Dschungel - Friedemann Karig - E-Book

Dschungel E-Book

Friedemann Karig

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Beschreibung

Das Leben ist ein Abenteuer. Ob du willst oder nicht. "Das Drama wie auch die Schönheit des Lebens bestehen wohl darin, dass wir alle, in einer verwinkelten Ecke unseres Ichs, auf eine Art für immer fünfzehn Jahre alt bleiben."  Benjamin von Stuckrad-Barre über "Dschungel" Er muss ihn finden. Seinen besten Freund, der schon immer auf der Jagd nach dem Extremen war - nie wird er vergessen, wie euphorisiert Felix neben ihm vor dem felsigen Abgrund stand, unter ihnen ragten die Klippen hervor wie aufgeklappte Messer. Doch selbst Felix sieht es nicht ähnlich, auf einer Reise in Asien spurlos zu verschwinden. Für den Erzähler steht fest: Nur er kann das rätselhafte Abtauchen aufklären. Dafür setzt er sogar seine große Liebe aufs Spiel. Schließlich verbindet ihn mit Felix eine besondere Freundschaft. Und ein Geheimnis, das sie ebenso eint wie trennt. Immer tiefer dringt der Erzähler auf seiner Suche in das wilde Kambodscha vor, in dieses nie genesene Land ohne Gedächtnis, immer verzweifelter durchforstet er seine Erinnerungen nach einem Hinweis, was passiert sein könnte. Bis er begreift, dass er den Freund nur retten kann, wenn er mit ihm verschwindet. "Peng, peng, peng, und dann den Kopf in Flugmodus. Friedemann Karig hat den Reiseroman neu erfunden. Nur eigentlich ist das mehr als ein Roman, nämlich eine Hymne an das Jungsein und Wildwerden. Und das ist groß." Max Scharnigg

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Dschungel

Der Autor

FRIEDEMANN KARIG, geboren 1982, studierte Medienwissenschaften, Politik, Soziologie und VWL und schreibt unter anderem für die Süddeutsche Zeitung, das SZ-Magazin, die Zeit und jetzt. Er moderierte das für den Grimme-Preis nominierte Format Jäger&Sammler von funk, dem jungen Online-Angebot von ARD&ZDF. Dschungel ist sein literarisches Debüt, zuvor erschien 2017 sein Buch Wie wir lieben. Vom Ende der Monogamie. Friedemann Karig lebt in Berlin und München.

Das Buch

Er muss ihn finden. Seinen besten Freund, der schon immer auf der Jagd nach dem Extremen war – nie wird er vergessen, wie berauscht Felix neben ihm vor dem felsigen Abgrund stand, unter ihnen ragten die Klippen hervor wie aufgeklappte Messer. Doch selbst Felix sieht es nicht ähnlich, auf einer Reise in Asien spurlos zu verschwinden. Für den Erzähler steht fest: Nur er kann das rätselhafte Abtauchen aufklären. Dafür setzt er sogar seine große Liebe Lea aufs Spiel. Schließlich verbindet ihn mit Felix eine besondere Freundschaft – und ein Geheimnis, das sie ebenso eint wie trennt. Immer tiefer dringt der Erzähler auf seiner Suche in das wilde Kambodscha vor, in dieses nie genesene Land ohne Gedächtnis, immer verzweifelter durchforstet er seine Erinnerungen nach einem Hinweis, was passiert sein könnte. Bis er begreift, dass er den Freund nur retten kann, wenn er mit ihm verschwindet.

Friedemann Karig

Dschungel

Roman

Ullstein

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ISBN: 978-3-8437-2036-6© 2019 by Ullstein Buchverlage GmbH, BerlinAlle Rechte vorbehaltenUmschlaggestaltung: zero-media.net, MünchenUmschlagmotiv: Gettyimages / hg0513 / ImazinsE-Book-Konvertierung powered by pepyrus.com

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Inhalt

Titelei

Der Autor / Das Buch

Titelseite

Impressum

1

Klippe

Mikronesien

Milchzähne

Pechvogel

Tunnel

2

Hostel California

Mutprobe

Nirvana

Krokodil

Schatz

Kotze

Belmondo

Tic Tac

Shopping

The good die young

Pirat

Rien ne va plus

Sea Wolf

3

Macbeth

Aquarius

Die Zeit

Emma, Emma

Georg

Bermuda

Supermarkt

Geister

Indianer

Ambel

Feuer

Trockenmachen

Straight Edge

Wahrheit

4

Anhang

Quellennachweis

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

1

Widmung

Für meine Freunde

We look at the world once, in childhood. The rest is memory.— Louise Glück —

Pechvogel

Ich saß auf der Toilette des Flugzeugs und dachte darüber nach, wie irrsinnig es war, in 10 000 Meter Höhe mit 1000 Stundenkilometern um die Welt zu rasen. Und einfach pinkeln zu gehen. Wenn wir jetzt mit einem anderen Flugzeug zusammenstießen, würde ich mit heruntergelassenen Hosen vom Himmel fallen. Und später, sollte man meine Leiche jemals finden, würden die Ermittler rätseln, ob mir der Absturz die Hose heruntergezogen hatte. Oder ich tatsächlich auf der Toilette überrascht worden war. Sie würden mir einen Spitznamen geben, wie es Profis oft taten, um mit dem Schrecken fertigzuwerden: »Stripper« oder »Pechvogel«, sehr lustig.

Sag mal, sind die dentalforensischen Ergebnisse für den Pechvogel schon da? Das Labor soll sich beeilen. Übermorgen ist die Pressekonferenz, bis dahin müssen wir sämtliche Überreste identifiziert haben.

Ich spülte. Das Vakuum saugte meinen Urin in den Abgrund. Als Kind geriet ich in Panik, sobald ich im Zug auf die Toilette musste. Schlimmer fand ich nur die Plumpsklos von früher, die direkt auf die höllisch ratternden Schienen gingen und an denen man ausgerechnet nach einem so intimen Moment die Unmenschlichkeit dieser viel zu schnellen, viel zu lauten Art erkannte, sich fortzubewegen. Ain’t nothing gonna break my stride, summte ich, ließ dann eine Zeile aus, die mir nie richtig einfiel, oh no! I got to keep on moving.

Ich trat aus der Kabine. Die Stewardess war damit beschäftigt, Tabletts in einen der stählernen Schränke zu räumen, hinter denen Mahlzeiten wie in einem Gefängnis warteten. Ich wollte mich an ihr vorbeizwängen. Sie drehte sich um.

»Entschuldigung«, sagte sie und sah mich an.

Was hatte ich falsch gemacht? Durfte ich gerade nicht auf die Toilette? Hatten die Anschnallzeichen geleuchtet? Konnten sie mich zwingen, sitzen zu bleiben?

»Dich kenne ich doch!«, sagte sie. Sie hatte die braunen Haare streng gescheitelt und zu einem Zopf gebunden. Ihre dunklen Augen liefen schmal zu, ihr Mund war spitz. Sie sah aus wie ein schlaues, fleißiges, exotisches Tier, das sich perfekt an seine Umwelt angepasst hatte. Und ja, sie kam mir ebenfalls bekannt vor. Aber woher?

»Bist du nicht gestern schon geflogen?«, fragte sie.

Ich wusste nicht, ob ich mich erleichtert fühlen sollte. Oder ertappt.

»Ja, bin ich.«

»Ich auch. Ich hab dir einen Tee gebracht.«

Jetzt erinnerte ich mich an sie. Ich hatte sie nach einem Tee gefragt, weil ich nervös gewesen war. Turbulenzen. Oh no!

»Das warst du?«

Warum duzten wir uns?

»Ja, das war ich.«

Sie lächelte. Kein Stewardessenlächeln, das auf ihr Gesicht sprang wie ein Insekt und wieder verschwand, sobald der Passagier woanders hinschaute, so schnell, dass man sich fragte, ob man es überhaupt gesehen hatte. Nein, ein echtes Lächeln. Geöffnete Lippen, Mundwinkel nach oben.

»Warum bist du schon wieder in einem Flugzeug?«

»Das Gleiche könnte ich dich fragen.«

Das Flugzeug sackte ab, ich spürte es im Bauch. Es fühlte sich an wie drei Stockwerke in einem Fahrstuhl – vermutlich waren es viel mehr, fünfzig Meter.

»Ausfall«, sagte sie. »Krankheit. Einfach nicht aufgetaucht. Vielleicht hart verkatert … Niemand steigt freiwillig mit Restalkohol in diese Uniform, in diese Maschinen. Hier oben fühlt sich jeder Kater dreimal so schlimm an wie unten. Hat mit dem Luftdruck zu tun. Also haben sie mich aus dem Hotelbett geklingelt. Gibt einen fetten Bonus, wenn man spontan Langstrecke fliegt.«

Sie räumte weiter Tabletts ein und aus, nach einem undurchschaubaren Muster und unbeeindruckt davon, dass sie sich nicht wie ich festhalten konnte, wenn das Flugzeug nach links oder rechts fiel.

»Tee?«

»Eher Bier.«

»Bringe ich dir. Wird gleich unruhig. Setz dich besser wieder in die Bronx.«

»Wohin?«

»So nennen wir die Economy Class.«

Es klang nach dem Ende unserer Konversation. Ich drehte mich um und ging zu meinem Platz. Das Flugzeug war dunkel. Wir waren jetzt drei Stunden in der Luft, und da wir mittags gestartet waren und in die Nacht flogen, versuchten alle zu schlafen. Nur wenige Bildschirme, eingelassen in die Vordersitze, flackerten. Trotz der Luftlöcher blieb es ruhig.

Oh no! I got to keep on moving.

Lea küsste mich zum letzten Mal an der Treppe zur U-Bahn, auf den Mund, auf die Handrücken. Von unten strömte warme Luft herauf. Wir umarmten uns. Hielten uns fest. Lösten uns genau gleichzeitig voneinander. Das hatten wir immer gekonnt. Keiner musste denken, er hinge mehr am anderen. Nicht einmal in einer Umarmung.

Wir sagten nichts mehr. Hatten alles gesagt. Nachdem ich endlich zu Hause gewesen war, die Gestalt aus dem Parkhaus zurückgelassen und die Tür hinter mir verriegelt hatte. Es war schwieriger, als ich dachte. Lea war eine haushohe, glatte Wand.

»Du spinnst«, hatte sie gesagt.

»Das ist nichts Neues«, sagte ich.

»Aber hiermit haben wir den Beweis.«

»Was soll ich denn machen?«

»Abwarten.«

»Vier Wochen. Wie lange noch?«

Sie dachte kurz nach. »Vielleicht steht er morgen vor der Tür. Oder meldet sich aus Rio vom Karneval oder vom Mond oder von sonst wo. Und du sitzt schön in Kambodscha im Sumpf.«

»Vielleicht braucht er Hilfe.«

»Hilfe? Wobei? Beim Schuhebinden?«

»Wenn ich das wüsste.«

»Warum fährt sie nicht selber?«

»Sie ist fast sechzig.«

»Man könnte zuerst sie aufbrauchen, bevor man dich anbricht.«

»Er ist mein Freund.«

»Bist du dir sicher?«

»Felix, der Typ mit den Locken. Du erinnerst dich?«

»Nein, ich meine: Bist du auch sein Freund?«

Wenn jeder Mensch klingt wie ein Instrument, war sie eine Querflöte. Ein wenig dunkler, herber als andere Flöten. Aber immer silbrig und fein, schillernd und klar, kühl und warm zugleich. Und wären die Sommersprossen nicht gewesen, sie sähe auch aus wie eine. Schlank und silbern. Die Sommersprossen waren ein Problem. Sie hatte Tausende. Ich mochte sie nicht. Sie waren fremd, unverständlich. Wieso waren sie da? Wie eine feindliche Armee saßen sie auf dem Gesicht meiner Freundin, einem Gebiet, das meines sein sollte. Stur, unbeugsam. Sie würden niemals vor mir zurückweichen. Egal wie oft ich die Haut küsste, die sie besetzt hielten.

Sie kratzte sich im Nacken, unter ihren braunen halblangen Haaren, die auf die Kante ihres Kinns hin geschnitten waren.

»Er würde auch fahren.«

»Ja. Wenn du ihn eingeladen hättest und das Flugticket bezahlen würdest.«

»Das macht ja seine Mutter.«

»Für sich selbst hätte sie Business Class gebucht.«

»Lea. Kein Mensch weiß, wo er ist. Was mit ihm ist. Ob ihm was passiert ist. Ich kann doch nicht einfach abwarten, bis sie seine Leiche finden. Oder ihn für tot erklären, weil sie keine finden.«

»Wie lange bist du weg?«

»Ich weiß es nicht.«

»Sag mir eine Zahl. Los.«

»Ich könnte dich nur anlügen.«

Pause.

Sie schüttelte sanft den Kopf.

»Du glaubst nicht, dass er tot ist. Ganz im Gegenteil. Du bist dir sicher, dass er lebt. Sonst würdest du nicht fahren.«

Woher wusste sie das? Woher wusste sie immer alles?

»Natürlich glaube ich, dass er lebt. Vermutlich sitzt er irgendwo am Strand und hat einfach keine Lust, sich zu melden. Hat eine Frau kennengelernt. Oder zwei. Trotzdem muss jemand hin.«

»Warum eigentlich du? Willst du auch mal ein Held sein?«

Die Sommersprossen waren, wenn man alle zusammenzählte, den silbernen Stellen überlegen. Die einheimischen Truppen hatten keine Chance. Die Besatzung würde ewig dauern. Ein Stellungskrieg mit hohen Verlusten. Mehr war nicht zu erwarten.

»Ich habe keine Wahl.«

»Hör auf. Die hast du. Und ich auch. Und ich nutze diese Wahl.«

Sie kam näher. Ich saß auf einem Stuhl, die Beine am Tisch vorbeigestreckt. Sie setzte sich auf meinen Schoß, umarmte mich, küsste mich, flüsterte in mein Ohr.

»Ich wähle, nicht sauer zu sein. Sondern dich zu verstehen. Fahr hin, geh ihn suchen. Geh ihn vor allem finden. Und wenn du ihn hast, hau ihm eine rein. Schick mir ein Foto von seinem blauen Auge. Und wage es ja nicht, auch zu verschwinden.«

Sie löste sich von mir, stand auf, drehte sich um. Keine Sommersprossen mehr, nur ihre Beine, ihr Rücken, ihr Hinterkopf. Ich würde es niemals zugeben, aber es war das Erste, was mich an ihr gebannt hatte: ihre Rückseite. Ich hatte sie angestarrt. Drei Minuten lang. Hatte gehofft, sie würde sich niemals umdrehen. Dann hatte ich widerrufen und war bereit, alles zu geben, damit sie sich zu mir umdrehte.

»Schau ruhig noch mal hin«, sagte sie, als sie im Türrahmen stand. »Das wird dir fehlen. Wie lange du auch weg bist, es wird dir lange vorkommen. Bis du ihn aus einem asiatischen Puff gezogen hast. Oder wohin auch immer er sich verirrt haben mag. Früher oder später wirst du hierher zurückkriechen. Und weil ich deine Frau bin, werde ich dich zurücknehmen. Dich ausziehen und waschen, von Kopf bis Fuß. Und dann werde ich mich ausziehen, für dich«, sie lächelte ihr schiefes Lächeln, die Sommersprossen leuchteten, meine Feinde, unbesiegbar, dazu erklang die Querflöte. »So langsam, dass du weinst. Weil du weg warst, das alles verpasst hast, was du jetzt vor dir siehst. Und ich werde dir nicht erzählen, dass ich einsam war.« Ihr Blick wurde dunkel. Keine Spiele mehr. »Ich werde dir nicht erzählen, dass ich andere Männer angeschaut habe. Ich werde dir nicht erzählen, wie ich nachts nicht schlafen konnte, vor Sorge. Und vor Zweifeln. Wie ich mich gefragt habe, warum ich auf einen Typ warte, der mich einfach zurücklässt. Ich werde dir nur erzählen, wie sehr ich dich vermisst habe und wie froh ich bin, dass du wieder hier bist. Und danach wirst du nie wieder gehen.«

Felix hatte sie zuerst gesehen. Er wurde nicht müde, darauf hinzuweisen. »Ich habe dich zuerst gesehen«, sagte er, wenn wir zu dritt waren. Sie streckte ihm die Zunge raus, drohte eine Ohrfeige an, zeigte den Mittelfinger, ignorierte ihn, rollte mit den Augen, lachte, verließ den Raum. Sie sagte: »Kannst du gar nicht, so blind, wie du bist«. Oder: »Ich hab dich aber nicht gesehen.« Mit der Zeit sagte sie gar nichts mehr, schaute mich an, damit ich etwas sagte. Er hörte nicht auf. »Ich habe sie zuerst gesehen«, sagte er zu mir, als wäre sie gar nicht da. Ich sagte nichts. Er hatte ja recht.

Ich hatte sie entdeckt, als sie schon mit ihm redete, den Rücken mir zugewandt. Er lachte, schnappte, lachte über irgendetwas, das sie gesagt hatte. Sie standen an der Theke in diesem Café, in das damals alle gingen, vor den Flaschen mit dem Alkohol. Um sie herum viele Menschen, die Bedienung muss vorbei. Lea geht einen Schritt zur Seite, Felix bleibt stehen. Warum war ich später gekommen? Ich wusste es nicht mehr. Ich erinnerte mich oft an diese Szene, ließ sie noch einmal innerlich ablaufen. Immer ging sie anders aus als in Wirklichkeit. Immer war Lea irgendwann weg, und Felix noch da. Dabei war es anders gekommen. Er war verschwunden, und sie war noch da. Hatte sich umgedreht. Mich gesehen.

»Hallo«, sagte sie.

»Hallo«, sagte ich.

»Ich bin Lea«, sagte sie, und ich dachte: Warum sagt sie nicht »Ich heiße«? Was meint sie mit »Ich bin«? Will sie damit zum Ausdruck bringen, dass in diesem Namen ihre ganze Existenz steckt?

Das erste von tausend Rätseln.

Dann sagte sie: »Wie lange schaust du mich schon an?«

Ich setzte mich auf meinen Platz, zweiter von rechts, mittlere Sitzreihe. Neben mir saß eine ältere Dame. Perlenkette, Bluse, graue Haare. Duft nach Puder. Eine Großmutter, die ihre Enkel zu selten sah. Sie hatte die Augen kurz nach dem Start geschlossen und nicht wieder aufgemacht. Der Platz neben mir, am Gang, war frei geblieben. Ich dachte darüber nach, ob die Dame es unhöflich finden würde, wenn ich von ihr abrückte, und wie viel mehr Privatsphäre ich uns beiden damit verschaffen könnte. Ob sie das überhaupt bemerken oder zehn Stunden durchschlafen würde. In dem Augenblick bewegte sich eine Hand von rechts in mein Sichtfeld, ein Bier schwebte darin. Die Stewardess.

»Bitte.«

»Danke.«

Sie blieb stehen. Schaute den Gang hinauf und hinab. Ihre Kollegen saßen ganz vorn oder schliefen hinten. Die meisten Passagiere hatten die Augen geschlossen. Das Flugzeug brummte ohrenbetäubend. Dann sank es plötzlich heftig ab. Die Stewardess hielt sich an meinem Nachbarsitz fest.

»Was dagegen?«, sagte sie und deutete auf den freien Platz neben mir. »Irgendwo muss ich während der Achterbahn sitzen. Und die Klappsitze vorn sind eine Folter.«

»Nein, bitte«, sagte ich.

Sie setzte sich, seufzte und sagte, mehr zu dem toten Bildschirm in der Rückenlehne als zu mir: »Soll ich dir was verraten?«

»Klar.«

»Ich hasse Fliegen.« Wie um sie zu bestätigen, ruckte das Flugzeug einmal. Nach oben, dachte ich. Können wir nach oben fallen? Drehten sich Flugzeuge in Turbulenzen nicht manchmal, so dass der Luftstrom abriss, der sie am Himmel hielt, und dann trudelten sie wie Papierflieger gen Erde?

»Ich finde es auch schrecklich, alles ist so unbequem,« sagte ich, »diese Sitze und …«

»Nein, nicht weil es unbequem ist«, unterbrach sie mich. »Nicht, weil man Fremden zu nahe kommt. Nicht wegen des Essens, mit dem wir euch vergiften. Nicht wegen der Luft, die einen von innen austrocknet. Nicht wegen der schweren Wagen, die ich gegen Schienbeine ramme. Nicht wegen der Säufer und der schreienden Kleinkinder.«

Sie machte eine Pause. Ich trank von meinem Bier.

»Flugangst?«, fragte ich und versuchte sie anzulächeln.

Sie schnaubte und beugte sich vor. »Ich glaube nicht an Flugangst.«

Ich suchte in ihrem Gesicht nach einem Hinweis, ob sie spottete. Nichts. Selbst als erneut ein leichtes Erdbeben durch die Kabine ging und alles klapperte, verzog sie keine Miene, schaute lediglich den Gang hinauf, um zu prüfen, ob sie gebraucht wurde.

»Ich hasse Fliegen nicht, weil man abstürzen könnte, die letzte Minute seines Lebens in totaler Panik zu Ende zittert, schreit, betet, mit 800 Stundenkilometern gegen eine Wand aus Wasser rast, aus dem Sitz geschleudert wird, verbrennt oder zerdrückt wird. Ein Horror jenseits aller Vorstellung, bis man endlich weg ist, im totalen Nichts. Für den Rest der Welt nur eine Zahl in einer Statistik, eine Meldung, ein leeres Grab.«

Sie schob ein paar Haare zurück, die sich hinter ihrem Ohr gelöst hatten. Wir fielen noch einmal heftig ab. Die ersten Passagiere wachten auf, dachten aber wohl, sie hätten nur geträumt. Ihr werdet schlafend in euer Verderben stürzen, dachte ich.

»Ich hasse Fliegen, weil mir inzwischen klargeworden ist, dass es die endlose Gier des Menschen beweist. Es reicht uns nicht, herumzulaufen, zu fahren, mit Autos oder Zügen, die schon zehn Mal schneller sind, als wir jemals rennen könnten. Wir müssen noch weiter, noch höher. Dafür sind wir bereit, uns wie Gefangene in Sitzreihen zu pressen, uns wie Gefangene alles befehlen zu lassen und wie Gefangene zu sterben, wenn jemand einen Fehler macht. Wir erniedrigen uns, um uns zu erhöhen. Und niemandem fällt dieser Widerspruch auf. Täglich sitzen Millionen Menschen in Tausenden Stahlwürsten und lassen sich um eine Erde schießen, die wir mit unserem Größenwahn kaputtmachen.«

Während sie schneller redete, riss es das Flugzeug nach rechts, ich wurde gegen sie gedrückt, krallte mich an die Armlehnen.

»Und das Schlimmste daran ist: Ich bin Teil des Problems. Es ist mein Job. Ich kann nichts anderes. Ich muss mitmachen.«

Und ich auch.

»Aber jetzt bist du dran. Was hat dich in dieses Gefängnis gezwungen? Müssen ja dringende Geschäfte sein.«

Ihr Blick fiel auf den kleinen kupfernen Behälter, länglich wie eine Patronenhülse, der an einem Lederband um meinen Hals hing. Er war aus dem Ausschnitt meines Hemdes gerutscht. Man konnte sofort sehen, dass ich etwas darin aufbewahrte. Etwas Wichtiges.

Felix’ Mutter hatte mir die Kette gegeben, hatte sie mir eigenhändig umgehängt vor unserer Tür, als sie mich ablieferte.

»Für den Fall einer DNA-Analyse«, sagte sie. »Manchmal kann man Leichen nur Anhand einer Gewebeprobe identifizieren, wenn sie lange im Wasser getrieben sind oder …«

»Ich weiß schon«, unterbrach ich sie.

»Ich hoffe, du brauchst sie nicht.«

Zu Hause schraubte ich den Deckel von dem Behälter. Darin fand ich eine Locke von Felix’ dicken braunen Haaren. Vorsichtig nahm ich sie heraus und zerrieb sie zwischen den Fingern zu einzelnen Haaren. Wenn ich eins davon in meine Haut einarbeiten könnte, dachte ich, würde sich mein Fingerabdruck dann ändern?

Woher hatte sie die? Bewahrte sie immer eine Locke ihres Sohnes auf?

»Sie ist die am besten vorbereitete Mutterwitwe aller Zeiten«, sagte Lea. Dann ging sie ins Bett. Ich blieb am Tisch sitzen.

Als die Sonne aufging und ich zum Flughafen musste, hatte ich keine Sekunde geschlafen, stattdessen die Nacht vor dem Laptop verbracht. Das Land gegoogelt, die Stadt, das Hostel. Kambodscha. Rote Khmer. Völkermord 1975 bis 1979. Heute friedlich, aber arm. Alles kam mir so fremd vor. Nicht exotisch, eher erfunden, wie aus einem Fantasyfilm. Die Bilder mit den lächelnden dunkelhäutigen Menschen wie Postkarten aus einem imaginären Land, die ein imaginärer Postbote zu mir brachte, und ich wollte ihn festhalten, ihn fragen, ob er Felix gesehen hatte, aber er wehte wie ein Geist davon. Unwillkürlich begann ich eine Melodie zu summen. Oh yes, wait a minute Mister Postman, wo auch immer dieses Lied herkam, so erstaunlich fröhlich – aber waren jetzt nur noch traurige Lieder erlaubt?

Ich schaute seine Fotos an.

Fast sechs Monate war er jetzt unterwegs. Er hatte sich verändert. War erst braun geworden. Dann dunkelbraun. Die Locken wuchsen, fielen, wuchsen. Die Menschen um ihn waren wie aus einer Kartei zusammengestellt, wie gecastete Schauspieler für den perfekten Trip, möglichst vielfältig. Alle Hautfarben, Größen, Gesichter. Alle lachten. Felix auch. Wonach suchte ich? Nach einem Hinweis? Was wäre ein Hinweis? Eine Fahrkarte, die er in die Kamera hielt? Auf der ein Ort stand, wo ich ihn finden würde? Oder eher ein Gefühl? Ein Bild, auf dem er anders aussah? Und was bedeutete das dann? Würde er so ein Bild online stellen, selbst wenn es eins gäbe? Und was würde das dann bedeuten?

Ich las seine letzte Nachricht an mich. Ein Foto. Er saß mit ein paar Leuten an einem Tisch, sie prosten sich zu, Bierflaschen, Felix im Vordergrund. Peace-Zeichen in die Kamera. Zunge leicht rausgestreckt. Ich hatte nicht geantwortet. Mir war nichts eingefallen. Nichts Geistreiches, nichts Passendes. Ich kannte den Ort nicht, war noch nie außerhalb Europas gewesen. Was sollte ich dazu sagen? Viel Spaß, Alter?

Und jetzt? Ich hatte mir geschworen, ihm erst zu schreiben, wenn ich dort war. Schon als ich am Schalter stand und das Ticket entgegennahm, die Angestellte der Fluglinie mich aufmunternd, fast neidisch anblickte.

»Schöne Reise«, sagte sie, reichte mir das Kuvert, auf dem eine glückliche Familie vor einem Flugzeug unter blauem Himmel abgedruckt war. Sie musste gedacht haben, meine Mutter kaufte mir spontan ein Flugticket, für den nächsten Morgen. Erfüllte mir einen Traum: Kambodscha! Tolles Land! Und Dorothée und ich spielten mit, lächelten zurück. Bloß nicht anmerken lassen, dass etwas nicht stimmte. Sonst hätte sie womöglich nachgehakt. Das hätte ich Felix erzählen können. Jetzt. Die Geschichte noch ein bisschen ausschmücken. Einen Dialog erfinden, oh yes, Mr. Postman, wie die Fluglinienfrau mit mir geflirtet oder wie sie gesagt hätte, dass sie auch immer nach Kambodscha wollte, und so weiter. Wie ich ihr versprochen hätte, eine Karte zu schicken. Wie wir alle lachten, aus unterschiedlichen Gründen.

Ich meldete mich in dem Netzwerk ab und tippte Felix’ Mailadresse als Benutzernamen ein. Dann probierte ich ein Passwort: Felix1234 (ich hatte ihn einmal beobachtet, wie er es benutzte).

Falsch.

Felix2345. Auch falsch.

Die Mailadresse stimmte. Wie viele Versuche hatte ich? Ich rief den Maildienst auf. Gab Felix1234 ein. Falsch. Ich dachte nach. Musste man als bester Freund nicht einen besseren Tipp haben?

Felix2345.

Falsch.

Felix12345.

Falsch.

FELIX12345.

felix12345.

FELIX4321.

felix4321.

Alles falsch.

Felix plus sein Geburtsdatum. Falsch. Felix plus mein Geburtsdatum. Natürlich falsch.

Passwort zurücksetzen?, fragte mich der Laptop.

Ich stand auf und packte. Die Sachen aus der Tasche raus, neue Sachen in den großen Rucksack rein. Kurze Hosen. T-Shirts. Sonnencreme. 30 Grad hatte es dort heute, sagte mir eine Anzeige neben der Suche. Sie fragte: Reisen Sie nach Kambodscha? Brauchen Sie ein Hotel? Zumindest diese Frage hatte sich von allein geklärt.

Ich will nicht, dachte ich, so laut und klar, als hätte ich die drei Worte in ein Mikrofon gesprochen, das mit zwanzig Boxen und fünf Subwoofern verbunden war, deren Bass mir meine Stimme wieder in den Körper jagte. Der Widerstand hatte meine Glieder erfasst, alles vibrierte in dieser Frequenz, die dissonant zur Realität schwang. Der Missklang quälte mich, mir wurde übel. Ich will nicht, ich will nicht, dachte ich, ich will nicht dahin fliegen, ich will nicht weg, ich will nicht, nicht morgen und nicht übermorgen, ich bin doch gerade erst wiedergekommen.

Ich blieb vor dem Schrank stehen, unfähig, noch ein Kleidungsstück herauszunehmen und in den Koffer zu packen. Beinahe stampfte ich mit dem Fuß. War ich ein Erwachsener oder ein trotziger Teenager, den man zu einem Urlaub mit den Eltern gezwungen hatte, statt sturmfrei zu Hause zu bleiben? Was war ich für ein Typ, wenn ich nicht wie jeder normale Mensch einfach in ein Flugzeug steigen konnte? Ich hörte Felix über mich lachen.

Ich will nicht, dachte ich noch mal, aber die Boxen waren leise gedreht. Die Worte verhallten. Ich hatte schon aufgegeben.

Ich setzte ich mich wieder hin und probierte neue Passwörter. Zehn Mal. Zwölf Mal. Account vorübergehend gesperrt. Dann suchte ich nach Fällen von vermissten Personen. Wie man am besten vorging. Was schon einmal jemanden zurückgebracht hatte. Wo man anrufen konnte, wenn man es nicht mehr aushielt. Als es hell wurde, war ich keinen Schritt weiter. Hatte keinen einzigen Anhaltspunkt. Keine Idee. Keinen Verdacht. Ich würde hinfliegen müssen und suchen. So einfach, so brutal.

Wait a minute, wait a minute.

Bevor mein Wecker klingelte, kam Lea. »Guten Morgen«, sagte sie, als wäre das wahr. Küsste meinen Hals. Ging ins Bad. Ich hatte keine Sekunde neben ihr gelegen. Nicht einmal im Schlaf beobachtet hatte ich sie, wie ich es sonst tat, wenn ich nicht schlafen konnte. Nicht ihren Atem gemessen mit meinem Handrücken. Mich nicht erschreckt, wenn sie zuckte. War nicht irgendwann doch an ihrer Seite eingeschlafen. Nie war mir Zeit erbarmungsloser verschwendet vorgekommen.

Ich rief in der Agentur an. Mein Chef war natürlich schon da. Am Samstag. Ich hatte mir ein paar Lügen zurechtgelegt für ihn. Weshalb ich sofort, ab heute Urlaub brauchte. Drei Monate, nachdem ich den Job angefangen hatte. Zwei Wochen, nachdem ich dachte: Das bringt dich nicht um. Eine Woche, nachdem der Chef gesagt hatte: »Du bist angekommen.« Einen Tag nach der Schulung.

Aber dann sagte ich einfach die Wahrheit: »Mein Freund ist verschwunden. Irgendwo in Kambodscha. Ich muss ihn suchen gehen.«

»Mach das, finde ich gut«, sagte mein Chef.

Ich nenne ihn natürlich nicht Chef. Ich nenne ihn beim Vornamen: Christoph. Er hat kaum noch Haare. Ansonsten sieht er nicht viel älter aus als ich. Schmal, dunkle Augen, helle Haut. Fleece-Pulli, Jeans, Brille. Wie ein Durchschnittsmensch in einem Computerspiel.

Es ist seine Firma, auch wenn er sie immer nur den »Laden« nennt: ein großes Büro mit zwölf Bildschirmen, ein kleines für Christoph, eine Küche, ein Balkon zum Rauchen. Ein großes Schaufenster zur Straße hin, als wären wir die Auslage, die verkauft würde. Jahrzehntelang befand sich hier ein Elektrogeschäft, bevor es aufgab und Christoph mit seinem Laden einzog. Es gibt Hunderte, Tausende davon im Land, und darin sitzen Hunderte, Tausende Versionen von Christoph und mir und versuchen, etwas zu verkaufen, das keiner braucht.

»Ich hoffe, du findest ihn schnell. So oder so kann er sich glücklich schätzen, einen Kumpel wie dich zu haben«, sagte Christoph.

»Ich melde mich, sobald ich was weiß«, sagte ich.

»Vermutlich hängt er in irgendeiner Strandbar ab und hat sein Handy verloren.«

»Vermutlich.«

»Ist gar nicht so ungewöhnlich. Jedes Jahr verschwinden Tausende Touristen kurzfristig. Dann erinnern sie sich nach einem Monsterkater daran, wo das Ladegerät ist, und auf einmal posten sie wieder Sonnenuntergänge. Ich kann deinen Freund verstehen. Ich würde das Handy gleich hierlassen.« Ich hörte, dass er auflegen wollte. »In einer Woche sitzt du wieder hier. Alles hat sich geklärt. Und wir können richtig durchstarten. Die anderen mögen dich. Ich brauche dich. Aber jetzt fahr du erst mal. Wird bestimmt ganz lustig.«

»Ich suche einen Freund«, sagte ich zu der Stewardess.

»Wo?«

Sie schien sich kaum zu wundern. Das Flugzeug machte einen Sprung, als wäre es in ein Schlagloch aus Luft gefahren. Wir hatten es noch nicht hinter uns.

»Kambodscha. Irgendwo an der Küste. Ich habe nur die Adresse des Hostels, wo er zuletzt war.«

»Da ist er nicht mehr?«

Ich schüttelte den Kopf. »Er ist einfach verschwunden.«

»Wie lange schon?«

»Vier Wochen.«

Sie schaute in den Gang. Inzwischen waren einige Passagiere unruhig geworden. Blickten sich um. Doch niemand war aufgestanden. Also blieb auch sie sitzen.

»Und, was glaubst du, wo er ist?«

Das hatte mich bisher noch niemand gefragt. Nicht seine Mutter, nicht Lea. Warum eigentlich nicht? War es nicht wichtig, was ich dachte, solange ich nur fleißig suchte? Sollte ich alles ausschalten, alle Gefühle und Gedanken, und wie ein Spürhund nur dem Geruch folgen, auf den ich abgerichtet war?

»Er lebt«, sagte ich. »Er muss leben.«

»Und du findest ihn?«

Ich zögerte.

»Ich weiß nicht, ob ich das kann.«

»Wieso nicht?«

»Ich bin nicht so gut in … so etwas. Ich war noch kein Mal außerhalb Europas. Ich fliege nie. Und, versteh mich nicht falsch, aber ich rede ungern mit fremden Leuten. Keine guten Eigenschaften, um am anderen Ende der Welt nach jemandem zu suchen.«

Sie nickte langsam. »Was wären gute Eigenschaften?«

»Keine Ahnung. Das Gegenteil von meinen, wahrscheinlich.«

Wir schwiegen.

»Ehrlich gesagt wäre es andersrum viel besser«, sagte ich dann. »Wenn er mich suchen würde. Er kann gut mit Leuten, war schon überall, lässt sich nie unterkriegen. So was halt.«

Sie lachte, als würde sie Felix kennen und an einen seiner Ausfälle denken. Zum Beispiel, als er einmal, wir waren vielleicht vierzehn, auf der Straße einen älteren Herrn angesprochen hatte und so lange »Onkel Dieter« zu ihm gesagt hatte, bis dieser wirklich versuchte, sich an einen Neffen zu erinnern, den er nie in seinem Leben gesehen hatte. Wir waren damals ein bisschen bekifft gewesen, doch für Felix war jeder Kontakt mit der Außenwelt nicht wie für mich ein notwendiges, zu vermeidendes Übel. Sondern eine Quelle der Energie. Etwas schien da draußen auf ihn zu warten, zog ihn an und stieß ihn wieder ab, so dass er von einer Begegnung zur nächsten flog, mich im Schlepptau wie ein Kleinkind.

»Warum suchst ausgerechnet du ihn dann? Warum nicht jemand anderes, der besser geeignet wäre?

»Weil seine Mutter mich gebeten hat.«

Sie schaute wieder in den Gang.

»Und du konntest nicht nein sagen.«

»Korrekt.«

»Was denkst du, was mit ihm ist?«

»Ich habe keine Ahnung.«

»Das glaube ich dir nicht.«

»Jedenfalls säße ich nicht hier, wenn ich glauben würde, er wäre tot.«

Sie runzelte die Stirn. »Na ja. Man kann auch eine Leiche suchen und finden. Die meisten Angehörigen von Verschwundenen wünschen sich doch irgendwann genau das: eine Leiche. Das Ende der Ungewissheit.«

»Woher willst du das wissen?«

»Als ich angefangen habe mit dem Fliegen, habe ich jedes Buch, jeden Artikel, jeden Film über Flugzeugabstürze verschlungen. Der Absturz der peruanischen Rugbymannschaft in den Anden Anfang der Siebziger. Die 737 der Air France von Buenos Aires nach Paris, die plötzlich vom Himmel fiel, mit zwei Piloten, die bis zum Aufprall dachten, sie flögen auf 4000 Meter Höhe. Der Zusammenstoß 1996 über dem Bodensee, als es russische Kinder vom Himmel regnete, zwei Schulklassen, die einen Mathematik-Wettbewerb gewonnen hatten. Nine Eleven, natürlich, die Mutter allen Flugzeug-Horrors. Und die Germanwings-Maschine, die dieser irre Selbstmörder vor ein paar Jahren in die Alpen steuerte. Ich kenne alles. Und habe mir unzählige andere Abstürze vorgestellt. Irgendwie ist das auf eine perverse Art geil. Aber vor allem dachte ich, wenn ich nur genug Schreckensszenarien detailliert genug durchspiele, schließe ich eines nach dem anderen aus.«

»Weil du dann wüsstest, wie du reagieren musst?«

»Nein«, sie schüttelte langsam den Kopf. »Du kannst bei einem Absturz sowieso nichts machen. Brace, Brace! Safety position! Die Schwimmwesten, Trillerpfeifen, Sauerstoffmasken – alles Voodoo. So wirkungsvoll gegen Abstürze wie eine Aspirin. Wenn das Ding runterfällt, bist du tot. Ende, aus, vorbei. Alles andere ist ein verdammtes Wunder, so wie damals die Landung auf dem Hudson River mit einem Airbus A320, und durch nichts beeinflussbar … Nein, mich hat etwas anderes getrieben: Wie wahrscheinlich ist es, das mir etwas passiert, von dem ich schon gelesen habe?«

»Unwahrscheinlicher, als wenn du nichts davon wüsstest?«

»Genau. Deshalb weiß ich alles über Abstürze. Und darüber, wie die Hinterbliebenen sich an jeden Strohhalm der Hoffnung klammern. Bis sie irgendwann um eine Leiche betteln. Die es meistens nicht gibt.«

»Ich will keine Leiche.«

»Du fängst auch erst an zu suchen. Und als Suchender ist das anders, glaube ich. Wart mal ab.«

Sie sah mich prüfend an. Als erwartete sie, dass ich sie anschreien würde. Oder, schlimmer, in Tränen ausbrechen. Aber ich war kühl. Nur mein Bier war leer. Sie würde sich darum kümmern. Zum ersten Mal, seit Dorothée aufgetaucht war, hatte ich das Gefühl, nicht ganz allein zu sein. Es gab Menschen, die mir helfen konnten. Und sei es mit Horrorgeschichten, 10 000 Meter über der Erde.

»Hast du Angst, abzustürzen?«, fragte sie.

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