Die unglaubliche Grace Adams - Fran Littlewood - E-Book
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Die unglaubliche Grace Adams E-Book

Fran Littlewood

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Beschreibung

An einem heißen Sommertag, auf dem Weg zu ihrer Tochter, steht Grace Adams im Stau. Und auf einmal ist alles zu viel. Sie lässt das Auto mitten auf der Straße stehen und stürmt los: Grace ist entschlossen, ihr Leben umzukrempeln. Sie läuft zu ihrer Tochter, die sie nicht auf ihrer Geburtstagsparty sehen will. Sie geht auf ihren Ehemann zu, der sich von ihr getrennt hat. Sie nähert sich dem schrecklichen Ereignis an, das ihre Familie zerstören kann. Sie wird ihrer Tochter beweisen, dass man jederzeit wieder aufstehen kann, egal wie tief man fällt. Denn Grace Adams ist unglaublich. Ihr Ehemann und ihre Tochter wussten das mal. Jetzt wird Grace sie daran erinnern.  Der große Frauenroman aus England: Tragisch und komisch, warmherzig und witzig, alltäglich und wunderbar wahnsinnig.

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Die unglaubliche Grace Adams

Die Autorin

FRAN LITTLEWOODhat in ihrem Leben schon vieles gemacht, zuletzt war sie Journalistin und arbeitete u.a. für die Times. Den Punkt der Überforderung, wie ihn ihre Heldin Grace erlebt, kennt sie aus eigener Anschauung. Sie lebt mit ihrem Mann und drei Töchtern in London.

Das Buch

An diesem Tag hat sich alles gegen Grace Adams verschworen. Dabei ist ihr Leben ohnehin schon aus der Bahn geraten: Ihr Mann Ben ist ausgezogen, ihre Teenie-Tochter Lotte im Streit ebenfalls. Und nun ist Grace nicht zu Lottes Geburtstag eingeladen.Wie ist es bloß dazu gekommen, dass die Menschen, die sie am meisten liebt, sie von sich weisen? Der drohende Verlust treibt Grace an, sie waren doch einmal so glücklich. Grace weiß, dass sie nicht perfekt ist. Doch sie ist neugierig, mutig, klug, und sie spricht fünf Sprachen. Etwas ist passiert, das sie sprachlos gemacht und aus der Bahn geworfen hat.Grace ist entschlossen, um ihre Familie zu kämpfen. Auch wenn sie auf Lottes Geburtstagsfeier nicht erwünscht ist, wird sie hinfahren. Grace hofft auf eine Versöhnung. Als sie in größter Hitze im Stau steht, ist einfach alles zu viel. Grace verliert die Nerven. Sie lässt das Auto zurück, geht zu Fuß los. Auf dem Weg quer durch London zu Ben und Lotte begegnet Grace dem Leben und sich selbst.

Fran Littlewood

Die unglaubliche Grace Adams

Roman

Aus dem Englischen von Katharina Naumann

Ullstein

Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein.de

Die Originalausgabe erschien 2023 unter dem Titel Amazing Grace Adams bei Michael Joseph, ein Verlag von Penguin Books, London. Penguin Books gehört zur Penguin Random House Gruppe.

Copyright © Fran Littlewood, 2023© der deutschsprachigen Ausgabe 2023 by Ullstein Buchverlage GmbH, BerlinUmschlaggestaltung: zero-media.net, München, unter Verwendung eines Entwurfs von © Kate DehlerFoto der Autorin: © Lucia BeggE-Book-Konvertierung powered by pepyrus

ISBN: 978-3-8437-2927-7

Emojis werden bereitgestellt von openmoji.org unter der Lizenz CC BY-SA 4.0.

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Inhalt

Die Autorin / Das Buch

Titelseite

Impressum

JETZT

VOR VIER MONATEN

2002

JETZT

VOR VIER MONATEN

2002

JETZT

VOR VIER MONATEN

2002

JETZT

VOR VIER MONATEN

2003

JETZT

VOR VIER MONATEN

2003

JETZT

VOR VIER MONATEN

2003

JETZT

VOR VIER MONATEN

2003

JETZT

VOR VIER MONATEN

2003

JETZT

VOR VIER MONATEN

2003

JETZT

VOR DREI MONATEN

2004

JETZT

VOR DREI MONATEN

2006

JETZT

VOR DREI MONATEN

2008

JETZT

VOR DREI MONATEN

2012

JETZT

VOR ZWEI MONATEN

2012

JETZT

VOR ZWEI MONATEN

2012

JETZT

VOR ZWEI MONATEN

2015

JETZT

VOR ZWEI MONATEN

2018

JETZT

SECHS MONATE SPÄTER

DANK

INTERVIEW MIT FRAN LITTLEWOOD

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

JETZT

Widmung

Für Si, Cassia, Ione und Lucia

Motto

I raged, and woke to hear the rain.

Virginia Woolf

JETZT

Grace ist heiß. Die Sonne knallt wie kochender Atem auf das Dach ihres Autos. Doch das ist es nicht allein. Dieses Gefühl, dass sie aus dem Nichts von innen lichterloh brennt. Zwischen ihren Brüsten rinnt der Schweiß in einer trägen, juckenden S-Linie an ihr herab, und sie würde am liebsten eine Hand unter den Halsausschnitt ihres T-Shirts schieben und ihn wegwischen. Aber sie steht im Stau und ist von allen Seiten von Autos umringt, und dann ist da der Mann im Audi, dessen Fenster auf derselben Höhe wie ihres steht. Er starrt sie an, als wäre sie genau die Ablenkung, die er in dieser Situation braucht. Leck mich, denkt sie. Leck mich, leck mich, leck mich.

»Wenn Ihnen jetzt schon heiß ist«, sagt die Frau im Radio, »dann habe ich schlechte Nachrichten für Sie: Nach Aussage des Klima-Think-Tanks Autonomy wird es noch heißer …«

Grace lässt den Motor aufheulen, damit sie die Worte nicht hören muss. Ihr Blick fällt auf die Uhr im Armaturenbrett: 12.23 Uhr. Kann das stimmen? Sie schaut auf ihr Smartphone, das auf dem Beifahrersitz liegt. Mist. Sie kommt zu spät. Viel zu spät. Vorher muss sie noch die Love-Island-Torte abholen, die sie extra bestellt hat. Den Kuchen, den sie sich eigentlich nicht leisten kann, aber auf dem all ihre Hoffnungen liegen. Eins, zwei, drei, vier … Sie zählt nach den Regeln der kognitiven Verhaltenstherapie, doch es hilft nicht. Grace erinnert sich nicht besonders gut, weil sie den Onlinekurs schon nach den ersten paar Sitzungen abgebrochen hat. Tief atmet sie durch die Nase. Ihre Oberschenkel kleben am Sitz. Grace fummelt an den Lüftungsschlitzen herum und drückt noch mal auf den Knopf der Klimaanlage, von dem sie weiß, dass er nicht funktioniert. Die Hitze in dem billigen Synthetikstoff des Sitzes macht alles nur noch schlimmer, und sie spreizt die Beine so weit, wie es geht, damit ein wenig der nicht vorhandenen Luft dazwischenkommen kann.

Ihr Smartphone auf dem Beifahrersitz klingelt, und sie zuckt zusammen. Lotte? Automatisch denkt sie, dass sie es sein könnte. Schon im selben Moment, in dem sie sich zur Seite lehnt, um nachzuschauen, weiß sie, dass sie es nicht ist. Stattdessen sieht ihr ein Gesicht mit hängenden Wangen und gerunzelter Stirn entgegen, und sie braucht eine Sekunde, bis sie sich selbst erkennt und begreift, dass Cate wieder versucht, sie über Facetime zu erreichen. Grace lehnt sich unwillkürlich zurück an die Fahrertür. Sie will nicht rangehen, und obwohl sie sich ziemlich sicher ist, dass man sie nicht sehen kann – Lotte hat schon hundertmal über sie gelacht –, hat sie das Gefühl, dass ihre Schwester sie irgendwie beobachtet.

Grace weiß, warum Cate sie anruft: Sie hat in den letzten vierzehn Tagen massenweise Nachrichten hinterlassen, sowohl mitleidige als auch vorwurfsvolle. Mum hat mich angerufen. Sie hat versucht, dich zu erreichen, Grace. Sie macht sich Sorgen um dich. Dad auch. Findest du es ihnen gegenüber wirklich fair, dass du … Hör mal, ruf mich an und sag, dass es dir gut geht. Ich meine, natürlich nicht gut, aber … Wir machen uns alle Sorgen, Grace …

Hinter ihr hupt jemand, und sie wendet sich auf dem Sitz um. Als wäre das Hupen an sie gerichtet. Der Stau ist ewig lang, er reicht die ganze Strecke von der schmalen Straße am Fuß vom Muswell Hill bis hin zum Fußballstadion. Die Straße, die mit Kleinlastern, Stadtbussen, Lieferwagen und SUVs vollkommen verstopft ist, passt normalerweise besser zu einem verschlafenen Dorf oder ins Mittelalter. »Echt jetzt?«, sagt sie in die Leere ihres Autos hinein. »Echt, Arschgeige? Und was genau sollen wir jetzt machen?«

Die Seitenwände des Wagens kommen näher, sie riecht verbranntes Plastik. Wie kann es sein, dass sie sich immer noch nicht rühren? Hier zu sitzen, erinnert sie an irgendetwas – an ein Buch, eine Fernsehserie, ein Theaterstück –, sie weiß es nicht mehr genau. Sie kann sich neuerdings kaum ihren eigenen Namen merken. In sich zusammengesunken kauert sie auf ihrem Sitz und versucht, sich die Dinge vorzusagen, auf die sie sich in letzter Zeit nur schwer besinnen kann. Es gelingt ihr natürlich nicht. Das wäre sogar beinahe lustig, wenn es nicht so erschreckend wäre. Als hätte sich ein Teil ihres Hirns selbsttätig abgeschaltet, als sie gerade einmal nicht hingesehen hat.

Ihr Smartphone klingelt erneut, irgendjemand hält die Hupe gedrückt. Der Mann starrt sie immer noch an, die Hitze … und jetzt ist da noch irgendetwas mit ihr im Auto und summt herum. Eine fette schwarze Fliege, die gegen die Fenster stößt. Der Schweiß bricht ihr an den Schläfen aus, und sie schlägt sich selbst mit der flachen Hand, als die Fliege sie im Sturzflug attackiert und dann heftig gegen die Kopfstützen des Autos prallt.

Plötzlich taucht ein Gesicht im Heckfenster des Wagens vor ihr auf. Ein kleines Mädchen mit einer schmuddeligen Puppe in der Hand starrt Grace mit ausdruckslosem Gesicht an. Sie hört den glucksenden Beat eines Songs im Radio, das markerschütternde Rattern eines Presslufthammers von der Baustelle vor ihnen. Die Fliege sitzt jetzt auf ihrer Wange, auf ihrem Arm, in ihrem Haar, und der Verkehr bewegt sich immer noch nicht. Die Zeit vergeht in Einheiten, die nicht so sind, wie sie sein sollten, und sie darf nicht zu spät kommen, heute nicht, das geht einfach nicht.

Und das war’s. Es reicht ihr.

Klebrige Dämpfe dringen ihr in die Kehle, als Grace aus dem Auto steigt und sich ihre Kreditkarte und einen Zwanzigpfundschein in die Hosentasche steckt. Mehr braucht sie nicht. Sie will ihre Tasche in dieser Hitze nicht mitschleppen – dafür trägt sie die falsche Kleidung: viel zu enge Jeans, in denen sich ihre Beine anfühlen, als schmölzen sie. Grace knallt die Fahrertür zu, richtet den Schlüssel auf das Auto und – kla-klong – die Türen sind verschlossen. Sie geht den Pfad zwischen den weißen Linien mitten auf der Straße entlang, als jemand hinter ihr ruft:

»Hey, Schätzchen. Schätzchen! Was tust du da?«

Sie bleibt stehen und dreht sich um.

Es ist der Mann im Audi. Er hat sein Fenster heruntergelassen und schreit gegen das Hupkonzert an. Sie spürt die Drohung, die im Pulsieren der Motoren um sie herum liegt, die zornige, atonale Klanglandschaft, aber sie hat das komische Gefühl, dass sie irgendwie über den Dingen steht, dass das alles nichts mit ihr zu tun hat.

»Du willst doch wohl nicht ernsthaft …« Der Mann brüllt und gestikuliert wie wild, sie kann die Schweißflecken unter seinen Achseln sehen. »Du musst wieder in dein Auto steigen! Du kannst es hier doch nicht einfach stehen lassen!«

Grace kann die metallische Hitze schmecken, die von den eingepferchten Autos neben ihr abstrahlt, und lächelt ihn an. Mit ihrem Mund, nicht mit ihren Augen.

»Dein Problem«, flüstert sie.

VOR VIER MONATEN

Northmere Park School London N8 6TJ [email protected]

Liebe Erziehungsberechtigte oder Vormunde von Lotte Adams Kerr, es ist zu unserer Kenntnis gelangt, dass Lottes Teilnahme am Unterricht in diesem Semester unter 70 Prozent liegt. Die meisten ihrer Fehlstunden sind unentschuldigt. Damit liegt sie deutlich unter den Zielen, die im Lehrvertrag zwischen den Eltern und der Schule festgelegt sind. Wir halten das für außerordentlich besorgniserregend. Diese Fehlzeiten werden ernste Auswirkungen auf Lottes Lernfortschritte und Leistungen haben. Wie Sie wissen, führen bereits neunzehn Fehltage dazu, dass ein/e Schüler/in beim Mittleren Schulabschluss durchschnittlich eine Note schlechter abschneidet. Wir möchten Sie dringend darum bitten, Kontakt mit der Schule aufzunehmen und zeitnah einen Termin bei Lottes Lehrer/innen sowie dem Vertrauenslehrer des Jahrgangs auszumachen, um dieses Problem so früh wie möglich anzugehen. Zurzeit sehen wir davon ab, weitere Maßnahmen zu ergreifen. Allerdings sind wir verpflichtet, die wiederholte oder längere Abwesenheit eines Schülers oder einer Schülerin den Behörden zu melden.Mit freundlichen GrüßenJohn Power, Schulleiter

Grace steht an den Küchentresen gelehnt und liest den Brief zweimal, ohne ihn zu begreifen. Sie runzelt die Stirn, schaut auf den Umschlag. Es muss ein Irrtum sein. Sie haben den Brief sicherlich an die falsche Adresse geschickt. Dennoch spürt sie, wie es in ihrer Brust eng wird. Es fühlt sich an, als könnte sie nicht länger durchatmen.

»Lotte!«, ruft sie, obwohl sie weiß, dass ihre Tochter mit Kopfhörern in ihrem Zimmer sitzt und sie auf keinen Fall hören kann. Sie wirft einen Blick auf den Laptop auf dem Tisch. Auf dem Bildschirm steht der beschissene japanische Liebesroman, den sie gerade übersetzt – oder gerade nicht übersetzt. Sie mag gar nicht darüber nachdenken, wie weit sie schon über den Abgabetermin hinaus ist.

Sie will auch nicht darüber nachdenken, was passiert, wenn sie es nicht schafft, sich zusammenzureißen, denn sie kann es sich buchstäblich nicht leisten, es sich mit der Übersetzungsagentur zu verscherzen. Mit der lächerlichen Summe, die sie in ihrem anderen Job verdient – ihrem Egal-was-Hauptsache-ich-komme-mal-aus-dem-Haus-Job, Französischunterricht für desinteressierte unter Zwölfjährige an der Stanhope-Grundschule –, kann sie kaum ihre Gasrechnung bezahlen.

Grace nimmt ihr Smartphone und – denn so machen sie beide es neuerdings – schreibt eine Textnachricht an ihre Tochter, die sich weniger als zehn Meter entfernt von ihr befindet, ein Stockwerk über ihr, durch ein paar Wände hindurch. Sie wartet. Nichts.

»Lotte!«, versucht sie es erneut, diesmal lauter, und spürt das vertraute verärgerte Kribbeln in ihrem Bauch. Dann zerknüllt sie den Brief und wirft ihn mit aller Kraft durch das Zimmer auf den Haufen, der sich um den Papierkorb herum angesammelt hat.

Grace klopft, wartet aber nicht auf Antwort und tritt ein. Lotte sitzt auf ihrem Bett und knallt sofort ihren Laptop zu. Ihr Gesichtsausdruck ist feindselig und verletzlich zugleich. Sie hat sich ihre Haare wieder pink gefärbt, eine hübsche Farbe, wie Zuckerwatte. Grace fällt auf, wie wunderschön Lotte geworden ist, ihre perfekte, wilde Tochter. Wenn sie könnte, würde sie nur dastehen und ihren Anblick genießen. Lotte trägt Shorts und ein grünes Top, das eigentlich eher ein Band ist und kaum ihre Brüste bedeckt. Diese BH-losen Brüste, die wie durch Magie gehalten werden.

Ist dir nicht kalt?, will Grace fragen. Weil sie zu einem Klischee geworden ist. Sie ist zu ihrer eigenen Mutter geworden.

»Was?«, sagt Lotte und hebt die eine Seite ihres Kopfhörers an. »Ich bin gerade mitten in einer Sache.« Grace weiß, dass sie ihre ganze Selbstbeherrschung braucht, um ihren Ton gerade noch höflich klingen zu lassen. Das heißt auf der von beiden akzeptierten neuen niedrigen Messlatte der Höflichkeit.

Grace öffnet den Mund, um etwas zu antworten, hält aber inne, weil sie plötzlich spürt, dass sie die Worte womöglich nicht herausbringen wird, ohne dass ihre Stimme schrill klingt. Sie lässt den Blick durch das Zimmer schweifen, als müsste sie nach Hinweisen suchen. Es riecht süßlich nach schmutziger Wäsche, unter einer umgekippten Topfpflanze auf der Fensterbank liegt der größte Teil der Blumenerde auf dem Boden. An der Wand hängen Poster vom Mädchen aus Stranger Things, dem Mann aus Sherlock, mitten auf dem Regal steht die bunt angemalte Matroschka. Ein Haufen verhedderter Creolen liegt neben dem kleinen Messingbuddha auf dem Nachttisch. Graces Aufmerksamkeit gleitet von einem Gegenstand zum nächsten, als könnte sie dort die Antwort auf die Frage finden, wohin ihr Baby gegangen ist. Wer dieser fremde neue Mensch vor ihr ist.

»Was?«, fragt Lotte erneut, und bemüht sich nicht länger, ihre Ungeduld zu verbergen. »OMG«, flüstert sie.

Grace regt sich über Lottes Ausdruck auf, zumindest ein wenig, aber sie lässt es durchgehen und richtet den Blick auf ihr Kind. Sie haben die gleichen Augen, das weiß sie: Alle sagen das. Die gleichen tief liegenden, dunkelblauen Augen. Augen, die jemanden zugrunde richten können, sagte Ben früher immer.

»Ich habe einen Brief von der Schule bekommen, den ich nicht verstehe.«

2002

Grace sitzt an ihrem Klapptisch, die Stifte vor sich aufgereiht, und fragt sich, warum um alles in der Welt sie hierhergekommen ist. In ihrem Magen kribbelt es, und sie fühlt sich, als wäre sie wieder im College. Sie ist achtundzwanzig Jahre alt und kommt sich vor wie achtzehn. Über der Bühne hängt ein Plastikbanner. Auf gelbem Hintergrund sind Zeichnungen verschiedener Sehenswürdigkeiten aus aller Welt abgebildet – das Taj Mahal, der Eiffelturm, die Basilius-Kathedrale. In dicken grünen Lettern steht darüber »Polyglott des Jahres 2002«. Es ist ein Streberwettbewerb, wie Marc sie nennt – sie genannt hat, korrigiert sich Grace, denn er ist inzwischen Vergangenheit; sie sind nicht mehr zusammen. »Ein Geniewettbewerb, das wirst du schon merken«, hatte sie ihm geantwortet, das Bewerbungsformular mit einem Magnet an den Kühlschrank geheftet und ihm den Mittelfinger gezeigt, obwohl sie noch mit dem Rücken zu ihm stand.

Ein paar Plätze weiter entdeckt sie den Mann im schwarzen Pullover mit den Löchern am Handgelenk, den sie schon bei der Anmeldung gesehen hat. Er ist jünger als sie, nimmt sie an, vielleicht ein paar Jahre. Sie ist hier der einzig normale Mensch, denkt sie, und der Mann beugt sich zu ihr, als hätte er irgendwie ihre Gedanken erraten.

»Entschuldigung, hallo …«

Aus der Nähe erkennt sie seine ausgesprochen hohlen Wangen und seinen kantigen Kiefer – man könnte ihn beinahe als Geodreieck verwenden. Seine Haare stehen zu allen Seiten ab, seine braunen Augen sind auf sie gerichtet.

»Hast du einen Stift?«, fragt er.

Grace schaut auf die Reihe Stifte auf ihrem Klapptisch und überlegt sich einen kurzen Augenblick lang, ob er einen Witz gemacht hat. Sie hat Kugelschreiber in Blau, Schwarz und Rot, ein paar Textmarker und drei HB-Bleistifte. Plötzlich kommt sie sich wirklich wie eine lächerliche Streberin vor. »Scheint ganz so«, sagt sie. »Such dir einen aus.«

Er lächelt sie an, beugt sich noch weiter zu ihr herüber und sieht sich die Auswahl ausführlich an. Wieder hat Grace das Gefühl, dass er sich vielleicht über sie lustig macht.

»Ich nehme den blauen Kuli«, sagt er schließlich.

»Klassisch.« Sie reicht ihm den Stift. »Das kann ich nur befürworten.«

Er lacht und bedankt sich bei ihr. Dann tippt er zweimal mit dem Stift gegen seine Handfläche, als wollte er ihn ausprobieren. Er hat wunderschöne Finger, lang mit eckigen, kurz geschnittenen Nägeln.

Er lehnt sich auf seinem Stuhl zurück und dann sofort wieder nach vorn, als hätte etwas sein Interesse geweckt. »Ich heiße übrigens Ben.«

»Grace.« Sie spürt, wie ihr die Hitze in die Wangen steigt, als sie ihren Namen sagt.

Das Kreischen der Rückkopplung aus den Lautsprechern rettet sie. Ein Mann steht auf der Bühne und fummelt am Mikrofon herum. Er ist tief gebräunt und trägt einen Leinenanzug, der aussieht wie aus Mein Jahr in der Provence. Er tippt einmal, zweimal gegen das Mikrofon und räuspert sich.

»Willkommen«, sagt der Mann und legt die Handflächen wie zum Gebet aneinander. »Und herzlichen Glückwunsch, dass Sie es so weit geschafft haben. Ich heiße David Turner, und Sie gehören zu den besten Linguisten des Landes.«

Grace wirft dem Mann im schwarzen Pullover einen Blick zu. Er zieht die Brauen ein kleines bisschen hoch, und sie reißt als Antwort ihre Augen auf.

»… was bedeutet, Sie alle sind wegen der auf Video aufgenommenen Leistungen Ihrer Bewerbungsgespräche hier«, sagt David Turner, »und ich muss Ihnen nicht sagen, dass die Latte dieses Jahr enorm hoch liegt. Wir haben Teilnehmer im Alter von dreiundzwanzig bis vierundsiebzig, aus allen Gegenden des Vereinigten Königreichs, was Sie sicher so fantastisch finden wie ich. Also, heute Morgen wird es die ersten Einführungsgespräche geben, und dafür haben sich unglaublich interessante Redner gemeldet. Aber der wahre Spaß beginnt am Nachmittag!« Er stößt die Faust in die Luft, und die Zuschauer lachen. »Ich weiß, dass Sie alle ganz ungeduldig darauf warten loszulegen, daher bleibt mir nur, Ihnen zu wünschen …« – er hält inne und zwinkert. Grace erkennt es genau – »Bonne chance, buena suerte, viel Erfolg, udachi, held og lykke und so weiter und so fort!«

Grace dreht sich zu dem Mann im schwarzen Pullover um und blinzelt ihm übertrieben zu. »Viel Glück«, sagt sie.

»Dir auch.« Er zwinkert mit ausdruckslosem Gesicht zurück.

Das Mittagessen wird in der Cafeteria serviert. Es ist Ferienzeit, und der Campus ist seltsam verlassen. Grace hat keinen Hunger, entscheidet sich aber dennoch für eine Ofenkartoffel von der Größe eines Ziegelsteins und ein wenig schlaffen Salat. Sie wartet auf die Frau in der Schlange hinter ihr, damit sie jemanden hat, mit dem sie zusammen am Tisch sitzen kann. Bald sind sie an ihrem Kantinentisch von – na ja – Strebern umringt. In der Unterhaltung geht es um Konjugationen und Kyrillisch und Klingonisch, und sie kann sich nicht helfen, sie saugt alles auf. Sie verliert sich völlig in den Themen, aber ihr entgeht nicht, dass der Mann im schwarzen Pullover hin und wieder vom anderen Ende der Kantine aus zu ihr herüberschaut.

Der Nachmittag vergeht in einem Rausch linguistischer Wettkämpfe. Grace ist ganz in ihrem Element – sie brennt förmlich. In Französisch, Spanisch, Japanisch, Russisch, Niederländisch schlägt sie sich großartig. Es gibt einen Aussprachewettbewerb auf Zeit – schnelles Lesen von hundert Phrasen in zehn Minuten, Simultanübersetzung und eine kritische Diskussion neuer Fragen, bei der man für die Antworten nur sechzig Sekunden hat. Sie versuchen, Rumänisch in einer Stunde zu lernen. Grace ist gar nicht mehr da, ihr Hirn und ihr Körper verarbeiten nur noch die Wörter. Sie hat so lange dafür gelernt. Sie hat zehntausend Stunden reingesteckt, aber es fällt ihr leicht. Es ist, als wären die Wörter, die Sätze, die Sprachstrukturen immer schon da gewesen, als hätten sie in ihrer Großhirnrinde gelauert, bis sie sie braucht. Sie nimmt an, dass es den anderen Bewerbern nicht anders geht, denn der Mann im Leinenanzug – David – hat recht: Sie sind alle sehr gut. In den letzten drei Jahren war sie immer wieder kurz davor, an dem Wettbewerb teilzunehmen, doch jedes Mal hat sie etwas daran gehindert, wahrscheinlich die Angst, nicht gut genug zu sein. Letztes Jahr hat sie sogar die Bewerbungsunterlagen ausgefüllt, sie aber nicht abgeschickt. Jetzt, da sie hier ist, kann sie kaum glauben, dass sie davor zurückgeschreckt ist. Und auf einmal will sie es. Sie will gewinnen, mehr als alles andere.

Als sie in der Bar der Studentenvereinigung ankommt, in der die Preisverleihung stattfinden soll, sitzt er bereits da. Es riecht nach abgestandenem Rauch und Desinfektionsmittel, und sie reagiert wie die Hunde im pawlowschen Versuch: Grace will sofort einen Drink. Sie zögert, und der Mann, Ben, winkt sie zu sich, rückt zur Seite, damit sie sich setzen kann. Dann holt er ihren blauen Kugelschreiber aus seiner Tasche und gibt ihn ihr. »Danke«, sagt er. »Mein geheimer Glücksbringer. Le Bic bleu.«

»Ha«, sagt sie. »Hoffentlich hat er geholfen.« Der Stift ist noch warm von seiner Hand, und sie spürt den plötzlichen Drang, ihn an die Wange zu legen, die Stelle in sich aufzunehmen, die seine Finger berührt haben.

Auf dem Tisch steht Wein. Sie schenkt sich ein Glas ein und bietet ihm die Flasche an. »Ich habe eigentlich das Gefühl, wir sollten einen Snakebite and Black trinken.«

»Absolut. Oder warmes Bier.«

An die Tische um sie herum setzen sich immer mehr Leute. Sie winkt dem Personalberater aus Cambridge zu, mit dem sie beim Mittagessen zusammengesessen hat. David Turner stellt sich vorn hin. Auf dem Tresen hinter ihm steht ein silberner Pokal.

»Wie lief es denn bei dir so?«, fragt Ben.

»Ziemlich gut, glaube ich«, sagt sie. »Und bei dir?«

»Ja.« Er nickt.

»Ja?« Sie lacht. »Was soll das denn heißen?«

»O-kaaay, wir sind ein bisschen spät dran, also fangen wir mal an.« David Turner übertönt mit seiner Stimme das allgemeine Gerede. »Noch einmal vielen Dank an alle, die teilgenommen haben. Ich bin stolz, sagen zu können …«

Grace versucht, sich auf die Rede zu konzentrieren, aber sie spürt Bens Blick auf sich. Wieder werden ihre Wangen ganz heiß. Sie kann ihn riechen, weil er so nah neben ihr sitzt. Es ist ein roher weißer Geruch, der sie an Winter erinnert.

»… und deshalb fange ich gleich mit dem dritten Platz an.« David Turner beschirmt die Augen mit der Hand und schaut sich im Raum um. Jetzt hat er ihre Aufmerksamkeit. Grace sitzt regungslos da.

»Ariel Jones, sind Sie hier irgendwo?«

Sie schauen nach vorn und klatschen, beide, als ein schlanker Mann mit unvorteilhaftem Schnurrbart seinen Preis entgegennimmt, und vielleicht liegt es am Wein, der ihr direkt in den Kopf gestiegen ist, aber sie hat das Gefühl, diesen Augenblick schon einmal erlebt zu haben.

»Und unser Zweitplatzierter mit einer Punktzahl von einhundertdreiundsechzig und Gewinner eines Hundert-Pfund-Büchergutscheins ist …« – David Turner blickt auf sein Blatt – »Ben Kerr. Gut gemacht!«

Der Mann im schwarzen Pullover wirft ihr einen Blick zu und steht auf. Er macht ein überraschtes Gesicht und geht nach vorn, um den Preis entgegenzunehmen. In ihr beschleunigt sich etwas, was sie nicht versteht. Ihre Handflächen pochen nach all dem Klatschen. Sie freut sich für ihn, wirklich. Er wirkt nett, aber gleichzeitig gefällt ihr die Vorstellung nicht, dass er mehr Punkte als sie erzielt hat. Und sie hat keine Ahnung, warum ihr das so wichtig ist, denn das hier ist ja nur ein alberner kleiner Wettbewerb, und …

»… dieses Jahr den Titel ›Polyglott des Jahres‹ tragen darf, mit einem Ergebnis von unglaublichen einhundertvierundsechzig Punkten – nur ein Punkt, meine Damen und Herren, trennt unsere Gewinnerin vom geschätzten Zweitplatzierten –, ist Grace Adams. Ganz, ganz herzlichen Glückwunsch, Grace. Wir verneigen uns vor Ihnen!«

Grace braucht einen Augenblick, bis sie begreift, dass David Turner gerade ihren Namen verkündet hat. Die Leute im Saal der Studentenvereinigung drehen sich auf ihren Sitzen um.

»Kommen Sie her, Grace!«, ruft David Turner.

Als sie aufsteht, sind aller Augen auf sie gerichtet. Sie hat gewonnen, sie hat tatsächlich gewonnen. Erfolglos bemüht sie sich, ein Pokerface aufzusetzen, als sie in Richtung Tresen geht. Dieser Tag hat sie erfüllt, das merkt sie jetzt. Er hat sie glücklich gemacht. Es ist das erste Mal, dass sie sich so fühlt, seit Marc – seit Marc und sie – beschlossen haben, dass sie nicht mehr zusammen sein wollen. Eigentlich seit noch längerer Zeit.

Jemand gibt ihr ein Glas Sekt und überreicht ihr den Silberpokal und noch einen Umschlag, doch sie hat keine Hand frei und kann ihn nicht entgegennehmen.

»Ich kann Ihnen jedenfalls verraten«, sagt David Turner und hält den Umschlag hoch, »dass Sie dank unserer großartigen Freunde bei Language Matters ein Wochenende für zwei im wunderschönen Kerensa Hotel in Cornwall gewonnen haben!«

Grace hat keine Ahnung, wie lange es dauert, bis sich die Menge um sie herum zerstreut hat. Sie hat gelächelt und gelächelt und getrunken und getrunken, und ihr Gesicht schmerzt schon vor lauter Anstrengung. Dann sind nur noch sie und der Mann im schwarzen Pullover mit den Löchern an den Handgelenken da. Sie stehen zusammen an der Bar.

»Ich wusste, dass du es sein würdest.« Er kommt ihr so nah, dass sie sich beinahe berühren. »In dem Moment, in dem ich die ganzen Stifte wie eine kleine Armee vor dir aufgereiht sah, wusste ich, dass ich verloren hatte. Aber nur um einen einzigen Punkt.« Er schnalzt mit der Zunge. »Ich bin dir auf den Fersen.«

Sie schenkt Rotwein aus einer Flasche auf dem Tresen in ihr Sektglas. »Aber verdammt noch mal, wenn dein Preis doch nur ein Marks-&-Spencer-Gutschein gewesen wäre. Du weißt schon, dass du einen neuen Pullover brauchst, oder?«

»Witzig, Grace«, sagt er.

Und in der Art, wie er ihren Namen sagt, liegt etwas – als kennte er sie. Sie hat ein flaues Gefühl im Magen.

»Also, ein Wochenende in einem todschicken Hotel … das ist doch ziemlich nett.«

»Ja. Leider kann ich nicht hinfahren.«

»Was? Warum nicht?«

»Ich habe niemanden, den ich mitnehmen könnte.« Grace stellt das Glas ab. »Okay, das klingt ein bisschen komisch, aber ich habe mich vor einem Monat von meinem Freund getrennt. Alle anderen … Wir sind langsam in diesem Alter, weißt du …« Sie verstummt, sie will nicht darüber nachdenken.

»Das ist blöd, tut mir leid.«

»Na ja.« Sie zuckt die Achseln. »Wobei, es wäre noch schlimmer gewesen, wären wir zusammengeblieben. Ich möchte keine Kinder bekommen, und das konnte er nicht akzeptieren.« Zumindest hatte Marc das behauptet. Wenn Grace sich an diesen schrecklichen Abend in dem äthiopischen Restaurant in Kentish Town erinnert, weiß sie, dass es ebenso falsch gewesen wäre, hätte sie gesagt, dass sie unbedingt sofort eine Familie gründen wollte.

Tut mir leid, Schatz, hatte er zu ihr gesagt und sie über den kleinen Tisch hinweg direkt angesehen. Ich liebe dich, aber ich glaube nicht, dass ich so weitermachen kann. Er hatte das in dem Tonfall eines Tierarztes gesagt, der dem Kunden rät, das kranke Tier einschläfern zu lassen.

Sie hatten injera-Fladen mit Fleischeintopf gegessen, und sie kämpfte gegen den Impuls, sich über den Tisch zu beugen und ihm das Essen in sein übertrieben besorgtes Gesicht zu schmieren. Ihr wäre alles recht gewesen, was gegen das Engegefühl in ihrer Brust geholfen hätte.

Sie ist noch einmal davongekommen, selbst wenn es sich nicht so anfühlt, denn in ihrer Beziehung gab es noch andere. Vermutet sie; sie weiß es tief in ihrem Inneren. Er war noch nicht einmal besonders vorsichtig dabei gewesen, aber sie hatte es nicht sehen wollen. Sie war süchtig nach ihm, dummerweise, und er war nicht genug in sie verliebt, deshalb hatte sie drei Jahre verplempert.

Ben neben ihr räuspert sich.

»Tut mir leid.« Sie blinzelt. »Ich habe absolut keine Ahnung, warum ich dir das gerade erzählt habe.«

»Weil der Tag lang war?«, schlägt er vor, und sie lacht.

»Der Tag war wirklich lang, und ich bin ziemlich betrunken.«

»Wer hätte gedacht, dass es so ein wilder Ritt werden würde?«

Bei diesen Worten sehen sie einander an, und Grace möchte nicht wegschauen. Um sie herum verändert sich die Atmosphäre. Als wäre etwas ins Ungleichgewicht geraten.

»Wir könnten den Preis teilen.« Die Worte rutschen ihr raus, bevor ihr Hirn Gelegenheit hat, darüber nachzudenken. »Ich meine, wir sind nur einen Punkt auseinander. Ich habe gewonnen, aber du hättest ebenso gut gewinnen können.« Sie nimmt den Umschlag vom Tresen und wedelt damit. »Willst du mit mir kommen?«

Als sie es ausspricht, kann sie es selbst nicht glauben, dass sie es gesagt hat. Sie will es zurücknehmen, und auch nicht. Ein Teil von ihr denkt: Das Spiel hat begonnen.

Der Mann mit dem schwarzen Pullover fährt sich mit der Hand durchs Haar und mustert sie. »Okay«, sagt er dann. »Warum nicht?«

»Okay«, wiederholt sie und nickt, als versuchte sie herauszufinden, was er gerade gesagt hat.

»Ich meine, ich würde natürlich lieber den Pokal haben, aber wenn du nur den anderen Gewinn …«

Beide müssen über ihren verrückten Vorschlag lachen. Ein blubberndes, übermütiges, halb durchgedrehtes Lachen, denn in diesem Augenblick wissen sie beide, dass sie es wirklich tun werden. Sie wissen – mit der erlesenen Sicherheit eines regelmäßigen Verbs –, dass es passieren wird.

JETZT

Die Sonne wirft Flammen. Grace hält die Autoschlüssel noch in der Hand, als sie beschließt, zu Fuß zu gehen. Eine Straße weiter grollt der stehende Verkehr, die Autos hupen, als wäre es Fasching, und die Erleichterung, sich zu bewegen, nach dem stickigen Mief des Autos auf den eigenen Füßen voranzugehen, ist unendlich. Es ist befreiend. Sie nimmt eine Abkürzung durch die Gasse zwischen dem Hähnchengrill und dem Elektroladen, die auf die Hauptstraße mündet. Trotz der Graffitis an den Wänden, der wuchernden Hecken und des moschussüßlichen Gestanks von der Sonne erhitzter Pisse kann sie mit einer Klarheit denken, die sie seit Tagen, Wochen, sogar noch länger nicht mehr hatte. Sie wird zu Fuß gehen, zu Bens Wohnung im Norden Londons, um ihrer Tochter die Torte für ihren sechzehnten Geburtstag zu bringen. Das ist es, was sie tun wird. Kein Problem.

Sie muss sie nur abholen, die 200-Pfund-Gabe, die ihr wie eine Bestechung vorkommt. Sie ist ihre Einladungskarte, die sie nicht bekommen hat. Grace wird triumphierend erscheinen, als wäre sie der Fluch in einem merkwürdigen Märchen, die böse Fee. »Nein!« Das Wort entfährt ihr, hier in der Gasse, als wäre sie eine Verrückte, die mit sich selbst spricht. So wird es nicht sein. Diese Torte ist eine Gabe der Liebe, und Lotte wird es genau so verstehen. Das wird sie. Und sie wird ihr vergeben.

2002

Sie haben verabredet, sich um sieben Uhr abends am Strand zu treffen. Ben ist mit dem Zug gekommen, weil er weiß, dass das letzte Drittel der Fahrt landschaftlich ziemlich atemberaubend sein soll, aber er hat kaum etwas davon gesehen. Er ist nicht über Seite fünf von No Logo hinausgekommen, hat das Sandwich nicht aufgegessen, das er im Bahnhof Warwick Parkway als Mittagessen gekauft hat, hat nicht einmal die Aufzeichnungen für seine Doktorarbeit aus der Tasche geholt. Bilder vom Wettbewerb blitzen immer wieder in seinem Kopf auf. Bilder von ihr. Wie sie das Haar lässig zu einem Knoten auf dem Kopf geschlungen hat, wie sie die Ärmel ihrer dunklen Jacke aufgekrempelt hat, als meinte sie es wirklich ernst. Wie klug sie war, wie entschlossen, wie lustig, wie schön. Nicht mit Reitturnieren und Gin-Cocktails aufgewachsen, nicht mit einem Code geschrieben, den seine Familie verstehen würde. Sie ist ein Sprachen-Nerd genau wie er. Auf dem Weg die lange Küste entlang, wo es nach Salz, Müll und heißen Steinen riecht, fragt er sich, ob er sie überhaupt wiedererkennt, wenn er ankommt. Er hat niemandem davon erzählt, dass er mit ihr verreist, nicht seinem Mitbewohner Isaac, nicht seinen Brüdern, niemandem. Er hat das Gefühl, als müsste er das hier für sich behalten, ein verrücktes Geheimnis, das er nicht teilen will.

Sie sitzt mit angezogenen Knien im Sand und schaut aufs Meer hinaus. Da sie der einzige Mensch am Strand ist, weiß er sofort, dass sie es ist – ihm geht der Gedanke durch den Kopf, dass er sie wirklich überall erkannt hätte. Ein merkwürdiges, faszinierendes Licht geht von ihr aus, ein surreales Leuchten, das alles an den Rändern rosa färbt. Sein Mund ist ganz trocken. Er streift die Turnschuhe ab, wankt gefährlich, als er sich auch noch die Socken von den Füßen zieht, und dann wappnet er sich, will schon ihren Namen rufen, als sie sich zu ihm umdreht. Ihre Wangen sind gerötet, und mit der Sonne im Gesicht sieht sie aus wie diese Schauspielerin, die schlaue mit dem roten Haar. Julianne Moore.

Er lässt seine Tasche in den Sand fallen und geht auf sie zu.

»Oh, hallo, du bist gekommen«, sagt sie und beschirmt die Augen mit der Hand. »Wie heißt du noch mal?« Und sie lächelt, schnell und breit.

»Sehr drollig.«

»Drollig.« Sie nickt. »Ein gutes Wort.«

»Ein gutes Wort«, stimmt er zu und setzt sich neben sie. Doch nicht zu nah.

Statt ihn zu fragen, wie seine Reise war, oder irgendeinen Small Talk zu beginnen, zeigt sie zur linken Seite des Strandes auf den Horizont. »Da drüben. Schau mal«, sagt sie, als befänden sie sich bereits mitten in einer Unterhaltung, und er folgt ihrem Blick.

Er braucht einen Moment, um es zu erkennen, aber dann sieht er, was sie sieht – etwas, das ein Felsen oder eine Boje sein könnte. Es ist dunkel und schlank, hüpft ziemlich weit draußen auf und ab.

»Ein Seehund?«, fragt er. »Ein Delfin … ein Hai?«

Sie knufft ihn mit dem Ellbogen in die Seite. Ganz leicht, sie berührt ihn kaum. Aber dennoch durchzuckt ein Stromschlag seinen ganzen Körper. »Ein Surfer, du Trottel. Er war schon da draußen, als ich hergekommen bin, und es sieht so verdammt leicht aus, wenn er surft.«

»Surfst du denn auch?«, fragt er und spürt dabei die merkwürdige Form der Worte auf seiner Zunge, spürt, wie er die viel zu formelle Frage übertrieben ausspricht.

»Früher. Aber nicht sehr lange.«

Sie erklärt nicht, und sie stellt ihm auch nicht dieselbe Frage. Sie sitzen schweigend da und schauen hinaus aufs Meer. Ben stemmt die Füße in den Sand, um sich zu erden. Zwischen den Zehen spürt er die raue Körnigkeit, dann ist da ein Flattern in seiner Brust, und er weiß nicht recht, ob es Lampenfieber oder Freude ist. Er weiß nicht recht, was das hier ist, was sie beide hier tun, warum sie hergekommen sind, aber er spürt ihren Sog neben sich. Als wäre ihr Fleisch miteinander verschmolzen, obwohl da ein paar Zentimeter zwischen ihnen sind. Und er fragt sich, spürt sie das auch? Er würde gern die Hand ausstrecken und ihren Blick vom Meer loseisen. Er würde gern in diese dunklen, lachenden Augen blicken und sie fragen, was das hier ist. Er möchte sich entblößen, den Lack abziehen und sagen, wie schräg das ist, dass sie sich kaum kennen und das hier trotzdem tun. Er will sie öffnen, Zugang zu ihr bekommen.

Stattdessen hört er sich fragen: »Hast du schon eingecheckt?«

»Jepp«, sagt sie. »Ich habe uns für neun Uhr einen Tisch reserviert, wenn das in Ordnung ist. Wir können stattdessen aber auch einfach Pommes kaufen oder … Warte.« Sie hockt da, die Stirn gerunzelt, den Oberkörper nach vorn gebeugt, schaut über den Strand hinweg aufs Meer hinaus. Ihre ganze Ausstrahlung hat sich verändert.

»Was?«, fragt er. »Grace?«

»Der Surfer«, murmelt sie, als spräche sie zu sich selbst und nicht zu ihm.