Eddis Traum - Harald Schleuter - E-Book

Eddis Traum E-Book

Harald Schleuter

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Beschreibung

,,Eddis Traum" (Lok ohne Feuer) ...erzählt die Geschichte eines Mannes, dessen zunächst kindlich-naive Sympathie für einen Staat, der seinen Bürgern Frieden, einen gesicherten Arbeitsplatz und Wohlstand versprach, sich im Laufe der Jahre in Zweifel, Enttäuschung, in Depression und Krankheit verwandelt. Als Folge früher lnvalidisierung ist er gezwungen, seinen DDR-'Traumjob': Berater des Staatlichen Außenhandels bei Exportverhandlungen in Südamerika, an den Nagel zu hängen". Aus dem Jahrzehnte währenden Prozess seiner Desillusionierung - werden die, für das Scheitern des Gesellschaftssystems und für sein eigenes Scheitern aussagestärksten Momente, belletristisch verdichtet in ,Episoden', ,Streiflichtern', ,kurzen Geschichten' zu einem Mosaik/ Kaleidoskop komponiert, dem Lesepublikum/ dem Hörer, der Hörerin ... in diesem Buch präsentiert. Der außergewöhnliche Lebensweg -siehe Kurze Biografie" und Vorgeschichte des Romans 'Reklamation'" (im Anhang) - ermöglichten dem Autor Einblicke in das Rodeo Planwirtschaft", die anderen ,,Berichterstattern der Szene'' verwehrt blieben. Der zeitliche Abstand gewährt in vielen Fällen eine heiter-ironische Sicht, die bei allem Ernst der jeweiligen Situation, der Leserin, dem Leser, ein Lächeln gestattet.Prüfen Sie bitte meine Behauptung, wonach die anspruchsvolle Unterhaltung bei diesem ,Unternehmen' einen besonderen Platz erhielt.

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Harald Schleuter

Eddis Traum

Lok ohne Feuer

Impressum

Autor: Harald Schleuter

Vertreten durch: Kallinich Media Digital GmbH, Peterstraße 3, 99084 Erfurt

ISBN: 9783989958098

Independently Published

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über dnb.dnb.de abrufbar.

Texte: © Copyright by Harald Schleuter

Covergestaltung: Andreas Schubert / Kallinich Media Digital GmbH

Umschlagfotos: Didgeman/pixabay // cottenbro studio/pexels

Erscheinungsdatum des Buches: 1.4.2024

Inhalt

Impressum

Inhalt

Kurze Biografie

Maxime

Prolog

Das Ende

Der Beginn

Der Oberschüler

Das Studium

Der Ingenieur und Manager

Der an den “Rädchen“ drehen wollte

Der NSW-Reisekader (“Erichs Krönung“)

Der Alltag

Ende einer Illusion

Dokumente, begleitende Texte

Kurze Biografie

Ich war Mitinhaber des Patentes Nr. 33890: „Verfahren zur Herstellung chemisch stabilisierten Dibromäthans“ (gelöscht 1965) und bin außerdem Inhaber des letzten, von der „Noch-DDR“ im DNT Weimar 1989 verliehenen Literaturpreises für den Roman „Reklamation“.

Ich war der Organisator des ersten, im RGW – Raum (COMECON) gebauten Gefahrgut – Spezialkesselwagens für Bromtransporte (meine „Bromotion“ mit anschließender Invalidisierung) und bin Autor, der im Rahmen des Jan-Prochazka-Preisausschreibens 1993, Recklinghausen, ausgezeichneten Erzählung „Der Pfirsichhund“ (3. Platz).

Ich war 10 Jahre Berater des Staatlichen Außenhandels der DDR anlässlich von Exportverhandlungen in Südamerika und 16 Jahre Leiter der AG „Schreibende Senioren“ der Stadt Erfurt (Ehrenamtlich)

Ich bin im Besitz der GVS b 5 – 1155/89 – Geheime Verschlußsache (alte Schreibweise) G. Schürer an E. Krenz (27.10.1989)

Es gibt noch 4 weitere Bücher von mir.

Harald Schleuter

Maxime

Wenn du nicht zwei Pferde gleichzeitig reiten kannst, dann verlasse den Zirkus.

(aus den USA)

Prolog

Irrtum

Manch einer schleppt im Schweiß der Jahre

den Irrtum wie einen Stein.

Hilft ihm jemand, die Last zu erkennen,

schweigt er bedrückt –

und will sich nicht trennen.

So kam, dass eines Tag’s beim Jagen,

dem greisen Erich schmerzt der Magen.

Und als der letzte Bock geschossen,

sagt er zum Egon Krenz verdrossen:

„Was soll ich noch auf dieser Heide?

Ich suche besser jetzt das Weite!

Das Volk schreit nach der harten Mark

und wünscht mich bald schon in den Sarg.

Du kommst doch aus der ‚Eff De Jott‘,

kannst reden wie ein junger Gott –

bist auch, wie ich, ganz ohne Ahnung –

Egon, du passt in meine Planung!

Du setzt dich jetzt auf meinen Platz

und ich beende diese Hatz.

Fünfhundert Hirsche schoss ich hier

in meines Volkes Jagdrevier

(auf meinem Weg vom ‚Ich zum Wir‘)!

Das kann sich doch schon sehen lassen,

manch einer wird vor Neid erblassen …

(und mich dafür vielleicht auch hassen).

Ich find es trotzdem ziemlich geil!

Als dann: Mach’s gut! Und Weidmanns Heil!“

Das war sein letztes Lebenszeichen –

Dann sah man ihn von dannen schleichen.

Doch Egon zählte zu den Schlauen,

die solcher Ehre oft misstrauen.

Er fragt sofort bei Schürer an,

ob dieser Auskunft geben kann,

wie hoch das Wasser denn schon steht –

und ob noch irgendetwas geht –

bezüglich ‚Sieg des Sozialismus‘.

Da half jedoch kein Bruderkuss,

denn Gerhard schrieb: „Ich schwör‘ drei Eide.

Wir sind seit Jahren praktisch pleite!

Die Zahlen, Egon, diesmal echt!

Ich denke mir, das ist dir recht.

Sie sprechen eine klare Sprache!

Wir hinterlassen eine Brache!

Uns fehlt, mein lieber Egon Krenz,

ganz kurz gesagt, die Effizienz!

Speziell die Produktivität

bei uns doch längst auf Krücken geht.

Wir hinken mächtig hinterher!

Vierzig Prozent – das schmerzt schon sehr!

Im technologischen Niveau

da ist es leider ebenso.

Die Ausrüstungen: Stark verschlissen!

Mit einem Wort: Wir hab’ns verschissen –

vor der Geschichte, vor der Welt,

uns fehlt der ‚Pepp‘ und ‚hartes Geld‘!

Wir waren stark im ‚Siege feiern‘

und Niederlagen zu verschleiern!

Allein:

Man kann nicht mit Polit-Parolen

Kapitalisten überholen!

Und wenn dir fehlt das ‚harte Moos‘,

ist irgendwann nicht mehr viel los!

Das Volk macht schließlich nicht mehr mit,

verlangt nach einem ‚harten Schnitt‘!

Wer hinterher hinkt meilenweit,

muss nun, auch wenn er noch so schreit,

von Moskau, Peking, Sachalin,

bis Warschau, Prag und Ostberlin,

die große Pleite eingesteh’n –

und schnellstens in die Wüste geh’n.

Ich glaub‘, das hat sich rumgesprochen;

die Meisten sind schon aufgebrochen.

Egon, gib auf! Und mach dich aus dem Staube,

verkriech dich in ‘ne Luxuslaube!“

Als Egon sah die roten Zahlen,

begann er sich schon auszumalen:

Da ist fürwahr nichts mehr zu löten,

ein starker Staat ist hier vonnöten,

der uns jetzt holt aus diesen Pleiten.

Mein Gott, wir sind nicht zu beneiden!

Ich hoffe nur auf milde Richter

und möglichst viele ‚kluge Dichter‘ –

die uns’re Taten freundlich schildern,

vielleicht die Texte bunt bebildern!

Denn: Eines ist doch ziemlich sicher:

(ich höre schon des Volks Gekicher),

wir wollten stets doch nur das Gute,

versuchten’s oft auch mit der Knute,

mit frommen Sprüchen, Fahne schwenken,

wir hielten hoch das ‚Marx-Gedenken‘ –

(und wollten alle reich beschenken –

natürlich durch ‚zentrales Lenken‘!)

Mit Schürers Zahlen ist nun klar,

dass dies ein schlimmer Irrweg war.

Jedoch:

Die Schürer-Pleite-Zahlen,

so kompetent von eig’ner Hand,

bereiten vielen Menschen Qualen –

und bleiben deshalb unbekannt.

Selbst Kanzler Kohl lässt mir ausrichten:

„Veröffentlichen? Mitnichten!“

Und denkt: Das geht womöglich schief.

Wenn ich auf Schürers Eis mich wage …

(und seine Zahlen weitersage)

da kommt der ‚Bürger-West‘ in Rage,

und will die Brüder aus dem Osten,

weil sie ihm soviel D-Mark kosten,

womöglich gar nicht lieben, herzen …

Oh nein, damit ist nicht zu scherzen!

Und außerdem ist zu bedenken,

(das würde mich am meisten kränken!)

die Menschen könnten klarer sehen,

und neu bewerten das Geschehen:

Die Einheit fiel uns in den Schoß!

Kohls Anteil nur noch halb so groß!

Mein Ruhm als ‚Macher‘ würde schwinden.

Das kann unmöglich ich verwinden …

Ich schweige lieber mal dezent –

obwohl man mich sonst anders kennt.

Und die im Osten schweigen auch,

die Fakten liegen schwer im Bauch!

Wer will auf diese Art verlieren?

Das geht zu weit – und an die Nieren!

So schlecht soll’n wir gewesen sein?

Da wären wir ja hundsgemein!

Wir hätten stets doch nur gelogen,

hochgestapelt und betrogen!

Das darf das ‘Ostvolk‘ nie erfahren,

hier müssen Schweigen wir bewahren!

Das war fortan die Hauptprämisse

der West- und Ost-Polit-Kulisse.

So kam, dass Schürers Diagnose,

obzwar von kompetenter Hand,

noch ruht in der Geschichte Schoße,

den meisten Bürgern unbekannt.

Nun kann die Wahrheit zwar versinken,

doch Gott sei Dank, niemals ertrinken!

Darum: Holt sie ins Rettungsboot,

denn Aufklärung tut immer Not!

Was Gerhard einst dem Egon

und Harald S. für Eddi schrieb –

das ist noch heute wahr!

Lest Leute, seid so lieb,

vielleicht seht ihr dann endlich klar.

Das Ende

Die Mitteilung

„Unser Ewald“, flüstert Großmutter Auguste, „mein Ewald.“ Sie hält einen schwarz umrandeten Brief in der Hand, blickt auf Hermann, meinen Großvater.Dessen Gesicht ist grau wie Zement, die Enden seines gelblich schimmernden Schnurrbartes zittern. Tastend sucht seine Hand den roten Gummiball, der an einem Schlauch aus der Hosentasche hängt und zu “Machold‘s Tascheninhalator“ gehört. „Beim Rückzug über die Oder. Lungensteckschuss“, sagt Großmutter. „Mehrere Kilometer mitgenommen. Unter einer Birke abgelegt. Abgelegt.“ Sie spricht, als hätte sie die Worte auswendig gelernt. Hermanns Finger haben den Gummiball gefunden, pressen ihn zusammen, obwohl er das gläserne Mundstück gar nicht zwischen den Lippen hält. Großmutter Auguste will noch etwas sagen, sinkt aber, bevor sie dazu kommt, auf den Kohlenkasten. Opa Hermann geht einen Schritt auf das Fenster zu, reißt es auf, brüllt so laut, wie ich ihn noch nie habe brüllen hören: „Dieser braune Lump, dieser…“ Weiter kommt er nicht. Opa Hermann hat Silikose, Staublunge, wie die Bergleute hier sagen. Sein graues Gesicht aber, das schreit noch lange. Am Abend sehe ich mir eine Fotografie an. Was Onkel Ewald für Muskeln hatte! Und wie er mich in die Luft geworfen hat, als er das letzte Mal zu Besuch war. Und soll nun tot sein.

Angst

Soviel Maikäfer hat es noch nie gegeben. Sie fressen Blatt um Blatt, das Maigrün kommt kaum nach. Viele Zweige der Pflaumen-, Pfirsich- und Aprikosenbäume in Hermanns Obstberg sind bereits kahl. Großvater sagt: “Du bist schon groß, du musst nur früh hinaus. Wenn sie noch klamm sind, fallen sie wie braune Steine. Steigt erst die Sonne, krallen sie sich fest.“ „Du bleibst“, sagen Oma Guste und meine Mutter. „Die Amerikaner stehen vor Nordhausen. Und am See jagt die SS fliehende Wehrmachtsverbände.“ Otti, meine Freundin, die eigentlich Ottilie heißt, aber von allen nur Otti genannt wird, hat auch Ausgehverbot, möchte aber sehr gern ein paar Maikäfer von mir – und wenn Otti mich bittet, gehe ich, auch wenn die Frauen dagegen sind. Gegen Mittag des nächsten Tages kniee ich, eine Zigarrenkiste voller Maikäfer unter dem Arm, in der Nähe einer Brücke und zähle amerikanische Panzer. Auf dem Kopf trage ich einen neuen Wehrmachtsstahlhelm, den ich in der Nähe des Ascheplatzes gefunden habe. Der Lärm der Panzer macht die Erde beben und verursacht in meinem Bauch ein Kribbeln. Der letzte einer größeren Gruppe schert plötzlich aus, fährt durch den Straßengraben direkt auf mich zu. Etwa zehn Schritte entfernt, bleibt er mit einem Ruck stehen. Vier Männer mit dunklen Gesichtern und Gewehren unter den Armen springen heraus. Einer schreit etwas, aber ich begreife nicht sofort, was er von mir will. Als ich zögernd meine Arme und die Zigarrenkiste in die Höhe strecke, werfen sich die Soldaten auf die Erde. Während ich vom Schreck gelähmt auf die vor mir liegenden Männer starre, springt einer von ihnen wieder auf. Mit energischem Griff entwendet er mir den Käferbehälter und wirft ihn, nachdem er ihn prüfend betrachtet hat, im hohen Bogen in die Luft. Die kleine Kiste fliegt nicht weit, öffnet sich noch im Flug, aber nicht alle Käfer nutzen die unverhoffte Gelegenheit zur Flucht. Ein Großteil der braunen Blattfresser krabbelt noch durcheinander, als einer der Soldaten in das zersplitterte Holz späht. Wütend stampft er mit seinen schweren Stiefeln den Rest meines Geschenks für Otti in den Boden, wendet sich zu mir um, reißt mir den Stahlhelm vom Kopf und schleudert ihn in ein Getreidefeld. Seine Kameraden schütteln sehr lange, wie mir scheint, Staub aus ihren Uniformen. Einige versuchen zu lächeln, es sieht aber eher gequält aus, und deshalb gelingt es ihnen auch nicht. Der Kleinste, ein Mann mit einem ganz jungen Gesicht, geht als Erster trippelnd zum Panzer. „Du riechst“, sagt Otti später enttäuscht. Und erst in diesem Moment spüre ich die Nässe im Schritt.

Letzte deutsche Festung

Die Amerikaner haben vor dem Tagelöhnerhaus ein Spezialfahrzeug in Stellung gebracht. Über eine Feuerwehrleiter steigen sie in die obere Etage. Das geht schneller und scheint ihnen sicherer, als über die enge und dunkle Stiege nach oben zu gelangen. Sie besuchen dort ein Fräulein, das am Tag der Kapitulation weiße Bettlaken aus seinem Fenster gehängt hatte. „Ich bin die letzte deutsche Festung“ und „Viva, Viva, Großbritannia“, soll sie während des Truppendurchmarsches gerufen haben. Aus dem offenen Fenster. Und mit freiem Oberkörper. Ihr Verlobter ist bei Kiew gefallen. Seitdem trinkt sie, was ihr unter die Finger kommt.

Am Fuße der Leiter wachen zwei dunkelhäutige Soldaten über den Auf- und Abstieg ihrer Kameraden. Nebenher tauschen sie Schokolade gegen frische Eier. Großvater Hermann will sich die Technik der Amis aus der Nähe ansehen und schlurft zum Hühnerstall. Während er sich das Mundstück des Inhalators zwischen die Zähne schiebt und kräftig den roten Ball drückt, erinnert er mich an einen Maikäfer, der sich durch “Aufpumpen“ auf den Flug vorbereitet.

„Zu der gehst du nicht!“, ruft Oma Guste aus der Küche. Hermann gibt mir die Eier und setzt sich murrend in seinen Lehnstuhl. Als ich am Wagen bin, wird die Leiter heruntergekurbelt. „Heute nix mehr Schokoläd“, sagt ein Soldat. „Morgen. Fünf Eiern - ein Schokoläd.“ Er spuckt etwas aus, grinst, schwingt sich auf den Fahrersitz. Dann brummen sie los. Oben, am Fensterkreuz, sehe ich das Fräulein. Es winkt und schwankt und schreit etwas, was ich nicht verstehe.

Schwein - gehabt

„Die Amerikaner sind weg! Die Russen kommen!“ Schunkel, der ehemalige Kirchendiener, läuft durch die Straßen und sagt es denen, die sich trauen, die Fenster zu öffnen. Die meisten wissen es längst, lassen es sich aber von Schunkel noch einmal erklären. „Jetzt kommen die Russen. Von der, Fortuna‘ her. Mit Panjewagen. Mit kleinen Pferden, wie früher die Mongolen.“ Der Kirchendiener rudert mit den Armen, als hätte er die Mongolen persönlich erlebt. An der Angerpumpe steht Robert Schäfer. Der „Rote Robert“, wie er von manchen im Dorf genannt wird. Robert hat eine, unter dem Trog seines Schweinestalles versteckte, rote Fahne hervorgeholt und zum Empfang der Russen eine kleine Rede auf ein Stück Papier geschrieben. „Viele Jahre habe ich auf euch gewartet, liebe Genossen.“ Er übt schon mal, obwohl von der Roten Armee noch nichts zu sehen ist. Willi und ich liegen hinter dem Kriegerdenkmal und sehen erstaunt zu, wie der “Rote Robert“ den Empfang vorbereitet. „Jetzt ist es endlich soweit“, fährt er laut fort, mit einer Hand auf den Schaft der Fahne gestützt. Hinter den Fensterscheiben zeigen sich hin und wieder blasse Gesichter. „Er hat jedenfalls keine Angst“ flüstert Willi.

Die Russen kommen tatsächlich mit kleinen, verschmutzten Pferden und mit Panzerwagen. Ein Wagen hält direkt vor Robert, der die Fahne schwenkt und seine Rede noch einmal beginnt. Drei Soldaten steigen ab, schieben den Redner unsanft zur Seite, öffnen das Hoftor und Augenblicke später rast Roberts Schwein – verfolgt von den Soldaten – aufgeregt grunzend die Dorfstraße hinunter. Verröchelndes Quieken verkündet das Ende der Jagd.

Roberts Unterkiefer zittert. Enttäuscht schiebt er sein Redepapier in die Jackentasche. Wenig später lodert ein Feuer auf der Turnerwiese. „He, Towarisch“, schreit einer der Russen armeschwenkend. Robert winkt zurück, holt eine Tüte Salz aus dem Haus, geht zum Feuer der Russen und bekommt dafür ein geröstetes Stückchen von seinem Schwein. Die Soldaten singen bis spät in die Nacht. Ihre Lieder verstehen wir nicht. Am nächsten Tag haben wir einen neuen Bürgermeister. Er heißt Robert Schäfer. Der Kirchendiener Schunkel ist sein Assistent und gleichzeitig Dorfausschreier. Mit wichtiger Miene schwingt er eine kleine Handglocke, bevor er die Befehle der sowjetischen Kommandantur verkündet. Robert Schäfer wird jetzt öfter gegrüßt als früher, manchmal schon von Weitem. Nicht immer grüßt er zurück.

Der Beginn

Mama, was ist die Chose?

An einem nasskalten, von zähem Nebel verhangenen Oktobertag des Jahres 1946 wartete ich gemeinsam mit einigen, in wollene Tücher gehüllte Frauen, in der Nähe der Dorfpumpe auf Paul Schunkel. Schunkel. ein hochgewachsener, sehr schlanker, beim Gehen stets etwas nach vorn gebeugter Mann Ende der Sechzig, von dem erzählt wird, er verdanke die Gesundung nach schwerer Krankheit allein dem Umstand, dass es Pfarrer Frommhagen auf Empfehlung eines Arztes gelungen wäre, ihm das ersehnte, nach Schunkels Vorstellung vorgewärmte Himmelreich, auszureden, der seit dieser „Wiederauferstehung“, wie der Arzt die unerwartete Genesung seines Patienten nannte, als Kirchendiener, Hilfsorganist und Aufkäufer von Kaninchenfellen, zu bestimmten Zeiten auch wichtige Nachrichten des neuen Bürgermeisters verkündete, dieser so vielseitig begabte Mann, erschien an jenem Tag mit erheblicher Verspätung.

Der unsichere Gang und die Art, in der er in seinem mit Flicken und Flecken übersäten Rucksack nach der Ausschreierglocke suchte, schien den Frauen, die ihn mit Vorwürfen und anderen unfreundlichen Worten empfingen, recht zu geben: Paul hatte offensichtlich vor seinem Auftritt dem Schuster Christoph Klabinski, dessen Auto-Reifen-Sandalen und selbstgebrannte Obst- und Rübendestillate heiß begehrt waren, einen Besuch abgestattet. Der „Ausschreier“ oder das „Tageblatt“, wie er von vielen genannt wurde, widersprach den frierend schimpfenden Frauen nicht, lächelte im Bewusstsein seiner Unersetzbarkeit freundlich, beinahe verständnisvoll, polierte mit einem seiner mattglänzenden Jackenärmel die inzwischen gefundene Glocke, schwang sie einige Male, bevor er mit heiserer Stimme sein unverwechselbares „Bee…kanntmachung“ ertönen ließ. Nach kurzer Pause, während der er das Klingeling seiner Glocke noch einmal die kopfsteingepflasterte Straße hinunter schickte, wiederholte er seinen „Bee…kanntmachungs“-Ruf, um anschließend fortzufahren: „Betreff: Neueröffnung des Theaters ‚An der Terrasse‘ in Eisleben, am dritten November siebzehn Uhr – Die Csardasfürstin! Operette! Eintritt nur mit Brikett! – Achtung! Achtung! Csardasfürstin! Operette! Mit Brikett! Wie bei Kino und Kirchgang!“ Die Reaktion der Frauen fiel unterschiedlich aus; während einige zustimmend bis freudig überrascht dem Ausschreier zunickten, sagten ihm Blicke und Gesten der anderen, dass sie von solcherart Mitteilung eher enttäuscht waren. Ich fragte mich auch, ob Schunkels „Offenbarung“ die Nachricht war, deretwegen mich meine Mutter trotz des Schmuddelwetters zum Ausschreier geschickt hatte – noch dazu mit der ausdrücklichen Ermahnung: „Pass gut auf! Die Weißenborn will angeblich erfahren haben, dass Paul heute etwas ganz besonders Wichtiges bekannt geben wird!“ Als ich zuhause eintraf, wusste Mutter schon Bescheid; protestierte Großvater Hermann bereits heftig gegen die von ihr geäußerte Absicht, an der Wiedereröffnung des Theaters teilnehmen zu wollen. Während seine linke Hand auf das Foto meines in Russland gefallenen Vaters wies und die rechte Faust den roten Gummiball des Inhalators zusammenpresste – versuchte er, hochrot im Gesicht und mit schweißbedeckter Glatze, etwas erklären zu wollen. Dem Schwall gurgelnd hervorgestoßener Sätze konnte ich lediglich die Wörter: „Weiber“, „Theater“, „Vergnügen“, „keine Achtung“ und „Tod“, entnehmen – was mich augenblicklich daran erinnerte, dass er vor wenigen Wochen uns Kindern auf gleiche Weise die Teilnahme am ersten Maskenball nach dem Krieg verbieten wollte.

Meine Mutter hatte mir schon vor längerer Zeit eingeschärft, Großvater „in solchen Fällen“ nicht zu widersprechen. Hilflos und bedrückt verließen wir den noch immer schimpfenden alten Mann.

Gegen Abend, der blassrote Wolkenkranz hinter dem man die Sonne vermuten durfte, war längst unter den Horizont gesunken, besuchte uns Mutters Freundin Charlotte. Sie ist die Tochter des ehemaligen Rittergutsinspektors und Klavierlehrerin. Charlotte ist schlank, etwas größer als Mutter und trägt oft dunkle oder schwarze Kleider, wie die meisten Kriegerwitwen in unserem Dorf. Seit ihre Eltern anlässlich eines Verwandtenbesuches in Leipzig durch einen Luftangriff ums Leben kamen und ihr Verlobter in einem Notlazarett in Polen den Folgen seiner schweren Verwundung erlag, lebt sie zusammen mit einem aus Ostpreußen stammenden älteren Ehepaar in ihrem Elternhaus in der Nähe der Gemeindewiese.

Von Neugier getrieben, welche Meinung Mutters Freundin zur Wiedereröffnung des Theaters und zu einem eventuellen Besuch dieser Veranstaltung vertreten würde, stellte ich mich so nahe hinter die Wohnzimmertür, dass ich das Gespräch der Frauen verfolgen konnte. Bereits nach wenigen Augenblicken hörte ich Charlotte sagen: „Aber Paula, du wirst dir doch nicht vorschreiben lassen, was du tun oder lassen sollst! Dein Vater leidet nicht nur an seiner Staublunge, was schlimm genug für euch ist, er ist auch gemütskrank! Du hast das Recht, selbst zu entscheiden, was du für richtig oder falsch hältst!“

Nach diesen leise, aber eindringlich gesprochenen Sätzen fügte sie lauter werdend hinzu: „Das ständige ‚Sichverstecken‘ und ’Trauernmüssen‘ bringt unsere Männer nicht zurück, macht krank und spießig! Und deswegen: Wir gehen zur Eröffnung! Wir sehen uns die Csardasfürstin an, sollen sie sich im Dorf die Mäuler zerreißen, soviel sie wollen!“ Ich hatte Frau Charlotte noch nie so erregt erlebt und nahm mir vor, mich bei passender Gelegenheit zu erkundigen, was es bedeutet, „gemütskrank“ zu sein. Dieser Gedanke wurde jedoch von dem, was sie anschließend sagte, in den Hintergrund gedrängt: „Paula, wozu ich dir unbedingt raten möchte – nimm deinen Jungen mit! Er ist in einem Alter, vor allem aber in einer Situation, in der er erfahren sollte, dass es nicht nur unser Dorf, einen kranken Großvater, ein paar Ziegen, Kaninchen und Gänse gibt!“ Beeindruckt vom soeben Gehörten und begierig, mehr zu erfahren, presste ich Schulter und Kopf stärker gegen die Tür – wodurch sie sich plötzlich öffnete und ich, ohne die geringste Chance ausweichen zu können, Mutters Freundin direkt in die Arme taumelte.

„Na also!“, rief sie, nachdem sie sich vom Schreck erholt hatte. „Na also!“, wiederholte sie, beinahe triumphierend! „Was sagst du nun, liebe Paula? Dein Sohn ist so neugierig, dass er uns belauscht! Du siehst, er wird schneller erwachsen, als du glaubst!“ Die eintretende Stille machte das leise Geräusch, welches die vom Winde bewegte Dachrinne erzeugte, hörbar.

Ich fühlte mich ertappt und so elend, wie lange nicht – zumal ich nicht begriff, was Mutters Freundin damit sagen wollte. „Wer aber wie du“, wandte sie sich an mich, „die Ziege zum Bock bringen muss, wer Kaninchen und Enten züchtet und jeden Tag das Wasser mit dem schweren Tragholz vom Dorfbrunnen nach Hause trägt, weil überall die Männer fehlen, der muss nicht mehr heimlich lauschend hinter der Tür stehen! Du kommst mit, mein Lieber! Und: Nicht vergessen! Macht euch chic!“

Im Hinausgehen berührte ihre Hand flüchtig meinen Scheitel, kam sie mir noch einmal so nah, dass ich deutlich den Duft der „Schwarzen Johanna“, einem Edeldestillat aus Schuster Klabinskis Waschhaus, wahrnehmen konnte. „Du hast uns blamiert“, sagte meine Mutter, als unsere Besucherin das Haus verlassen hatte. Sie sagte es leise, fast flüsternd, wobei sie mich eher nachdenklich als vorwurfsvoll ansah. Den Bruchteil einer Sekunde überlegte ich, ob ich mich mit den Worten ihrer Freundin verteidigen sollte. Als ich aber in ihren Mundwinkeln den Anflug jenes Lächelns entdeckte, welches mir einer stillen Übereinkunft gemäß, signalisierte: ‚Ich verzeihe dir‘, nahm ich sie in die Arme und drückte sie fest an mich. Nach dem Abendbrot ging ich in meine Kammer. Lange fand ich keinen Schlaf, versuchte ich mich zu erinnern, was an diesem Tag geschah; was ich am Ausschreier-Brunnen gesehen und gehört hatte.

Als befände ich mich in einem Traum, tauchte plötzlich aus dem Dunkel der Nacht das puterrote Gesicht Großvater Hermanns vor mir auf, sah ich die Hand, die den Gummiball des Inhalators zusammenpresste …, hörte ich seinen, unter Qualen ausgestoßenen Protest … Ich fragte mich aber auch, ab wann nach tiefem Schmerz und großer Trauer, die Freude und das Lachen zurückkehren dürfen – und ob Freundin Charlottes Empfehlung die richtige Antwort auf diese Frage war.

In den nächsten Tagen herrschte am Dorfbrunnen Hochbetrieb, benötigten die Frauen für das Füllen ihrer Eimer die dreifache Zeit, weil sie während des Pumpens heftig stritten, ob es richtig oder falsch sei, an der Wiedereröffnung des Theaters teilzunehmen. Oft endete das Für und Wider mit gegenseitigen Vorwürfen und Verdächtigungen, hörte ich Sätze, die meine Mutter und mich unmittelbar betrafen:

„Du hast gut reden … Deiner ist zurückgekommen! Mein Mann hungert und friert – wenn ich Glück habe – in russischer Gefangenschaft!“ Worauf eine Dritte leise mit Bitterkeit in der Stimme und durch fast geschlossene Lippen gepresst, erwidern konnte: „Immerhin, du darfst wenigstens hoffen; er zählt ja noch zu den Vermissten!“ Nachdenklich aber auch neugierig stimmte mich, was Heinrich von Zumbusch, ein aus Berlin stammender, aufgrund der ständigen Bedrohung durch Luftangriffe während des Krieges in unser Dorf umgesiedelter Kunstmaler, den „zänkischen Weibern am Brunnen“, wie er sie nannte, nach ausgiebiger Pflege seiner schlohweißen, bis auf die Schultern herabhängenden Haarmähne, empfohlen hatte: „Operette? Da ist doch die Handlung, das alberne, gestelzte Hin und Her, höchstens zweitrangig; die Musik, die Melodien, die Geigen, Pauken und Trompeten, das ist doch das Eigentliche! Und natürlich: Das Ballett! Die schönen Tänzerinnen mit ihren wunderbar sichtbaren Beinen. Allein deswegen solltet ihr euch die Wiedereröffnung ansehen. Wenn mich das Rheuma nicht …, weiß Gott, ich würde ein Brikett riskieren!“ Die Verwunderung auf den Gesichtern der lauschenden Frauen offenbar mit Bewunderung verwechselnd, begann von Zumbusch zu singen – an die Pumpe gelehnt, mit heftigen Armbewegungen den Gesang unterstützend und gleichzeitig bemüht, seine Balance zu bewahren.

In seinen Liedern war die Rede vom „Wiener Blut“, von einem „Weißen Rössl am See“, von der Rose, die ohne Sonne nicht blühen und von einer gewissen Chose, die ohne Weiber angeblich nicht gehen könne. Sein Atem enthielt, wie mir schien, einen Anteil „Schwarze Johanna“. Mir gingen besonders die letzte Zeile und das darin gesungene Wort „Chose“ nicht aus dem Sinn. Hatte ich mich verhört, oder der ehrwürdige Herr von Zumbusch sich geirrt? Aber „Rose“ und „Chose“ reimten sich! Dieses Wort musste es tatsächlich geben! Meiner Mutter erzählte ich nichts von meinen Begegnungen am Dorfbrunnen; ihr ungewöhnliches Schweigen ließ erahnen, dass sie zwischen dem „Pro“ ihrer Freundin und dem „Kontra“ Großvater Hermanns noch immer nach einem Ausweg suchte.

Als sie mich jedoch wenige Tage später mit der Aufgabe betraute, unsere Nachbarin zu bitten, ihr die Brennschere zu leihen – Frau Weißenborn selbst zu fragen, fehlte ihr offensichtlich der Mut – wusste ich, dass die Entscheidung zugunsten des Ondulierens ihrer Haare, für das Versprühen des letzten Vorkriegsparfüms und für das Anlegen der Halskette mit den echten Bernsteinen, gefallen war.

„Deine Mutter hat wohl keine Zeit?“, empfing mich mit bekannt spitzer Zunge Emmi Weißenborn, eine ehemalige Begleiterin meiner Mutter zu Erntedankfest-Vergnügen und Veranstaltungen des Turnvereins. Ich antwortete, wie ich glaubte, dass ein über Nacht zum Erwachsenen beförderter junger Mann antworten müsste, mit einem betont patzig klingenden: „Ja, so ist es!“ Mit einem Kopfschütteln, Ausdruck ungläubigen Staunens und einer gewissen Ratlosigkeit, überreichte sie mir die Schere. Am Vormittag des dritten November wurden wir informiert, dass der braune Wallach des Bauern Riedel erkrankt sei; der vorgesehene Transport der Theaterbesucher im strohgepolsterten Pferdewagen nicht stattfinden könne.

Für meine Mutter, Freundin Charlotte und mich, sowie für drei weitere, an der Operette interessierte Frauen, bedeutete das: Die sieben Kilometer holpriger Landstraße und ein pfützenübersäter Feldweg zum Theater mussten bei einem Wetter, welches sich zwischen Nieselregen und Gewitterschauern nicht recht entscheiden konnte, zu Fuß zurückgelegt werden!

Im Nachhinein waren sich alle Beteiligten einig: Ohne Freundin Charlottes trotziges „Jetzt haben wir uns das aber vorgenommen!“, wäre das Ziel nicht erreicht worden – zumal die Regenschirme schon bald keinen Schutz mehr boten und die Schuhe zuweilen im Schlamm stecken zu bleiben drohten. Ja, wir kamen an; einige Minuten zu spät, durchnässt und müde, hatten die Reden zweier wahrscheinlich wichtiger Männer verpasst – aber, wir waren angekommen. Eine ältere Dame nahm uns die Briketts ab, wies den Weg nach oben in den „Olymp“, weil die unteren Plätze längst besetzt waren. Die Größe des Gebäudes, die enorme Zahl der mit dunkelrotem Stoff bespannten Sitze und der riesige, goldfarbenes Licht ausstrahlende Kronleuchter, übertrafen alles, was ich bisher gesehen hatte und vermittelten das Gefühl, etwas ganz Außergewöhnliches zu erleben. Merkwürdig schien mir, dass sich die auf der Bühne auftretenden Personen, zumeist mit bunten Kostümen oder mit Kordeln und glitzerndem Schmuck verzierten Uniformen bekleidet, überwiegend durch gegenseitiges Vorsingen von Liedern verständigen mussten.

Es nahm oft geraume Zeit in Anspruch, bevor die Fürsten, Grafen, Comtessen und andere Künstler begriffen, was der Gesangspartner ihnen mitteilen wollte oder von ihnen erwartete. Für unser Leben im Dorf wäre diese Art der Verständigung undenkbar; kurze, präzise Sätze hielt ich für entschieden geeigneter. Die Gesichter der Zuschauer, welche offensichtlich großes Interesse am Geschehen auf der Bühne verrieten, vor allem aber das häufige „In-die-Hände-klatschen“ und „Bravo-Rufen“, ließen erkennen, dass nicht alle so dachten wie ich. Zwischendurch stürmten mehrere junge Frauen, bekleidet mit sehr kurzen Röcken und mit Unterhöschen auf die Bühne, die so beschaffen waren, dass man davon drei oder vier Stück benötigen würde um die Größe der in unserem Dorf üblichen, bei schönem Wetter zum Trocknen aufgehängten Damenschlüpfer zu erreichen

Besonders beeindruckend fand ich das Orchester. In einer Vertiefung vor der Bühne sitzend, mussten die Musiker sehr genau darauf achten, in welchem Moment sie, von einem vor ihnen stehenden Mann, durch Bewegungen seiner Arme und Hände – eine Hand hält ein kurzes Stöckchen – dazu aufgefordert, mit dem Musizieren beginnen, es beenden, ob sie lauter oder leiser, schneller oder langsamer, spielen müssen. Es sind aber von seinen Kommandos nicht alle – und zur selben Zeit – betroffen. Während zum Beispiel die Geiger mit aller Macht sofort beginnen, haben die Bläser, der Mann an der Pauke und andere … striktes Spielverbot. In manchen Fällen ist es umgekehrt. Woran die Musiker erkennen, wer jeweils gemeint ist, habe ich bei diesem Besuch nicht herausfinden können.

Als bedingt durch eine der üblichen Stromsperren das Licht auf der Bühne erlosch, wurden die Zuschauer aufgefordert, die Toiletten möglichst nicht zu benutzen und die Ruhe zu bewahren. In der einsetzenden Dunkelheit wurde ich plötzlich sehr müde, drohte beinahe einzuschlafen. Das zurückgekehrte Licht, eine vorsichtige Berührung durch die Hand meiner Mutter, vor allem aber die Melodie, welche ich am Dorfbrunnen gehört und die mich offensichtlich noch im Halbschlaf beschäftigt hatte, schreckten mich auf. Und tatsächlich – da flog sie herauf zu uns in den Theater-Olymp, die vom Kunstmaler Zumbusch halb gesungene, halb gelispelte, in diesem Moment kraftvoll und mit Schwung in den großen Raum geschmetterte Strophe: „Ganz ohne Sonne blüht die Rose nicht, ganz ohne Weiber geht die Chose nicht!“ Ich registrierte erst später, dass ich aufgesprungen war, dass aber auch Freundin Charlotte und die meisten Theaterbesucher den Schauspielern und Musikern stehend applaudierten! Nein, Herr von Zumbusch hatte sich nicht geirrt; es hieß tatsächlich: „Weiber“ und „Chose“, „Sonne“ und „Rose“! Und wenn an dieser Stelle des Liedes viele Leute begeistert klatschten, muss „Chose“ ein Wort mit besonderer Bedeutung sein! Als sich der riesige Vorhang nach dem letzten Akt gesenkt hatte und den Blick auf die verwirrend bunte Bühnenlandschaft versperrte, versammelten sich vor ihm alle Schauspieler; verabschiedeten sie sich von uns, ihrem Publikum, wünschten sie allen Besuchern einen angenehmen Nachhauseweg und ein Wiedersehen beim nächsten Mal.

Bereits im Begriff unsere Plätze zu verlassen, wurde auf ein Zeichen des Mannes mit dem Stöckchen, der Vorhang noch einmal in die Höhe gezogen; erklang von allen im Theater versammelten Musikern, Schauspielern und Zuschauern gemeinsam gesungen, meine Strophe, mein Lied von den Weibern, der Rose, der Sonne und der Chose … und: Ich sang mit, ich klatschte mit und rief so laut ich konnte zweimal „Bravo“ – obwohl mir das „Bravo- Rufen“ von anderen Theaterbesuchern zuvor albern vorgekommen war. Viele der Frauen, auch Charlotte und meine Mutter, lagen sich in den Armen. „Dass ich das noch einmal erleben durfte“, sagte Mutters Freundin, während ihr Tränen über die Wangen liefen.

Auch wenn ich nicht völlig begriff was die Erwachsenen in diesem Moment so stark bewegte, empfand ich doch, dass ihnen in den vergangenen Stunden etwas sehr Wichtiges wieder begegnet war, das sie bewusst oder unbewusst lange Zeit vermisst hatten. Für einen Moment schloss ich die Augen; als ich sie wieder öffnete, begegnete mein Blick dem suchenden Blick meiner Mutter, hörte ich sie lachen, herzlich lachen – das erste Mal seit langer Zeit. Sie winkte mir zu, konnte oder wollte sich aber nicht lösen aus dem Kreis der um Freundin Charlotte gescharten Frauen. Ich freute mich mit meiner Mutter, denn sie lachte ein fröhliches Lachen, in das man einstimmen möchte, selbst dann, wenn man den Grund nicht kennt.

Trotz meiner vorübergehenden Müdigkeit war mir nicht entgangen, dass am Ende des turbulenten Gesangs- und Tanzgeschehens auf der Bühne, aus einer Frau ohne Besitz und Adel, auf wundersame Weise eine echte, von aller Welt umjubelte Fürstin, die „Csardas- Fürstin“ wurde. Da durften, nein, sollten sich insbesondere die Zuschauerrinnen selbstverständlich freuen, mitfreuen, dass zumindest im Theater, auf einer Bühne, ein solches Wunder – geheimer Wunsch vieler Frauen? – Erfüllung fand. Aber Freude allein, das lediglich „Sichmitfreuen“, erzeugt nicht jenes froh stimmende, befreiende Lachen! Dafür musste es Gründe geben, die ich bisher nicht kannte, nicht erkannt hatte – oder nicht verstand.

Die Lampen und der große Kronleuchter im Zuschauerraum waren längst erloschen, auf Treppen und Gängen spendete lediglich Notbeleuchtung spärliches Licht – und trotzdem standen junge und ältere Frauen – Männer konnte ich nur wenige entdecken – noch immer in Gruppen beieinander, tauschten sie Erinnerungen an vergangenes und soeben Erlebtes aus. Staunend beobachtete ich, wie herzlich sich Menschen voneinander verabschiedeten, obwohl sie zuvor einander nie begegnet waren – und wie schwer es ihnen fiel, das große Haus, das Theater, ihr Theater, an diesem dritten November des Jahres 1946 zu verlassen. Und plötzlich empfand ich den Abstand; ich war noch nicht „angekommen“, war keiner von ihnen, stand abseits, konnte Freude und Stimmung lediglich in ihren Gesichtern lesen, aus ihrem Lachen heraushören. Nach der für mich so eindrucksvollen Bestätigung, dass die ‚Chose‘ nicht Ergebnis eines Irrtums oder Hörfehlers war, empfand ich stärker als zuvor den Wunsch, herauszufinden, was Erwachsene sich unter diesem Wort eigentlich vorstellen. Ich war mir sicher, dass ich, sobald das Rätsel gelöst war, nicht mehr Zuschauer, Beobachter oder heimlicher Lauscher wäre … Nein!, dann würde ich mich ihrem Lachen nicht aus Sympathie anschließen, dann käme mein Lachen aus eigenem Empfinden und wäre so warmherzig und echt, wie das Lachen meiner Mutter und ihrer Freundinnen an diesem Tag im ‚Theater an der Terrasse‘ in Eisleben. Ich ahnte in diesem Augenblick nicht und konnte es erstrecht nicht wissen, dass mich die Suche nach dem Sinn des Wortes ‚Chose‘ ein Leben lang begleiten sollte.

Unsere Lehrer sind tot

Lehrer Wallusch ist bei Brest gefallen, den alten Herrn Frilscher fand man erhängt an einem Ast seiner Vorgarten-Mirabelle. „Weil er ein strammer Nazi und Judenhasser war und vor den Russen Angst hatte!“, sagen manche. „Nein“, widersprechen andere, „weil das Polenmädchen, das ihm den Haushalt führte, damit gedroht haben soll, den Russen zu erzählen, wie er sie in den letzten Jahren geschurigelt und was er mit ihr getrieben hat.“ Wir haben also keine Lehrer mehr. Fräulein Schiebel, ein ‚Zuzug aus der kalten Ecke‘, wie Großvater Hermann sagt, liest Geschichten aus der Bibel. Das ist alles.

Ich schwänze den Unterricht, züchte Regenwürmer im Waschhauskeller, gehe zum See angeln, räuchere Aale in einem Schrotfass, dem ich den Boden herausgeschlagen habe. Neulich hatte ich Pech. Das Fass, welches ich mit den noch glimmenden Buchenholzspänen und umwickelt mit einem nassen Jutesack unbeaufsichtigt in den Stallgang stellte, fing Feuer und verbrannte. Unsere beiden Ziegen geben nun keine Milch mehr, weil sie, wie auch das Schwein und die Kaninchen, an einer schweren Rauchvergiftung leiden. Oma Guste und meine Mutter haben geweint, und Großvater Hermann, dem das Atmen wegen seiner Staublunge schwerfällt, drohte mir schweigend mit der Faust. Zwei Kaninchen mussten wir dem Tierarzt für die Behandlung der Tiere geben. Seine Kunst hat nichts genützt. Auch ‚Machold’s Tascheninhalator‘, den ich mir von Opa Hermann lieh, hat nichts genützt, obwohl ich mir bei den Ziegen viel Mühe gab.

Die neue Weltgeschichte