Die Sommer der Porters - Elizabeth Graver - E-Book

Die Sommer der Porters E-Book

Elizabeth Graver

4,4

Beschreibung

Seit Generationen sucht die wohlhabende Familie Porter Zuflucht in ihrem Sommerhaus auf der felsigen Halbinsel Ashaunt vor Massachusetts, wo die Tage endlos und unbeschwert sind. Als dort im Sommer 1942 ein Militär­stützpunkt entsteht, hat die Idylle ein jähes Ende. Ein Sohn zieht in den Krieg, eine Tochter wird ihrer Unschuld beraubt, ein Kindermädchen muss sich zwischen ihrer Liebe zu einem Soldaten und ihren Schützlingen entscheiden. Erst in den kommenden Jahrzehnten, in denen die Kinder und Enkelkinder der Porters erwachsen werden und die Ausläufer von neuen Kriegen und Krisen Ashaunt erreichen, wird sich erweisen, dass der Sommer der Soldaten trotz allem nur einer von vielen war. Mit großer Empathie und in brillanter Prosa erzählt Elizabeth Graver in ihrem Generationenroman von einer Familie und einem vom Meer umspülten Landstrich – und entwirft dabei ein berührendes und zugleich entwaffnend gelassenes Bild vom Leben.

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mare

Elizabeth Graver

DieSOMMERderPORTERS

Aus dem Amerikanischenvon Juliane Zaubitzer

Roman

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikationin der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografischeDaten sind im Internet unter http://dnb.ddb.de abrufbar.

Die Originalausgabe erschien 2013 unter dem TitelThe End of the Point bei HarperCollins, New York.

© 2016 by mareverlag, Hamburg

Covergestaltung Nadja Zobel / Petra Koßmann, mareverlag, Hamburg

Abbildung [M]: mare, Foto: © Isca Greenfield-Sanders

Typografie (Hardcover) Farnschläder & Mahlstedt, Hamburg

Datenkonvertierung eBook bookwire

ISBN eBook: 978-3-86648-326-2

ISBN Hardcover-Ausgabe: 978-3-86648-223-4

www.mare.de

für meine Töchter Chloe & Sylvie& in Gedenken an meinen VaterLawrence Stanley Graver, 1931–2010

Als ich anfing, euch Kindern zu erzählen, auf welch verschiedene Arten Pflanzen ihren Nachwuchs in die Welt schicken, ahnte ich nicht, dass ich so viel Zeit dafür benötigen würde, und so viele Seiten. Und nun wird mir klar, dass ich euch nicht einmal die Hälfte oder ein Viertel von dem erzählt habe, was es zu erzählen gibt.

Ihr habt gelernt, dass Samen von Tieren, die die leuchtenden Hüllen fressen, in die sie verpackt sind, und von Tieren, an deren Haar oder Kleid sie sich klammern, überallhin verstreut werden.

Ihr wisst, dass Samen manchmal von seidigen Segeln durch die Luft getragen werden, an denen sie befestigt sind, oder von ihren kleinen Flügeln.

Ihr habt erfahren, dass bestimmte Pflanzen ihren Nachwuchs gar unsanft aus ihrem gemütlichen Zuhause stoßen, ähnlich einer Vogelmutter, die ihre ängstlichen Kleinen vom Nestrand schubst.

Und im letzten Kapitel lest ihr, dass Samen gelegentlich vom Wasser an ferne Ufer gespült werden.

Mrs William Starr Dana,Pflanzen und ihre Kinder(1896)

FünfzehnÄXTE,fünfzehnHACKEN

An den stillsten, einsamsten Tagen kann man sich fast, aber nur fast, vorstellen, wie dieser Ort aussah, als seine ersten Bewohner hier lebten, die Fallen stellten und fischten: dieselben Wellen, dieselben felsigen Strände, aber kein Militärstützpunkt, keine Straße, die die Landzunge zweiteilt, oder Kampfflugzeuge vom Luftwaffenstützpunkt in Otis, Code Rot. Keine unbeheizten Sommerhäuser oder Villen mit Heizung, WLAN und Klimaanlage. Kein zwinkerndes Auge am Eisentor (kein Tor). Weder Grabsteine noch Inschriften. Später: Hier ruht John Cornell. Hier ruht Tabitha Brown. Hier eine steinerne Reuse am Fuße des Bachs. Dort eine Indianerhütte. Drinnen bringt eine Frau aufrecht ein Kind zur Welt. Tauchten sie das Baby in den Bach, wickelten es in eine frische rote Decke und zogen ihm, als es größer wurde, wollene Kniehosen an? Es kam das Jahr, da mussten sie einen neuen Ort finden, um ihren Sohn großzuziehen.

Übertragungsurkunde.

New Plymouth, 29. November 1652.

Hiermit sei allen kundgetan, dass ich, Wasamequin, und mein Sohn Wamsutta das Land drei Meilen ostwärts eines Flusses namens Cushnett bis zu einem gewissen Hafen namens Acoaksett, bis zu einem flachen Felsen am westlichen Ende jenes Hafens an Mr Wm. Bradford, Capt. John Standish, Thomas Southworth, John Winslow, John Cook und ihre Partner verkaufen, samt allen Flüssen, Bächen, Wiesen, Landengen und Inseln, die vor oder in selbigem liegen, und vom Meer so weit aufwärts, dass die Engländer nicht von der Jagd der Indianer auf ihr Vieh gestört werden. Und als Gegenleistung zahlen wir, die Obengenannten, besagten Wasamequin und Wamsutta wie folgt: Dreißig Yards Stoff, acht Elchfelle, fünfzehn Äxte, fünfzehn Hacken, fünfzehn Kniehosen, acht Decken, zwei Kessel, einen Mantel, 2 Pfund in Wampum, acht Paar Strümpfe, acht Paar Schuhe, einen Eisentopf und zehn Shilling in anderen Rohstoffen.

Ein Eisentopf für Maisbrei oder ein gefangenes, gehäutetes, zerkochtes Kaninchen. John Cook, Unterzeichner, wird der Erste sein, der die steinigen, vom Wind geformten Felder von Ashaunt bewirtschaftet, die Landzunge knapp zwei Meilen lang, eine halbe Meile breit, kaum ein Anhängsel, eher ein Stumpf, ein Hals ohne Kopf. Eine Peninsula, wie in paene (fast), wie in insula (Insel). Ashaunt: »rückwärts krabbelnder Hummer« in der Sprache der Wampanoag. Die Schuhe haben Messingschnallen, jeder Schuh passt an jeden Fuß. Die Decken sind aus Wolle, rot. Ein Morgen für einen Schuh, zwei Morgen für einen Shilling. Fünfzehn Äxte, fünfzehn Hacken. Einer nach dem anderen bückt sich, unterzeichnet. In Anwesenheit von JOHN WINSLOW Jonathan Shaw, JOHN COOK. Samuel Eddy WAMSUTTA. Sein ++-Zeichen.

Wer so weit in die Vergangenheit blickt, droht sich den Kopf zu zerbrechen, füllt ihn mit primitiven und kleinen Dingen. Und mit Nostalgie (und Ressentiment ihrer nahen Verwandten). Schuld daran ist dieser Ort – das alte Haus, das alte Sofa, die alte Sippe. Fahrräder ohne Gangschaltung. Verwittertes Treibholz. Einst stand ein Salzwerk an der Spitze der Landzunge. Dann eine Schwarzbrennerei. Tafelsalz wird hier hart. Bücher schimmeln. Tagebücher blättern auf. Privatbesitz: Bitte wenden. Manchmal findet man im aufgewühlten Boden der wenigen Felder, die noch bewirtschaftet werden, eine Pfeilspitze oder Porzellanscherben. Wie hübsch sie in dem antiken Setzkasten über dem mit weißer Wamsutta-Wäsche bezogenen Bett aussehen würden, links vom Nachttisch, auf dem die Uhr schon wieder stehen geblieben ist.

Auf der Landzunge kann man noch immer Knochen finden – Fuchsschädel, Kaninchenoberschenkel, Delfinwirbel und, am Ufer in den Spalten zwischen zwei verkeilten Steinen, den verlorenen Milchzahn eines Kindes, das kein Kind mehr ist. Von Mai bis Oktober schwimmen Schwimmer (meist Frauen) und tauchen Männer und springen Kinder vom obersten Kaigeländer. Eines Jahres (und dann auch im darauffolgenden und darauffolgenden) bringt eine warme Strömung vom Golf von Mexiko im August eine Flut von Quallen. Zwischen ihnen zu schwimmen ist, wie in einem lebendigen Körper zu schwimmen, einer sich teilenden Zelle.

Übertragungsurkunde. Von einem gewissen Hafen bis zu einem flachen Felsen.

Zwei Kessel, ein Eisentopf.

Schnäppchen, Diebstahl oder Geschenk.

Janes weltweiteKRIEGSSCHIFFEund-FLUGZEUGE

1942

 

I

Das Militär hatte die Straße befestigt. Es war das Erste, was Bea auffiel, als sie in jenem Sommer, in dem die meisten Familien wegblieben, mit den Porters zurückkehrte – dass die Schlammfurchen, die Grashubbel, das Rütteln und Schütteln verschwunden waren; stattdessen ein glattes graues Band. Mrs Porter beklagte sich darüber, die beiden älteren Mädchen auch. Jetzt werden die Leute rasen, die Armeelaster. Ein tiefer Riss durchs Land, sagte Helen theatralisch. Eine Wunde. Bea sah das anders. Bea, die mit Janie auf ihrem Schoß und einem von der langen Fahrt eingeschlafenen Bein ganz hinten saß, begrüßte die Veränderung. Wo sind die Soldaten?, fragten die älteren Mädchen und reckten angestrengt die Hälse. Wo sind die U-Boote, die feindlichen Flugzeuge? Wäre es nicht sicher, wären wir nicht hergekommen, sagte ihre Mutter, doch ihre Stimme klang vage. Dabei hielt sie die Hand aus dem Fenster und atmete gierig die Seeluft ein. Und selbst Bea, der es heimlich widerstrebte, jedes Jahr herzukommen – und ganz besonders in diesem –, inhalierte und spürte, wie die feuchte, salzige Luft in ihre Kehle strömte.

Noch andere Dinge hatten sich geändert; das sah man sofort, obwohl sich die großen Veränderungen, die ein Leben ins Schlingern bringen oder auf Kurs halten können, erst später zeigten. Wenn man auf die Landzunge fuhr, kam man an einem hohen hölzernen Wachturm vorbei, auf dem ehrenamtliche Zivilisten abwechselnd durch Ferngläser in den Himmel starrten. Ein Armeelaster parkte auf dem Feldweg neben dem Bootsanleger, und weiter unten – in Rufweite der Porters – versperrte ein hohes Holztor mit einem Drahtzaun zu beiden Seiten die Straße. Auf der einen Seite des Tores ein Soldat, rosiges Gesicht, Kindergesicht; auf der anderen Seite ein weiterer Soldat. Sitz ruhig, sagte Bea zu Janie, denn das Mädchen war aufgewacht und lehnte sich aus dem Autofenster. Wer ist das?, fragte Janie. Sie war acht; es war das Jahr 1942. Noch verstand sie nichts vom Krieg, wohl aber vom Leiden. Niemand, mit dem du reden solltest, sagte Beatrice.

Beim Haus angekommen, war es fast wie in jedem anderen Jahr. Stewart hob Mr Porter in seinen Rollstuhl, und drinnen tollten, tanzten, trabten die drei Mädchen herum, Janie hinter Helen und Dossy her, die Treppen rauf, die Treppen runter, kreischend wie angestochene Ferkel, während ihre Mutter mit den Dienstmädchen in die Küche ging. Die Koffer waren vorausgeschickt worden, ebenso die Dienstmädchen und Agnes und Blackie, Janies Hund, der jetzt kläffte und seine Schnauze in Handflächen schob. Bea ging nach oben auf ihr Zimmer, das sich neben Janies im ersten Stock befand. Dort, die weiße Noppenüberdecke, das Bett aus Ahornholz, das Aquarell von Mrs Porters Mutter, auf dem die Hagebutte weniger wie eine Blume als wie ein erschrocken aufgerissener Mund aussah. Dort, ihr Koffer. Sie öffnete ihn, hängte einige Kleider in den Eckschrank, stellte das Foto ihrer Mutter auf die Kommode, schob ihre Muschelvorräte unters Bett. Dann schloss sie ihr Fenster – die Vorhänge flatterten im Wind, der durchs Zimmer fegte –, ging kurz ins Bad, um sich zu erleichtern und Wasser ins Gesicht zu spritzen, spähte in Agnes’ Zimmer (nicht da) und ging wieder nach unten.

Nehmen Sie sich den Rest des Tages frei, um sich einzurichten, hatte Mrs Porter gesagt, doch Bea wollte Janie holen, ihr etwas zu essen geben, die Haare bürsten, den Autoschmutz vom Gesicht schrubben. Überall im Haus waren die Fenster zum Lüften geöffnet. Die Korbmöbel standen auf der Veranda, auf der Wäscheleine hing Bettwäsche. Im Wohnzimmer rollte sich Mr Porter wie immer selbst zu seinem Platz am Panoramafenster. Draußen war das Meer, vom Fenster auf eine Weise umrahmt, die es eher wie ein Gemälde aussehen ließ als wie das echte Meer. Bea begegnete im Vorbeigehen Mr Porters Blick, und er lächelte sie an. Sie mochte ihn, wenn er nicht zornig war. Er war aufmerksamer als andere Männer, und im Gegensatz zu seiner Frau, die ihr das Kind gleichwohl überließ, nahm er Bea ihre Zuneigung zu Janie nicht übel. Und wie Bea war er weit entfernt vom Ausgangspunkt seines Lebens – für sie Schottland, für ihn ein Körper mit gesunden Gliedmaßen.

»Die Mädchen sind glücklich«, gestand sie ihm, während ihr Lachen durch das Haus schallte, als hätten die drei sich geteilt und vervielfacht, wobei Janies Stimme die schrillsten Laute hervorbrachte.

Er nickte. Er war ein kräftiger Mann mit breitem Oberkörper, seine Beine dünn wie Streichhölzer. »Ohne Zeit«, sagte er.

Sie wusste nicht, ob er meinte, dass die Mädchen die Zeit vergessen hatten oder dass sie ihnen davonlief, und sie fragte nicht nach. Manchmal kam ihr, selbst nach all den Jahren, die Sprache hier immer noch fremd vor, als wäre es kein richtiges Englisch, obwohl die Familie selbst mit all ihren Spitznamen, Abkürzungen und Codes eine zweite Muttersprache für sie geworden war.

»Tee?«, fragte sie.

»Gern, Bea. Danke.«

»Die Mädchen müssen hungrig sein. Ich gehe sie holen.«

Auf Ashaunt waren sie immer außer Rand und Band. Bea musste gleich einen Zeitplan aufstellen, damit sie nicht vergaßen, wie man es in Grace Park hielt. Tee um drei, Abendessen um sechs. Janie hörte auf sie, meistens jedenfalls. Bei den anderen beiden hatte Bea mehr oder weniger aufgegeben, und sowieso war eigentlich Agnes für sie zuständig und nicht sie.

Draußen vor dem Haus plötzlich ein gewaltiges Rumpeln, ein fürchterliches, walzendes, knirschendes Geräusch, und das Gelächter der Kinder verstummte. Durch das Fenster sah Bea zwei Lastwagen vorbeifahren, hintendrauf und auf den Seitenplanken Soldaten. Einen Moment lang wallte etwas in ihr auf – Angst oder Patriotismus, Begeisterung oder Gewissensbisse. Ihr Bruder Callum, dessen rechtes Bein kürzer war als das linke, war Luftschutzwart in Glasgow. Zwei ihrer Cousins waren im Krieg. Dennoch war das alles bis zu diesem Moment weit weg erschienen, ja gewesen, ziemlich weit weg.

»Was zum Teufel …«, sagte Mr Porter, doch bis Bea seinen Rollstuhl umgedreht hatte, waren die Laster schon fort.

»Wäre es nicht sicher, wären wir nicht hergekommen«, doch es war nicht sicher, nicht sicher genug, oder warum sonst ließen die meisten anderen Familien ihre Häuser leer stehen? Ashaunt war nur ein Viertel so voll wie normalerweise, bis auf die Spitze, die überfüllt war von Männern, Ausrüstung und Waffen. Den Leuten missfalle der Lärm, behauptete Mrs P., aber die Porters – da war sich Bea einigermaßen sicher – kamen nicht her, weil sie meinten, dass es sicher sei, sondern weil sie Charlie nah sein wollten, der die Heeresfliegerschule in Texas besuchte; sobald seine Ausbildung abgeschlossen war, würde er in den Krieg geschickt werden. Er war in New Jersey aufgewachsen, außer zur Schulzeit und im Sommer, doch wenn man ihn fragte, woher er kam, antwortete er: Ashaunt. Charlies Beetlecat liegt noch in der Werft und muss abgeholt werden; nicht wegräumen – das ist Charlies Lieblingspuzzle, und sein Zimmer blieb ungenutzt und für ihn bereit, seine Angeln in einer Ecke, sein Yale-Wimpel und ein Foto von seiner Freundin Suky an der Wand. Er war ihr Erstgeborener und einziger Sohn, gut aussehend, charmant, wortgewandt und witzig, und er liebte diesen Ort wie keinen anderen. Bea mochte ihn nicht besonders – er stiftete die Mädchen zu Unfug an und schenkte ihr kaum Beachtung, außer um sie zu ärgern –, doch selbst sie stutzte, wenn sie in einem Schrank auf seine verwaisten Strandschuhe stieß; selbst sie sah in den Gesichtern der jüngsten Soldaten Charlies Gesicht.

Jeden Tag, wenn der Postbote kam, stand Mrs Porter am Briefkasten. Oft kam ein Brief und etwa einmal in der Woche ein Anruf. Wenn Mrs P. einen Brief erhielt, zog sie sich zum Lesen zurück, bevor sie ihn mit ihrem Mann und ihren Töchtern teilte. Eines Tages begegnete sie Bea und Janie auf der Treppe – die beiden liefen herunter, sie ging hoch. Ihre Hände waren leer; der Postbote war gerade da gewesen. Sie begegnete Beas Blick. »Seien Sie dankbar, dass Sie keine haben«, murmelte sie. Es war ein schrecklicher Moment, einer, den Bea ihr nie ganz verzieh, obwohl sie im Lauf der Jahre auf ihre Weise enge Freundinnen wurden.

Hüte deine Zunge, hätte Bea am liebsten erwidert. Das hatte ihre Großmutter immer gesagt. Aber sie schwieg. Janie schwieg. Darin waren sie sich ähnlich. Es war fast Mittagszeit, doch Bea nahm ein Stück Brot, zwei Äpfel und etwas Käse mit hinunter an den Strand und schimpfte nicht mit Janie, als diese den Saum ihres Kleides in die Gezeitentümpel hängen ließ. Der Himmel über ihnen war leer. In der Ferne lagen die grünen flachen Elisabeth-Inseln. Spiel Steinehüpfen mit mir, sagte Janie. Ihr Bruder konnte es, ihre Schwestern auch. Beas Bruder hatte es ebenfalls gekonnt. Soweit sie sich erinnerte, hatte sie selbst es nie probiert. Zusammen suchten sie und Janie flache Kiesel, knickten die Handgelenke ein, warfen die Steine und sahen sie übers Wasser segeln und sinken.

»Macht nichts«, sagte Bea.

»Macht es wohl.« Janie schleuderte einen Stein über ihre Schulter in die falsche Richtung, wo er zwischen anderen verschwand.

»Das lernst du noch«, sagte Bea.

»Du musst es mir beibringen.«

»Gewiss.«

Wenn nicht Bea, wer dann? Janies Schwestern ignorierten sie meistens. Hoben sie gelegentlich hoch, wirbelten oder kommandierten sie herum, rannten dann woandershin, wohin sie ihnen unter Beas Aufsicht nicht folgen durfte. Sie verschwanden auf irgendwelchen Pfaden. Sie gingen auf den Dachboden, wo es zu heiß zum Atmen war, kamen als Landstreicher verkleidet zurück und lachten zu laut, demonstrativ.

»Du kannst es nicht.« Und jetzt lag eine kalte Wut in Janies Blick. Jetzt lag darin ein weiß glühender Zorn, den sie ihre Eltern nie sehen ließ. »Du kannst es nicht. Du weißt nicht, wie es geht.«

Nie genug, nie genug, und warum sollte es das auch sein, Wasser statt Blut, Lohn statt Mutterleib. Und doch liebte Janie Bea, und zwar nicht zu knapp, und Bea wusste es – hatte es immer gewusst. Und doch war die Liebe, die Bea für dieses Kind empfand, die stärkste Liebe, die sie, außer für ihre Mutter, je empfunden hatte.

 

II

Die anderen beiden von der Leine gelassen, völlig frei: Das war es, wofür Helen lebte und warum sie, wenn in Grace Park mit Krokussen und Forsythien der Frühling Einzug hielt, diese Veränderungen nur als Signale für den Aufbruch nach Ashaunt registrierte. Sie war von Natur aus (wie oft hatte sie das gehört?) ein unausgeglichenes, rastloses Mädchen und daher ständigem Tadel ausgesetzt – von Agnes und Bea, von ihren Lehrern. Lass nicht überall deine Sachen und Schuhe und zerfledderten Bücher liegen; geh vor Mitternacht ins Bett; räum deinen Schreibtisch auf – du bist doch kein Kind mehr! Beende beende beende, was du begonnen hast! Das kannst du doch besser! (Ihre Noten zum Jahresende waren in manchen Fächern sehr gut, aber nicht in allen, und sie war nicht Klassenbeste.) Selbst ihre Mutter, die die Erziehung ihrer Kinder weitgehend den Kindermädchen überließ, war von der Energie ihrer Tochter überfordert: Bleib doch mal stehen (auch wenn sie redete oder las, Helen war immer in Bewegung. Wenn sie gezwungen war zu sitzen, zappelte sie herum; ihr rechtes Bein besaß einen eigenen kleinen Motor). Oder, schlimmer noch, ihre Mutter sagte fast verzweifelt: Könntest du bitte einfach mal still sein, Schätzchen. Dann brannten Tränen des Zorns in Helens Augen.

Von den Erwachsenen schien nur ihr Vater, gefesselt an seinen Rollstuhl, nicht von ihr genervt zu sein, und nur er brachte sie dazu innezuhalten. Eine Pikanterie aus der Zeitung, die sie ihm vortrug, oder ein Shakespeare-Sonett, das sie auswendig gelernt hatte, schon funkelte ein Hoffnungsschimmer auf: Sag es, Daddy – Kluges Köpfchen oder auch nur Braves Mädchen – sein Blick ruhte, verweilte (und so verweilte auch sie) auf ihrem Gesicht. Oder nicht. Je mehr sein Körper ihn bekriegte, der Krieg ihn bekriegte, desto häufiger wurden seine düsteren Stimmungen. Wenn von ihm keine Reaktion kam, sickerte Düsterkeit auch in sie, doch sie musste ja nicht bleiben; sie konnte ihn dort zurücklassen, in seiner Ecke. Sie war jung, sie hatte Beine, sie konnte laufen.

Auf Ashaunt ging es zuallererst mit Doss ins Wasser, egal, wie kalt es war. In den meisten Jahren hatten sie sich am Anleger nackt ausgezogen, aber dieses Jahr Soldaten, deshalb schwammen sie in Unterwäsche, flitzten dann zum Haus, zur Badewanne mit dem vertrauten Rostrand, das Wasser erst kalt, dann lauwarm, schälten sich beide aus ihrer Wäsche, kletterten hinein (wann war ihre Schwester so hübsch geworden, mit ihren Ringellocken und den kleinen Sorbethügelbrüsten?). Als das Wasser endlich die richtige Temperatur hatte, rangelten sie um Platz, und dann schon wieder raus, in Karottenhosen und Sommeroberteilen. »Teal Rock«, sagte Helen, und weiter ging es, vorbei an Janie, die ihnen nachrief, zu ihren Fahrrädern in der Garage, die Straße hinunter zum Pfad hinterm Anwesen der Stricklands, zum Felsen mit den vorspringenden Gesichtern, und dann – endlich – kletterten sie.

Oben angekommen, standen sie zunächst im Wind, dann wieder auf dem Pfad, wo zwischen Giftefeu Heidelbeerbüsche weiß-rosa blühten und die Luft fast still war. Erst dann blieben sie stehen, um zu verschnaufen.

»Hoffentlich stirbt er nicht«, sagte Dossy unvermittelt.

Helen bückte sich, um ein verblühtes Maiglöckchen zu pflücken und seinen schwachen Duft einzuatmen. »Er ist in Texas, Doss. Nicht irgendwo in einem Schützenloch. Meine Güte. Du bist genauso schlimm wie Mummy.«

»Hast du keine Angst?«

»Kein bisschen.«

Ihr Bruder – und auch ihr Vater – fanden, Angst sei nur etwas für Hasenfüße. Es handelte sich schließlich um einen gerechten und unvermeidlichen Krieg, und Charlie wünschte sich nichts mehr, als endlich sein eigenes Flugzeug fliegen zu können und mitzukämpfen. Sie würde kein Drama inszenieren, weil ihr Bruder in der Heeresfliegerschule war. Im Gegenteil, sie beneidete ihn. Zu lernen, ein Flugzeug zu fliegen, vielleicht sogar zu helfen, den Lauf der Geschichte zu ändern. Fliegen! Dennoch hatte sie seit dem Augenblick ihrer Ankunft überall seine Abwesenheit gespürt, mehr noch sogar als in Grace Park. Ihr fehlte seine gute Laune, das war’s – ihr fehlte, dass er ihnen sagte, sie sollten sich nicht so anstellen, nur weil er nicht da war. Ihr fehlte, wie glücklich er andere Menschen machte; er war unbeschwerter als der Rest der Familie, leichtfüßiger. Er war großspurig, eigensinnig und interessierte sich nur sporadisch für die Schule; und doch war er der Goldjunge, und nicht einmal sie konnte es ihm übel nehmen. Als sie sechs war und er zehn, war er mit ihr heimlich nach Pekinese Island gesegelt, nur sie beide. Er war es, der ihr den Spitznamen Hellion verpasst hatte. Jetzt war er über beide Ohren verliebt, in Suky, ihre beste Freundin, sodass Helen gleichzeitig Bindeglied und fünftes Rad am Wagen war. Seine Briefe waren gespickt mit Witzen, Patriotismus und launigen Klagen über das Essen. Alle wollten, dass er seine Ausbildung abschloss, und wollten es doch nicht.

Vor ihnen lag das Meer, aufgewühlt vom Wind; in der Ferne kreuzte ein Langustenboot. Man konnte hinaussehen, ohne auch nur zu ahnen, dass Krieg war.

Sie drehte sich zu Dossy um. »Komm, wir gehen zu den Soldaten am Tor.«

»Ehrlich? Einfach so?«

»Klar. Die sind bestimmt einsam und langweilen sich hier draußen, so ganz allein. Es ist unsere Pflicht, sie aufzuheitern.«

»Was sollen wir sagen?«

»Guten Tag, brave Soldaten.« Helen machte einen Knicks. »Willkommen auf Ashaunt.«

»Aber sie sind doch schon hier. Wir sind gerade erst angekommen.«

»Na und? Es gehört uns.« Sie runzelte die Stirn. »Glaubst du, es ist wenigstens ein hübscher oder kluger Bursche dabei?«

»Du darfst dich nicht verlieben und mich verlassen.«

»Das würde ich nie tun. Das sind doch bloß gewöhnliche Jungs von irgendwo her. Fußvolk, nicht wie Charlie. Du bist es, um die man sich Sorgen machen sollte.«

»Ich? Ich bin vierzehn!« Wenn Dossy lachte, mit Grübchen und wehenden Locken, sah sie aus wie eine Mischung aus Shirley Temple und Rita Hayworth.

»Du bist einfach zu hübsch«, erklärte Helen. »Und du würdest mit dem Erstbesten durchbrennen.«

Sie kletterten den Felsen hinunter und liefen den mit Seetang bedeckten Strand entlang, wo jeder Schritt Schwärme von Sandflöhen aufschreckte.

»Wir könnten Janie mitnehmen, um das Eis zu brechen«, sagte Helen. »Alle lieben kleine Mädchen.«

»Janie? Nur über Beas Leiche.«

»Dann eben auch Bea. Soldaten lieben Leichen.«

»Hör auf«, sagte Dossy. »Du machst mir Angst, wenn du so redest.«

Helen lief voraus. Am Anfang des Weges blieb sie stehen, um zu warten, doch sobald Dossy sah, dass sie anhielt, blieb auch sie stehen und wartete, bis Helen weiterging, und so passte sie sich ihrem Schritt an – los, stopp, los, stopp –, und der Abstand zwischen ihnen blieb stur derselbe. Sie erreichten die Straße, wo sie (ihre Räder vergaßen sie) so weitermachten, und sie hätten wohl den ganzen Heimweg so zurückgelegt, wäre ihnen nicht von der Spitze der Landzunge ein Armeelaster entgegengekommen. Dossy fing an zu traben, und Helen blieb stehen, sodass sie eingehakt nebeneinanderstanden und lächelnd winkten, als der Laster vorbeifuhr.

 

III

Die erste Woche des Sommers war schon um, als Bea mit Agnes vom Schwimmen zurückkehrte und Smitty zum ersten Mal begegnete.

»Guten Tag, die jungen Damen.« Er nahm die Mütze ab.

Sie lachten. Beatrice war sechsunddreißig, Agnes vierunddreißig.

»Guten Tag, junger Soldat«, sagte Agnes, die Keckere, Hübschere. Als Mädchen hatte sie Medaillen fürs Tanzen gewonnen, den Schwertertanz, den Highland Fling.

Der Soldat war groß und breit gebaut – das Gesicht von der Sonne verbrannt – und dem Aussehen nach selbst kein Junge mehr. »Ich werd verrückt«, sagte er. »Nicht hier aus der Gegend?«

»Aus Schottland«, sagte Agnes. »Und Sie?«

»Ich? Mich hat’s aus Saint Louis, Missouri, auf diesen Felsbrocken verschlagen.« Er wandte sich an Bea. »Und Sie, Miss?«

Bea trug einen Bademantel über dem Badeanzug. Ihre weißen Gummibadeschuhe klebten an der gepflasterten Straße. Ihr Haar – es war schon immer ihr größtes Plus gewesen, voll und braun – war feucht; die Badekappe hielt das Wasser nie ganz ab. Ansonsten war sie rosa und salzig, eine glänzende Scheibe Fisch. Von hinten kamen die Dienstmädchen näher; sie schwammen immer um dieselbe Zeit am Anleger, und die, die nicht schwimmen konnten, sahen zu. »Ich? Auch aus Schottland.«

»Ist besser, hier zu sein, im Augenblick«, sagte er. »Sie passen auf das kleine blonde Mädchen auf, nicht? Und die größeren? Die kommen manchmal ans Tor.«

Sie nickte. Die Dienstmädchen, alle vier, hatten sie jetzt eingeholt, verlangsamten ihre Schritte. Ihre Pause war fast vorbei.

»Süßes Ding, die Kleine – erinnert mich an meine Nichte«, sagte er. »Kommt doch mal mit ihr vorbei, wenn ich Wache habe. Ich zeige euch unseren Laden, wenn ich Schluss habe. Sie kann sich einen Schokoriegel aussuchen. Ihr Mädels auch.«

Bea schüttelte den Kopf. »Ich dachte … auf dem Schild steht …«

»Ihr seid Nachbarn, dafür krieg ich in null Komma nichts die Freigabe. Schließlich müssen wir zusammenhalten, oder?«

Dann sah er sie an. Später würde sie sich fragen, warum seine Wahl bei all den Mädchen ausgerechnet auf sie fiel. Sie hätte Nein sagen sollen, die Eltern des Kindes würden es nie erlauben. Sie hätte auf ihrer Seite des Zauns bleiben sollen. Stattdessen zuckte ihr Mund und verzog sich zu einem angedeuteten Lächeln.

»Sergeant Raymond Smith.« Er tippte sich an die Mütze. »Smitty. Und du?«

Ihre Stimme klang dünn. »Beatrice. Bea.«

»Sie ist Schwester Beatrice Emily Grubb«, sagte Agnes, und die anderen schüttelten sich vor Lachen.

»Eine Krankenschwester?«, fragte er.

Blutungen stillen, die Stümpfe von Soldaten säubern. Es war die wichtigste Arbeit, und in einem anderen Leben hätte sie es vielleicht gut gemacht, doch sie war dankbar, dass sie es nicht musste.

»Kinderschwester«, sagte sie. »Janie wartet auf mich. Ich muss weiter.«

»Janes weltweite Kriegsschiffe und -flugzeuge«, sagte Smitty.

Sie hatte keine Ahnung, was er meinte.

 

IV

Speed bonnie boat like a bird on the wing, onward the sailors cry, carry the lad that’s born to be king, over the sea to Skye. Ihre Großmutter hatte es ihrer Mutter vorgesungen, und ihre Mutter hatte es Bea vorgesungen (auch wenn keiner von ihnen je in Skye gewesen war), und Bea sang es Janie vor, wenn das Kind des Nachts zu ihr kam und in ihr Bett schlüpfte, ihr nur den Rücken zuwandte und nichts erwartete, außer einer Umarmung und einem Lied. Die Lieder stiegen wie von selbst aus Beas halb wachem Körper: Can you no hush your weeping-o, ah the wee birds are sleeping-o … Wenn Janie wieder eingeschlafen war, trug Bea sie zurück in ihr eigenes Zimmer – es wurde immer schwieriger, je größer das Mädchen wurde – und deckte sie zu. In Grace Park musste sie durch den Flur, um das Kind zurückzutragen, doch auf Ashaunt waren ihre Zimmer durch eine Tür verbunden, und jedes Zimmer besaß auch eine Tür zum Flur. Am nächsten Morgen verloren sie nie ein Wort über diese Besuche, so- dass sich Bea manchmal fragte, ob Janie sich überhaupt daran erinnerte.

Wenn Bea als Kind nachts aufwachte und sich fürchtete, war sie zu ihrer Mutter gegangen, war aus dem Bett gekrabbelt, vorbei am Ausziehbett ihres Bruders, in die Küche, wo ihre Eltern tief und fest schliefen. Dort beugte sie sich durch den Vorhang und stupste ihre Mutter an, die sich dann in die Mitte wälzte, um ihr Platz zu machen. Ihr Vater roch immer nach Schweiß und Güterbahnhof, ihre Mutter nach Seife und Colmans Stärke, und eines Nachts, als Bea in die Küche kam, lag er stöhnend auf ihr – sie sah es und sah dann schnell weg –, und am nächsten Tag erklärte ihre Mutter ihr, dass sie jetzt alt genug sei, nachts allein zu schlafen. Und das tat sie, in der nächsten Nacht und der übernächsten und dann für immer, bis sie erwachsen war und ihre Mutter krank wurde, und dann zog ihr Vater neben ihren Bruder und Bea schlief bei der Kranken im Küchenbett, das immer größer zu werden schien, je schmaler ihre Mutter wurde. Und dann Münzen auf ihren Augen und ruhe in Frieden und Trauer.

Nicht dass Janies Mutter sie nicht liebte. Oder? Nein, da war Liebe, aber eine ziemlich eigenartige Form. Gelegentlich ertappte Bea Mrs P. dabei, wie sie abrupt stehen blieb, um ihre jüngste Tochter anzustarren, die auf der Veranda saß und malte oder über den Rasen lief. Und sie las ihr vor, also Mrs P., aus Geschichten über Prinzessinnen und Indien und aus Büchern von Mr Porters eigener Mutter, die über Blumen und Farne schrieb. Dieses Vorlesen fand im Sommer statt, wenn Bea schwimmen war. Nach dem Mittagessen brachte Bea Janie ins Schlafzimmer ihrer Eltern, wo Mrs P. oft die Vorhänge halb zugezogen hatte und im Halbdunkel auf dem Sofa wartete.

»Hallo, Janie.« Mrs Porter klopfte auf den Platz neben sich.

»Hallo, Mami.«

»Was wollen wir heute lesen?«

»Such du aus.«

Viel Spaß beim Schwimmen, sagte Mrs P. dann oder Danke, Bea, oder manchmal gar nichts, sondern wandte sich stattdessen Janie und einem Buch zu. Unterhielten sie sich oder lasen sie nur, Mutter und Tochter, während dieser seltsamen, stillen Stunde, die sie für sich hatten? Bea wusste es nicht, doch sie konnte sehen, dass es für Janie die schönste Zeit des Tages war, das, worauf sie sich freute, auch wenn Janie (so rücksichtsvoll für ihr Alter, dafür hatte Bea gesorgt, und manche Kinder konnten so egoistisch oder grausam sein) nicht so dumm war, es ihrem Kindermädchen gegenüber auszusprechen.

Bea überließ sie dann sich selbst, in dem Schlafzimmer, das sie neben dem Wohnzimmer eingerichtet hatten, seit Mr P. die Treppe nicht mehr schaffte. Wenn sie ging, fühlte sie sich leicht und frei, aber auch wacklig und haltlos, ein Luftballon, der sich von seiner Schnur losgerissen hatte. Dann zu Agnes und den anderen, das Geplapper und Wasser, der kalte Kuss des Meeres. Sie schwamm gern, besonders am Anfang der Saison, der Schock an den Knöcheln, wenn man die Leiter am Anleger hinunterkletterte, wie man das Wasser, wenn man weiter hineinstieg, wieder als gewohnt empfand, denn es war natürlich dasselbe wie auf der anderen Seite. In Arbroath, wo sie den Zug zu ihren Cousinen genommen hatten, als sie klein war, das Meer war noch kälter gewesen, und trotzdem waren sie hineingegangen, lachend und kreischend (alle außer ihrem Vater, der am Ufer blieb), wenn die Kälte sie traf.

Von Bea lernte Janie, sich die Schuhe zuzuschnüren und ihr Haar zu flechten, Stricken und Häkeln und Singen. Sie lernte, sich Butter aufs Brot zu schmieren und dann Butter und Marmelade und Hoppe, hoppe, Reiter, wenn er fällt, dann schreit er und was es mit dem Sandmann auf sich hatte. Sie lernte, dass ein frisches Ei auf den Grund eines Wasserglases sinkt und ein nicht ganz frisches Ei schwebt und ein verfaultes Ei schwimmt. Sie lernte, dass man jeden Tag nach dem Frühstück nach oben gehen und sein Geschäft machen muss und dass bei träger Verdauung Magnesiummilch Abhilfe schafft, und wenn das nicht funktioniert, ein Einlauf.

Sie lernte, gerade zu stehen und schön zu gehen, als würde sie einen Korb auf dem Kopf tragen. Sie lernte Zuverlässigkeit und Manieren und sich zurückzuziehen, wenn ihr Vater tobte, und sich nicht – wenigstens nicht immer – von ihren Schwestern zu Unfug anstiften zu lassen.

Sie lernte auch lustige Dinge – Seilspringen und dabei singen: »Teddybär, Teddybär, dreh dich um, Teddybär, Teddybär, mach dich krumm«; mit ihrer Puppe Rose zu spielen – nicht die Puppe einfach in ihr Bettchen zu packen, sondern richtig zu spielen. Bea half Janie, Rose mit einer gefalteten Decke zu wickeln, und sie füllten eine Nuckelflasche mit Wasser, und mit sieben konnte Janie die Puppenkleider mit Heft- und Vorstich nähen, und sie veranstalteten Teegesellschaften, zu denen sie Teddys und Puppen einluden, mit denen Helen und Dossy nie gespielt hatten. Manchmal ertappte Bea sich dabei, wie sie eine geschlagene Stunde mit der Stimme eines Bären oder einer Puppe sprach. Als Kind hatte sie selten so gespielt, und jetzt bereitete es ihr heimlich Vergnügen: die mit Pfefferminztee gefüllten Teetassen, die brummigen amerikanischen oder englischen Stimmen, die aus ihrem Mund kamen, und (vor allem) die Freude, die Janie daran hatte, daran, mit ihr zu spielen.

Von ihrer Mutter lernte Janie – was? Die Geschichten aus jenen Büchern. Glaubte man, was das Kind Bea erzählte, handelten fast alle von Waisenkindern. Ein Waisenkind aus Indien, ein Waisenkind aus der Schweiz. Ein Mädchen schlief auf dem Heuboden; ein anderes hörte Schreie aus einem verschlossenen Zimmer. Die Geschichten schienen wenig geeignet für ein Kind, doch Janie sprach ganz nüchtern darüber und mit großem Interesse, und wer war Bea, darüber zu urteilen? Aus den Büchern ihrer Großmutter lernte Janie die Namen von Pflanzen und Blumen: Strand-Platterbsen und Braunellen, Tausendgüldenkraut, Herbst-Drehwurz. Janie zeigte Bea die Pflanzen und erklärte ihr, Äpfel seien Schmuckkästchen für die Samen darin und die Kletten an ihrem Kleid dazu da, Samen zu einem neuen Zuhause zu tragen, wie Landstreicher, die heimlich in einem Zug mitfuhren. So eine könntest du aus deinen Muscheln machen, schlug sie Bea vor, wenn sie eine Wildblume entdeckten, denn sie begriff nicht, dass es Bea bei ihren Muschelblumen nicht um Realismus ging und dass Kletten ganz einfach abgezupft gehörten.

Von ihrer Mutter lernte Janie Scharade spielen, Mord im Dunkeln und Dreibeinlauf, Einsiedlerdrosseln und Rötelgrundammern aufzuspüren (Mrs P. meinte, der Ruf der Rötelgrundammer sei »Trink deinen Tee!«, Bea meinte, es sei »Tu dir nicht weh!«) und den Rostscheitel-Waldsänger vom Weidengelbkehlchen zu unterscheiden und den Virginia-Uhu durch seinen Ruf vom Streifenkauz. Sie lernte, immer an ihre Freunde zu denken, denn Mrs P. hatte sehr viele Freunde, und wenn sie kamen (was nicht oft war in jenem Sommer), flatterte sie umher wie ein Spatz, der Körner aufpickt. Von ihrer Mutter lernte Janie, fröhlich zu sein – von Bea auch – und nie den Rollstuhl ihres Vaters zu erwähnen oder die Schwester, die gestorben war. Über dem Kaminsims, sowohl hier als auch in New Jersey, hingen Ölporträts von jener Schwester, ein gold-blaues Mädchen, das wenige Monate nach Helens Geburt im Schlaf gestorben war. Ihr Name (irgendwoher wusste Bea das) war Elinor gewesen, doch niemand sprach ihren Namen je aus. Sowohl von ihrer Mutter als auch von Bea lernte Janie, dass man sein Wort hielt. Von ihrer Mutter lernte sie, alte Spielsachen für arme Kinder in Newark auszusortieren und vor Weihnachten in den Laden zu gehen und für ein Kind, das Santa vielleicht vergaß, eine Puppe auszusuchen. Von Bea erfuhr sie von Schottland, wie schön es war. Zwanzig verschiedene Grüntöne, erzählte Bea Janie. Zwanzig Grüntöne und kleine Lämmchen.

Von wem lernte Janie mehr? Nun, man brauchte nur ihre Schwestern anzusehen, die schon eine Reihe Kindermädchen vor Agnes und immer mehr von ihren Eltern gehabt hatten als Janie. Es war nicht nur gutes Benehmen, das Helen und Dossy vermissen ließen. Es lag eine Wildheit in ihrem Verhalten, ein ungesundes Verlangen, gesehen zu werden. Sie rannten nackt über den Rasen, ohne dass es jemand auch nur bemerkte. Eines Nachts zelteten sie im Freien (da konnten sie nicht älter als sieben und neun gewesen sein) und hinterließen eine Nachricht – wir sind weggelaufen um draußen zu schlafen macht euch keine Sorgen ihr würdet uns sowieso nicht finden, HMP, DCP –, und ihre Mutter sagte: Ach, die kommen schon wieder, wenn ihnen kalt ist oder die Mücken sie zerstechen. Bea erinnerte sich noch genau; sie hatte Janie gehalten, ihr die Flasche gegeben, und sie hatte das Baby für ein Bäuerchen aufgerichtet und gedacht: Du nicht.

In den Anfangsjahren, während der langen Sommer auf Ashaunt, war sie mit Janie hauptsächlich spazieren gegangen. Sie hatte dem Mädchen ein Häubchen aufgesetzt, es in den Kinderwagen gelegt und die Straßen hinuntergeschoben, und sie grüßte jeden, der Hallo zu ihr sagte: die Cousins und Großcousins der Porters, den Stalljungen, der die Ponys führte, die dunkelhaarige französische Gouvernante, die eine Familie mitgebracht hatte, so hübsch, dass die Leute sich nach ihr umdrehten, die Angler aus dem Ort, den Farmer, der Salzbinsen auf seine Felder transportierte. Ein Kind brauchte täglich frische Luft, und als Janie laufen konnte, band Bea ihr ein Geschirr um, das sie in einem Laden in Orange gekauft hatte. Erst fanden die Leute es sonderbar (»Grundgütiger Gott, Sie haben meinen Affen an die Leine gelegt!«, sagte Mr P.), aber niemand untersagte es ihr, und ein Kind konnte vor ein Auto oder Pferd laufen, und außerdem liebte Janie das Utensil, streckte die erhobenen Händchen danach aus und krähte: »Gehen!« Manchmal trafen sie sich mit einem anderen Kindermädchen, oder Agnes begleitete sie mit den großen Mädchen auf ihren Fahrrädern, oder Charlie tauchte plötzlich auf, schnappte sich seine Schwester (Bea musste das Geschirr loslassen, das Kind freigeben) und warf sie in den Himmel. Ashaunt war schmal, aber fast zwei Meilen lang, und Bea und Janie gingen oft ganz bis zum Ende, Blackie auf den Fersen, und pflückten unterwegs Brombeeren. Wenn morgens die Sonne schien, trafen sie sich mit anderen Kindermädchen und Kindern in Garrisons – dem einzigen sandigen Abschnitt zwischen den Felsbrocken – und verbrachten dort die Stunde vor Mittagessen und Mittagsschlaf.

Dann wurde Janie vier, dann fünf und war jetzt (wie schnell das ging, auch wenn es sich gleichzeitig anfühlte, als sei es Ewigkeiten her, dass Bea in die Familie gekommen war) acht. Das Jahr über war sie fast den ganzen Tag in der Schule. Sie hatte eine beste Freundin, Geheimnisse, ein Tagebuch mit Schloss. Launen. Sie hatte Arithmetik-Hausaufgaben, deren Klärung Bea der Nachhilfelehrerin überließ. Manchmal begannen die langen Sommertage mit ihrem Kindermädchen sie zu langweilen, doch war sie zu jung – und dafür war Bea dankbar –, um mit ihren Schwestern mitzuhalten. »Wo sind die anderen alle?«, fragte sie in jenem Sommer ständig, denn es waren nur wenige Kinder da, nur die Andersons, Stricklands und Childs kamen für eine Weile, und alle nur mit Jungs.

Lass uns ein Kissen für Rose nähen, schlug Bea vor. Lass uns schwimmen gehen. Oder Spaziergänge und Backen, Dame, Basteln mit Muscheln; wie ein Verehrer machte sie ihr immer neue Angebote. Manchmal bedachte Janie sie mit einem finsteren Blick oder schüttelte den Kopf, doch manchmal setzte sie sich auch zu Bea und stickte ihre Reihen oder sprang mit ihrem Damestein über das Brett oder ging mit ihr an der Straße spazieren (hüpfend, rollernd, seilspringend, während Bea atemlos hinterhereilte). Ab und zu bat Janie Bea, mit ihr Rose und Teddy oder Rose, Annabel und Laura zu spielen, aber nie, wenn ihre Schwestern in der Nähe waren. Dennoch war es anders als in den anderen Jahren, als sie, na ja, verliebt gewesen waren, so hatte Bea es Agnes einmal beschrieben und dann sofort gewünscht, sie hätte es nicht getan, denn Agnes hatte sie so seltsam angesehen – eifersüchtig? Verächtlich? Agnes war, von ihnen beiden, die Professionellere, die Strengere; wenn man sie nicht kannte, mochte man sogar Angst vor ihr haben. Verliebt, aber auf ganz unschuldige, kameradschaftliche Art.

Neuerdings wirkten Janies blaue Augen dunkler, trauriger, fast verletzt, und wer wollte es dem Kind vorwerfen, bei allem, was vor sich ging, und dazu die innere Zerrissenheit des Erwachsenwerdens? Doch was konnte Bea tun? Und fiel es denn niemandem auf? Janie hätte genauso gut ein halb zahmer Igel sein können, so wenig sorgten sich ihre Eltern um ihr Wohlergehen oder Beas Rolle dabei. Stell eine Schüssel Milch raus; halt nach Füchsen Ausschau. Aber dann würde sie verwildern, würde aufsässig und kratzbürstig werden wie ihre Schwestern. Die Familie würde sie (wie es ihr Recht war; dennoch fühlte es sich an wie Diebstahl) für sich beanspruchen.

Als Bea in Janies Alter war, hatte sie jeden Nachmittag auf ihren Bruder aufgepasst, während ihre Mutter ihre Schicht beendete. Sie hatte das Schild ins Fenster gestellt, den Fußboden für den Kohlenmann mit Zeitungen ausgelegt, war mit Callum einkaufen gegangen und auf die Wiese, hatte alles gemacht außer Bügeln und Kochen, da ihre Mutter sie nicht an den Herd ließ. Bei ihren Großeltern auf dem Land hatte sie Wasser vom Brunnen geholt, die Eimer an einem Metallreifen befestigt, damit man sich nicht die Beine bespritzte. In der Stadt hatte sie in die eine Richtung Nachrichten an die Schwester ihrer Mutter überbracht, in die andere an ihren Vater auf dem Güterbahnhof. Sie ist gebaut wie ein Junge, hatte ihr Vater einmal vor Callum gesagt und hatte gleich beide gekränkt. Bea konnte schwimmen – ihre Mutter, die eine Schwester durch Ertrinken verloren hatte, hatte dafür gesorgt –, und auch Janie war eine gute Schwimmerin, obwohl sie nicht allein ins Wasser durfte (da blieben sowohl Bea als auch ihre Eltern hart). Mit acht gehorchte Janie noch, doch in jenem Sommer war sie irgendwie anders, unausgeglichener, wofür sich Bea später zum Teil selbst die Schuld gab – erst, weil sie kaum von ihrer Seite wich, dann, weil sie sich ablenken ließ.

Jahre später tranken Bea, Agnes und Mrs P. vor dem Mittagessen in Beas Zimmer Sherry – was ihnen zur lieben Gewohnheit geworden war –, und das Gespräch kam auf jenen Sommer, und Bea gestand, dass sie der Gedanke plagte, sie habe nicht gut genug auf Janie aufgepasst und die Dinge zu sehr schleifen lassen. Janie war inzwischen vierundzwanzig, mit Paul Strickland verheiratet, einem Jungen, den sie auf Ashaunt kennengelernt hatte, und erwartete ihr erstes Kind.

»Es war Krieg«, bemerkte Mrs P. Nichts weiter.

Vielleicht war es Vergebung, auf die Bea gehofft hatte. Oder vielleicht wollte sie auch nur gern darüber reden; nicht einmal Agnes kannte die ganze Wahrheit. Doch es war nicht ihre Art, Vergangenes noch einmal aufzuwärmen, genauso wenig wie Agnes’ oder Mrs P.s. »Ich hoffe, sie gibt dem Baby keinen grässlichen Namen«, sagte Mrs Porter vergnügt, und dann unterhielten sie sich über Kinderzimmerfarben, während Bea einen Pullover für Janies Baby strickte – gelb, mit weißen Bündchen. »Es wird ein Junge«, sagte Agnes (es wurde ein Mädchen namens Elinor). Gemeinsam leerten sie ihre Gläser, dann gingen sie getrennt Mittag essen.

Es war Krieg – als würde das alles erklären.

Und vielleicht tat es das, in gewisser Weise.

 

V

Es war ein Sommer des Wartens, alle Blicke auf den Himmel gerichtet. Großmutter Porter hatte Helen zum sechzehnten Geburtstag ein Fernglas zur Vogelbeobachtung geschenkt, und sie trug es um den Hals, das Objektiv auf den Himmel, das Meer oder einen Punkt dazwischen ausgerichtet. Mein Spionage-Fernglas nannte sie es, und obwohl sie sich zu Beginn des Sommers für Vögel interessiert hatte, verpuffte dieses Interesse angesichts der doppelten Anziehungskraft von Männern und Krieg. Man konnte so angestrengt gucken und gucken, bis man glaubte, etwas Verdächtiges zu sehen, doch dann entpuppte sich das Flugzeug hinter den Wolken nur als weitere Wolke, der Buckel, der aus dem Wasser stieg, als Fels, der durch die Ebbe sichtbar wurde. Man konnte, wenn man an der richtigen Stelle stand (etwa am Fenster ihres Zimmers oder am Erkerfenster auf dem Dachboden), das Fernglas auf die Soldaten am Tor richten – hier kratzte sich einer unter dem Arm, dort reinigte einer Kaugummi kauend seine Waffe. »Er hat eine Waffe?« Dossy griff nach dem Fernglas, versuchte, es scharf zu stellen, kniff ein Auge zusammen und versuchte es erneut. »Er ist Soldat«, sagte Helen dann, obwohl sich ihr Puls beschleunigt hatte, sowohl wegen der Hände an der Waffe als auch wegen der Waffe selbst, wie auch wegen des Gesichts, das sich ihr zugewandt hatte, während sie durch das Fernglas blickte, als hätte der Soldat (hübsch auf eine grobe, gewöhnliche Weise) das erhitzte Drängen ihres Blicks gespürt.

Eines Nachmittags erwischte Bea, mit Janie im Schlepptau, Helen und Dossy mit dem Fernglas am Treppenfenster.

»Lass mich auch mal sehen!« Janie stürmte los.

Bea packte sie am Kragen und hielt sie zurück. »Legt das weg, Mädchen.«

»Warum?«, fragte Dossy.

»Erstens ist es sehr unhöflich.«

»Um nicht zu sagen, illegal«, sagte Helen.

»Illegal!« Beas Stimme klang schrill. Sie war so schön leicht zu schockieren.

Helen zuckte die Schultern. »Das da drüben ist alles streng geheim. Aber keine Sorge – was wir entdecken, werden wir ausschließlich zum Wohl der Gesellschaft verwenden.«

Bea griff nach dem Fernglas. Helen duckte sich, und Bea drehte sich um und rief: »Agnes!«

»Sie holt Verstärkung«, murmelte Helen.

Agnes kam aus ihrem Zimmer. »Nun. Was ist los?«

»Die beiden hier« – Bea deutete mit dem Kinn auf sie – »spionieren die Soldaten aus.«

»Gebt mir das Fernglas«, sagte Agnes.

Dossy, die es zu fassen bekommen hatte, hängte es sich flink um den Hals. »Liebt ihr es nicht auch, Vögel zu beobachten? Ich glaube, ich habe eine Scharlachtangare gesehen.«

»Ich erzähl’s eurem Vater«, sagte Agnes.

Helen wurde bleich, doch sie ließ sich nichts anmerken. »Daddy? Dass wir die Kriegsanstrengungen unterstützen? Warte nur – vielleicht entdecken wir ein U-Boot. Wir erwischen einen Spion. Heinrich Heidelberg. Oder Masako Fukiwaka.« Sie mochte den Klang von Deutsch und Japanisch, las die Worte in der Zeitung laut vor, sammelte sie in ihrem Kriegsalbum.

»Wer?«, fragte Janie erschrocken. »Wo?«

»Dieser Krieg«, sagte Bea, ganz blass geworden, »ist kein Spiel.«

»Ihr Bruder ist im Krieg«, erklärte Agnes. »Auf der anderen Seite. Wo Bomben fallen.«

»Auf der anderen Seite?«, kreischte Janie. »Dein Bruder ist ein Deutscher?«

»Auf der anderen Seite des Meeres, Liebes.« Beas Stimme bebte. »Er ist Luftschutzwart in Glasgow. Du weißt doch, das Bild in meinem Zimmer? Der kleine Junge? Das ist Callum, mein einziger Bruder. Wir sind nur zu zweit. Ich habe dir von ihm erzählt.«

Janie wandte sich an ihre Schwestern. »Beas einziger Bruder ist im Krieg!«

»Dein einziger Bruder auch«, sagte Helen. Bea hatte Charlie nie gemocht, das war ein offenes Geheimnis. Sie mochte Mädchen lieber als Jungs, Dossy lieber als Helen, Janie lieber als die Königin von England, und das sagte eine Menge. »Und er macht Karriere. Er könnte jederzeit nach Europa geschickt werden.«

»Es reicht.« Agnes setzte sich in Bewegung und scheuchte Helen in ihr Zimmer. »Helen, wirklich – du hast einen seltsamen Humor.«

Helen schlüpfte an ihr vorbei, schnappte sich dabei das Fernglas, schlug die Tür hinter sich zu und stemmte sich von innen dagegen, obwohl niemand versuchte hereinzukommen. Humor? Was keiner von ihnen begriff, war, dass sie es todernst meinte – voller Ernst beobachtete sie Himmel und Meer, voller Ernst schrieb sie ihrem Bruder jeden einzelnen Tag, voller Ernst verfolgte sie die Nachrichten. Die Morde in Lidice. Die Verlustlisten. Sie hatte letztes Jahr angefangen, die Zeitung zu lesen, um ihren Vater zu beeindrucken, doch bald änderten sich ihre Beweggründe. Wenn sie alt genug war, würde sie Reporterin werden oder dem Frauenkorps beitreten.

Sie öffnete die Tür einen Spalt, in der Annahme, alle stünden noch da, doch sie waren verschwunden, sogar Doss. Sie legte das Fernglas weg, ließ ihren Rock zu Boden fallen und kroch ins Bett, wo sie, nachdem sie ein paar erstickte, reinigende Tränen vergossen hatte, einschlief.

Einige Stunden später erwachte sie in so fortgeschrittener Abenddämmerung, dass sie kaum die Hand vor Augen sah, und schaltete die Nachttischlampe ein, um zu lesen. Sie hatte In einem andern Land schon halb durch, und obwohl der Buchumschlag – ein Mann und eine Frau, von der Taille aufwärts nackt – von einer Liebesgeschichte kündete (die sie erwartet hatte, denn sie hatte den Film gesehen), waren es die Stellen über den Krieg, die sie fesselten. Eine Welt wie gemalt. Eine Straße. Blätter. Körper (verwundet, sterbend, sehnsüchtig, auf dem Weg der Heilung, tot). Schützengräben. Große Ideen. Das Buch war voller Dinge, die sie beinahe, aber doch nicht wirklich in Worte oder wenigstens Gedanken fassen konnte, und so kam es ihr beim Lesen vor, als würde ihr eigenes Ich – eine bessere, klügere, weltgewandtere Version davon – das Meer überqueren und zurückkehren, um davon zu berichten. »Alle denkenden Männer sind Atheisten«, sagte der junge Lieutenant, was ihr, obgleich schrecklich, möglicherweise der Wahrheit zu entsprechen schien, doch was war dann mit ihren Gebeten, denn sie betete nun manchmal vor dem Zubettgehen, eine neue Angewohnheit, ein Geheimnis, das sie selbst vor Doss verbarg. Ihre Gebete waren kindisch – das erkannte sie jetzt –, zu konkret und gleichzeitig zu allgemein (Mach, dass Charlie eingesetzt wird UND dass ihm nichts passiert. Mach, dass wir den Krieg gewinnen) und, schlimmer noch, arrogant, denn selbst, wenn Gott existierte, warum sollte Er ausgerechnet auf sie hören, die von nichts eine Ahnung hatte, die noch nirgendwo gewesen war, die Krieg zum Dachboden-Spiel machte und annahm, ihr eigener Bruder sei der einzige Bruder auf der Welt (es stellte sich heraus, dass auch Bea einen hatte. Fast jeder hatte einen). Was die Liebe anging, so kam sie ihr – wie auch Frederic Henry anfangs – vor wie ein Spiel, doch beim Lesen begriff sie, dass es für Frederic und Catherine kein Spiel war; es war etwas anderes, fast eine Religion, und war Gott dann die Liebe in den schwitzenden, verknäuelten Körpern von Mann und Frau? Der Gedanke verstörte sie; sie hatte sich immer vorgestellt, dass Gott, wenn es ihn denn gab, den Himmel überspannte oder, wenn er eine Gestalt hatte, einer Art riesigem Gehirn glich, bebend, brillant und allein.

Ich machte schrecklich gern ihr Haar auf, las Helen gerade, als ihre Mutter, ohne anzuklopfen, hereinkam, eilig zu den Fenstern ging und mit einer Bewegung aus dem Handgelenk und einem Knall die Rollläden herunterließ. Helen ließ das Buch unter der Bettdecke verschwinden. Obwohl sich ihre Eltern nicht wirklich darum kümmerten, was sie las, fühlte sich diese Unterbrechung gleichzeitig wie ein Affront und eine Gefahr an.

»Ich war draußen und habe dein Licht gesehen«, sagte ihre Mutter. »Du musst nachdenken, Schätzchen. Wenn du die Rollläden nicht herunterziehst, können dich die Soldaten sehen!«

»Wie aufregend für sie.« Helen richtete sich auf. »Die Rollläden sind dafür da, dass der Feind uns nicht sehen kann. Und unsere Schiffe, die sich vor der Küste abzeichnen, wenn am Ufer Licht scheint.«

Sie hatte eine essenzielle Regel der »Zusätzlichen Auflagen, wenn Ihr Haus vom Meer aus zu sehen ist« gebrochen – dabei war sie es, die andere ständig an sie erinnerte. Sie hatte das Flugblatt in ihr Kriegsalbum geklebt, worin sie Kleinigkeiten aufbewahrte – Lebensmittelmarken, Zeitungsausschnitte, die Marken von Charlies Briefen. Wer in Gegenden wohnt, die vom aus Meer sichtbar sind, muss nicht nur Fenster und Türen verdunkeln, die vom Meer sichtbar sind, sondern auch vermeiden, dass Licht aus Fenstern, Dachluken oder Lichtschächten aufscheint, egal, in welche Richtung sie zeigen. Wie alle anderen müssen Sie die Rollläden bis zum tiefsten Punkt der Lichtquelle im Raum herunterziehen.

Ihre Mutter stieg über ihren Rock. »Zieh dich bitte zum Abendessen an.« Sie musterte Helen, die wieder unter die Bettdecke gekrochen war. »Was ist los? Bist du krank?«

»Mir geht’s gut.«

»Was ist es dann?«

»Ich bin nur gerade in mein Buch vertieft. Und nicht hungrig.«

»Lesen ist keine Entschuldigung dafür, krank zu spielen.«

Eine andere Mutter (und zu einem anderen Zeitpunkt vielleicht auch Helens Mutter) hätte es anders formuliert – Bitte komm nach unten und leiste uns Gesellschaft – oder angeboten, dass sie Lizzy das Abendessen auf einem Tablett nach oben bringen lassen würde. Eine andere Mutter hätte sich vielleicht zu ihr ans Bett gesetzt, die Schuhe ausgezogen, sich in ein Kissen sinken lassen und gefragt Was liest du, woran denkst du? oder gesagt Es ist nicht leicht, nicht wahr, wenn Charlie weg ist, Daddy krank, wenn man sechzehn ist? Ihre Mutter blieb stehen, weder ging sie, noch blieb sie, und dann schlug sie mit einer so flüssigen Bewegung, dass Helen es nicht kommen sah, die Decke zurück, und Helen und das Buch lagen frei.

»Warum versteckst du das? Das ist« – ihre Mutter nahm den Roman – »Hemingway. In einem andern Land. Warum versteckst du Hemingway?«

»Habe ich gar nicht.«

»Man könnte den Umschlag vermutlich gewagt nennen. Mir hat das Buch nicht gefallen – es ist meins, weißt du. Ich fand es zynisch und das Ende zu traurig, auf eine hoffnungslose, unversöhnliche Art. Traurig ohne guten Grund.«

Helens Erinnerung an das Ende des Films war seltsam getrübt. Fliegende Vögel, anschwellende Musik, Helen Hayes und Gary Cooper liegen sich in den Armen. »Ich fand es gar nicht so traurig.«

»Du hast es schon fertig gelesen? Und willst trotzdem nicht essen kommen?«

»Ich habe den Film gesehen.« Charlie hatte sie eingeladen, zusammen mit einem Freund, den er aus Yale mitgebracht hatte. Helens Ellbogen hatte den Ellbogen des Freundes die ganze Vorstellung hindurch berührt, was aufregend gewesen war – zwei Liebenden zuzusehen, während man die Haut eines College-Jungen berührte –, obwohl der Junge bei Tageslicht ein Wichtigtuer war, seine Haut zu blass, seine Lippen zu rot.

»Stirbt sie im Film bei der Geburt?«, fragte ihre Mutter.

»Mami! Jetzt hast du’s mir verdorben!«

»Tut mir leid.« Ihre Mutter hielt das Buch vor der Brust, mit dem Titelbild zu sich. »Dann kannst du ja jetzt etwas anderes lesen.«

 

VI

Es gab keine Tennisturniere in jenem Sommer, keine Muschelessen am Strand oder Beetlecat-Rennen – es fehlte an Leuten, und es war verboten, weiter als bis zur roten Boje zu segeln (eines Tages taten es die Söhne der Childs und wurden zurück eskortiert). Die Fahrräder wurden viel benutzt – die befestigte Straße war dafür wunderbar, wenn man den Lastern auswich –, aber der Stall stand leer, die Ponys und der Esel daheim in New Jersey. Das Gras der Rasenflächen wurde nicht gemäht, was für Bea verwahrlost, verwildert aussah. In den anderen Sommern waren die Häuser die ganze Nacht beleuchtet gewesen; Scheinwerfer holperten über die Straße, auf dem Meer blinkten Boote, immer etwas los. Jetzt war es draußen in bewölkten oder mondlosen Nächten genauso dunkel wie die Verdunklungsrollos selbst, bis auf die Suchscheinwerfer des Militärs auf dem Wasser und gelegentlich ein Auto, das die Straße entlangschlich und dessen Scheinwerferlicht durch die Schlitze im Vorhang sickerte.

Doch sogar nachts, sogar im Dunkeln, waren überall Männer und Jungs, und das fühlte sich, nun ja, Bea war bei dem Gedanken unbehaglich, aber es fühlte sich eher an wie eine Party, oder wie kurz vor einer Party. Die Soldaten waren ein gut gelaunter, zu Scherzen aufgelegter Haufen und schienen nicht viel zu tun zu haben. Auf dem Stützpunkt – das sah man vom Garten aus – schliefen die Männer in Zelten oder rasierten sich im Freien vor Spiegeln, die an Pfähle genagelt waren. Sie wuschen ihre Töpfe und Pfannen auf Arbeitstischen, mit Wasser aus Bottichen, die aussahen wie Mülleimer (das Wasser selbst kam von den Porters und wurde auf dem Hollow Hill gespeichert, weil der Brunnen des Militärs zu weit weg und ausgetrocknet war). Manchmal erhaschte Bea einen Blick auf einen Soldaten, der nur Hose und Unterhemd trug, die Haare unter den Armen sichtbar, dunkle Büschel. Niemand war schuld, dass sie nirgendwohin konnten, doch es war eine Nacktheit an diesem Krieg, die Bea missfiel.

Dennoch schien es, als würde sich auf dem Stützpunkt einiges ändern. Ständig wurde gebaut – Offiziersquartiere wie Ferienhäuser, ein Radarturm, der so konstruiert war, dass er aussah wie ein normaler Wasserturm, Baracken, die die Zelte ersetzten. Neue Straßen schnitten durch Felder und Gestrüpp und das, was zuvor der Garten der Wilsons gewesen war. Betonlaster kamen und verschwanden wieder; das Sägewerk lieferte Holz. Der Lärm war furchtbar. Manchmal ging während des Exerzierens ein Gewehr los, das war eine andere Sache, eine Art notwendiger, fast heiliger Lärm – sodass Bea innehielt und an ihren Bruder dachte, an den Krieg über dem Meer –, doch meistens waren es Hämmer und Laster, die man hörte, und das Tor stand achtlos offen, um Soldaten und Arbeiter hindurchzulassen.

»So ein Jammer«, flüsterte Mrs Porter eines Tages, als sie Mr Porter am Tor vorbeischob. Bea, Agnes und die Mädchen waren auch alle da, beim Wachhäuschen, und Helen und Dossy unterhielten sich mit den Soldaten, die Wache standen, während die Erwachsenen die Mädchen im Auge behielten, aber auch hineinspähten. Irgendwann im letzten Winter hatte das Militär das Sommerhaus der Wilsons beschlagnahmt, und jetzt waren direkt daneben Zelte aufgeschlagen, eine schwarze Zeltplane bedeckte eine Wand, und Rohre ragten aus dem Dach. Dann war da noch die Scheune der Wilsons, aus der sie einen Gemeinschaftsraum gemacht hatten, und das Spielhaus der Wilson-Kinder mit Giebeldach und Wetterfahne. Die Wilsons waren nicht gekommen – so ganz ohne Bleibe und zwei ihrer Söhne schon im Krieg.

»Es ist eben notwendig«, sagte Mr Porter, als seine Frau den Rollstuhl umdrehte und begann, ihn zurückzuschieben. »Wenn sie unser Haus bräuchten, würden wir es ihnen überlassen.«

Er wäre selbst dort draußen gewesen und hätte gekämpft, wenn seine Beine funktioniert hätten, trotz seines Alters, und Bea bewunderte ihn dafür. An jenem Tag im April, als Charlie zum letzten Mal zu Hause gewesen war, bevor es ins Fliegercamp ging, hatte Mr P. seine alte Uniform aus dem Ersten Weltkrieg angezogen, die nach Mottenkugeln roch, und Stewart (Butler und Diener, aber für Mr P. auch fast ein Freund, schien es manchmal, eine Art alternder Sohn) hatte ihn für ein Foto in eine Ecke neben Charlie gesetzt, der ebenfalls seine Uniform trug. Bea hatte das nicht gefallen – ein Junge, der so tat, als sei er Soldat, ein Krüppel, der so tat, als sei er ein Junge.

»Nicht dass sie unsere Erlaubnis bräuchten«, sagte Mrs P. »Und ich habe auch nicht gesagt, es sei nicht notwendig, nur, dass es ein Jammer ist. Außerdem passiert hier ja nichts. Es muss so langweilig für sie sein. Es wird auch nichts passieren.«

»Davon verstehst du nichts, Liebling«, sagte ihr Mann. »Sie bewachen die Mündung der Buzzards Bay. Das ist ein kritischer Punkt. Es könnte alles Mögliche passieren.«

»Was denn?«, fragte Helen, die sie eingeholt hatte.

Bea warf Agnes einen flüchtigen Blick zu. Janie war noch hinter ihnen und zeigte Dossy etwas, das sie in der hohlen Hand hielt.

»Es geht abwärts, will ich damit sagen«, sagte Mr P. »Es könnte für eine Weile unser letzter Sommer hier sein.«

Janie holte sie ein und ließ die Motte frei, die sie gefangen hatte – ein braunes Flattern. »Was geht abwärts, Daddy?«

Ihr Vater sah sie an, und sein Gesicht wurde weich. Meistens war er freundlich zu seinen Kindern, obwohl er ihnen ab und zu gemeine, kindische Streiche spielte. So hatte er Stewart dazu gebracht, ein Bärenfell anzuziehen und Janie im Wald zu erschrecken. Janie war höchstens fünf gewesen; sie hatte sich vor Angst nass gemacht. Oder er wies seine jüngste Tochter an, in den Fluss zu spucken und auf die andere Seite der Brücke zu laufen, um zu sehen, wie die Spucke von der Strömung fortgetragen wurde, und Janie gehorchte – rannte, sah hinunter, immer verzweifelter: Wo ist sie? Ich kann sie nicht sehen, Daddy! Wo denn?

»Rolltreppen«, sagte er. »Wie die bei Macy’s.«

»Die Armee baut Rolltreppen ein?«

»Und Schaufenster mit Weihnachtsdeko.« Helen lachte. »Und eine Damenabteilung.«

Janie sah Bea an, die ihre Hand nahm, doch das Mädchen stieß sie weg. »Mummy?«, fragte Janie. »Ehrlich, was könnte passieren?«

In Amagansett auf Long Island waren vor nicht einmal einem Monat vier Deutsche in einem faltbaren Gummiboot an Land gekommen. Stewart hatte davon in der Zeitung gelesen und es den anderen erzählt. Später sah Bea Bilder von den Männern. Sie sahen aus wie jeder andere auch, aber einer von ihnen, der Hübscheste, hieß mit zweitem Namen Harm, also Unheil. Saboteure hatte Stewart sie genannt. Sie hatten ihre Ausrüstung vergraben, Zivilkleidung angezogen und mit Angelruten den Zug nach New York bestiegen. Ein paar Tage später kamen in Florida noch einmal vier Deutsche an Land. Zu diesem Zeitpunkt packten die Porters schon für Ashaunt. Vergiss nicht die Taschentücher. Vergiss nicht den Kräutertee. Den braucht Mrs P. für ihren Schlaf.

»Was könnte passieren, Daddy?«, versuchte Janie es noch einmal.

Genau in dem Moment kam das Postauto, und der Postbote hielt einen Briefumschlag hoch. Mrs P. ließ den Rollstuhl ihres Mannes los und lief dem Brief entgegen. Die anderen waren stehen geblieben, sahen, wie sie ihn nahm, sahen, wie sie eilig ins Haus verschwand. In Mr Porters Schoß zitterte seine linke Hand. Noch vor seiner Kraft hatte er seine Koordination verloren, aber mit einem Gummifingerhut konnte er immer noch die Seiten eines Buches umblättern. Als Bea neu in der Familie war, konnte er noch laufen. Jetzt konnte er an guten Tagen drinnen den Rollstuhl bewegen, aber nicht auf Gras, obwohl er immer noch fast jeden Tag schwamm (in Grace Park hatten sie ihm einen Innenpool gebaut; jeden Winter fuhren sie mit ihm nach Bermuda), Stewart trug ihn hinein und heraus. Sie spürte, wie es um sie herum still wurde, so wie immer vor einem seiner Wutanfälle, und stupste Janie unauffällig über den Rasen.

»Bringt mir den Brief, Mädchen«, sagte Mr Porter. »Was gibt eurer Mutter das Vorrecht, ihn immer als Erste zu lesen?«

Helen und Dossy erstarrten.

»Hol ihn mir«, befahl er Helen.

Sie sah ihren Vater kurz an, dann lief sie zum Haus. Bea war da schon auf der Veranda. Sie öffnete die Fliegengittertür und scheuchte Janie nach oben. Sie konnte Helen rufen hören, eine Tür zuschlagen, vielleicht zwei, und den Klang von Mr Porters Stimme, gleichzeitig an alle und niemanden gerichtet – eine Art Brüllen, ein Heulen.

»Zeit für dein Bad!«, sagte sie zu Janie, obwohl das nicht stimmte.

In dem großen Badezimmer mit der kleinen Badewanne auf Klauenfüßen ließ Bea das Bad einlaufen, legte das Handtuch bereit und fand die Seife. Ohne zu protestieren, zog Janie sich aus und kletterte hinein. Das Rauschen des Wassers übertönte alle anderen Geräusche. Als die Wanne voll war, das Wasser aus, legte sich das Kind auf den Bauch und tauchte den Kopf unter, blieb so lange unter Wasser, dass es Bea einen Tick zu lang vorkam. Als sie wieder auftauchte, reichte Bea ihr den seifigen Waschlappen. Draußen war es inzwischen ruhig, bis auf die Geräusche vom Stützpunkt. Unten war es ruhig.

»Ich hab Hunger«, sagte Janie.