Die Wurzler - Djamila Çamdeviren - E-Book
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Die Wurzler E-Book

Djamila Çamdeviren

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Beschreibung

Entdecke die faszinierende Welt der Wurzler Als der ruhige Adrian die geheimnisvollen Wurzler kennenlernt, wird sein Leben auf den Kopf gestellt. Zusammen mit seinem besten Freund David und der Hilfe von Miranda erlebt er Unglaubliches! Was ist das Geheimnis der Wurzler? Werden die Freunde es schaffen, die wachsenden Katastrophen aufzuhalten? Und was haben überhaupt diesen Fremden im Wald zu suchen? Erstmals mit wundervollen Illustrationen der Wurzler und zwei völlig neuen Kurzgeschichten ist dieser Sammelband ein Muss für jeden Wurzlerfreund!

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Djamila Çamdeviren

 

 

 

 

 

Die Trilogie

 

Übermut | Schwermut | Heldenmut

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Mit Illustrationen von

Claire Brumloop

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Die Wurzler-Trilogie

Übermut | Schwermut | Heldenmut

mit zwei Bonus-Kurzgeschichten

 

 

 

 

 

 

 

 

1. Auflage 2024

© 2024 Djamila Çamdeviren

 

Texte, Umschlaggestaltung & Satz: Djamila Çamdeviren

Bild Umschlag: freepik.com | tohamina

Illustrationen der Wurzler: Claire Brumloop

 

Herstellung und Verlag:

epubli – ein Service der Neopubli GmbH, Berlin

 

www.eleprosa.de

 

Vorwort

Es ist immer schwierig, die richtigen Worte zu finden.

   Besonders dann, wenn man glaubt, dass sie ohnehin nicht gelesen werden. Seien wir doch mal ehrlich – wer ließt schon das Vorwort? Und dennoch möchte ich ein paar Dinge loswerden:

 

Es war ein Raum von etwa fünfundzwanzig Quadratmetern; die mittlere Wohnung im vierten Stock eines alten Hauses mitten in Berlin Neukölln.

 

   Hier lebte ich, während 2009 ich mein Abitur auf dem zweiten Bildungsweg machte. Hier schrieb ich die ersten Ideen zu den Wurzlern auf.

 

   Im Jahr 2013 hatte ich lange Pausen bei meinem damaligen Job und in diesen füllte sich mein kleines Notizbuch mit immer mehr Informationen über diese lustigen Wesen, die zwischen den Wurzeln der Bäume geboren werden und mit ihrer speziellen Gabe Pflanzen wachsen lassen konnten.

 

Seitdem ist viel Zeit vergangen. Die Wurzler gibt es mittlerweile in drei Bänden, jeweils in einer komplett überarbeiteten Auflage. Wozu nun ein Gesamtwerk?

 

   Nun, ich bin der Meinung, dass dies die beste Möglichkeit für mich ist, die Geschichte zu einem würdigen Abschluss zu bringen. Die Wurzler bedeuten mir viel – immerhin sind sie der Kern meiner ersten Trilogie, doch es ist an der Zeit, mich neuen Themen zu widmen. Ein letztes Mal kehre ich nun in die Welt der Wurzler zurück, um euch diesen großartigen Sammelband mit zwei, bisher unveröffentlichten, wurzeligen Kurzgeschichten und (einige werden sich vermutlich sehr freuen) Illustrationen der Wurzler zu präsentieren – und das auf genau 400 Seiten.

 

   Was in meiner kleinen Wohnung vor über fünfzehn Jahren begann, findet nun hier seinen Abschluss. Ein dauerhaft aktuelles Thema, welches zwischen den Zeilen eines Kinderbuchs vielleicht auch die Herzen vieler Erwachsener berührt. Durch die piepsigen Stimmen kleiner erdfarbener Wurzler, die euch fröhlich zuwinken und bestimmt auch gerne auf ein paar Kürbis- oder Sonnenblumenkerne oder einem Glas leckerer Marmelade bei euch vorbeischauen.

 

   Und falls ihr wieder einmal kleine Dinge vermisst: Stellt euch einfach vor, wie sie einem liebenswerten Wurzler beim Bau seiner Behausung geholfen haben.

Band I: ÜBERMUT

Familie Fuchs zieht ein

Als Adrian aus dem Auto stieg und die bröckelnde Fassade seines neuen Heims betrachtete, wäre er am Liebsten sofort wieder eingestiegen und nach Berlin zurückgefahren. Doch leider hatte er keinen Führerschein.

    Adrian Fuchs war nämlich erst zwölf Jahre alt, er hatte kurze schwarze Haare und große blaue Augen.

   »Wie findest du es?«, fragte ihn seine Mutter begeistert.

   Elisabeth Fuchs strahlte über ihr ganzes schmales Gesicht, als sie verträumt das Haus betrachtete.

   Adrian wusste, wie sehr seine Mutter sich gefreut hatte, als sie den Kaufvertrag für dieses alte Haus unterschrieben hatten. Er konnte ihr jetzt einfach nicht seine ehrliche Meinung sagen. Leider war Adrian nicht besonders gut im Lügen, weshalb er nur ein gemurmeltes »Mhhh …« von sich gab und sich danach schnell abwandte.

   Direkt neben ihrem neuen Haus stand noch ein anderes. Es hatte nur ein Stockwerk, welches sich über die gesamte Breite des Innenhofes erstreckte. Auf den Fensterbrettern standen viele verschiedene Topfpflanzen eng beieinander. Hinter den Fenstern konnte Adrian altmodische Gardinen entdecken und – Adrian erschrak kurz – eine alte Frau mit grauem Dutt, die sie neugierig musterte.

   »Oh, das muss unsere neue Nachbarin Frau Ilsebech sein«, sagte sein Vater, der jetzt auch aus dem Auto ausgestiegen war und sich neben seinen Sohn stellte.

   Bernd Fuchs hatte lange blonde Haare und roch immer stark nach dem Waschmittel, mit dem seine Frau die Hemden wusch.

   Adrians Mutter schloss nun die Haustür auf und rief ihn und seinen Vater zu sich.

   Der Eingangsbereich wirkte recht dunkel und es roch nach Staub und muffigen Vorhängen. Direkt vor ihren Nasen hing eine breite Garderobe und rechts war ein schmales Fenster in die Wand eingelassen. Sie gingen nach links und standen bald in einer großen offenen Küche an die ein breites Wohnzimmer angrenzte. Adrian ging um die Ecke nach links und entdeckte eine holzerne Treppe und daneben zwei Türen. Nach den rostigen Schildern, die an ihnen klebten, führten die Türen in ein Badezimmer und ein Schlafzimmer. Die alten Treppenstufen knirschten fürchterlich, als er sie vorsichtig hinaufstieg. Oben angekommen blickte er direkt durch eine offene Tür in ein geräumiges leeres Zimmer, rechts neben diesem befand sich eine Art Abstellkammer und ihr gegenüber befand sich ein weiteres, kleineres Bad. Am Ende des Flurs gab es eine letzte verschlossene Tür. Adrian öffnete sie vorsichtig. Hier war es dunkel, weil die mottenzerfressenen Vorhänge zugezogen waren. Durch ihre Löcher drangen Lichtstrahlen, in denen der feine Staub zu tanzen schien. Das Zimmer war leer, aber der Schnitt und die Lage gefielen ihm. An diesem Ort könnte er ungestört sein, selbst wenn seine Eltern ein Stockwerk tiefer im Wohnzimmer waren. Lächelnd drehte er sich um und ging wieder hinunter, um seinen Eltern seine Entscheidung mitzuteilen. Hoffentlich würden sie seinen Wunsch akzeptieren.

   Bernd und Elisabeth sahen sich gerade das Schlafzimmer an, als Adrian zu ihnen stieß.

   »Kann ich das Zimmer haben, das sich hier drüber befindet?«, fragte er.

   »Natürlich, Schatz. Das sollte kein Problem sein«, sagte seine Mutter. »Hast du schon die Veranda gesehen? Die ist wunderhübsch!« Sie deutete auf die offene Tür, die sich gegenüber dem Schlafzimmer befand. Als sie hineingekommen waren, hatte Adrian hinter den dicken Vorhängen gar keine Tür erwartet. Sofort ging er auf sie zu und direkt nach draußen.

   Es tat ihm gut die frische Luft einzuatmen. Ein niedriger Zaun trennte die Veranda von einem riesigen Garten. Drei große Bäume verteilten sich auf dem Grundstück. Zwei von ihnen standen in den hinteren Ecken und einer befand sich mehr oder weniger in der Mitte. Früher schien hier auch Gemüse oder ähnliches angebaut wurden zu sein, doch jetzt waren nur noch trockene Erdfelder zu sehen.

   Der Garten verlief links um das Haus herum und als Adrian um die Ecke blickte, sah er Frau Ilsebech, ihre Nachbarin, wieder.

   »Äh… Hallo«, rief er vorsichtig und hob seine Hand zum Gruß.

   Als hätte Frau Ilsebech nur darauf gewartet, stellte sie ihre grüne Gießkanne ab und huschte zu ihm herüber.

   »Hallo, mein Lieber. Ihr müsst die Familie Fuchs sein, richtig? Und? Wie gefällt euch das Haus? Ihr bleibt doch hier, oder?«, sprudelte sie los.

   »Nun, wir haben es ja gekauft, oder?«, sagte er unsicher.

   »Ja ja, das stimmt wohl. Hat es sich denn sehr verändert?«

Ohne auf eine Antwort zu warten, wuselte sie ins Haus hinein und redete sogleich weiter auf seine Eltern ein.

   Adrian seufzte und drehte sich wieder zum Garten um. Diese Frau gehörte wohl zu einer besonders neugierigen und aufdringlichen Sorte.

   Inzwischen war es fast Mittag.

Die warme Augustsonne stand hoch oben am Himmel und erinnerte Adrian daran, dass er eigentlich Sommerferien hatte. Leider waren die Ferien in Brandenburg zur selben Zeit wie die in Berlin. Gerne hätte er länger Ferien gehabt.

   Der Ort, in dem sie jetzt lebten, hieß Mullenstedt und er lag irgendwo tief in der märkischen Schweiz, die sich wiederum irgendwo in Brandenburg befand. Adrian war nicht so gut in Geografie und es hatte ihn auch nicht sonderlich interessiert wo sie hinziehen würden, da er daran sowieso nichts hatte ändern können.

   Während er jetzt durch den Garten schlenderte und darauf wartete, dass Frau Ilsebech das Haus wieder verließ, dachte er an seine neue Schule.

   Er würde sich komplett neu eingewöhnen müssen. Neue Lehrer, neue Schüler und neuer Unterrichtsstoff. In Chemie und Biologie war er gar nicht so schlecht, aber was das Schließen neuer Freundschaften anging, war er nicht sehr begabt.

   Die werden mich doch schon nicht mögen, weil ich aus der Stadt komme, dachte er verzweifelt. Und besonders groß und stark bin ich auch nicht, um eine eindrucksvolle Figur abzugeben. Ich bin nur –

   Doch ein plötzliches Geräusch riss ihn aus seinen Gedanken.

   Er war gerade bei dem hintersten Baum in der rechten Ecke angekommen, als die Erde an dessen Wurzeln sich zu bewegen schien. Interessiert hockte er sich hin und starrte auf die Stelle.

   Sekundenlang passierte gar nichts.

   »Adrian! Kommst du mal bitte?«, rief ihn seine Mutter.

   Als er sich jetzt zu ihr umdrehte, bewegte sich die Erde erneut, aber Adrian sah es nicht. Er stand auf und ging zum Haus zurück.

   Spontan drehte er sich noch einmal zu den Wurzeln um und sah dort nun ein kleines Loch, das mit ziemlicher Sicherheit vorher noch nicht dort gewesen war.

   

Der Umzug stellte sich als äußerst stressig heraus. Obwohl Familie Fuchs genügend Helfer hatte, brauchten sie doch eine gefühlte Ewigkeit, um das alte Haus erst einmal von Grund auf zu reinigen.

   Adrian fand Hausputz schrecklich. Er beschloss sich nur um sein eigenes Zimmer zu kümmern, so lange ihn niemand um etwas anderes bat. Und da er sich in dem hintersten Zimmer des oberen Stockwerkes befand, machte sich auch niemand die Mühe ihn zu rufen.

   Am Abend des vorletzten Augustwochenendes waren sie endlich fertig. Alles war sauber, die Kartons waren größtenteils ausgepackt und Adrian war sehr stolz auf sich. Doch ausruhen konnte er sich noch nicht wirklich, denn seine Mutter erinnerte ihn gerade an eine schlimme Tatsache: »Denk daran, dass du jetzt nur noch eine Woche Ferien hast. Brauchst du noch neue Sachen für die Schule?«

   »Nein. Ich habe schon alles«, sagte er. »Und vor allem habe ich noch eine Woche Ferien.«

   »Ich weiß, mein Schatz. Ich will nur, dass du gut vorbereitet bist.«

   »Bin ich«, sagte er und fügte in Gedanken hinzu: Um mich fertig machen zu lassen.

   Je näher sein erster Schultag rückte, umso schlechter fühlte Adrian sich. Er blieb an seinem letzten Ferientag besonders lange im Bett liegen und stand erst auf, als er den leckeren Geruch nach gebratenem Schinken wahrnahm.

   Als er an dem Zimmer neben der Abstellkammer vorbeikam, knallte es von dort drinnen laut. Sein Vater hatte es zu seinem Experimentierzimmer gemacht.

   Eigentlich war Bernd Fuchs von Beruf nämlich Chemiker und Dozent an einer Universität in Berlin. Wegen des Umzuges hatte er sich freistellen lassen und benahm sich jetzt wie ein verrückter Alchemist, der an geheimen Tränken arbeitete.

   Adrians Mutter war eine Schriftstellerin historischer Romane. Sie hatte die seltsame Angewohnheit die dicken Bücher für ihre Recherchen immer mit einer Brille auf der Nase zu lesen, die gar keine Gläser hatte.

   Das Mittagessen schmeckte ihm köstlich und während sie alle zusammen aßen, konnte ihn auch niemand auf den morgigen Tag ansprechen. Er wollte nicht daran denken. Nicht an die Schule und nicht an seine neuen Mitschüler.

 

Leider kam der besagte Morgen viel zu schnell.

Adrian stand gähnend auf, schlenderte kurz ins Bad, aß dann unten sein Frühstück, ging wieder hoch um sich die Zähne zu putzen, zog sich an und schulterte seufzend seinen Rucksack.

   »Viel Spaß, mein Schatz!«, rief seine Mutter ihm fröhlich hinterher, als er das Haus verließ.

Ob er Spaß haben würde, bezweifelte Adrian noch.

   Seine neue Schule war das Gerald-Grosse-Gymnasium im nächsten Ort.

   Um zu der Bushaltestelle zu kommen musste er nur aus der Seitenstraße, in der ihr Haus stand, hinaus und einmal über die Hauptstraße gehen. Mullenstedt war wirklich ein kleines Nest. Es gab keine U-Bahn, keine S-Bahn und auch keine Tram. Nur den Bus und die Autos der Erwachsenen. Sicherlich hätte er auch mit dem Fahrrad fahren können, aber die Straße, die in den nächsten Ort führte, hatte nicht einmal einen Fahrradweg.

   Als Adrian auf die Bushaltestelle zuging, entdeckte er sechs weitere Schüler die bereits dort standen. Sie musterten ihn mit einer Mischung aus Neugier und, wie Adrian bereits vermutet hatte, Abneigung.

   Er wartete also lieber ein wenig von ihnen entfernt.

Ein blonder schmaler Junge, der größer war als Adrian, betrachtete ihn eindringlich. Seine dünnen Haare waren ziemlich wuschelig und seine lange Nase war gesäumt von unzähligen hellen Sommersprossen. Die Jahreszeit hatte seiner Haut außerdem einen hübschen Bronzeton verliehen.

   Dieser Junge war es, der jetzt auf die gegenüberliegende Straßenseite deutete und schrie: »Seht mal! Da!«

   Ein paar rosa Topflappen schien über den Bordstein zu schweben und war im nächsten Moment auch schon hinter einem großen Busch verschwunden.

   Die Jungen und Mädchen begannen jetzt aufgeregt zu schnattern, doch dann kam auch schon der alte Schulbus.

   Adrian schaute noch einmal um den Bus herum zu dem Busch, um sich zu vergewissern, dass er nicht geträumt hatte. Aber natürlich war dort wirklich nichts mehr zu sehen. Die Topflappen waren verschwunden.

   »Komm schon. Der Busfahrer wartet nicht gerne!«, rief der blonde Junge Adrian zu. Schnell lief er zu ihm und stieg ein. Er zeigte dem Fahrer seinen Ausweis und schaute sich jetzt nach einem Sitzplatz um. Alles schien besetzt zu sein.

   »Hey! Komm doch hierher! Hier!«

Der blonde Junge winkte ihm zu und Adrian war so verdutzt über diese Geste, dass er noch stand, als der Bus bereits losfuhr, weshalb er fast nach vorne gekippt wäre.

   Schwankend bahnte er sich einen Weg zu dem Jungen und setzte sich schweigend neben ihn.

   In dem Bus roch es genauso muffig, wie noch vor kurzem in ihrem Haus. Die Sitze wiesen seltsame Flecken auf und an manchen Stellen war ihre Füllung herausgezogen worden.

   »Du bist doch der, der jetzt neben der Ilsebech wohnt, oder?«, fragte der Junge.

   Dass er davon wusste, zeigte Adrian wieder einmal, wie klein Mullenstedt wirklich war. Wahrscheinlich kannten schon alle seine halbe Lebensgeschichte.

   Er nickte.

   »Ich bin David. Freut mich. Mein Vater kommt auch aus Berlin. Ich kenne mich da also ein bisschen aus.«

   »Und wie lange lebt ihr schon hier?«, fragte Adrian, erfreut über die Tatsache, dass er nicht der einzige aus der Stadt war.

   »Schon ewig. Seit meinem fünften Lebensjahr, oder so«, sagte er nachdenklich.

   Das fand Adrian seltsam. Er runzelte die Stirn.

   »Naja, meine Eltern leben getrennt, weißt du«, erklärte er sofort.

   »Oh.«

   »Nicht so schlimm. Ich kenne es ja eigentlich gar nicht anders. Wie heißt du eigentlich?«

   »Adrian.«

Zu mehr Unterhaltung kamen sie für den Anfang nicht, denn der Bus hatte bereits vor der Schule gehalten und alle Schüler strömten hinaus.

   Adrian folgte ihnen bis in das graue Gebäude hinein und blieb dann ratlos vor dem schwarzen Brett stehen, dass überfüllt war mit Massen von Zetteln.

   »Na, in welche Klasse musst du denn?«, fragte ihn David, der plötzlich wieder hinter ihm aufgetaucht war.

   »6a.«

   »Cool«, grinste er. »Dann bist du in meiner Klasse.«

Er schaute auf das schwarze Brett und schien in diesem Durcheinander tatsächlich etwas zu erkennen. »Oh nein«, seufzte er. »Gleich die erste Stunde Deutsch mit der Brenner. Komm mit, wir müssen da lang.«

   Die Schule wirkte so dermaßen trostlos, dass Adrian sich sicher war, hier nicht glücklich zu werden. Immerhin ging er in dem Gedränge des ersten Schultages nach den Ferien herrlich in der Menge unter und niemand konnte ihn komisch ansehen. In seiner ausgewaschenen Jeans und dem grauen Kapuzenshirt fiel er auch nicht besonders auf. Der schlaksige David mit seinem weißen bedruckten Shirt und den kurzen hellen Hosen passte sich ebenso gut der Menge an.

   »Hey. Jetzt wo du in Mullenstedt wohnst, musst du auch von unserem Fluch wissen. Oder weißt du schon was?«, fragte David.

   Adrian sah ihn verwirrt an: »Was für ein Fluch?«

   »Na, unser Fluch«, grinste David. »Auf Mullenstedt liegt doch ein Fluch.«

   Er wollte ihm nicht recht glauben. David lotste ihn in ein stickiges Klassenzimmer. Ihre Mitschüler hatten die Fenster bereits weit aufgerissen.

   Sie setzten sich nebeneinander an einen der hinteren Tische.

   »Pass auf«, sagte David. »In Mullenstedt verschwinden ab und zu mal Sachen. Schlüssel oder Stifte und so Zeug. Manchmal tauchen die auch wieder auf. Es ist voll komisch. Die Topflappen heute morgen, dass war auch unser Fluch. Wir Mullenstedter sind verdammt stolz auf diesen Fluch, denn niemand weiß, wer sich da einen Spaß erlaubt, aber wir finden es witzig. Verstehst du? Sachen verschwinden lassen ist unsere Spezialität. Wenn du zum Beispiel deine Hausaufgaben vergessen hast, kann dir kein Lehrer beweisen, dass das nicht der Fluch war. Ist verdammt praktisch.«

   Für Adrian klang das nicht unbedingt nach einem Spaß. Er fand es doch schon ziemlich gruselig, wenn Dinge kamen und gingen, wie sie wollten. Diese Topflappen heute früh waren schon ein seltsamer Anblick gewesen.

   »Aber hat denn noch niemand versucht herauszufinden, warum die Dinge verschwinden?«, fragte er.

   »Nö. Das ist wohl schon seit Jahren so. Wahrscheinlich sind die meisten Leute auch einfach nur zu schusselig.«

   »Aber diese Topflappen – «

Weiter kam Adrian nicht, denn in diesem Moment betrat Frau Brenner das Klassenzimmer und bat um Ruhe.

   Nachdem Adrian die Formalitäten mit ihr geklärt hatte, konnte er ganz normal am Unterricht teilnehmen. Schon bald war er sehr erfreut darüber, dass sie in seiner alten Schule bereits viel weiter mit dem Stoff gewesen waren und er sich jetzt erst einmal keine Sorgen zu machen brauchte.

   Nach dem Deutschunterricht kam Mathematik und danach folgten Kunst und Biologie. Jeweils als Doppelstunde. Am Ende des Tages fühlte Adrian sich ziemlich ausgelaugt, da sie meistens nur über ihre Ferien geredet, Filme geschaut oder den kommenden Unterrichtsstoff besprochen hatten.

   »Ab nach Hause!«, sagte David sobald es geläutet hatte und wandte sich dann an Adrian: »Kommst du?«

   »Ja. Wird auch Zeit. Ist diese Frau Böhmer immer so drauf?«, fragte er.

   »Leider. Ich glaube, dass sie eigentlich gar keine Biolehrerin ist und das nur macht, weil uns die Lehrer fehlen.«

   »Das merkt man.«

Sie brachen beide in schallendes Gelächter aus und fuhren dann gemeinsam nach Hause. Adrian war froh, bereits jetzt einen Freund gefunden zu haben, mit dem die Schulzeit erträglicher wurde.

   

Am nächsten Morgen wurde Adrian durch sein eigenes Niesen geweckt.

   Er öffnete blinzelnd seine müden Augen, rümpfte die Nase und rieb an ihr. Als er schniefte, nahm er aus irgendeinem seltsamen Grund auf einmal den leichten Geruch von frischer Erde war, obwohl nicht eine einzige Pflanze in seinem Zimmer stand.

   Immer noch total verschlafen setze er sich schließlich auf und griff wie gewohnt unter sein Bett, um seine Hausschuhe hervorzuziehen. Er schlüpfte in den rechten hinein und spürte plötzlich einen unerwarteten Stich in seinem großen Zeh.

   »Au!«

   Erschrocken zog er sofort den Fuß wieder heraus und staunte nicht schlecht, als da ein kleines, erdfarbenes Etwas an seinem Fuß baumelte.

 

 

Dem Fluch auf der Spur

Dieses Etwas schaute ihn mit kleinen schwarzen Knopfaugen erschrocken an und versuchte dann ein wenig zu lächeln. Seinen Mund konnte man jedoch kaum erkennen, da eine große dicke Knollennase diesen verbarg. Seine Ohren waren fast so groß wie sein Kopf und auf diesem trug es eine Art runden weißen Hut mit einer Sonnenblume obendrauf.

   Adrian setze seinen Fuß vorsichtig ab, damit das Geschöpf wieder mit beiden Beinen auf dem Boden stand. Es war nicht größer als zehn Zentimeter.

   Als es seinen Fuß jetzt losließ, zuckte Adrian kurz zusammen und sah nun auch den Grund für den Stich: Das kleine Geschöpf hatte lange, gebogene Krallen an seinen Fingern. Von denen hatte es an jeder Hand nur vier Stück.

   Ein Tröpfchen Blut landete auf seinem Hausschuh. Das kleine Kerlchen drückte nun das Ende seines unglaublich langen dünnen Schwanzes gegen Adrians Zeh.

Das, was es dagegen drückte, war ein Blatt. Ein einfaches, breites Ulmenblatt.

   Adrian schob das Geschöpf mit einem sanften Lächeln beiseite, nahm sich aus der Schublade seines Nachttisches ein einzelnes loses Taschentuch und tupfte damit kurz das Blut weg.

   Als das kleine Wesen etwas zurückgetreten war, erkannte Adrian, dass es winzige gelbe Gummistiefel und eine grün-braune fleckige Hose trug, die in die Stiefel hineingesteckt war. Oben gehalten wurde sie aus selbstgemachten Hosenträgern, die früher einmal schwarze Schnürsenkel gewesen waren. Außer diesen trug es nichts an seinem Oberkörper.

   Adrian fand, dass es irgendwie recht drollig aussah, so klein und pummelig wie es war.

   »Es tut mir sehr leid. Aber ich hatte Angst, du würdest mich zerquetschen«, entschuldigte sich das seltsame Geschöpf nun mit einer wehleidigen, gepressten Stimme.

   Adrian schüttelte den Kopf und grinste: »Das muss dir nicht leidtun«, sagte er. »Was genau bist du denn?«

   Das Geschöpf öffnete den Mund und schloss ihn sofort wieder.

   Eine ganze Weile sah es Adrian abschätzend an, dann grinste es plötzlich frech, schnappte sich den Hausschuh mit dem Blutfleck und kletterte mit ihm geschickt auf den Computerstuhl am anderen Ende des Raumes. Von dort aus sprang es auf den Schreibtisch und hüpfte schließlich aus dem offenen Fenster hinaus.

   Adrian konnte gar nicht so schnell aufstehen, wie sein Besucher durch das Fenster verschwunden war. Als er jetzt aus diesem hinaussah, entdeckte er nur noch wie das kleine Kerlchen in einem nahegelegenen Busch verschwand.

   Während Adrian mit großen Augen und offenem Mund seine Verärgerung zum Ausdruck brachte und laut: »Hey! Bring mir sofort meinen Hausschuh zurück!« schrie, schaute ihn Frau Ilsebech erschrocken an. Sie hatte gerade ihre Pflanzen gegossen und das kleine Wesen gar nicht bemerkt.

   »Was ist denn mit dir los, Junge? Hast du schlecht geträumt?«, fragte sie ihn blinzelnd.

   Erst jetzt bemerkte Adrian die alte Frau.

   »Ähm ... Ja, habe ich. Entschuldigung. Ich ... muss jetzt zur Schule«, sagte er hastig und zog sich schnell in sein Zimmer zurück.

   Er hätte ihr unmöglich von seinem Besucher erzählen können. Vielleicht hatte er ja wirklich nur geträumt. Aber wo war dann sein Hausschuh?

   Adrian brauchte eine kurze Weile, um sich daran zu erinnern, dass er heute tatsächlich in die Schule musste und noch einen Biologietest vor sich hatte.

   Schnell machte er sich fertig und ging dann hinunter in die Küche, um zu frühstücken.

   »Warum bist du denn schon so früh wach?«, fragte ihn seine Mutter stirnrunzelnd.

   »Früh? Wieso?«, Adrian schaute auf die große Wanduhr und blinzelte. Es war kurz vor sechs.

   »Verrätst du mir, warum unsere Nachbarin morgens um kurz vor sechs ihre Blumen gießt?«

   »Ich habe keine Ahnung.«

Adrian seufzte. Es war eindeutig zu früh.

   »Mama?«, fragte er sie, »Hast du ein Pflaster? Ich glaube, der Mullenstedter Fluch hat mich heute Nacht erwischt.«

   Der Fluch war eine gute Ausrede, damit hatte David jedenfalls Recht gehabt. Seine Mutter fragte auch nicht weiter nach und reichte ihm ein Pflaster aus der Küchenschublade.

   »Danke.«

   »Vermutlich müssen wir in deinem Zimmer doch noch einmal den Boden abschleifen. Ich will nicht, dass du dir noch mehr Splitter einfängst.«

   Adrian liebte es, wie seine Mutter immer ihre eigenen Theorien aufstellte und mögliche Fakten einfach ignorierte.

   Ganz gemächlich genoss er jetzt sein Frühstück und konnte schließlich ohne Zeitdruck zur Bushaltestelle schlendern, wo David schon wartete.

   Der Rest der Schulwoche verlief weitestgehend normal. David und Adrian verbrachten die Zeit immer zusammen. Sie sprachen über die Schule, die Lehrer und über ganz bestimmte Mitschüler. Adrian erfuhr, dass das Angeln Davids größtes Hobby war und er hörte zum ersten Mal etwas vom Mullefest.

   »Was ist denn ein Mullefest?«, fragte er ihn.

   »Ein Fest in Mullenstedt natürlich«, erklärte David. »Es findet immer am ersten Wochenende im September statt. Also an diesem. Da kommen auch ganz viele Leute aus den anderen Dörfern. Es gibt was zu essen und zu trinken. Man kann auch alles mögliche kaufen. Die Musik ist schrecklich, aber der Käsekuchen von der Frau Ilsebech ist der Hammer.«

   Schnell war beschlossen, dass sie zusammen dort hingehen würden. Adrian erwartete nichts Großes. Immerhin war das Mullefest immer noch ein Dorffest.

 

Die Sonne schien hell über dem engen, aber dicht besiedelten Marktplatz des Dorfes. Viele Bäume und Blumenkübel standen um den Platz herum und auch einige Holzbänke.

   In der Mitte befand sich ein kleiner Brunnen, der allerdings zur Zeit nicht funktionierte. Er stellte das Wahrzeichen des Dorfes dar: einen großen, aus Bronze gegossenen Maulwurf, der in den Himmel hinauf sah. Üblicherweise floss das Wasser dann aus dessen Mund und hinunter in das breite Becken unter ihm.

   Um den Brunnen herum waren kleine Stände aufgebaut. Auf Adrian wirkte es wie ein Flohmarkt, denn fast jeder schien einige seiner persönlichen Sachen zu verkaufen.

   »Das ist also das große Mullefest?«, fragte Adrian belustigt.

   »Nee. Die Buden an der Dorfstraße gehören doch auch noch dazu«, sagte David.   

   Die Dorfstraße war von dem Marktplatz zwei Querstraßen entfernt. Dort standen viele kleine Läden links und rechts auf den breiten Bürgersteigen. Autos fuhren an diesem Wochenende keine durch Mullenstedt. Die Leute aus den umliegenden Dörfern hatten am Dorfrand geparkt und waren dann zu Fuß zu dem Fest gegangen.

   »Man kann hier bis zum Abend bummeln, sich die Waren der Stände ansehen, diese kaufen, oder sich eine der vielen Köstlichkeiten gönnen. Das Fest selbst, also die berühmte Rede des Bürgermeisters und das Feuerwerk, können wir erst am Abend genießen«, erklärte David und umfasste mit einer Handbewegung den kleinen Marktplatz.

   Adrian musste sich sein Grinsen verkneifen, wenn er an die Feste in Berlin dachte.

   Die schwüle Luft auf dem Marktplatz war erfüllt von den Gerüchen der Menschen, die versuchten mit Parfüm und Deodorant die Leute um sich herum zu benebeln. Laute Stimmen verkündeten, was man sich zuerst ansehen sollte. Man spürte förmlich die Freude der Leute, die sich so intensiv auf diesen einen Tag vorbereitet hatten.

   Das Wetter meinte es heute gut mit den Mullenstedtern, fast ein wenig zu gut, fand Adrian.

   »Lass uns mal kurz hinsetzen« schlug er David vor.

   »Na gut.«

Sie steuerten auf einen Platz zu, doch eine ältere dicke Dame ließ sich dort gerade nieder. Aber sie blieb nicht lange sitzen. Kaum hatte ihr etwas breiteres Hinterteil die Bank berührt, sprang sie wieder auf und schaute erschrocken auf den leeren Platz. Doch auch ihr erneuter Versuch sich zu setzen schlug fehl und schließlich ging die Dame, die nun ziemlich unzufrieden und empört aussah, verärgert weiter. Kurz darauf wurde der Mann, der neben dem besagtem freien Platz saß, gebeten zu rutschen, damit die Frau, die links von ihm saß, ihrer Freundin noch einen Sitzplatz anbieten konnte. Doch auch diesem Mann war es unmöglich auf dem Platz sitzen zu bleiben. Sofort sprang er auf und rieb sich mit offenem Mund seinen flachen Hintern. Dann ging auch er und der Platz blieb leer.

Adrian und David sahen sich an.

   »Versuchen wir‘s?«, fragte David.

   »Klar«, sagte Adrian und grinste.

Sie versuchten ihr Glück, doch auch sie konnten nicht sitzen bleiben.

   »Das ist nicht lustig«, fluchte David und starrte die Bank böse an. Adrian jedoch sah zwischen den Brettern der Bank hindurch nach unten und erkannte die Ursache des Übels.

   Als dieses Übel jetzt erkannte, dass es entdeckt wurden war, lief es flink durch die Beine der Passanten davon. Erst da sah Adrian, dass es gar nicht das selbe Übel war wie jenes, das seinen Hausschuh gestohlen hatte. Dieses hier trug rote Gummistiefel und am Ende seines Schwanzes hing ein breites Ahornblatt.

Eine ganze Weile blieb Adrian wie angewurzelt stehen und schaute in die Richtung, in die das seltsame Kerlchen verschwunden war.

   »Komm. Lass uns gehen«, sagte David jetzt und boxte ihm leicht gegen den Oberarm. »Ich hab Hunger.«

Adrian sah ihn fragend an: »Hast du eben nicht –«, doch er brach frühzeitig ab und schüttelte den Kopf. »Schon gut. Gehen wir.«

   Vielleicht hatte er sich dieses Wesen ja auch nur eingebildet und vielleicht war es wirklich nur ein böser Splitter der Holzbank gewesen.

   Sie gingen in Richtung Dorfstraße und David erzählte wieder munter drauf los. Ab und zu stellte er Adrian auch einige Fragen, doch er ließ ihm kaum genug Zeit zum antworten. Immer wieder untermalte er seine lange Geschichte mit Händen und Füßen, doch schlussendlich war der Inhalt sehr einfach: Seine Mutter hatte ihn nicht zum Fest gehen lassen wollen, bevor er sein Zimmer aufgeräumt und seine Kleidung zusammengelegt hatte und sie hatte ihm gedroht, ihn einzuschließen oder ihn besser doch gleich mit seiner neuen Angelrute zu verprügeln.

   Natürlich würde seine Mutter so etwas nie tun. Von dem, was Adrian bis jetzt von ihr gehört hatte, war Davids Mutter eine sehr liebevolle und ruhige Frau. Wahrscheinlich musste man als Mutter manchmal einfach durchdrehen, besonders wenn man David zum Sohn hatte.

   Dessen größte Sorge galt in erster Linie seiner Angelrute: »Was ist, wenn sie sie einfach kaputt macht, weil sie immer noch sauer auf mich ist?«, fragte er ängstlich.

   Adrian schaute ihn nicht an, als er trocken antwortete: »Dann überlegst du dir beim nächsten Mal, ob du nicht sofort deine Aufgaben erledigst?«

   David sah ihn perplex an und Adrian grinste jetzt.

   »Wirklich witzig«, beschwerte sich David.

   »Ich weiß. Entschuldigung. Aber du musst sie ja nicht so auf die Palme bringen, oder?«

   »Vielleicht.«

   Dann war David still und sagte lange nichts mehr. Wahrscheinlich dachte er darüber nach, ob sein neuer Freund nicht eventuell vielleicht sogar Recht hatte. Es fiel ihm jedoch sichtlich schwer sich mit diesem Gedanken anzufreunden.

   Endlich hatten sie die Dorfstraße erreicht. Sofort drang laute Heimatmusik, vermischt mit dem Klang eines Kinderliedes an ihre Ohren.

   David und Adrian schauten sich neugierig um. Die Dorfstraße war so lang, dass sie ihr Ende gar nicht sehen konnten. Wahrscheinlich war es die längste Straße in ganz Mullenstedt.

   Gleich links von ihnen befand sich der Stand von Herr Schacht. Er war ebenfalls ein Nachbar von Frau Ilsebech, nur eben auf der anderen Seite ihres Hauses. Herr Schacht hatte einen kleinen Bauernhof, auf dem es jedoch nur noch Hühner und Felder gab. An seinem Stand konnte man demnach Eier und selbstgemachte Marmelade kaufen. Ein paar Läden weiter verkaufte eine Dame aus dem Nachbardorf ihre selbstgemachten Tischdeckchen. Dieser Stand war größtenteils von Frauen eines bestimmten Alters besucht. Neben diesem versuchte ein Junge aus ihrer Klasse seine Modellautos zu verkaufen. David konnte gar nicht fassen, dass er dies tat und gab bereits am Anfang die Hälfte seines gesamten Geldes aus.

   »Was willst du denn damit?«, fragte ihn Adrian.

   »Mein Onkel kennt da jemanden, der mit diesen Dingern handelt. Bestimmt kriege ich dann das Geld doppelt zurück«, sagte er stolz.

   »Aber das sind doch nur Spielzeugautos, oder?«

   »Nicht alle. Das hier war bestimmt teuer.«

   Er hielt das kleine Modell eines Ferrari in die Höhe, an dessen Unterseite Adrian deutlich das Logo einer bekannten Spielzeugfirma erkennen konnte. Gerade wollte er David darauf hinweisen, als Frau Ilsebech sie von Weitem zu sich rief: »Adrian! Ich habe dir und deinem Freund David ein Stück meines Kuchens aufgehoben. Hier! Nehmt schnell, bevor jemand anderes ihn haben will.«

   Die Jungen bedankten sich höflich und merkten dann auch sofort, dass Frau Ilsebech gar nicht so unrecht hatte, denn es waren nur noch drei Stücken eines Käsekuchens da. Das war beachtlich, wenn man bedenkt, dass es zu Beginn des Festes sechs große Kuchen gewesen waren.

   »Zum Glück habe ich noch zwei daheim. Ich wusste doch, dass so etwas passieren würde. Zu allem Überfluss musste ich mir von deiner Mutter ihre Topflappen ausleihen, da ich meine geliebten rosanen einfach nicht finden konnte«, sagte Frau Ilsebech.

   David und Adrian versuchten angestrengt sich nicht anzuschauen. Beide erinnerten sich nur zu gut an die laufenden Topflappen, die sie an ihrem ersten Schultag gesehen hatten.

   Zum Glück bemerkte Frau Ilsebech ihre Reaktion nicht und sprach einfach weiter: »Wärt ihr so lieb und würdet hier kurz für mich aufpassen? Ich bin gleich wieder da.«

   Als wäre die Antwort selbstverständlich, huschte Frau Ilsebech davon und ließ die beiden Jungen an dem Stand mit dem rosa Tischtuch, der gut gefüllten Kasse und mit ihren leeren Kuchentellern in der Hand stehen. Doch sie wohnte ja in der Grafenstraße und die war praktischer Weise gleich um die Ecke. Adrian und David suchten gerade zwei Euro für den Kuchen heraus, als Frau Ilsebech mit den beiden weiteren Kuchen zurückkam. Das Geld wollte sie allerdings nicht haben, so sehr die Jungen auch darauf bestanden.

   Sie schickte sie die Straße hinunter, wo angeblich Adrians Vater seinen Stand aufgebaut hatte.

   »Du hast mir gar nicht erzählt, dass dein Vater auch etwas verkauft. Was ist es denn?«, fragte David.

   »Keine Ahnung. Das wüsste ich auch gerne«, sagte Adrian schulterzuckend.

   Bernd Fuchs war schon von Weitem zu sehen. Mit seinen langen blonden Haaren und dem schmalen grinsenden Gesicht stand er auf seinem wackeligen Verkaufstisch und pries seine Waren an.

   Als sie näher kamen, hörten sie auch was er sagte: »Mit diesem Duftöl halten Sie sich garantiert jeden Fluch vom Hals! Und hier – sehen Sie: Schluss mit stinkendem Kleber – dieser hier duftet fabelhaft nach Lavendel! Ach und nicht zu vergessen – diese Erfindung ist einmalig: Darf ich vorstellen? Celsius! Das einzige Getränk, das bei Zimmertemperatur anders schmeckt, als wenn man es gekühlt serviert! Jetzt in drei verschiedenen Geschmacksrichtungen erhältlich!«

   »Wow, dein Vater ist ja ein richtiges Verkaufstalent und so energisch – ganz anders als du. Seit ihr wirklich verwandt?«

   Adrian schaute David aus seinen Augenwinkeln heraus schmollend an und dieser grinste sofort schelmisch.

   Gleich darauf mischte er sich in die Menge der interessierten Leute. Zwar schien es, dass sich niemand sonderlich für die Vertreibung des Fluches interessieren würde, dafür lief aber bald jeder mit einer Flasche Celsius auf dem Fest herum.

   Hinter dem Stand von seinem Vater entdeckte Adrian Herr Sonnewich, den pummeligen Bürgermeister von Mullenstedt, der sich als Clown verkleidet hatte.

   Er schenkte gerade einem kleinen Mädchen mit braunen Zöpfen einen großen, gelben Luftballon. Dabei beugte er sich zu ihr hinunter und Adrian staunte nicht schlecht, als Herr Sonnewich so den Blick auf ein kleines, freches Kerlchen mit einer rosa Nelke auf dem Kopf, roten Gummistiefeln und einem langen Schwanz mit einem Ahornblatt am Ende freigab.

   Dieses Wesen war gerade auf den Tisch hinter dem Bürgermeister geklettert und hatte mit Sicherheit wieder irgendwelchen Schabernack im Sinn, als es sich jetzt über die Tischkante lehnte. Es versuchte mit seinen Krallen an die Schnüre der vielen Luftballons zu kommen.

   Adrian ging gerade schnellen Schrittes auf das kleine Geschöpf zu, als es bereits zu spät war. Die Schnüre waren durchtrennt und die unzähligen bunten Luftballons schwebten in den Himmel hinauf.

   Plötzlich entdeckte das Kerlchen Adrian und entschied sich spontan zu einer schnellen Flucht, indem es sich an den Schnüren von vier aufsteigenden Luftballons festhielt und mit ihnen davonflog.

   Herr Sonnewich und das braunhaarige Mädchen wunderten sich, warum denn die ganzen Ballons plötzlich einfach wegflogen und der Bürgermeister stampfte gleich darauf beleidigt mit dem Fuß auf, als er entdeckte, dass sie bereits unerreichbar für ihn waren.

   Adrian schaute hinter den Ballons her, an denen sich das kleine Geschöpf festhielt und sah dann, dass sie genau auf den Wald am Rande von Mullenstedt zutrieben. Indem er sich einen Weg durch die Leute bahnte, konnte Adrian die Dorfstraße schnell verlassen und dann die Luftballons weiter verfolgen.

   David befand sich immer noch in der Menge vor dem Verkaufstisch von Adrians Vater und bemerkte sein Verschwinden nicht.

   Da Adrian noch nicht alle Straßen in Mullenstedt kannte kam er sich ein wenig verloren vor auf seiner Verfolgungsjagd, doch es dauerte nicht lange da hatte er die Grenzen des Dorfes verlassen und lief nun über ein kahles Weizenfeld den immer weiter schwebenden Ballons hinterher.

   Nach kurzer Zeit bemerkte er, dass zwei Ballons von dem Kerlchen losgelassen wurden, sodass es mit den letzten beiden jetzt immer weiter hinab sank, bis es schließlich die Baumkronen des Waldes erreichte.

   Dort ließ es sich fallen und auch die letzten Ballons verschwanden in den blauen Himmel.

   Adrian beschleunigte sein Tempo, bis er in den Wald hineingelaufen war. Ungefähr fünf Meter von ihm entfernt, sah er auf einem dicken Ast etwas, dass sich bewegte und dieses Etwas hatte ganz eindeutig rote Gummistiefel an.

   Er schlich sich näher heran, aber das Wesen rührte sich nicht. Als er dann vor dem Baum stand und an ihm hinaufblickte, sah er das Kerlchen flach auf dem Ast liegen, ein leichtes Grün in seinem erdfarbenen Gesicht.

   »Geht es dir nicht gut?«, fragte Adrian vorsichtig.

   Zuerst stöhnte es nur, doch dann sagte es schließlich mit einer gequälten Stimme: »Wurzler sind einfach nicht zum Fliegen geeignet.«

   Daraufhin ließ sich das kleine Kerlchen von dem Ast fallen und Adrian konnte es gerade noch auffangen, auch wenn er dabei selbst leicht stolperte.

   »Hast du Wurzler gesagt?«, fragte Adrian. »Was sind denn Wurzler?«

   Das kleine Kerlchen richtete sich jetzt in Adrians Handflächen auf, schwankte ein wenig und ließ sich dann auf seinen Hintern plumpsen. Sein Schwanz, mit dem gezackten Ahornblatt am Ende, bewegte sich stetig durch die Luft und es sah dabei so aus, als ob auch das Blatt selber sich drehen und einrollen konnte. Es hing also nicht einfach nur als Zierde dort, sondern schien eine bestimmte Funktion zu haben, die Adrian allerdings noch nicht kannte.

   Trotz seines äußerst aktiven Schwanzes, war das Geschöpf an sich nicht besonders fit.

Es stütze sich schlaff mit seinen Händen auf Adrians Handflächen ab, während es erneut versuchte aufzustehen. Als es ihm endlich gelungen war, schüttelte es leicht seinen Kopf, so als wollte es wieder einen klaren Gedanken fassen.

   Dann krabbelte es mühsam an Adrians Arm hinauf und setzte sich auf dessen Schulter. Es zeigte in den dichten Wald hinein.

   »Dort entlang«, befahl es und hielt seinen kurzen Arm eine ganze Weile in diese Richtung, bis es bemerkte, dass Adrian sich nicht rührte.

   Mit einer tiefen Falte zwischen den kleinen schwarzen Knopfaugen sah es von Adrians Schulter aus zu ihm hinauf: »Würdest du mich bitte dort hinbringen? Ich kann in meinem Zustand nicht so weit laufen.« Es zog seine Wörter ungewöhnlich lang und sprach dabei sorgfältiger als gewöhnlich, fast als ob Adrian ein schwerhöriger alter Mann sei. Ein schelmischer Unterton mischte sich dabei unüberhörbar unter seine Worte.

   Adrian grinste breit. Auch wenn das kleine Kerlchen seine Frage nach den Wurzlern nicht beantwortet hatte, so war Adrian sich sicher, dass er die Antworten auf diesem Weg selbst herausfinden würde. Schließlich hatte er schon von Anfang an beschlossen, dieses seltsame Geschöpf nicht so schnell wieder aus den Augen zu verlieren.

 

 

Das Geheimnis der Wurzler

Adrian ging los und während sie immer tiefer in den Wald vordrangen, schien die Sonne herrlich durch das dichte Blattwerk und auf den unebenen Boden mit seinen unterschiedlichen Gewächsen. Er genoss die frische Luft, den unverkennbaren Geruch von Holz und einem Hauch feuchter Erde. Er spürte wie sich der Boden unter ihm bei jedem Schritt anders anfühlte. Immer wieder streifte er mit seinen Beinen einen der unzähligen Sträucher die überall wuchsen. Um ihn herum spürte er das Leben im Wald. Ein Eichhörnchen verfolgte neugierig seine Schritte und heimische Singvögel schreckten auf, wenn er vorbeikam. Insekten, die an den Bäumen hinauf- oder hinunterliefen ließen sich von ihm nicht stören.

   Nach einer Weile hörte Adrian das leise Plätschern eines kleinen Baches.

   »Da wären wir«, sagte das Geschöpf plötzlich und krabbelte sogleich an ihm herunter. Es schien ihm wieder blendend zu gehen.

   Mit neugierigem Blick suchte Adrian die Gegend ab, doch er konnte nichts sehen, was er nicht schon auf dem Weg hierher gesehen hatte, abgesehen von dem Bach natürlich.

   Doch mit einem Mal geschah etwas Seltsames und er musste sich ein paar Mal die Augen reiben, um sicherzugehen, dass er nicht träumte.

   Aus allen Winkeln und Löchern, aus der Erde und von den Bäumen kamen sie herunter und hinauf. Viele kleine erdfarbene Geschöpfe standen da, manche heller und einige dunkler als andere, aber alle mit Ohren, die so groß waren wie ihre Köpfe und Knollennasen, die fast ihr ganzes Gesicht bedeckten. Sie alle hatten Blumen auf ihren flachen Köpfen, von Narzissen, über Rosen bis hin zu Tulpen und Maiglöckchen war alles vertreten. Sie winkten ihm zum Gruß entgegen und er erkannte ihre kleinen scharfen, krummen Krallen. Die unzähligen Schwänze schwangen zwanglos durch die Luft und an jedem schien ein anderes Blatt zu hängen. Ahorn, Birke, Buche, Eiche, Erle, Linde, Weide und Ulme. Erst bei näherer Betrachtung erkannte Adrian, dass es auch viele Geschöpfe gab, welche dieselben Blätter trugen. Und aus irgendeinem Grund, den Adrian sich immer noch nicht erklären konnte, trugen sie alle Gummistiefel. In rot und gelb, in grün und lila, rosa, orange, blau und bunt. Sie strahlten alle über ihr ganzes rundes Gesicht mit einem unverkennbar schelmischen Ausdruck darin.

   Adrian kniete sich hin und beugte sich zu ihnen hinunter. Er grinste schüchtern in die Runde, denn er wusste gar nicht so recht wo er zuerst hinschauen sollte. Das Kerlchen mit den roten Gummistiefeln und dem Ahornblatt, welches er hierher gebracht hatte, war bereits in der Menge verschwunden.

   »Ihr seid ja lustige Geschöpfe«, sagte er dann und ahnte gar nicht, was für eine Empörung er damit auslöste.

   »Wurzler!«

   »Es heißt Wurzler!«

   »Ja! Wurzler sind wir! Keine Geschöpfe!«

   »Unter Wurzeln werden wir geboren! Darum nennt man uns Wurzler!«

   »Ja! Wurzler sind wir!«

Sie tobten und sprangen in die Luft, erhoben ihre kleinen Fäuste gegen ihn und schauten grimmig drein.

   Entschuldigend hob Adrian seine Hände hoch und beschwichtigte sie: »Tut mir leid!«, sagte er. »Ihr seid also Wurzler. Unter der Erde geboren, sagt ihr? Wie geht denn das?«

   Das war die beste Frage, die er hatte stellen können, denn jetzt waren alle Wurzler still und sahen sich um.

   Ein relativ großer Wurzler, der eine weiße Calla auf dem Kopf und schneeweiße Gummistiefel trug trat vor die anderen und lächelte Adrian an: »Hallo, mein Freund. Da mein lieber Sohn dich freundlicherweise bereits in unser geheimes Lager gebracht hat, könnte ich dir unsere Geschichte erzählen. Aber woher soll ich wissen, dass wir dir trauen können und du uns nicht verrätst? Wie ist dein Name?«

   »Ich heiße Adrian und ich habe schon einmal einen von euch getroffen und es niemandem erzählt!«

   »So? Wen hast du denn getroffen?«, wollte der große Wurzler wissen.

   Adrian ließ seinen Blick wieder über das aufgeregte Volk der Wurzler wandern und er registrierte die feinen Unterschiede zwischen ihnen. Einige waren schmaler und andere pummeliger. Die Nasen aller waren große Knubbel, doch ab und an erkannte man auch Wurzler, deren Nasen noch größer und knubbeliger waren als die der anderen. Es waren nicht sehr viele Wurzler, vielleicht etwa zwanzig. Aber leider doch zu viele, so dass Adrian seinen Hausschuhdieb nicht wirklich ausfindig machen konnte.

   »Mhh … Ich kann ihn nicht finden. Aber er hatte ein Ulmenblatt, gelbe Gummistiefel und eine Sonnenblume auf dem Kopf … und er hat meinen Hausschuh gestohlen!«, sagte Adrian. Er erinnerte sich lebhaft an seinen kleinen Besucher.

   Anscheinend wussten alle sofort wen er meinte, denn sie deuteten jetzt gemeinsam mit ihren Blättern auf einen bestimmten Wurzler.

   »Pikku«, sagte der Wurzler mit der weißen Calla, ganz so, als wäre es für ihn keine Überraschung. »Hast du dich schon wieder sehen lassen?«

   »Aus Versehen«, sagte Pikku. »Er wollte mich mit seinem Fuß zerquetschen!«

Alle Wurzler wandten sich empört an Adrian.

   »Du hast dich in meinem Hausschuh versteckt!«, verteidigte er sich sofort. Pikku öffnete den Mund, doch der große Wurzler gebot ihm zu schweigen.

   »Wie dem auch sei. Du hast also niemandem von dem Vorfall erzählt? Und die Ausrede für deinen fehlenden Hausschuh?«

   »Den habe ich beim Umzug verlegt«, sagte Adrian und zuckte mit den Schultern.

   »Gut. Ich höre jetzt mal auf mein Bauchgefühl und vertraue dir«, sagte der große Wurzler. »Möchtest du nun unsere Geschichte hören?«

   Adrian setzte sich sogleich erwartungsvoll auf den kühlen Waldboden und grinste: »Gerne.«

   Der große Wurzler nickte, setzte sich ebenfalls und bat die anderen dies auch zu tun. Dann begann er die lange und aufregende Geschichte der Wurzler zu erzählen, die vor vielen Jahren begann und unzählige interessante Wendungen enthielt, von denen eine kurioser und witziger war als die andere. Während er erzählte, pendelte sein Schwanz, an dessen Ende ein großes, zerknittertes Lindenblatt hing, stetig hin und her.

 

Er erzählte von den ersten Wurzlern, die scheu aus der Erde hervortraten und dann zum ersten Mal das Licht der Sonne erblickten. Und er beschrieb, wie ihnen die Sonne auf den flachen Köpfchen brannte und wie sie sich deshalb entschieden, Hüte aus Pilzköpfen mit eingearbeiteten Blüten zu machen.

   Er sprach von den ersten Regenfällen und das Wurzler es überhaupt nicht mögen, wenn sie nass wurden. Besonders ihre Füßen waren sehr empfindlich. Heute tragen sie deshalb die bunten Gummistiefel, welche sie aus den Überresten der großen, von Menschen getragenen, Stiefel herstellten. Ihre Vorfahren mussten sich damals allerdings mit zusammengebundenen Blättern begnügen, die immer noch ein wenig Wasser durchließen, was ein wahrer Graus für jeden Wurzler war.

   Er erzählte, dass das Blatt, welches sie am Ende ihres Schwanzes (sie nennen ihn übrigens Wurzel) trugen, sie ihrem Baum, also ihrer Familie zuordnete. Dieses Blatt am Ende ihrer Wurzel, sagte er, ist viel mehr für sie als nur hübsches Zierwerk. Die Wurzler benutzen es zum Beispiel um sich zu begrüßen, oder sich zu liebkosen. Außerdem dient ihnen die Wurzel wie ein dritter, stark verlängerter Arm, denn die Wurzel maß schließlich die doppelte Körperlänge eines Wurzlers. Mit dem Blatt an ihrem Ende konnten sie sogar richtig fühlen. Sie benutzen es auch, um an schwer erreichbare Dinge heranzukommen, sei es nun wegen der Höhe oder wegen der Enge.

   Der Fluch hatte ebenfalls eine lange Tradition. Denn als Mullenstedt um 1435 erbaut wurde, als es übrigens noch Muhlenstett hieß, waren die hiesigen Wurzlervorfahren neugierig und wollten unbedingt wissen, was für komische Geschöpfe sich da in ihrer Heimat ansiedelten.

   »Was meint ihr mit komische Geschöpfe?«, wollte Adrian wissen.

   »Menschen«, sagten einige naserümpfend.

   Adrian musste grinsen.

   »Für die Wurzler waren sie komisch. So große Geschöpfe hatten sie vorher nämlich noch nie gesehen«, erklärte der große Wurzler.

   Seine Vorfahren, sagte er, beobachteten die Menschen heimlich. Dabei kam es allerdings vor, das junge Wurzler Gegenstände umstießen oder aus Versehen über den Fuß eines Mannes liefen. Aber die Wurzler waren immer so schnell wieder verschwunden, dass die Menschen dachten, es sei ein Fluch der sie heimsuchte. Als sie aber feststellten, dass dieser Fluch ihnen nie etwas wirklich Böses wollte und auch niemand jemals ernsthaft zu Schaden kam, da bauten sie weiter und so entstand Mullenstedt und die Legende über den Fluch hielt sich über Generationen bei den Einwohnern und die Wurzler der heutigen Generation machen sich einen großen Spaß daraus, die alten Geschichten am Leben zu erhalten.

 

Die Zeit verging und es wurde Abend. Allmählich verschwand die Sonne hinter den Baumkronen und hinterließ ein zartes dunkelrot, dass sich sanft über den Wald legte. Nachtaktive Tiere erwachten und erfüllten die Gegend mit ihren Rufen.

   »Das Feuerwerk sollte bald starten. Dafür muss ich wieder im Dorf sein«, sagte Adrian und erhob sich langsam. »Danke für die Geschichte und euer Vertrauen.«

   Die Wurzler liefen um seine Füße herum und zogen an seiner Hose, einige kletterten sogar an ihm hinauf und zwei von ihnen setzten sich sogar auf seine Schultern. Der eine war der Wurzler mit den roten Gummistiefeln und der andere war sein Hausschuhdieb. Beide sagten nichts und sahen sich nur frech grinsend an. Der Wurzler mit den gelben Gummistiefeln hob sein Blatt, das am Ende der Wurzel hing, und hielt es Adrian entgegen. Er nahm es vorsichtig mit Daumen und Zeigefinger und begrüßte ihn so auf die wurzlertypische Art und Weise.

   »Hallo. Mein Name ist Pikku. Aber das weißt du ja schon«, sagte er. »Es tut mir wirklich leid, was damals mit deinem Zeh passiert ist.«

   »Schon gut«, sagte Adrian.

   Plötzlich zog ihn der andere Wurzler am Ohr: »Und ich bin Gazzler. Komm schon, wir zeigen dir wie du wieder nach Hause kommst. Geh schon los.«

   »Adrian!«, rief ihn der große Wurzler. »Mein Name ist Pepparo und ich bin der Wurzlerbürgermeister dieses Lagers. Ich verlasse mich darauf, dass du dein Wort hältst und niemandem von uns erzählst, hörst du?«

   Adrian nickte und hob dann seine Hand zum Abschied.

   Die kleinen Wurzler winkten ihm mit ihren Blättern zu und noch bevor er mit den beiden Wurzlern auf seinen Schultern das Lager ganz verlassen hatte, waren die meisten der kleinen Kerlchen bereits wieder in ihren Verstecken verschwunden.

   Am Waldrand verabschiedete er sich von Gazzler und Pikku und machte sich dann wieder auf den Weg zum Fest, um sich dort unauffällig unter die Leute zu mischen.

   Niemand schien Adrians Verschwinden bemerkt zu haben, außer David, der sich suchend nach allen Seiten umsah. Als er ihn entdeckte, rannte er auf ihn zu: »Da bist du ja! Ich habe dich überall gesucht«, sagte er mürrisch.

   »Ich habe mich doch nur ein bisschen umgesehen«, flunkerte Adrian und merkte plötzlich, dass ihm dies nicht schwer fiel, jetzt wo er ein Geheimnis bewahren musste.

   David überlegte noch, ob er ihm glauben oder weiter nachfragen sollte, doch in diesem Moment schoss eine Rakete pfeifend in den Nachthimmel. Das Feuerwerk hatte begonnen und explodierte über ihnen in sämtlichen Farben. Die Besucher des Festes schrien ihre Freude über diesen gelungen Tag heraus und Adrian grinste still in sich hinein. Er hatte die Ursache des Mullenstedter Fluches gefunden.

   Am nächsten Morgen wachte er niesend auf und das Erste was er sah, als seine Augen sich an das helle Licht gewöhnt hatten, war Pikku der auf seiner Brust saß und schelmisch grinste.

 

 

Eine alte Gabe

»Morgen«, begrüßte ihn der Wurzler frech grinsend. »Gut geschlafen?«

   Adrian rieb sich gähnend seine Nase und rümpfte sie: »Bis eben schon.«

   Er setzte sich auf, holte seine neuen grünen Hausschuhe unter dem Bett hervor und schaute, wie jeden Morgen seit jenem Vorfall mit dem Wurzler, vorsorglich in die Schuhe hinein bevor er sie anzog.

   »Was hast du eigentlich mit meinem alten Hausschuh gemacht, den du mir damals geklaut hast?«, fragte Adrian schließlich. Von Pikku kam jedoch nur eine knappe Antwort, die von seinem schelmischen Gesichtsausdruck untermalt wurde: »Zum Bett umfunktioniert.«

   Adrian schüttelte den Kopf: »Wahrscheinlich genau wie die Topflappen von Frau Ilsebech«, sagte er und stand auf um sich anzuziehen.

   Pikku hüpfte auf sein Kopfkissen und grinste weiter: »Keine Ahnung. Damit hatte ich nichts zu tun.«

   Adrian schaute ihn ungläubig an und sagte: »Einer von euch hatte aber etwas damit zu tun.«