Drehtür - Katja Lange-Müller - E-Book

Drehtür E-Book

Katja Lange-Müller

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Beschreibung

Was vom Helfen übrig bleibt Asta ist nach 22 Jahren im Dienst internationaler Hilfsorganisationen am Münchner Flughafen gestrandet. Von den Kollegen weggemobbt aus der Krankenstation in Nicaragua, wo sie zuletzt tätig war, steht sie neben einer Drehtür und raucht. Sie wollte eigentlich gar nicht zurück. Aber weil sich ihre Fehlleistungen häuften, bekam sie ein One-Way-Ticket geschenkt. Und nun weiß sie nicht, wie es weitergehen soll. Einigermaßen wohl fühlt sie sich nur, wenn sie gebraucht wird. Und wer könnte sie, die ausgemusterte Krankenschwester, jetzt noch brauchen? Während Asta über sich nachdenkt, beobachtet sie ihre Umgebung – und meint, Menschen wiederzuerkennen, denen sie im Laufe ihres Lebens begegnet ist: den Koch der nordkoreanischen Botschaft, der eines Abends mit geschwollener Wange in einem Berliner Hauseingang hockte, ihre Kollegin Tamara, die ein glühender Fan von Tamara »Tania« Bunke war, ihren Exfreund Kurt, mit dem sie turbulente Wochen in einer tunesischen Ferienanlage verbrachte, und viele andere mehr. Mit jeder Zigarette taucht Asta tiefer in ihre Vergangenheit ein – und mit jeder Episode variiert die Erzählerin ein höchst aktuelles und existenzielles Thema: das Helfen und seine Risiken. Katja Lange-Müller liefert mit diesem Roman einen weiteren Beweis ihrer großartigen Erzählkunst.

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Seitenzahl: 201

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Katja Lange-Müller

Drehtür

Roman

Kurzübersicht

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> Inhaltsverzeichnis

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Inhaltsverzeichnis

MottoBlitzgewitter, denkt Asta, das ...Das Unwetter war ein ...Asta denkt – und schweigt. ...Plötzlich vernimmt Asta Töne, ...Ach ja, helfen, denkt ...Grübelnd, ohne auf ihre ...Ungefähr so, denkt Asta, ...Moment mal, kann es ...Noch immer, nur viel ...Asta schüttelt den Kopf, ...Asta ärgert sich noch ...Der Drehtür gegenüber, am ...Schwerfällig erhebt sich Asta ...Ach, Andy, du warst ...Asta ist elend zumute, ...Es ist so weit, ...Dank
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»Es scheint mir, daß ein Mensch, bei dem allerbesten Willen, unsäglich viel Unheil anstiften kann, wenn er unbescheiden genug ist, denen nützen zu wollen, deren Geist und Wille ihm verborgen ist.«

– Friedrich Wilhelm Nietzsche –

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Und weiter hält Asta ihre Lider geschlossen und rollt ihre Augäpfel bis zur Schmerzgrenze in ihren Schädel hinein und sieht, wie auf einer Kinoleinwand, schneeähnlich kristalline Buchstaben umherwirbeln und einander anziehen und sich verfestigen zu unterschiedlich langen, lesbaren Ketten, die dann, beinahe gleichzeitig, niederrieseln auf ihre heiße, trockene Zunge und sich dort auflösen, bevor sie auch nur ein Glied dieser Ketten hätte ausspucken können. Kettenglied, denkt Asta, noch so ein zwielichtiges Wortgebilde.

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Das Unwetter war ein Blitzgewitter gewesen, ein vollkommenes, mit Blitzen, Donner, Regen, und schon vorüber, als die alte Krankenschwester Asta Arnold nach einer dreiundzwanzigstündigen, von zwei Zwischenstopps unterbrochenen, nur auf den letzten Meilen ein wenig turbulenten Reise in München landete; die Stimme, die seit etwa drei Wochen bei ihr ist und manchmal auch in ihr, weiß das. Die Stimme weiß, was geschieht, und selbst Astas Gedanken sind undenkbar ohne sie. Die Stimme bestimmt; sie entscheidet, woran Asta sich erinnert, mal quälend genau, mal verklärend sehnsüchtig. Die Stimme lenkt Astas Blicke, öffnet ihr die Ohren, verbietet ihr den Mund. Soll Asta sich doch wehren, so gut sie kann! Denn immerhin, und dagegen ist nun wieder die Stimme ziemlich wehrlos, ist das, wovon sie zehrt, parasitär wie die Mispel vom Baum, ja Astas Leben – noch, aber nicht mehr lange; und wenn es zu Ende sein wird, dann für beide.

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Asta denkt – und schweigt. Mit wem, fragt sie sich, sollte ich reden? Ich kenne doch keinen mehr, hier, am Boden meines Vaterlands, das nicht meines ist, weil es mir ebenso wenig gehört wie die Muttersprache; ich steh bloß drauf.

 

Ja, da steht sie, am östlichen Ende der Ebene 03 des Flughafens Franz Josef Strauß, neben einer vom Schalter einer Autovermietung verdeckten und darum kaum frequentierten Drehtür, zu der ihre Nikotingier sie blindlings geleitet hat. Aus Astas Umhängetasche, einem fleckigen, schweinsledernen Monstrum, lugt eine Duty-free-Plastiktüte hervor und aus der wiederum eine Stange Camel. Ihr Koffer, hatte es am Schalter der Fluggesellschaft IBERIA geheißen, sei wohl beim Umladen irgendwo hängen geblieben, entweder in San Salvador oder in Madrid. Das sei fast normal. Der würde schon noch kommen, vielleicht morgen oder übermorgen, aber spätestens nächste Woche.

In ihrer rechten Hand hält Asta das soeben geöffnete erste der zehn Camel-Softpacks à zwanzig Stück und eine nicaraguanische Streichholzschachtel, in der linken eine brennende Zigarette; sie zieht daran, heftig, wie eine, die das ewig nicht durfte, und rätselt: Was ist richtiger? Ich stehe vor der Tür oder ich stehe hinter der Tür? Vor, hinter, richtiger … Die Wörter entweichen, in Gasblasen gehüllt, eins ums andere dem Schlammgrund der Vergangenheit und bevölkern allmählich das nachtschwarze Firmament meiner Schädeldecke; und dort oben treiben sie nun dahin, halbtransparent, aber klar definiert wie Luftballons, gemächlich wie Schäfchenwolken. Ich kann mir jedes einzelne Wort ausgiebig betrachten, es deuten, verstehen womöglich. – Richtiger? Im Deutschen lassen sich nicht alle Adjektive steigern; selbst diese Weisheit aus fernen Schultagen zieht nun wieder auf an Astas Horizont. Richtig ist, dass sie sich draußen befindet, zwischen der Drehtür und einem ihr bis zur Hüfte reichenden Chromstahl-Ascher voll bräunlich verfärbten Wassers und aufgeweichter Kippen. Kein schöner Anblick, doch das stört sie nicht. Ohnehin hat sie Mühe, sich zu orientieren; die nachmittägliche Sommersonne blendet sie. Und das, was sie sieht, wenn sie nicht hochschaut in das schmerzhaft grelle Licht, sondern zur Seite, nach vorn oder unten, unterscheidet sich kaum von dem, was sie gesehen hat, als sie am Managua-Airport kurz vor dem Start noch zwei, drei Abschiedszigaretten rauchte: Steinplatten, Betonsäulen, Gepäckwagen, Glasfront. Hier aber, denkt Asta, gibt es jetzt auch etliche Pfützen, aus denen, wie durch endlos lange Strohhalme, die Sonne säuft, mit all ihren Strahlen und durstig wie ein Beduinen-Kamel; die Pfützen werden kleiner und kleiner, zusehends schnell.

Sie entzündet die nächste Zigarette und geht ein paar Schritte. Durch ein hohes Fenster, das frontseitig die Vorrats- und Umkleidekammer des China-Restaurants begrenzt, an dem sie auf dem Weg zu der Drehtür vorbeigekommen ist, erspäht sie einen jungen Asiaten in Jeans und einer hellen, etwas schmuddligen, mit schwarzen Knotenknöpfen bis unters Kinn geschlossenen Kochjacke, der unbequem und dennoch fest schlafend auf vier aneinandergereihten Stühlen liegt. Sein flaches, blasses Gesicht ist vollkommen ruhig; nur seine halbkuglig gewölbten Lider und die Winkel seines leicht geöffneten Mundes zucken manchmal. Wahrscheinlich hat er einen heiteren Traum, denkt Asta und fühlt sich zu ihm hingezogen, gerade weil sie sich auch sicher fühlt vor der blau getönten Glasscheibe, unerreichbar für den Schläfer dahinter. Es ist ja nicht allein sein Traum, denkt sie, der ihn fernhält von mir und dem Ort, an dem wir uns beide befinden, so oder so …

 

Über das Bild des Kochs in der Vorratskammer des Airport-China-Restaurants schiebt sich ein anderes. Der Typ damals, denkt Asta, war auch ein Asiat und, falls meine Vermutung zutraf, auch Koch. Als ich dem begegnete, in den Siebzigern des vorigen Jahrhunderts, hatte ich gerade mein Schwestern-Diplom gemacht und auch schon den Vertrag mit der Leipziger Klinik unterschrieben. Ich war drauf und dran, die winzige Bruchbude in meiner Geburtsstadt Berlin, die ich nie Heimatstadt genannt habe und Hauptstadt erst recht nicht, zu verlassen. Der Umzug nach Leipzig-Plagwitz hing bloß noch davon ab, wann das Zimmer in dem Feierabendheim für sächsische Gastronomen, das tatsächlich Zur Neige hieß, geräumt würde; der ehemalige Oberkellner des Interhotels Astoria, der es bislang bewohnt hatte, lag in den letzten Atemzügen, zu Hause bei seiner Tochter Elke, einer Krankenschwester, die ich aus der Berufsschule kannte.

Es war die Nacht vom 20. zum 21. Juli 1967, für eine Hochsommernacht eine ungewöhnlich finstere. Ich weiß das noch so genau, weil wir, wie jedes Jahr, Carmens Geburtstag gefeiert hatten. Ich hatte mich früh, ja, unhöflich früh verdrückt – und mit nichts als Alkohol im Magen, denn Carmen hatte mal wieder ihren Eintopf à la dumme Pute gekocht, einen ungenießbaren Brei aus Reis, gehacktem Truthahnfleisch, Erbsen und Rosinen.

Carmen, die Polizistentochter, die Zarte, die Schönste von uns, zu der ich schon vor meiner Flucht in die Welt kaum noch Kontakt und die ich dann beinahe völlig vergessen hatte; bis ich, sehr viel später, in Ulan Bator, eines Abends nach Dienstschluss auf einer Berliner Internet-Trauerseite entdeckte, dass eine Carmen Meyer, deren Geburtsdatum mehr oder weniger zufällig mit dem meiner Carmen übereinstimmte,am »15. März 2000, nach langer, schwerer Krankheit von uns gegangen ist.« – Carmen, woran könnte sie gestorben sein? Krebs? Schlaganfall? Herzinfarkt? Sie wäre jetzt in meinem Alter …

Einen wundervoll roten Schopf hatte sie, feine, helle Porzellanhaut und flaschenglasgrüne Augen, was allerdings, ihre Mutter muss eine Ignorantin gewesen sein oder Carmen als Neugeborenes komplett kahl, nun gar nicht zu diesem feurigen Rufnamen passte – und mir neidischem Trampel Anlass zum Spott gab, wenigstens diesen einen.

 

Weil wir uns aus einem nichtigen, mir gänzlich entglittenen Grund gestritten hatten, war ich Carmens Bude so zeitig, dafür aber ziemlich besoffen und aufgewühlt entwichen in die laue, sternlose Nacht, um noch irgendwas zu unternehmen, womöglich jemanden fürs Bett zu finden. Doch mein Rausch wollte und wollte nicht vergehen, zu schwül hier draußen. Insekten umschwärmten die dottergelben Lichter der Straßenlaternen, von denen auch ich mich immer magisch angezogen fühlte und die auch mir gefährlich geworden wären, wenn, ja, wenn ich ebenso klein gewesen wäre – und Flügel gehabt hätte. Fliegen können, Motte sein, das habe ich mir als Mädchen und noch als junge Frau oft gewünscht. – Die Luft war klebrig wie die Kringellöckchen, die ich mir zu Hause mühevoll eingedreht und die ich später in Carmens Küche, ein Bad gab es ja nicht bei ihr, bei keiner von uns, mit Haarspray aus dem Westen eingenebelt hatte, so ausgiebig, dass sie anschließend unbeweglich wie Betonskulpturen von meinem Kopf abstanden; ich hätte ihn minutenlang schütteln können, kein Haar hätte sich vom anderen gelöst. – Es roch nach einem Gewitter, das aber nicht über diesem Teil Berlins, dem Nordosten, losbrach, sondern weiterzog; was wusste ich wohin.

Ich war den ganzen Heimweg gelaufen, hatte jenes trostlose Beamtenviertel in Mitte, das wir Totenwinkel nannten, weil es abends völlig verödete und an den Wochenenden sogar gespenstisch still – eben wie ausgestorben – wirkte, gerade erreicht und überquerte die Otto-Nuschke-Straße, von der links die Glinkastraße abging, da sah ich ihn. Oder hatte ich ihn zunächst nur gehört? Dies erbärmliche Winseln, von dem ich annahm, es wären Tierlaute, vielleicht die eines Hundes …

Der Mensch und Mann asiatischer Herkunft, als den ich ihn trotz der spärlichen Beleuchtung dann doch erkannte, hockte in einem Hauseingang. Ich blieb stehen, flüsterte ein paar belanglose Worte, an die ich mich nicht mehr erinnere; dennoch bewirkten sie, oder wohl eher meine rauchige Stimme, dass sich seiner Kehle ein hoher und zugleich tiefer Laut entrang.

Und jetzt vernehme ich diesen Schluchzer, oder was das war, wieder; er muss sich damals in meinem Ohr installiert und seither drauf gewartet haben, dass mein Gedächtnis den Knopf, der ihn auslöst, findet und drückt.

Der Laut – einen Leise gibt es ja nicht, nur einen leisen Laut – klang und klingt, als hätte ihn dieser Mann, wie fest auch immer er seine Lippen zusammenpresste, keine Sekunde länger zurückhalten können, so gottverlassen, so weltalleinsam.

»Brauchen Sie Hilfe«, fragte ich; aber er weinte bloß weiter. Ich hockte mich neben ihn, berührte seine Schulter, und reflexhaft wandte er mir sein Gesicht zu. Seine ohnehin fleischigen Lider waren derart verquollen, dass er Mühe hatte, sie zu heben; doch als es ihm gelang, glitzerten seine Pupillen nachgerade überirdisch hervor aus den schrägen, minimal geöffneten Sehschlitzen. Während ich, seiner Nase ganz nah, auf ihn einflüsterte und er vermutlich meinen weinsauren Atem roch, ließ er die Hände, die seine Mundregion bedeckt hielten wie der Halbschleier die einer orientalischen Frau, schließlich sinken und legte, als wollte er seinen Zustand erklären, den rechten Zeigefinger an seine linke Wange, die stark geschwollen war. Vom unteren Lidrand bis zum Kinn spannte sich seine selbst in dem warmen gelben Lampenlicht aschfahl wirkende Haut über einer mächtigen Beule. Klar, durchfuhr es mich, der hat Zahnschmerzen!

Ist es nicht immer wieder erstaunlich, dass ein erwachsener Mensch mit allem, was ihn ausmacht, hineinpasst in so ein winziges rotes Fädchen, den rebellierenden Nerv eines Zahns?!

Er versuchte auszuweichen, prallte mit dem Schädel gegen die Haustür in seinem Rücken, bog sich zur Seite – und konnte mir trotzdem nicht entkommen. Ich drückte ihm meine linke Hand auf die Stirn, die glühte, obwohl er ja ansonsten leichenblass war, und ergriff seinen Arm, keine Ahnung warum. Sicher, ich war noch immer betrunken, frustriert sowieso, und er schaute, von der dicken Backe mal abgesehen, exotisch genug aus, richtig gut sogar, schlank, jung, bedürftig. Aber bockig war er auch, stemmte sich mir entgegen, wollte sich partout nicht hochhieven lassen. Also rückte ich ihm noch dichter auf die Pelle, umschloss sein Gesicht mit beiden Händen, nötigte ihn, mich anzublicken. Vielleicht weckte das Bestimmte und Teilnahmsvolle meiner Aktion etwas in ihm, die Sehnsucht nach Trost. – Und nach seiner Mama? Denn nun flossen seine Tränen wieder stärker. Doch die Töne, die diese Tränen jetzt begleiteten, klangen dumpfer, mehr vom Herzen herrührend, wenngleich nicht weniger kläglich. Ich fuhr ihm mit dem Saum meines knöchellangen, geblümten Baumwollkleids über die Augen; es fehlte nicht viel und ich hätte auch noch den Rotz abgewischt, der dünn und glänzend aus seiner Nase rann.

Völlig normal, wenn einer derart inbrünstig heult.

Ich redete weiter auf ihn ein, und er verstand kein Wort, aber wohl immerhin, dass ich ihm nichts Böses wollte. Oder waren es nur meine Berührungen, die seinen Widerstand brachen, ihn sogar etwas beruhigten?

Weil ich mich, zumindest irgendwie, mit ihm unterhalten wollte, stellte ich Zahnweh dar, runzelte die Stirn, tätschelte mir die Wange, öffnete die Lippen, tippte auf meine Zunge, schloss den Mund wieder, schluckte und seufzte, als beginne die Tablette bereits zu wirken. Und tatsächlich, er erhob sich und ließ sich von mir führen, ach was, abführen!, wie ein Übeltäter, der die Ausweglosigkeit seiner Situation erkannt und aufgegeben hat. Ich zog ihn an der Hand, die schmal und fest und kalt war, hinter mir her, die Straße entlang, in den Hausflur hinein, die Treppen hinauf. Wir waren kaum an der Wohnungstür, ich durchwühlte meinen Stoffbeutel nach dem Schlüsselbund, da unternahm er einen vorerst letzten Fluchtversuch, rannte zurück in den dritten Stock, kehrte aber wieder um, als er hörte, wie sich der Schlüssel im Schloss drehte.

Wir gingen in mein einziges Zimmer, und er setzte sich in meinen Polsterstuhl, einen riesigen, plüschigen Ohrensessel, den ich einem stets um Kleingeld verlegenen Schluckspecht aus der Nachbarschaft abgekauft hatte, für zehn Alu-Chips, wie wir die Ostmarkstücke nannten. Ich entnahm dem Gefrierfach meines Kühlschranks eine Flasche Doppelkorn, fand in dem Schränkchen neben meinem Bett eine Packung Titretta-Analgin und warf sie vor ihn auf den Tisch, zwischen die zwei Schnapsgläser, die dort bereitstanden, als hätten sie uns erwartet. Er schraubte den Deckel von der Flasche, goss ein, nur sich allerdings, trank, nickte, füllte sein Gläschen erneut, trank wieder, die Flasche dabei in seiner anderen Hand haltend; bis ich sie ihm sanft entwand, uns beiden einschenkte und, bevor nun auch ich trank, mein Glas gegen seins stieß.

»Prost«, sagte ich, und er, die Flasche wieder an sich nehmend, das einzige Wort, das ihm in jener Nacht entschlüpfte: »Gombee.«

Meinen verständnislosen Blick beantwortete er mit einem knappen, schiefen Lächeln. Er hat, soweit ich mich erinnere, dann nicht noch einmal gelächelt.

Nun war unsere Begegnung ja auch eine, die manch anderer vielleicht flüchtig nennen würde; sie kommt mir nur gerade jetzt so lang und intensiv vor, weil ich eine Art Déjà-vu erlebe, in dem sich jedes einzelne Detail ganz unwirklich dehnt.

Wir saßen da und tranken; er mehr als ich. Und wieder versuchte ich, mit ihm zu reden. Doch Russisch, die einzige Sprache außer Deutsch, die mir seinerzeit einigermaßen geläufig war, verstand er auch nicht, ja nicht einmal die drei, vier Brocken Englisch, die eigentlich jeder kennt. Was blieb mir übrig? Ich verlegte mich auf das Simpelste, schlug mir an die Brust und sagte »Asta«, ließ dann meinen Zeigefinger vor seiner Brust kreisen, zog ein fragendes Gesicht und die Schultern hoch und breitete die Arme aus.

Er begriff sehr wohl, was ich von ihm wollte, da war und bin ich mir sicher.

Seine Augen weiteten sich, angstvoll starrte er ins Leere, schüttelte den Kopf, machte eine abwehrende Handbewegung. Es war deutlich genug, er mochte seinen Namen nicht preisgeben und ebenso wenig, von wo er, zahnwehgepeinigt, weggelaufen war.

Ich demonstrierte meine Arbeit, indem ich so tat, als würde ich einen Verband um meinen Fuß wickeln, mir Blut abnehmen oder eine Spritze setzen. Am Ende der Vorstellung malte ich ein Kreuz in die Luft. Doch schon während ich dieses Kreuz schlug, kamen mir Zweifel. Womöglich, dachte ich, hält er mich nun nicht für die Krankenschwester, die ich ja bin, sondern für eine fromme Christin, die sich, in der Absicht, ihn zu bekehren, als Samariterin geriert.

Auch wenn er nicht wieder lächelte, mein zweiter kleiner Stummfilm hatte ihn wohl doch amüsiert. Oder animiert? Denn jetzt mimte er seinerseits diverse Tätigkeiten, schnippelte nicht vorhandenes Gemüse, rührte in einer imaginären Pfanne, aus der er etwas ebenso Imaginäres in die Luft warf und wieder einfing.

Ganz begeistert stürzte ich daraufhin in die Küche und kam zurück, mit einem Topf, einem Teller – und leider auch einem großen, scharfen Messer. In seinen Augen flackerte erneut die pure Angst; keine Ahnung, ob vor mir und dem Messer oder davor, dass er sich hatte hinreißen lassen, seinen Beruf zu verraten.

Danach war Schluss, mit allem, nur nicht mit dem Schnapstrinken. Ich verlor die Lust, in jeder Hinsicht. Sicher dachte ich noch ans Bett, aber nicht mehr daran, wie ich ihn hineinbekäme. Seine Furcht, seine Zahnschmerzen, die der Alkohol offensichtlich recht gut betäubte, seine dennoch schier unvergängliche Traurigkeit und sein beharrliches Fremdeln langweilten mich; Müdigkeit fuhr mir in die Knochen, beschwerte meine Lider.

War ich wirklich auf Sex mit dieser flüchtigen Bekanntschaft ausgewesen? Unterstelle ich mir das nicht nachträglich, weil ich mich zu etwas, das wir früher einen flotten Feger nannten, hoch- oder runterstilisieren will? Könnte es mir heute, fast fünfzig Jahre später, etwa peinlich sein, dass ich schon damals am Mitleid litt, so komisch das nun wieder klingt, und bloß hatte helfen wollen und nur falls sich daraus eine Gelegenheit ergibt auch ein bisschen Glück für mich abstauben, einen Quickie, ein paar Küsschen, na, wenigstens einen dankbar-bewundernden Blick?! Ist meine Erinnerung an die junge Asta, also an mich, etwa eine von Selbsthass und Eigenliebe gleichermaßen lancierte Legende?

Ich ließ ihn sitzen, mit meinem, jetzt vielmehr seinem Schnaps, sank, so wie ich war, im Blümchenkleid, aufs Bett, rollte mich zusammen und schlief ein.

 

Als ich erwachte, vom Gerumpel der Mülltonnen, die morgens geleert wurden, brannte an der Decke noch das Licht. Doch er war weg – und die Kornflasche auch. Ich tappte in die Küche, dann in den Flur, wo ich meine Wohnungstür geschlossen vorfand, dann zurück ins Zimmer, nachsehen, ob außer ihm und der Flasche etwas fehlte. Aber da ich für den Moment nichts vermisste, legte ich meine Klamotten ab und mich wieder hin.

Stunden später, es mochte gegen zwölf Uhr gewesen sein, hörte ich von der Tür her beharrliches Klopfen. Zum Glück war ich bereits geduscht und im Bademantel und hatte mir gerade einen Kaffee gebrüht; nur deshalb ging ich öffnen. Oder hielt ich es für möglich, dass mein Patient, wenn er schon nichts als eine fast leere Schnapsflasche mitgenommen, so vielleicht ja doch etwas vergessen hatte?

An meiner Tür stand aber weder er noch nur ein Asiat, nein, dort standen gleich sechs von der Sorte. Und sie trugen graugrüne Uniformen. Und einer streckte mir einen Strauß weißer Rosen entgegen.

»Frau Arnold«, sagte der links außen, der mit dem Strauß, in bestem Deutsch, »wir danken Ihnen! Sie haben sich überaus vorbildlich um unseren kranken Genossen gekümmert, und Ihr schönes, sozialistisches Bruderland ist mit unserem verbündet. Dennoch ist es nicht ungefährlich in Ihrer ruhmreichen Hauptstadt und so nahe dem antifaschistischen Schutzwall, nachts, allein auf der Straße. Darum gestatten Sie uns, dass wir Ihnen im Namen unseres großen Führers Kim Il-Sung und der gesamten Koreanischen Demokratischen Volksrepublik ein paar bescheidene Blumen überreichen.«

Diese Sätze, an die ich mich wortgenau zu erinnern meine, besonders an die bescheidenen Blumen, las er von einem Zettel ab. Ich erwiderte kein Wort, außer vielleicht »tschüss«, ergriff das Bukett und schloss, nachdem die Herren sich knapp verbeugt hatten, schnell meine Wohnungstür, die ich, glaube ich, sogar verriegelte, als sie unten angekommen, ihre Schritte draußen im Treppenhaus jedenfalls verhallt waren.

Ich setzte mich auf eben jenen Polsterstuhl, auf dem mein nächtlicher Gast gesessen hatte, griff nach der Packung Club, die neben der leeren Titretta-Analgin-Schachtel lag, und entzündete mit zittrigen Händen ein Streichholz; dessen Flamme schwärzte die Zigarette, an der zu ziehen ich vergaß, bis sie so weit runtergebrannt war, dass sie mir beinahe die Fingerkuppen versengt hätte.

Ein Koreaner, das also war er; und auch noch ein Nordkoreaner! Ich hätte es mir, zumal sich das Konsulat dieses seltsamen Staates nicht weit von meinem Haus entfernt in der Glinkastraße befand, auch denken können, wenn, ja, wenn ich hätte denken können. Was oder wer hätte er denn sonst sein sollen?! Ein Chinese, ein Japaner, ein Mongole, ein Vietnamese, ein Thai? Warum hatte ich auf alles Mögliche getippt, nur nicht auf Koreaner? Sein Teint war dunkel und dennoch blass, sein Gesicht nicht so rund wie das vieler Mongolen, Chinesen und Japaner, seine Nase groß und kühn gebogen, sein Haar borstig dick, aber dunkelbraun, nicht blauschwarz. Vielleicht ausgebleicht vom Küchendunst? Insgesamt wirkte er eher indigen, also süd-, mittel- oder nordamerikanisch; ohne Weiteres hätte ich ihm den Mexikaner geglaubt, den Bolivianer, sogar den Sioux.

Und wie, fragte ich mich, kam es, dass seine Landsleute derart schnell bei mir auf der Matte gestanden haben. Sie kannten meinen Namen, meine Adresse … Haben sie uns beobachtet oder erst einmal nur ihn verfolgt, diesen vor lauter Zahnweh irgendwie durchgeknallten Parteigenossen Botschaftskoch, der wahrscheinlich schon vor unserer Begegnung versucht hatte, sich mit Schnaps zu kurieren – an seinem Arbeitsplatz zwischen den Gemüsekörben und den Wok-Pfannen oder in seinem Stübchen unter dem Konsulatsdach – und unter einem Poster des Diktators, um den sich fröhlich die Werktätigen scharen, Männer in graugrünem Zwirn und schreibunt gewandete Frauen und lachende junge Pioniere? Oder hat er sich, wohl wissend, dass seine, ganz sicher unerlaubte, Abwesenheit bemerkt worden war, heute Morgen gleich selbst angezeigt und brühwarm gestanden, wo er weshalb, wie lange, mit wem gewesen war? Werden sie bloß eine strenge Disziplinarstrafe über ihn verhängen, oder ist er schon auf dem Weg zurück in seine ferne, fiese Heimat, in der ihn dann zwanzig bis dreißig Jahre Gulag erwarten? Oder lebenslänglich? Oder noch Schlimmeres?

Und ich? Wird das Ministerium für Staatssicherheit von denen einen Wink bekommen? Werde ich mich, falls die Unseren mich vorladen sollten, herausreden können? Ich werde etwas von Solidarität faseln, davon, dass ich als Krankenschwester es für meine Pflicht halte, zu helfen, immer und jedem.

 

Es geschah aber nichts, gar nichts; ich bekam keinen Besuch seitens unserer Offiziellen – oder Inoffiziellen, und für die Herren Diplomaten von nebenan war die Sache, soweit sie mich betraf, wohl erledigt.