langbeiniges, lockiges Mädchen gekommen. Katie erinnerte sich nicht mehr an ihren Namen, sondern nur noch daran, dass sie sich nachts meistens in ihrem Bett zusammengerollt und leise in die Kissen geschluchzt hatte, bis Charlotte Kankle, kräftig und meistens wütend, sich vor ihr aufbaute: Hör auf zu heulen, um Himmels willen, sonst sage ich den anderen, sie sollen dich festhalten, und verpasse dir eine blutige Nase. Niemand hatte ihr widersprochen. Danach war das Mädchen still gewesen, und ein paar Wochen später hatte es das Internat verlassen.

Charlotte Kankle war dann in einen anderen Schlafraum gewechselt – nachdem sie und Katie in einen Faustkampf geraten waren, einer von Katies Siegen. Die Zimmergenossinnen, die sie jetzt hier in 3C hatte, waren eigentlich gar nicht mal so übel, wie sie sich eingestehen musste. Idlewild Hall war ein Auffanginternat. Hier versteckten Eltern ihre Kinder, derer sie sich schämten und mit denen sie nicht zurechtkamen. In der hintersten Provinz von Vermont gelegen, hatte es nur hundertzwanzig Schülerinnen: uneheliche Töchter oder Töchter aus früheren Ehen, Töchter von Bediensteten, Einwanderinnen, Mädchen, die sich nicht benehmen konnten oder die schlecht lernten. Die meisten von ihnen stritten sich ständig und misstrauten einander. Dennoch hatte Katie seltsamerweise das Gefühl, dass diese Mädchen die Einzigen waren, die sie verstanden. Niemand sonst reagierte mit einem gelassenen Achselzucken, wenn sie erzählte, wie oft sie schon von zu Hause fortgelaufen war.

Eines Abends zur Schlafenszeit setzte sich Katie in ihrem Bett auf und wühlte unter ihrem Kopfkissen nach der Zigarettenschachtel, die sie dort versteckt hatte. Es war Oktober, und ein kalter Herbstregen prasselte gegen das einzige Fenster des Schlafraums. Sie klopfte an die Schlafkoje über ihr. »CeCe.«

»Was ist?« Natürlich war CeCe wach. Katie hatte es schon am Klang ihrer Atemzüge gemerkt.

»Ich will dir eine Spukgeschichte erzählen.«

»Wirklich?« Katie hörte, wie CeCe in ihrer Koje zur Seite rutschte. Dann streckte sie ihren Kopf über den Rand und blickte zu ihr herunter. »Von Mary Hand?«

»Oh nein«, kam eine Stimme aus der oberen Koje auf der anderen Seite des Zimmers. »Nicht schon wieder eine Geschichte von Mary Hand.«

»Schsch, Roberta«, sagte CeCe. »Du weckst Sonia noch auf.«

»Ich bin schon wach«, ertönte Sonias Stimme aus der Koje unter Robertas Bett. Immer wenn sie gerade geschlafen hatte, war ihr französischer Akzent stärker. »Ich kann nicht schlafen, wenn ihr die ganze Zeit redet.«

Katie schüttelte eine Zigarette aus der Schachtel. Alle vier Zimmergenossinnen waren fünfzehn Jahre alt. In Idlewild gruppierte man die Mädchen schon seit langer Zeit nach ihrem Alter, da die älteren dazu neigten, die jüngeren zu schikanieren, wenn sie mit ihnen zusammenwohnten. »Mary Hand ist in meinem Lateinbuch«, sagte sie. »Schaut.«

Sie zog das Buch – jahrzehntealt und staubig – unter ihrem Bett hervor, zusammen mit einer kleinen Taschenlampe. Taschenlampen waren auf Idlewild verboten, eine Regel, die ausnahmslos jedes Mädchen missachtete. Die Taschenlampe in der einen Hand, blätterte sie mit der anderen schnell durch die Seiten, bis sie zu der Stelle kam, die sie suchte. »Seht ihr?«, fragte sie.

CeCe war aus ihrer Koje geklettert. Von den vier Mädchen hatte sie die größten Brüste, und aus Verlegenheit darüber hatte sie sich ihre Decke um die Schultern gewickelt. »Oh«, sagte sie, als sie auf die Seite starrte, die von Katies Taschenlampe beleuchtet wurde. »Das steht auch in meinem Grammatikbuch. Oder jedenfalls so ähnlich.«

»Was ist es?« Neugierig geworden, kletterte nun auch Roberta aus ihrer Koje. Ihre schlanken Waden schauten unter ihrem zu klein gewordenen Nachthemd hervor, und ihr dunkelblondes Haar hing ihr in einem langen Zopf über den Rücken. Lautlos landete sie auf dem Fußboden und schaute CeCe über die Schulter. Katie hörte, wie sie leise nach Luft schnappte.

Am Seitenrand, auf dem schmalen Streifen weißen Papiers, stand eine mit Bleistift geschriebene Nachricht:

Habe Mary Hand durch das Fenster von 1G gesehen, Clayton Hall.

Sie ging über das Feld davon.

Mittwoch, 7. August, 1941. Jenny Baird

Während sie auf die Worte schaute, überkam Katie ein mulmiges Gefühl, ein kurzer Impuls der Angst, den sie vor den anderen verbergen wollte. Jeder wusste von Mary Hand, aber irgendwie wurde sie durch diese gekritzelten Buchstaben realer. »Das ist kein Witz, oder«, sagte sie – es war eine Feststellung, keine Frage.

»Nein, das ist kein Witz«, antwortete CeCe. »In meinem Grammatikbuch steht: Toilette, dritter Stock, Ende des Westflügels, da habe ich Mary gesehen. Das war 1939.«

»Es ist eine Botschaft.« Das war Sonia, die aufgestanden war und Roberta über die Schulter schaute. Sie zuckte die Achseln und trat wieder einen Schritt zurück. »Ich habe so etwas auch schon mal gesehen. Die haben hier noch nie die Schulbücher ausgetauscht, glaube ich.«

Katie blätterte durch die muffigen Seiten des Lateinbuchs. Auf der ersten Seite war 1919 als Erscheinungsdatum angegeben, das Gründungsjahr von Idlewild Hall. Sie versuchte sich vorzustellen, wie die Schule damals ausgesehen hatte: die Gebäude brandneu, die Uniformen, die Schulbücher. Heute, im Jahr 1950, war Idlewild wie eine Zeitreise in die Vergangenheit. Weder wusste man von Atombomben, noch kannte man die Fernsehshow Texaco Star Theatre. Auf irgendeine verdrehte Weise war es nur folgerichtig, dass die Idlewild-Mädchen in ihren Schulbüchern Wissen weiterreichten, neben den Zeittafeln der Amerikanischen Revolution oder einer Tabelle mit den chemischen Eigenschaften von Jod. Die Lehrerinnen warfen nie einen Blick in die Bücher, und die Bände wurden niemals weggeworfen. Wenn man ein zukünftiges Mädchen vor Mary Hand warnen wollte, waren die Bücher das beste Mittel.

Durch das Fenster von 1G, Clayton Hall. Katie entzündete ein Streichholz und steckte sich eine Zigarette an.

»Das solltest du lieber lassen«, sagte Roberta halbherzig. »Susan Brady wird es riechen, und dann bist du dran.«

»Susan Brady schläft«, antwortete Katie. Susan war für die Überwachung der Schlafräume im dritten Stock zuständig, und sie nahm ihren Job sehr ernst, weshalb niemand sie leiden konnte. Katie knipste die Taschenlampe aus, und die vier Mädchen saßen im Dunkeln. Roberta warf ein Kissen auf den Boden und lehnte sich mit dem Rücken an die schmale Kommode. Sonia ging leise zum Fenster und öffnete es einen Spalt, um den Rauch hinauszulassen.

»Also«, sagte CeCe zu Katie. »Hast du sie gesehen?«

Katie zuckte die Schultern. Jetzt wünschte sie, sie hätte das Thema nicht angesprochen; zwar kannte sie diese Mädchen, aber noch nicht gut genug, um ihnen zu vertrauen. Die ins Lateinbuch gekritzelten Nachrichten noch einmal anzusehen hatte sie verstört. Tatsächlich war sie sich nicht ganz sicher, was genau ihr passiert war, und sie wünschte, es wäre einfach damit erklärt, wenn sie sagte, sie habe im Badezimmer den Geist von Idlewild gesehen. Zu dem Zeitpunkt war ihr alles so real vorgekommen, aber es jetzt in Worte zu fassen schien ihr unmöglich. Sie schluckte und wechselte das Thema. »Glaubt ihr, sie war wirklich eine Schülerin hier?«, fragte sie die anderen Mädchen.

»Das habe ich gehört«, antwortete Roberta. »Mary Van Woorten aus dem Hockeyteam sagt, dass Mary Hand gestorben ist, weil sie in einer Winternacht aus der Schule ausgesperrt wurde und sich verlaufen hat.«

»Das muss Ewigkeiten her sein«, sagte Roberta. CeCe war in die Koje neben Katie gekrochen und hatte die Kissen an das Kopfteil geschoben. »Ich habe gehört, dass sie nachts ans Fenster klopft und hereinmöchte. Dass sie die Mädchen anbettelt, nach draußen zu kommen und ihr zu folgen – aber wenn du das machst, bist du tot.«

CeCe war schon am längsten ihre Zimmergenossin und auch die, über die Katie am meisten wusste, denn CeCe war wie ein offenes Buch. Sie war die uneheliche Tochter eines reichen Bankers und eines seiner Dienstmädchen. Die meiste Zeit ihres Lebens hatte sie in Internaten verbracht, aber erstaunlicherweise hegte CeCe keinerlei Feindseligkeit gegen ihren Vater, und sie stand ihrer Mutter nahe, die als Haushälterin für eine Familie in Boston arbeitete. Das alles hatte sie Katie gleich bei ihrer ersten Begegnung erzählt, während sie ihre Jacke mit dem Idlewild-Emblem an den Haken hängte und ihren Hockeyschläger wegräumte.

»Manchmal kann man sie auf dem Feld singen hören, wenn der Wind in den Bäumen rauscht. Ein Schlaflied oder so was Ähnliches.«

Davon hatte Katie noch nichts gehört. »Man kann sie hören?«

Roberta zuckte die Schultern. Sie war erst seit ein paar Monaten auf Idlewild, während die anderen Mädchen schon mindestens ein Jahr hier wohnten, Sonia sogar seit drei Jahren. Roberta war klug und die geborene Sportlerin, aber sie sprach nicht viel. Niemand wusste irgendetwas über ihr Leben zu Hause. Katie hatte keine Ahnung, warum sie hier war, aber der verschleierte Blick, den sie manchmal in Robertas Augen sah – diese Zurückgezogenheit, die Art, die Welt wie über eine Mauer hinweg zu betrachten, die für viele Idlewild-Mädchen typisch war –, sagte ihr, dass es einen guten Grund gab. »Ich habe sie noch nie gehört, und ich bin vier Mal in der Woche zum Training dort.« Roberta wandte sich an Sonia, wie so oft. »Sonia, was meinst du dazu?«

So einfach es war, CeCe zu verstehen, so schwer war es bei Sonia. Blass, dünn und still, wirkte sie selbst für ein Idlewild-Mädchen ungewöhnlich abwesend, wenn sie sich inmitten der Schülerinnen und ihren komplizierten sozialen Gefügen bewegte. Sie war eine Immigrantin aus Frankreich, aber in diesen Zeiten, da so viele der Mädchen den Vater oder einen Bruder im Krieg verloren hatten oder die Männer der Familie zerlumpt aus der Kriegsgefangenschaft heimgekehrt waren, fragte sie niemand danach. Sie war von allen Mädchen schon am längsten in Idlewild Hall.

Sonia wirkte völlig in sich zurückgezogen, als ob das, was in ihrem Kopf vorging, ihr genügte. Aus irgendeinem Grund war die starke, schnelle, anmutige Roberta ganz vernarrt in Sonia und wurde oft mit ihr zusammen gesehen. Die beiden gingen so unbefangen miteinander um, dass Katie sie beneidete. Mit Katie ging nie jemand unbefangen um. Sie war schon immer ein Mädchen gewesen, das Bewunderer hatte, nicht aber Freunde.

Sonia fing Katies Blick auf und zuckte die Schultern, und selbst in ihrem einfachen Nachthemd wirkte diese Geste unnahbar und kühl. »Mit Geistern kann ich nichts anfangen«, sagte sie mit ihrem hübschen melodischen Akzent, »aber wie alle anderen habe auch ich gehört, dass sie ein schwarzes Kleid und einen Schleier trägt, was mir als Kleidung draußen im Schnee eher ungeeignet vorkommt.« Ihrem Blick, der in dem dunklen Zimmer auf Katie ruhte, entging nichts. »Du hast etwas gesehen, nicht wahr?«

Katie schaute auf die Zigarette, die sie zwischen ihren Fingern vergessen hatte. »Ich habe sie gehört«, sagte sie. Sie drückte den Stummel auf der Rückseite einer Schulabschluss-Medaille aus, die irgendjemand hier zurückgelassen hatte.

»Gehört?«, fragte CeCe.

Katie holte tief Luft. Über Mary Hand zu sprechen kam ihr vor, wie ein Familiengeheimnis preiszugeben. Sich im Dunkeln Spukgeschichten zu erzählen war eine Sache, aber wenn man vor dem Sportunterricht seinen Spind öffnete und spürte, wie irgendetwas ihn wieder zustieß, war das etwas völlig anders. Immer waren es Kleinigkeiten, bei denen man sich nie ganz sicher war, ob man sie wirklich erlebt hatte – wie zum Beispiel das Gefühl, beobachtet zu werden, oder die plötzliche Kälte an einer Stelle auf dem Schulflur. Man kam sich dumm vor, wenn man darüber sprach. Aber dieses Mal war es anders, und Katie hatte das Bedürfnis, es laut auszusprechen. »Es war im Innenhof, auf dem Pfad, der am Speisesaal entlangführt.«

Die Mädchen nickten. Die Gebäude von Idlewild Hall waren U-förmig um einen Innenhof angeordnet, mit ein paar ungepflegten Bäumen und unkrautüberwucherten Steinpfaden. »Diesen Bereich finde ich unheimlich«, sagte CeCe. »Den mit dem Garten.«

Katie fand ihn auch unheimlich. Niemand mochte den Garten, auch wenn einmal pro Woche Gartenarbeit auf dem Stundenplan stand. Dann wühlten sie widerwillig in der feuchten, faulig riechenden Erde. Sogar die Lehrerinnen machten einen großen Bogen um den Garten. »Nach dem Abendessen habe ich heimlich eine Zigarette geraucht und den Pfad verlassen, damit Mrs Peabody mich nicht sehen konnte – ihr wisst ja, dass sie selber da draußen raucht, auch wenn sie das nicht darf. Ich stand unter dem alten Ahornbaum, und auf einmal habe ich etwas gespürt. Da war etwas.«

CeCe beugte sich gespannt vor. »Aber du hast nichts gesehen?«

»Da war eine Stimme«, sagte Katie. »Sie war … Ich habe mir das nicht nur eingebildet. Sie war direkt neben mir, als würde da jemand stehen. Ich habe sie ganz deutlich gehört.«

Sie erinnerte sich noch ganz genau an diesen Moment unter dem Ahornbaum, das alte Laub unter ihren Füßen, daran, wie ihre Zigarette zu Boden fiel und sich ihr die Nackenhaare aufstellten, als sie irgendwo rechts hinter sich eine Stimme vernahm. Idlewild war alt, und die Angst hier war eine alte Angst. Katie hatte geglaubt zu wissen, was Angst bedeutet, aber beim Klang dieser Stimme hatte sie eine Angst erlebt, die älter und größer war, als sie es sich je hätte vorstellen können.

»Und?«, hakte Roberta nach. »Was hat sie gesagt?«

Katie räusperte sich. »›Halt still‹«, sagte sie dann.

Alle schwiegen eine Weile.

»Oh mein Gott«, sagte CeCe leise.

Sonderbarerweise musste Katie jetzt Sonia ansehen. Sonia saß auf dem Boden, an die Wand unter dem Fenster gelehnt, die dünnen Beine angezogen. Sie saß ganz still im Dunkeln, und Katie hätte nicht sagen können, ob ihre Augen auf sie gerichtet waren oder nicht. Weit entfernt schlug eine Tür, und von der Decke her kam ein Geräusch wie von tröpfelndem Wasser.

»Warum?«, fragte Sonia mit ihrem weichen französischen Akzent. »Warum hat sie das zu dir gesagt?«

Katie zuckte heftig die Schultern, obwohl die Mädchen sie in der Dunkelheit nicht sehen konnten. »Keine Ahnung«, blaffte sie schärfer als beabsichtigt. »Es war nur eine Stimme, die ich gehört habe. Das ist alles, was ich weiß.«

Lüge, Lüge. Aber wie sollte so ein alter Geist Bescheid wissen?

Halt still. Sie konnte nicht darüber sprechen. Mit niemandem. Noch nicht.

»Was hast du getan?«, fragte Roberta.

Diese Frage war leichter zu beantworten. »Ich bin wie der Teufel losgerannt.«

Nur CeCe, an das Kopfteil ihres Bettes gelehnt, schüttelte kurz über Katies Ausdrucksweise den Kopf. Für ein uneheliches Kind hatte sie eine ziemlich prüde Erziehung genossen. »Ich wäre auch weggerannt«, gab sie zu. »Einmal habe ich einen kleinen Jungen gesehen. Bei den Ellesmeres.« Ellesmere hieß die Familie ihres reichen Vaters, auch wenn CeCe einen anderen Namen erhalten hatte. »Ich habe im Garten gespielt, während meine Mutter arbeiten musste. Als ich hochschaute, war da ein Junge an einem der oberen Fenster und hat mich angesehen. Ich habe gewinkt, aber er hat nicht zurückgewinkt. Als ich meine Mutter gefragt habe, warum der Junge nicht draußen spielen durfte, hat sie mich ganz merkwürdig angesehen. Sie hat gesagt, dass ich Dinge sehe … Und dass ich nie wieder irgendetwas über diesen Jungen sagen soll, vor allem nicht vor den Ellesmeres. Ich habe ihn nie wieder gesehen. Immer habe ich mich gefragt, wer das war.«

»Meine Großmutter hat mir immer von einem Geist auf dem Dachboden erzählt«, berichtete Roberta. »Er hat immer Möbel herumgeschoben und Krach gemacht. Sie sagte, es gebe Nächte, da liege sie im Bett und höre, wie Truhen und Kommoden über den Fußboden gerückt würden. Mum sagte immer, sie sei nur eine alte Dame, die Aufmerksamkeit bekommen will, aber in einem Sommer habe ich zwei Wochen bei meiner Großmutter verbracht, und da habe ich es auch gehört. Es war genau so, wie sie gesagt hatte – Möbelstücke, die über den Boden geschoben wurden, und das Geräusch der alten Stehlampe aus Messing, die hochgehoben und wieder abgestellt wurde, immer wieder. Am nächsten Morgen habe ich sie gefragt, ob das Großvaters Geist war, und da hat sie mich nur angesehen und gesagt: ›Nein, meine Liebe. Es ist etwas viel Schlimmeres.‹« Sie machte eine Pause. »Danach war ich nie wieder dort. Sie ist in jenem Jahr an Weihnachten gestorben, und meine Mutter hat das Haus verkauft.«

»Was ist mit dir, Sonia?«, fragte CeCe. »Hast du schon mal einen Geist gesehen?«

Sonia streckte ihre dünnen Beine aus und stand auf, dann machte sie das Fenster zu. Jetzt kam kein kalter Luftzug mehr herein, aber Katie fröstelte immer noch.

»Die Toten sind tot«, sagte sie. »Mit Geistern kann ich nichts anfangen.«

Katie betrachtete ihre Gestalt in der Dunkelheit. Es hatte abschätzig geklungen, aber Sonia hatte nicht gesagt, dass sie nicht an Geister glaubte. Sie hatte nicht gesagt, dass sie noch nie einen gesehen hatte. Sie hatte nicht gesagt, sie seien nicht real.

Sie wusste es, genauso wie alle anderen.

Der Regen prasselte wieder an das Fenster. Halt still, wiederholte die Stimme in Katies Kopf. Halt still. Sie schlang beide Arme um ihren Oberkörper und schloss die Augen.

Kapitel 3

Barrons, Vermont

November 2014

»Jonas«, sagte Fiona am nächsten Morgen, als sie die engen Büroräume von Lively Vermont betrat. »Wusstest du, dass Idlewild Hall restauriert wird?«

Der Hauptraum war leer, aber die Tür zu Jonas’ Büro stand halb offen, und sie wusste, dass er da war. Er war immer da. Sie schlängelte sich zwischen den zusammengewürfelten Schreibtischen und den Kartons hindurch, die überall herumstanden, und ging auf das einzige Einzelbüro der Redaktion zu, die Höhle des Besitzers und Chefredakteurs von Lively Vermont.

»Bist du das, Fiona Sheridan?«, hörte sie von drinnen seine Stimme. »Ich habe dich seit Tagen nicht mehr gesehen.«

Sie erreichte die Tür und blickte hinein. Er saß über seinen Schreibtisch gebeugt und starrte angestrengt auf einen Fotoausdruck. Der Computermonitor hinter ihm war schwarz und vergessen. Typisch Jonas. »Dann ist es ja ganz gut, dass ich nicht zu deinen Angestellten gehöre«, sagte sie.

Er blickte hoch. »Du bist eine freie Mitarbeiterin. Das zählt auch.«

Fiona musste lächeln. »Nicht, was die Krankenversicherung anbelangt.«

Er verzog keine Miene, aber sie wusste, dass er es nicht ernst meinte. Jonas Cooper war um die fünfzig, trug sein graubraunes Haar in ordentlichen, eindrucksvollen Wellen aus der Stirn gekämmt und hatte kräftige dunkle Brauen über durchdringenden Augen. Sein rot-schwarz kariertes Hemd trug er mit offenem Kragen über einem Feinrippunterhemd. Seine Frau und er hatten Lively Vermont vor über zehn Jahren gekauft, und seit ihrer Scheidung im letzten Jahr versuchte er, den Laden am Laufen zu halten. »Hast du eine Geschichte für mich?«, fragte er.

»Nein«, antwortete Fiona. »Ich habe dir am Freitag eine angeboten. Du hast gesagt, sie würde dein Budget sprengen.«

»Ja, für diese Ausgabe. Aber es gibt immer eine nächste.«

Noch, dachte sie. Lively Vermont war nur eine von vielen Lokalzeitschriften, für die sie schrieb, und alle hatten schwer zu kämpfen. »Was ist damit?«, fragte sie und zeigte auf das Foto.

»Eine hiesige Fotografin«, antwortete er. Er blickte wieder auf das Bild und zuckte die Schultern. »Sie lebt in East Charlotte. Ist gar nicht schlecht. Vielleicht mache ich ein Feature mit ihr, wenn ich einen Autor finde.«

»Nein. Nicht mit mir.«

»Warum nicht?« Jonas lehnte sich in seinem altmodischen Bürostuhl zurück und warf die Fotografie auf einen Stapel.

»Weil ich gerade erst eine Geschichte über handwerkliche Käseherstellung gemacht habe. Das reicht mir für diesen Monat.«

Ich weiß, dass du lügst, sagte Jonas’ Blick. Und das stimmte. Fiona kam gut mit solchen belanglosen Themen zurecht – sie hatte keinerlei Ambitionen, bedeutsamen Journalismus zu betreiben. Sie wollte keinen Artikel über eine Fotografin schreiben, weil Fotografen sie immer nach ihrem Vater fragten. »Denk darüber nach«, sagte er. »Wenn was draus wird, könnte ich noch irgendwo Geld dafür auftreiben. Also, was war das, was du mir zugerufen hast, als du reingekommen bist?«

Fiona spürte, wie sich ihr Herzschlag beschleunigte, als würde sie gleich ein verbotenes Thema ansprechen. »Idlewild Hall«, sagte sie. »Ich habe gehört, dass es bald restauriert wird.«

Jonas sah sie misstrauisch an, dann nickte er. »Der neue Besitzer.«

»Wer ist er?«

»Sie. Margaret Eden. Die Frau des verstorbenen Investment-Königs Joseph Eden. Sagt dir der Name was?«

Das tat er – der Mann hatte irgendetwas mit der Wirtschaftskrise von 2008 zu tun gehabt. Sie hatte sein Gesicht in den Nachrichten gesehen. »Also hat er das Anwesen gekauft?«

»Nein. Seine Witwe hat es nach seinem Tod gekauft. Ich glaube, sie ist aus New York gekommen, um die Bauarbeiten zu überwachen.«

Irgendwie traf es Fiona, dass Jonas davon wusste. »Das Grundstück gehörte jahrzehntelang den Christophers«, sagte sie. »Seit die Schule 1979 geschlossen wurde. Niemand hat mir erzählt, dass es verkauft wurde. Oder dass man die Schule restaurieren will.«

Jonas sah sie mitfühlend an. »Ich habe mit dem Ort nichts zu tun«, sagte er sanft. »Und bisher war die Instandsetzung nichts als Gerede. Ich hätte nicht gedacht, dass jemand wirklich damit Ernst machen würde.«

»Tja, nun wird es aber ernst damit. Ich habe letzte Nacht die Baustellenschilder am Zaun gesehen.«

Jonas schwieg. Er hatte 1994 noch nicht hier gelebt – war erst hierhergezogen, als er die Zeitschrift gekauft hatte –, aber er wusste von Debs Ermordung, von der Leiche, die auf dem Idlewild-Grundstück gelegen hatte, und davon, dass Tim Christopher für das Verbrechen ins Gefängnis gekommen war. Jeder wusste davon. In Barrons gab es keine Privatsphäre, nicht für die Familie des Opfers im bekanntesten Mordfall der Stadt. Selbst Jonas wusste, dass es leicht krankhaft war, wenn Fiona das Grundstück von Idlewild Hall besuchte.

»Sag es nicht«, warnte Fiona ihn. »Lass es einfach.«

Er hob die Hände. »Hey, das ist deine Sache. Ich bin nur der Herausgeber eine Zeitschrift.«

Sie starrte ihn eine Weile an und spürte wieder die nervöse Unruhe der letzten Nacht. »Also, willst du wirklich eine Geschichte von mir?«, fragte sie. »Ein Feature?«

»Warum habe ich das Gefühl, dass es mir leidtun wird, wenn ich jetzt ja sage?«

»Idlewild«, sagte sie. »Darüber werde ich schreiben. Ich werde Margaret Eden interviewen. Ich werde mir die Pläne für die Schule ansehen. Ich werde mir das Grundstück zeigen lassen, Fotos machen, all das.«

»Oh Gott«, sagte Jonas. »Ich weiß nicht, Fiona.«

»Das hat Lokalkolorit«, sagte sie und spürte, dass ihre Wangen glühten. »Eine neue Schule, neue Jobs für die Stadt, Aufschwung. Niemand sonst ist an dem Thema dran. Besser als jedes Feature über eine Fotografin. Ist es nicht genau das, was du für Lively Vermont willst?« Sie sah ihm direkt in die Augen. »Das ist schon okay für mich, Jonas. Ich schwöre dir, es ist okay.«

Zu ihrer Erleichterung sah sie, dass das Misstrauen aus seinem Gesicht verschwand und dem berechnenden Pragmatismus des Zeitschriftenverlegers Platz machte. Er und seine Exfrau, Emily, hatten die Zeitschrift Lively Vermont wegen ihres Rufs als unabhängige Ideenschmiede des amerikanischen Nordens gekauft, aber unter Emilys Führung war ein weichgespültes Lifestyle-Magazin daraus geworden, in dem man Webeanzeigen für Achtzig-Dollar-Kerzen oder handgefertigte Fünftausend-Dollar-Quilts fand. Jonas war damit immer unglücklich gewesen – er wollte mehr, weshalb er immer wieder Fiona beschäftigte, in der Hoffnung, sie würde die gleichen journalistischen Glanzstücke liefern wie ihr berühmter Vater. »Ich gebe zu, das klingt interessant. Aber ich habe nicht das Budget für eine so große Sache.«

»Ich schreibe es auf gut Glück«, sagte sie. »Die Fotos mache ich selbst. Du musst den Artikel noch nicht mal kaufen. Lass mich nur einfach sagen, dass ich für Lively Vermont arbeite, wenn ich Margaret Eden anrufe. Dann bekomme ich schneller einen Fuß in die Tür.«

»Verstehe. Und was kriege ich dafür, dass ich dir erlaube, den Namen meines Magazins zu benutzen?«

»Du bekommst das Vorkaufsrecht.« Sie ließ ihm Zeit zum Nachdenken, plötzlich ungeduldig. »Komm schon, Jonas. Du weißt, dass das ein gutes Geschäft ist.«

Er sah aus, als würde er sich überzeugen lassen, sagte aber: »Du hast noch ein anderes Anliegen, stimmt’s?«

»Stimmt«, sagte Fiona, die den Atem angehalten hatte. »Ich möchte mit dem geschichtlichen Hintergrund anfangen. Lässt du mich ins Archiv?«

Lively Vermont war 1969 noch am Kopierer vervielfältigt worden. Die alten Ausgaben wurden in einer Reihe zerkratzter hölzerner Aktenschränke aufbewahrt, die bei jedem Umzug der Redaktion mitgekommen waren. Jetzt standen sie an der hinteren Wand des Hauptraums, und irgendjemand hatte einen Teller mit den vergammelten Resten eines Donuts darauf stehen lassen, daneben eine Tasse mit kaltem Kaffee.

»Du könntest auch in die Bibliothek gehen«, schlug Jonas skeptisch vor, als Fiona die Schubladen mit den frühesten Jahrgängen aufzog. »Die haben mehr über Idlewild als wir.«

»In der Bibliothek weiß jeder, wer ich bin«, entgegnete Fiona. Die Akten verströmten einen muffigen Geruch, der sie für einen kurzen Moment glücklich machte. »Wenn sie erfahren, über was ich recherchiere, ist es kein Geheimnis mehr.«

Das stimmte. Malcolm Sheridan, der berühmte Journalist, war in Barrons eine Legende, und Fiona, seine verbliebene Tochter, hatte auffällig rote Haare. Die Mitarbeiter der Bibliothek von Barrons waren engagiert, aber ein extrem kleines Team, und aufgrund der vielen Recherchen, die Fiona im Lauf der Jahre dort gemacht hatte, wussten alle, wer sie war.

»Okay«, sagte Jonas. »Und warum genau ist das ein Geheimnis? Erzähl mir nicht, dass es bei dieser Geschichte viel Konkurrenz gibt.«

Sie wandte den Kopf und sah ihn über die Schulter hinweg an.

Er erwiderte ihren Blick. »Ich habe noch nie eine Journalistin getroffen, die Angst vor Bibliothekaren hatte.«

»Du hast noch nie eine Journalistin mit meiner Familiengeschichte getroffen«, gab Fiona in möglichst beiläufigem, gelassenem Ton zurück. »Ich hasse Tratsch. Ich finde andere Quellen, vor allem im Internet.«

Hinter ihr blieb es eine Weile still, während sie die Mappen von 1969 bis 1979 herausnahm. »Wenn du nach weiteren Quellen suchst, solltest du dich an deinen Vater wenden«, sagte er. »Das weißt du.«

»Ja, ich weiß.« Fiona schloss die Schublade mit einem Knall. »Ich muss ihn sowieso bald besuchen. Dann frage ich ihn danach.«

»Gut. Hauptsache, du bringst mir meine Akten unbeschadet zurück. Und, Fiona …« Jonas zuckte die Schultern. »Wie ich schon sagte, es ist deine Sache – aber es werden Verweise auf die Christophers darunter sein. Das ist unvermeidlich.«

Er hatte Recht. Bevor ihr Sohn wegen Mord ins Gefängnis gekommen war, waren die Christophers die reichste und bekannteste Familie in Barrons gewesen. Aller Wahrscheinlichkeit nach würde sie in der Mappe, die sie in der Hand hielt, etwas über Tims Eltern finden. Aber mit diesem Problem würde sie sich befassen, wenn es so weit war.

»Wie ich schon sagte«, erwiderte sie, »es ist okay für mich.«

Jonas sah aus, als wollte er noch etwas hinzufügen, aber alles, was er hervorbrachte, war: »Grüß deinen Vater von mir.«

»Mach ich.« Malcolm Sheridan war Jonas’ journalistisches Idol, und dieser Bewunderung verdankte Fiona die Aufträge, die sie von Lively Vermont erhielt. »Ich melde mich«, sagte sie und winkte ihm dankbar zu, während sie sich zur Tür wandte.

Es war ein windiger grauer Tag, an dem nur selten die Sonne hinter den Wolken zum Vorschein kam. Die Blätter an den Bäumen waren schon nicht mehr bunt, sondern braun und hingen nur noch vereinzelt in den Zweigen. Eine Handvoll Ahornblätter waren auf ihre Windschutzscheibe geweht worden, und Fiona fegte sie weg, bevor sie ins Auto stieg.

Während sie den Motor anließ, warf sie einen kurzen Blick in den Rückspiegel – rote Haare, braune Augen, blasse Haut und erste Anzeichen von Krähenfüßen, die auf ihr Alter von siebenunddreißig Jahren hinwiesen – und schaute schnell wieder weg. Wahrscheinlich sollte sie sich demnächst einmal Make-up besorgen. Und ihre Garderobe über Jeans, Stiefel und Parka hinaus erweitern, zumindest bis es richtig Winter wurde. Sie warf die Mappen auf den Beifahrersitz und fuhr los in Richtung Innenstadt.

Im Zentrum von Barrons gab es einige gut erhaltene historische Gebäude, die die wenigen Touristen anzogen, die in die Stadt kamen. Ringsherum lebte eine ärmliche Bevölkerung, die hoffte, dass ihre abgesackten Eingangsveranden und die Stapel von Feuerholz vor den Haustüren ebenjenen Touristen nicht auffielen. Fiona fuhr an der Schindelfassade der Bibliothek vorbei und passierte dann ein paar hundert Meter weiter ein handgemaltes Schild, das auf einen Kürbisverkauf hinwies, obwohl Halloween schon seit Wochen vorbei war. Bei dem großen Karree in der Innenstadt fuhr sie am alten Rathaus vorbei und weiter die New Street entlang bis zur Polizeiwache.

Sie hielt auf dem kleinen Parkplatz und nahm die Mappen vom Beifahrersitz. Das kompakte, quadratische Gebäude war irgendwann in den Siebzigern erbaut worden, als Barrons endlich eine Größe erreicht hatte, die eine eigene Polizeiwache rechtfertigte. Niemand war zu sehen, keine Bewegung zu erkennen. Zwei Picknicktische standen unter einer alten Eiche vor dem Gebäude, und Fiona setzte sich an einen davon, schwang ihre Beine über die Bank und zog ihr Handy hervor. Bist du da drin?

Er ließ sie fünf Minuten warten. Sie hatte gerade angefangen, die alten Dokumente durchzublättern, als er zurückschrieb: Ich komme raus.

Fiona steckte das Handy wieder ein und wandte sich erneut den Akten zu. Er ließ sich Zeit, weil er seinen Standpunkt klarmachen wollte – er war immer noch wütend wegen letzter Nacht –, aber schließlich öffnete sich die Eingangstür der Polizeistation. Jamie trat heraus und zog sich im Gehen einen Parka über die Uniform.

Fiona blickte auf und betrachtete ihn. Man konnte auch schwer wegschauen, musste sie zugeben. Jamie Creel von der Polizei in Barrons, Sohn und Enkel von ehemaligen Polizeichefs in Vermont, hatte dunkelblondes Haar, tiefblaue Augen und einen honigblonden Stoppelbart. Er war acht Jahre jünger als Fiona, und wie er so in seine Jacke schlüpfte, hatte etwas Geschmeidiges.

»Warst du beschäftigt?«, fragte Fiona, als er näher kam.

Er zuckte die Schultern. »Ich habe Berichte getippt.« Er hatte seine Dienstmütze nicht auf, und der Wind zerrte an seinen Haaren. Er blieb ein paar Schritte vor dem Picknicktisch stehen, breitbeinig, die Hände in den Hosentaschen, irgendwie verkrampft.

»Ich bin gekommen, weil ich mich entschuldigen wollte«, sagte sie.

Er hob die Augenbrauen. »Wofür?«

»Dafür, dass ich dich letzte Nacht so genervt habe. Weil ich weggefahren bin.«

Er runzelte die Stirn. »Es tut dir nicht wirklich leid«, stellte er fest.

»Immerhin entschuldige ich mich«, sagte sie und hielt seinem Blick stand. »Ich meine es ernst. Okay?«

Er antwortete nicht, wies aber auf die Aktenmappen, die sie auf ihren Knien festhielt, damit der Wind die Blätter nicht durcheinanderwehte. »Was ist das?«

»Akten von Lively Vermont. Ich suche nach der Geschichte von Idlewild Hall.«

Jamies Körperhaltung entspannte sich, und er rieb sich mit einer Hand über das Gesicht. »Das hat etwas mit letzter Nacht zu tun, oder? Fiona, was soll das?«

»Hey«, protestierte sie, »ich arbeite an einer Story.«

»Über Idlewild?«

»Über den Umbau, über die neue Schule.« Sie betrachtete sein Gesicht. »Das ist doch eine gute Idee.«

»Für irgendjemand anderen vielleicht. Aber für dich?«

»Mach dir keine Sorgen – ich bin schon groß. Ich komme damit klar.«

»Letzte Nacht bist du nicht damit klargekommen«, sagte er. »Du warst völlig fertig mit den Nerven.«

Natürlich war das eine merkwürdige Aktion gewesen, aber sie bereute nichts davon. Diese Fahrt zur Old Barrons Road hatte irgendetwas in ihr ausgelöst. Idlewild hatte immer irgendwo in ihrem Hinterkopf gelauert, ein dunkler Fleck auf ihrer mentalen Landkarte. Zwanzig Jahre lang hatte sie sich bemüht, nicht darüber zu sprechen, und das Thema jetzt auf den Tisch zu bringen war wie ein Aderlass: schmerzhaft und doch irgendwie notwendig. »Heute geht es mir besser«, sagte sie und klopfte auf die Bank neben sich. »Komm, setz dich.«

Er seufzte, ging aber auf den Tisch zu. Fiona betrachtete ihn mit dem unwirklichen Gefühl, das sie immer noch manchmal beschlich, wenn sie Jamie ansah. Vor einem Jahr hatte sie einmal eine schlechte Nacht gehabt – sich einsam gefühlt und in Selbstmitleid und ihrem Kummer um Debbie gesuhlt. Plötzlich hatte sie allein in einer Bar in der Stadt gesessen, um zu trinken. Jamie – gut aussehend, muskulös, ein Typ, der überlegen und zugleich ein wenig erschöpft wirkte, wie einer, der noch am College ein Sportlertyp gewesen, aber durch irgendein Erlebnis still und zurückhaltend geworden war – hatte sich den Hocker neben ihr herangezogen. Fiona hatte ihr Glas abgestellt und ihn angesehen, hatte auf irgendeine Bemerkung von ihm gewartet, aber Jamie hatte sich Zeit gelassen. Er hatte gedankenverloren an seinem Bier genippt, dann das Glas auf den Tresen gestellt. Hi, hatte er gesagt.

Das war wirklich alles, was er gesagt hatte, einfach nur hi – auch wenn es viel mehr bedeutete. Zwei Stunden später waren sie in seinem Bett gelandet, was sie überrascht, aber auch irgendwie zu ihrer Stimmung gepasst hatte. Sie hatte angenommen, es wäre ein One-Night-Stand, aber dann hatte er nach ihrer Telefonnummer gefragt. Als er sie anrief, hatte sie ihre Überraschung hinuntergeschluckt und ja gesagt. Und als er sie wieder anrief, hatte sie wieder ja gesagt.

Es ergab keinen Sinn. Cops und Journalisten waren nat