Ein Hauch von Vergangenheit - Alexandra Schäffer - E-Book
NEUHEIT

Ein Hauch von Vergangenheit E-Book

Alexandra Schäffer

0,0

Beschreibung

»Am Rande meines Gedächtnisses verspürte ich ein Kribbeln, als wollte es mir etwas sagen, doch was immer es war, ich bekam es nicht zu fassen und so blieb in meinen Gedanken nichts zurück als Ein Hauch von Vergangenheit.« Reise in die Tiefen einer außergewöhnlichen Freundschaft ... Freya erwacht nach einem schweren Autounfall im Krankenhaus, ohne Augenlicht oder die Erinnerung an das schreckliche Geschehnis. Zum Glück ist sie in dieser harten Zeit nicht allein, denn ihr vermeintlich bester Freund Noah weicht ihr nicht von der Seite. Allerdings kann sie sich nicht an ihn erinnern und hadert mit den widersprüchlichen Gefühlen, die seine Anwesenheit bei ihr auslöst. Zudem scheint Freyas Mutter etwas gegen Noahs Unterstützung und das Zurückerlangen ihrer Erinnerungen zu haben. Welches Geheimnis birgt der Groll ihrer Mutter ihrem besten Freund gegenüber? Geht es ihr wirklich nur um das Wohl ihrer Tochter? Von tiefer Zuneigung und der Bedeutung einer gemeinsamen Vergangenheit.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 313

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.

Beliebtheit




Inhaltsverzeichnis

Impressum

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Danksagung

Über den Autor

GedankenReich Verlag

N. Reichow

Neumarkstraße 31

44359 Dortmund

www.gedankenreich-verlag.de

EIN HAUCH VON VERGANGENHEIT

Text © Alexandra Schäffer, 2024

Cover & Umschlaggestaltung: Phantasmal Image

Lektorat/Korrektorat: Tja Ciolczyk

Satz & Layout: Phantasmal Image

Innengrafiken © shutterstock

E-Book: Grit Bomhauer

ISBN 978-3-98792-112-4

© GedankenReich Verlag, 2024

Alle Rechte vorbehalten.

Dies ist eine fiktive Geschichte.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

TRIGGERWARNUNG

(enthält Spoiler)

Liebe und Verlust liegen nah beieinander.

Sie sind starke Gefühle, die in ihrer Tragweite schwer zu fassen sind. Auch ein Verkehrsunfall wird mit all seinen Folgen thematisiert.

Solltest du dich dem gerade nicht gewachsen fühlen, warten diese Zeilen auf Dich.

Das dumpfe Pochen in meinen Schläfen riss mich aus der tiefen Dunkelheit, die mich wie ein samtener Umhang umwoben hatte. Das Schwarz verwandelte sich in ein dunkles Grau, doch das weiße Licht, das ich erwartet hatte, blieb aus. Ich versuchte, dem Dunkel zu entkommen und die Augen zu öffnen, während der Druck in meinem Kopf anstieg. Doch es war, als wollten sich meine Lider nicht bewegen.

Schwerfällig hob ich die Arme, die sich bleiern und verkrampft anfühlten. Mit den Fingern ertastete ich etwas Weiches über meinen Augen. Ein fremdes Wort formte sich in der Schwärze. STOFF. Das Wort fühlte sich ungewohnt und vertraut zugleich an.

Die Orientierungslosigkeit wanderte durch meinen Körper wie Gift und erweckte eine Angst in mir, die innerhalb eines Sekundenbruchteils jede Faser meines Leibes durchlief. Zu viele Fragen, wie der Befragung aus einem Kriminalroman entsprungen, wirbelten mir gleichzeitig durch den Kopf.

Wo war ich? Wie war ich hierhergekommen? Warum fühlte sich mein Körper an, als wäre er nicht mein eigener?

Meine Atmung beschleunigte sich. Ich wollte mich aufzusetzen, doch meine Muskeln spannten und widersetzten sich mir, als läge ein schweres Gewicht auf ihnen. Immer wieder durchforstete ich meinen Kopf nach Wörtern, die mir auf der Zunge lagen, denen ich aber keine genaue Bedeutung zuordnen konnte, als hätte ich sie vergessen.

Als ich eine Berührung am Arm spürte, zuckte ich zusammen und drückte mich fester in die weiche Unterlage, auf der ich lag.

»Freya, es ist alles in Ordnung. Beruhige dich!«, erklang eine Stimme, die mich trotz ihrer Sanftheit nur noch mehr verunsicherte, deren Worte wild um mich herumtanzten und ein Rauschen in den Ohren verursachten.

Ich probierte meinerseits, einige Worte zu äußern, aber mein Mundraum fühlte sich ausgetrocknet und belegt an. Mit der Zunge strich ich über meine rissige Unterlippe und heraus kam nur ein leises, kaum zu vernehmendes Krächzen.

Die Berührung, die ich zuvor an meinem Arm gespürt hatte, ließ von mir ab und setzte wenig später etwas Hartes an meine Lippen, das meinen Mund mit erfrischendem Wasser benetzte. Gierig griff ich nach dem Becher, doch er wurde mir schnell wieder von der unbekannten Stimme entzogen. Mein Durst war nicht gestillt und meine Kehle fühlte sich noch immer ausgedörrt an, doch als ich nach dem Becher tastete, ging mein Griff ins Leere.

»Wer sind Sie … und … wo haben Sie … mich hingebracht?«, fragte ich rau und langsam, ich klang, als hätte ich vorher eine Handvoll Sand meinen Rachen hinunterbefördert. Es fiel mir schwer, einen Satz zu bilden. Als müsste ich die Worte erst einmal aus einem tobenden Meer fischen, bevor ich sie aneinanderreihen konnte.

Erneut spürte ich, wie mich etwas am Arm berührte, doch diesmal brachte ich die Kraft auf, die ungewollte Hand mit bleierner Bewegung abzuschütteln.

Der Unbekannte gab daraufhin – anscheinend verwirrt über meine Worte und Reaktion – ein Geräusch von sich.

Ein RÄUSPERN?

»Ich bin es, Noah, dein bester Freund. Erkennst du denn meine Stimme nicht?« Er klang belustigt und betreten zugleich, legte eine kleine Pause ein, bevor er weitersprach. »Wir hatten letzte Nacht einen Verkehrsunfall auf dem Rückweg von Joels Geburtstagsfeier. Du bist im städtischen Krankenhaus.«

Keines seiner Worte, die sich durch das Labyrinth meiner Gedanken zu bewegen versuchten, ergab für mich einen Sinn. Unfall? Bester Freund? Sein Name erweckte keine Erinnerung und löste stattdessen ein Unbehagen in mir aus, das sich langsam in meinem Körper ausbreitete und meine Handflächen mit Schweißperlen benetzte. Nervös rieb ich meine Hände an der Decke entlang und spielte dabei mit den Fingern an dem dünnen Stoff. Durchflutet von Verwirrung und Nervosität unterbrach ich ihn stockend.

»Aber … ich kenne weder einen … Noah noch … erinnere ich mich an einen Un… Unfall. Bitte sagen Sie mir, was … hier vor sich geht. Wieso kann ich … nichts sehen und … fühle … mich … wie be… betäubt?« Ich hatte Schwierigkeiten, die richtigen Worte zu finden. Panik mischte sich in die Frage und meine Stimme wurde zunehmend lauter. Meine Haut kribbelte vor Furcht und mein Körper zitterte, während mein Gehirn bereits die schlimmsten Gedanken projizierte, die von den unzensierten Darstellungen der Medien beeinflusst wurden.

Ich spürte, wie sich die Person von mir entfernte, doch der Knoten in meinem Hals löste sich nicht.

»Freya, alles wird gut. Ich hole einen Arzt und deine Eltern. Hab’ keine Angst, ich bin gleich zurück.«

Eine Tür fiel ins Schloss. Hatte ich vorher noch gedacht, meine Befangenheit würde schwinden, sobald die Person den Raum verließ, wurde ich nun eines Besseren belehrt. So ganz allein schienen mich Stille und Dunkelheit zu erdrücken. Angestrengt mühte ich mich, zu verarbeiten, was er mir gerade erzählt hatte.

Hatte er meinen Namen genannt? Oder hatte ich das nur halluziniert? Woher kannte er ihn? Wenn ich meine letzte Erinnerung aufrufen wollte, sah ich nichts. Es war dieses merkwürdige Gefühl, als würde man in einen Raum laufen und bemerken, dass man vergessen hatte, was man dort wollte. Ich war verunsichert und desorientiert. Selbst der Geruch an diesem Ort schien mir einerseits bekannt – und doch war er nur wie schwirrender Rauch in meinem Kopf, der sich ständig veränderte, aber die Form nie zur Kenntlichkeit vollendete.

Trotzdem konnte ich mich an meine Eltern erinnern, an meinen Studienabschluss, den Umzug in meine erste Wohnung und meinen ersten Kuss. Nur wie ich an diesen Ort – wo auch immer er war – gelangt war, wusste ich nicht. Ehe mir diese verwirrenden Gedanken weitere Kopfschmerzen bereiten konnten, hörte ich, wie die Türe geöffnet wurde. Sogleich schlangen sich Arme um mich, die vom leisen Schluchzen meiner Mutter begleitet wurden. Ich konnte den seidigen, ungebügelten Stoff und die kleinen kalten Metallknöpfe ihrer Bluse spüren, die sich in jeder Farbvariante in ihrem Kleiderschrank befanden und nur sehr selten durch eines der wenigen normalen T-Shirts ausgetauscht wurden.

»Freya, mein Schatz. Du bist wach. Wir haben uns solche Sorgen um dich gemacht. Wie geht es dir, mein Engel?«

Glücklich darüber, meine Eltern zu hören und den vertrauten, nach Lavendelweichspüler riechenden Duft meiner Mutter einzuatmen, liefen mir Tränen die Wange hinunter, die sogleich von einer rauen Hand weggewischt wurden, die nur meinem Vater gehören konnte.

»Was ist mit mir passiert? Ich kann … nichts sehen, ich habe … Angst.« Meine Stimme zitterte.

Eine weitere Person musste den Raum betreten haben, denn eine mir unbekannte, sachliche und dunkle Männerstimme mit südländischem Akzent meldete sich zu Wort.

»Miss Carter, ich bin Ihr behandelnder Arzt, Dr. Pisani. Sie waren in einen schweren Autounfall verwickelt und haben sich dabei primär Verletzungen im Gesicht und Oberkörperbereich zugezogen. Es gab eine Penetration, sprich ein Eindringen von Glassplittern in Ihr Gesicht und Ihre Augen, die Ihre Bindehaut und auch Ihren Sehnerv beschädigt haben. Wir konnten während einer OP jedoch alle Splitter entfernen und die Schäden beheben, sodass wir davon ausgehen, dass Ihre Sehfähigkeit in der Zukunft nur sehr leicht oder, im besten Fall, gar nicht beeinträchtigt sein wird. In ein paar Tagen werden wir Ihnen die Augenbinde wieder abnehmen und die Sehkraft überprüfen. Zudem haben Sie starke Prellungen und Hämatome an Schulter und Rücken, sowie eine leichte Brustkorbprellung davongetragen, welche Ihre Bewegungsfähigkeit in den nächsten Wochen noch etwas einschränken wird. Durch die Verletzung am Brustkorb könnten sie zusätzlich unter Atembeschwerden leiden und sollten ihren Körper ruhig halten«, erklärte mir der Arzt sachlich.

Meiner Kehle entsprang ein leises Keuchen, obwohl ich noch immer zu benebelt war, um die vielen Fachbegriffe zu verstehen. Was hatte er noch mal zu meinen Augen gesagt? Der aufgekeimten Hoffnung stand die Angst gegenüber, dass bleibende Schäden am Auge zurückbleiben könnten.

Das Sehen war für mich einer der wichtigsten Sinne. Ich beobachtete gerne die Natur, das Leben und all das, was mich inspirierte. Sah die Staubkörner im Sonnenlicht tanzen wie kleine Elfen unter einem Scheinwerfer und die Wolken ganze Geschichten in den Himmel zeichnen. So viel wollte ich noch erleben und mir von den schönsten Orten der Welt den Atem rauben lassen. Ich war nicht bereit, dies aufzugeben.

»Wieso kann ich mich nicht an den … Unfall erinnern?« Die Furcht verdrängend, war mir der Gedanke an den zuvor anwesenden jungen Mann ins Bewusstsein getreten. Ob er noch da war? Zumindest verhielt er sich augenblicklich still. Hatte der Unfall auch die Erinnerung an ihn ausgelöscht, war so etwas überhaupt möglich, oder hatte er mich belogen? War er vielleicht nur ein weiterer Arzt oder Krankenhausmitarbeiter?

Die ganze Situation war mir suspekt und ich war noch immer nicht klar genug, um meine Gedanken lange auf etwas konzentrieren zu können. Es war, als würden all die Fragen in meinem Kopf kurz vor mir auftauchen, um im selben Moment wieder milchig zu verblassen und gänzlich zu verschwinden.

»Bei dem Aufprall haben Sie sich zudem eine Läsion am Kleinhirn und ein Schädel-Hirn-Trauma zugezogen«, antwortete mir der Arzt monoton. »Die Auswirkungen der Gehirnschädigung können wir erst während der nächsten Untersuchungen feststellen. Das Trauma hingegen kann in einigen Fällen, wie bei Ihnen, einen Gedächtnisverlust auslösen, der den Unfallzeitraum und manchmal auch einige Tage davor betrifft. Machen Sie sich aber keine Sorgen, bei Unfallopfern ist dies nichts Ungewöhnliches. In den meisten Fällen kommt die Erinnerung nach einiger Zeit wieder. Sie müssen jetzt erst einmal wieder zu Kräften kommen, also versuchen Sie bitte noch nichts im Alleingang. Die Schwestern helfen Ihnen gerne. Sollte Ihnen schwindelig werden oder Sie starke Schmerzen haben, lassen Sie es uns bitte wissen.«

Verstehend nickte ich, doch die vielen Informationen hinterließen nur ein Rauschen in meinem Kopf und ich verstand nur die Hälfte von dem, was er sagte. Es fiel mir schwer, den Wörtern eine Bedeutung zuzuordnen, auch wenn sie mir bekannt vorkamen. Zudem stellte sich mir die Frage, ob ich mich wirklich jemals wieder an den Unfall erinnern konnte.

Wollte ich das überhaupt?

Es war ein merkwürdiges Gefühl, zu wissen, dass mir etwas fehlte, doch so sehr ich mich anstrengte, der gesamte Tag war wie von einem schwarzen Schleier ummantelt, der sich nicht entfernen ließ. Nicht einmal meine letzte Erinnerung bekam ich zu fassen. Es war, als würde sie direkt vor mir unter der matten Wasseroberfläche liegen, doch meine Hände fassten immer wieder ins Leere, unfähig, sie an die Oberfläche zu ziehen.

Ich hörte, wie eine Tür ins Schloss fiel. Meine Glieder wurden schwerer. Es war mir kaum noch möglich, meine Umgebung wahrzunehmen oder auf meine Mutter zu achten, die mit mir zu reden schien. Noch bevor ich die richtigen Worte gefunden hatte, um mich mitzuteilen, fiel mein Körper kraftlos zurück in einen traumlosen Schlaf.

Das nächste Mal, als ich zu Bewusstsein kam, fühlte ich mich körperlich zwar noch immer wie gerädert, konnte aber klare Gedanken formen.

Meine Eltern, die wieder – oder noch immer – bei mir saßen, begrüßten mich und erklärten mir, was der Arzt bei seinem letzten Besuch erzählt hatte und was vorgefallen war.

Meine Mutter griff mit ihrer warmen Hand nach mir. Erst jetzt bemerkte ich, dass sie leicht zitterte, was sie immer tat, wenn sie zu viel Kaffee getrunken hatte, mit dessen Hilfe sie nächtelang an Aufträgen für ihre Kunden arbeitete, die ihr unzumutbare Deadlines setzten. Aber wahrscheinlich erging es jedem so, der sich mit einer Werbeagentur selbstständig machte und darauf verzichtete, mehr als zwei Mitarbeiter einzustellen und lieber alles im Alleingang erledigte.

Meine Mutter war schon immer so gewesen. Unverbesserlich und mit einem Kampfgeist, der jede Wurzel und jeden noch so großen Stein auf ihrem Weg einfach entfernte. Sie liebte ihren Job und in nichts anderem schien sie so sehr aufzugehen, selbst wenn ihre Kunden sie spät abends vor der Deadline anriefen und Änderungen verlangten. Immer war sie nett und gelassen und strahlte Ruhe aus, die lediglich durch den hohen Koffeinkonsum durchbrochen wurde. Leider opferte sie sich für den Job manchmal so sehr auf, dass Familienzeit oder gemeinsame Essenszeiten, die ich mir vor allem als Kind häufiger gewünscht hatte, ausfielen.

Ich selbst kam mehr nach meinem Vater. Von Natur aus waren wir nervöse und unruhige Menschen, die immer spät dran waren und überall ein riesiges Chaos hinterließen. Wir schafften es nicht, fünf Minuten still zu sitzen, ohne dass es uns bereits in den Fingern juckte, eine Beschäftigung zu finden. Es war manchmal hilfreich, weil wir Aufgaben nicht vor uns herschoben. Aber Freunde und Familienmitglieder beschwerten sich gerne mal darüber, wenn wir nicht einfach wie die anderen ruhig und entspannt zusammensitzen konnten oder durch den ständigen Tatendrang andere Dinge vergaßen.

Manchmal fragte ich mich, wie mein Vater es schaffte, jeden Tag in der Werkstatt seines Chefs Autos zusammenzuflicken, ohne die Hälfte der Teile zu vergessen oder durcheinanderzubringen. Die Erinnerung daran zauberte mir ein zartes Lächeln auf die Lippen, bis meine Mutter das Wort erhob und meine Gedanken zurück ins Krankenzimmer teleportierte.

»Oh, Engel. Du weißt nicht, welche Sorgen dein Vater und ich uns gemacht haben. Als wir von dem Unfall erfahren haben, sind wir sofort ins Krankenhaus gefahren, aber du warst noch im OP und die Ärzte konnten uns keine Auskunft geben. Erst hat es so lange gedauert, bis du endlich aufgewacht bist, und dann warst du plötzlich wieder nicht mehr ansprechbar. Ich glaube, ich habe noch nie solche Angst gehabt.« Ihre Stimme vibrierte bei jedem Wort.

Beruhigend strich ich ihr über den Handrücken, der sich viel zu knochig anfühlte, da sie durch den Stress mit der Arbeit zu wenig ans Essen und ihre Gesundheit dachte. Gut nur, dass mein Vater der Koch in unserem Haus war, sonst hätten sich die Mahlzeiten unserer gesamten Familie auf Käse, Müsliriegel und Tütensuppen reduziert, was die Hauptnahrungsmittel meiner Mutter waren.

»Es ist alles gut gegangen, Mom. Sobald ich sehen kann, ist alles wieder okay.« Ich schenkte ihr ein Lächeln, von dem ich hoffte, dass ich es in die richtige Richtung sandte, doch sie drückte meine Hand immer fester.

»Während wir gewartet haben, ist mir erst bewusst geworden, was für eine schlechte Mutter ich gewesen bin. Ständig habe ich mich nur in die Arbeit gestürzt und dabei meiner einzigen Tochter die Aufmerksamkeit verwehrt, die ihr zustand.« Ich wollte sie unterbrechen, aber sie fuhr unbeirrt fort. »Ich dachte, vielleicht würde ich nie wieder die Chance bekommen, es besser zu machen, aber nachdem man mir mitgeteilt hatte, dass du außer Gefahr bist, da beschloss ich, mich zu ändern. Dein Vater und ich haben schon alles besprochen. Wenn du aus dem Krankenhaus kommst, werden wir dir dein altes Zimmer herrichten und ich werde mir eine Auszeit nehmen und mich um dich kümmern, bis es dir wieder besser geht.« Sie schluchzte, als könnte sie die Tränen nicht mehr zurückhalten.

Mit meiner rechten Hand strich ich ihr beruhigend über den Arm. »Mom, du warst keine schlechte Mutter. Bitte mach dir jetzt nicht derartige Gedanken.«

Es stimmte mich traurig, dass sich meine Mutter in den letzten Stunden solche Sorgen und Vorwürfe gemacht hatte, obwohl ich wusste, dass sie damit nicht ganz im Unrecht war. Dennoch war es mir in diesem Moment egal. Vor allem mit dem Wissen, wie sehr es sie zu belasten schien.

Das Kopfzerbrechen über diese Dinge ließ den pochenden Schmerz in meinem Kopf wieder bewusster zum Vorschein kommen. In den letzten Minuten war er immer stärker geworden. Ich fühlte mich zunehmend müde und erschöpft, obwohl es mir wohl kaum an Schlaf mangeln konnte und ich gerade erst aufgewacht war. War das ebenfalls eine normale Nebenwirkung des Unfalls?

Gerade wollte meine Mutter etwas erwidern, da unterbrach ich sie mit rauchiger Stimme, da mir das schmerzfreie Atmen zunehmend schwerer fiel.

»Ihr seht, mir geht es so weit gut. Fahrt nach Hause und ruht euch aus. Auch ohne euch sehen zu können weiß ich, wie tief euch die Augenringe im Gesicht hängen.«

Sogleich verstärkte sich ihr Griff um meine Hand. In ihrer jetzigen Verfassung, geplagt von Gewissensbissen und der Schuld, wollte mich meine Mutter nicht allein lassen, aber ich war plötzlich zu erschöpft, um mich damit weiterhin auseinanderzusetzen.

»Bitte. Ich komme allein zurecht und bin müde, da müsst ihr nicht an meinem Bett sitzen und mir beim Schlafen zuschauen. Wenn ihr das nächste Mal kommt, werde ich länger wachbleiben«, sagte ich noch einmal mit so viel Kraft in der Stimme, wie es mir möglich war.

Doch eine Sache fiel mir noch ein, die ich loswerden musste. Einen Augenblick durchstöberte ich mein Gedächtnis nach seinem Namen. »Kannst du Noah bitte von mir grüßen?«

Wieder durchzog ein unerträglich werdendes Pochen meinen Kopf. Die Stimme meiner Mutter klang, als würde sie die Worte zwischen den Lippen hervorpressen.

»In Ordnung, Liebes. Wir kommen gleich morgen früh wieder. Und ich werde Noah deine Grüße ausrichten.« Sie gab mir die Bestätigung, dass mich dieser Noah nicht angelogen hatte und ich ihn wirklich kennen musste. Dennoch war es seltsam, dass sie mir nicht schon vorher erzählt hatte, dass es ihm gut ging und ihre Worte gepresst geklungen hatten. War sie zu sehr in ihrer Sorge um mich vertieft, oder gab sie ihm die Schuld an dem Unfall? War es überhaupt sein Verschulden gewesen? Oder hatten meine Eltern ihn noch nie leiden können?

Übelkeit stieg in mir auf und das Pochen in meinem Kopf wurde immer unerträglicher. Jedes Geräusch in der Nähe verschlimmerte meinen Zustand nur noch mehr. Einige Sekunden passierte nichts und ich riss mich zusammen, um mir mein Unwohlsein nicht anmerken zu lassen, sonst würden meine Eltern mit Sicherheit nicht gehen. Dann hörte ich jedoch das Rascheln einer Jacke und spürte einen warmen feuchten Kuss auf meiner Wange.

»Falls etwas ist, sag den Schwestern Bescheid. Spiel nicht die Heldin, wenn es dir schlecht geht. Den Rufknopf habe ich auf dein Kopfkissen oberhalb deines Kopfes gelegt.«

Mit zusammengepressten Lippen nickte ich ihr zu, während die aus dem Nichts kommende Übelkeit weiter anstieg und das daraus hervorgehende ungleichmäßige Atmen meinem Brustkorb zusetzte.

»Danke«, wisperte ich.

»Wir haben dich so lieb, mein Engel«, hörte ich meinen Vater noch leise sagen, ehe die Tür hinter ihnen ins Schloss fiel und ich endlich allein war.

Nur kurze Zeit später hatten mich die Müdigkeit und die Schmerzen übermannt und mich zurück in die Dunkelheit gezogen.

Das dumpfe Pochen in meinem Kopf hatte abgenommen, als ich langsam erwachte, und verteilte sich nun stattdessen über meine rechte Schulter und meine Brust. Ich hatte das Verlangen, mich ausgiebig zu recken, wurde aber schon bei der kleinsten Bewegung eines Besseren belehrt und stellte den Versuch ein. Die Gesichtshälfte, auf der ich geschlafen hatte, brannte, sodass ich die einzelnen Schnitte darin spüren konnte.

Ob es schlimm aussah und Narben bleiben würden? Oder waren die Wunden nur oberflächlich? Gerade wollte ich dem Drang nachgehen, mein Gesicht zu ertasten, da räusperte sich eine Stimme nicht weit von mir entfernt und ließ mich aufschrecken. Das unangenehme Gefühl, einen elektrischen Schlag bekommen zu haben, wurde durch meinen Arm geleitet. Sogleich spürte ich eine einladend warme Hand an eben diesem, die mir behutsam über die freiliegende Haut strich und ein beklemmendes Empfinden verursachte.

»Wer ist da?«, fragte ich und freute mich zugleich darüber, dass meine Stimme nicht mehr allzu kratzig klang.

»Ich bin es. Noah. Dein bester Freund, an den du dich nicht mehr erinnern kannst. Ich war zuversichtlich, dass dein Gedächtnis nach einer weiteren Mütze Schlaf vielleicht wieder aufgefrischt wäre.« Hoffnung schwang in seiner Stimme mit, doch mein Gesichtsausdruck musste mich sogleich verraten haben, denn seine Hand löste sich in jenem Moment von meinem Arm.

»Es tut mir so leid. Ich wünschte, ich könnte mich erinnern, aber … wenn ich es versuche, habe ich das Gefühl, von einer riesigen Mauer blockiert zu werden.«

Genau wie er hatte ich mir erhofft, dass ich mich beim Aufwachen wieder erinnern könnte, aber das Glück war nicht auf meiner Seite. Dennoch war mir, als würde mich der Hauch eines vertrauten Gefühls umgeben, seit ich aufgewacht war. Fast schon war es zum Greifen nahe, aber wie schon bei den Erinnerungen an den Unfall, konnte ich es einfach nicht richtig zu fassen bekommen. Ich versuchte, mich nicht weiter gegen den Gedanken zu wehren, dass er die Wahrheit sprach, und ihn nicht gleich von mir zu stoßen, wie ich es üblicherweise mit Fremden tat.

Langsam streckte ich meine Hand in die Richtung aus, in der ich ihn vermutete. »Bitte setz dich. Ich kann dich zwar nicht sehen, aber ich spüre, wie du nervös neben meinem Bett stehst und dein Gewicht von einem Bein aufs andere verlagerst.«

Kurz blitzte etwas vor meinem inneren Auge auf, was sogleich wieder verschwand. Noah war schon immer von Natur aus unruhig gewesen und hatte mich manchmal damit in den Wahnsinn getrieben. Ich hatte keine Ahnung, woher diese Erinnerung kam, aber es fühlte sich richtig an.

Anscheinend besänftigte ihn mein Gesichtsausdruck, denn ich spürte, wie er sich neben mich aufs Bett setzte und sich die Matratze nach unten neigte. Beinahe kam eine neckende Bemerkung über meine Zunge – doch verwirrt darüber, schluckte ich sie wieder runter. Schweigend saßen wir einen Moment nur da und lauschten dem stetigen Ticken der Uhr, das immer lauter zu werden schien, wenn man dem Geräusch eine Weile zuhörte.

»Kannst du dich denn wirklich an überhaupt nichts mehr erinnern?«, durchbrach er die Stille, während seine verunsicherte Stimme mit jedem Wort leiser wurde.

Verneinend schüttelte ich den Kopf. »Um ganz ehrlich zu sein … Ich habe nicht einmal mehr ein Bild deines Aussehens vor Augen «, gab ich betrübt zu. »Es ist, als würde mich eine wildfremde Person ansprechen und für einen Freund halten, obwohl ich sie gar nicht kenne.«

Andererseits wollte ich mir nicht vorstellen, wie es wohl sein mochte, wenn mich mein bester Freund vergessen hätte. Nicht, dass ich noch genau zuordnen konnte, wie es überhaupt war, einen solchen zu haben, denn alle, an die ich mich erinnern konnte, waren ein paar ehemalige Kommilitoninnen, mit denen ich ab und zu nach der Uni etwas trinken gegangen war, und meine Arbeitskollegin Esme. Richtig enge Freunde hatte ich jedoch keine. Zumindest keine, an die ich mich zu erinnern vermochte.

Wir schwiegen wieder eine Weile und ich ließ ihm Zeit, meine Antwort zu verdauen, ehe ich wieder das Wort an ihn richtete: »Noah?« Ich musste ihn aus den Gedanken gerissen haben, denn er gab einen erschreckten Laut von sich. »Wie genau ist der Unfall passiert?«

Er sog scharf die Luft ein und zögerte einen Moment. »Wir waren auf dem Heimweg. Ich saß hinter dem Steuer, als es furchtbar zu regnen angefangen hat. Es … ging alles so schnell. Da war plötzlich dieses andere Auto auf unserer Fahrbahn. Ich konnte auf dem nassen Asphalt nicht mehr rechtzeitig ausweichen und wir sind frontal zusammengestoßen.« Noah klang atemlos und verzweifelt. Seine Stimme vibrierte bei jedem Wort, das ihm nur schwerfällig über die Lippen zu kommen schien.

Der Unfall musste ihm noch immer tief in den Knochen sitzen und ich bereute es, ihn darauf angesprochen zu haben. Fast schon wollte ich die Hand nach ihm ausstrecken, um ihn zu trösten, aber ich tat es nicht. Stattdessen startete ich den Versuch, ihn auf andere Gedanken zu bringen, jetzt, da ich zumindest schon einmal wusste, dass er keine Schuld am Unfall trug, wie ich anfangs durch die Reaktion meiner Mutter angenommen hatte.

»Vielleicht kannst du mir ja helfen, mich wieder an dich zu erinnern«, durchbrach ich unsere Gedanken an den Vorfall. Die Worte waren so schnell aus meinem Mund gekrochen, dass ich beinahe darüber erschrak. War ich wirklich schon so weit, dass ich mehr über ihn erfahren wollte? Ein fast schon freudiges und warmes Gefühl durchwanderte meinen Körper und gab mir die nötige Bestätigung, dass ich das Richtige tat.

»Aber wie soll das funktionieren?«, fragte er leicht ungläubig.

»Du könntest mir einfach etwas über dich und uns erzählen. Was machst du gerne in deiner Freizeit? Welchen Beruf hast du? Wohnst du in meiner Nähe? Wie haben wir uns kennengelernt? Es könnte ja sein, dass mein Gehirn einfach nur einen kleinen Anstoß benötigt. Einen Versuch ist es zumindest wert«, antwortete ich bemüht aufmunternd.

Auch wenn es nicht möglich war, so konnte ich förmlich hören, wie er darüber nachdachte. Als er eine Entscheidung gefasst zu haben schien, machte er es sich auf dem Bett etwas bequemer und ich konnte die Schmerzen in meinem Körper ausblenden, während er zu erzählen begann.

»Zumindest wie ich heiße, weißt du ja schon. Früher haben wir direkt nebeneinander gewohnt. Mittlerweile wohne ich mit meinen Eltern in einem Haus, das gut eine halbe Stunde von deiner Wohnung entfernt liegt. Ich studiere gerade im letzten Semester Fotografie und habe einen kleinen Nebenjob in einem Fotostudio, in dem ich mal ein Praktikum gemacht habe, weshalb ich auch noch keine eigene Wohnung habe.

Die Story, wie wir uns kennengelernt haben, ist ganz niedlich. Damals war ich neun und du acht Jahre alt. Meine Eltern waren mit mir und meinem älteren Bruder gerade erst in deiner Nachbarschaft gezogen. Da alle mit dem Auspacken der Umzugskartons beschäftigt waren, wurde mir langweilig und ich ging raus, um den Spielplatz hinter dem Haus zu erkunden. Von Weitem habe ich gesehen, dass einige Jungs vor dem Sandkasten gestanden haben, und obwohl ich schon damals eher zurückhaltend war, wollte ich schnell versuchen, Freunde zu finden. Während ich dann auf die Gruppe zuging, hörte ich sie wilde Beschimpfungen aussprechen. Ich wollte mich schon wieder zurückziehen, als ich dich hinter ihnen stehen sah.«

14 Jahre zuvor

Gelangweilt schaukelte ich mit den Beinen, die über die Bettkante guckten, vor und zurück. Mom saß wie immer schon den ganzen Tag in ihrem Büro und hatte keine Zeit, um sich mit mir zu beschäftigen. Schlurfend ging ich zum Fenster und schaute nach draußen, wo einige Mädchen über die Wiese und den kleinen Spielplatz liefen und Fangen spielten. Sofort bekam ich auch Lust, spielen zu gehen, also zog ich mir schnell Schuhe und Jacke an und schrieb einen Zettel.

»Bin auf dehm Spilplats, Freya.«

Die Schrift war sehr unleserlich und meine Lehrerin schimpfte deshalb oft mit mir, aber meistens bekam Mom es sowieso nicht mit, wenn ich mich heimlich rausschlich. Sie erlaubte es mir nicht, allein das Haus zu verlassen und wollte immer nur, dass ich in meinem Zimmer spielte. Aber das war langweilig, weil sie nie Zeit hatte, mitzuspielen.

Ich legte das Papier auf den Schrank im Flur und schloss so leise wie möglich die Haustür. Schnell lief ich die Treppen hinunter und rannte zu dem kleinen Spielplatz hinter dem Haus. Leider war ich zu spät, denn die Mädchen waren nicht mehr da.

Sollte ich rutschen gehen? Beim letzten Mal hatte ich mir an der alten, kaputten Rutsche meine Lieblingsstrumpfhose zerrissen; und auch das Gerüst mit der Schaukel stand nicht mehr sicher im Boden und wackelte jedes Mal bedrohlich. Da traute ich mich nur drauf, wenn Papa es festhielt. So entschied ich mich für den großen Sandkasten, in dem ich gerne spielte. Ich kniete mich in den Sand und fing an, mit den Händen zu graben. Jedes Mal, wenn ich hier war, versuchte ich, bis auf den Grund zu buddeln. Ich wollte wissen, wie tief der Sand war. Hatte der Sandkasten ein Ende? Oder konnte ich mich vielleicht durch die ganze Welt buddeln, wenn ich es nur lange genug probierte? So wie in dieser Zeichentrickserie, die ich gerne nach der Schule schaute, wenn ich eigentlich meine Hausaufgaben machen sollte.

Fröhlich summte ich die Titelmelodie, da hörte ich nach einer Weile plötzlich Stimmen. O nein, ich kannte sie. Schnell stand ich auf und wischte mir den Dreck von der Hose. Drei Jungen kamen lachend auf mich zu.

»Na, wen haben wir denn da? Wenn das nicht die kleine Freya ist. Heute ganz allein?«, sagte einer der Drei mit einem fiesen Grinsen.

Grimmig schaute ich die Olsen-Brüder an. Einer von ihnen war etwas dicker, aber alle hatten kleine Schweinsnasen und Pausbäckchen. Den ganzen Tag lang ärgerten sie Kinder – vor allem mich.

»Lasst mich in Ruhe!«, entgegnete ich mit fester Stimme und verschränkte die Arme vor der Brust.

»Warum sollten wir das tun? Ich kann nirgends deinen Dad sehen, hinter dem du dich wie ein Baby verstecken kannst.«

»Ich bin kein Baby!«, fauchte ich die Drei an. Meine Wangen verfärbten sich rot, wie sie es immer taten, wenn ich stinksauer war.

»Natürlich bist du das. Spielst im Sandkasten wie ein zweijähriges Kind. Und guck doch nur mal, wie klein du bist. Hast du denn gar keine Lust mehr, zu wachsen?« Diesmal hatte der Kleinste von ihnen gesprochen, der aber immer noch zwei Köpfe größer war als ich.

Wütend funkelte ich sie an. »Ich habe gesagt, ihr sollt mich in Ruhe lassen!« Ich löste meine Arme aus der Verschränkung und ballte meine kleinen Hände neben mir zu Fäusten, was die anderen nur lautstark zum Lachen brachte. Mittlerweile musste ich so rot sein wie ein Krebs aus einer dieser Dokumentationen, die Dad abends schaute.

»Baby! Baby! Baby!«, riefen die Drei im Chor und kamen immer näher.

Sie standen nun wenige Zentimeter vor mir. Ich stampfte mit dem Fuß auf und wollte den Jungen mir Gegenüber wegschieben, aber er war stärker als ich und schubste mich, sodass ich nach hinten fiel und so hart auf dem Rücken landete, dass mir das Atmen wehtat. Sand hatte ich mir weicher vorgestellt.

Während mir warme Tränen die Wangen hinabliefen, sah ich plötzlich einen Jungen. Er war etwa so groß wie die Brüderbande vor mir und kam auf uns zugelaufen.

»Hey. Lasst sofort das Mädchen in Ruhe!«, rief er donnernd.

Die Brüder hielten sich vor Lachen die Bäuche, auch wenn ich nicht wusste, was sie so witzig fanden.

»Guck mal, da kommt Romeo und rettet das kleine Küken. Lasst uns gehen Jungs, hier sind wir fertig.«

Die Gruppe lief gerade lachend davon, als der Unbekannte auf mich zukam und mir die Hand reichte. »Ich bin Noah.«

Unsicher sah ich zu ihm auf. Er hatte blonde Locken, die ihm über den Ohren hingen und in alle Richtungen abstanden, und seine Augen sahen aus wie die dunklen Schoko-Karamellklumpen, die Dad so gerne beim Fernsehen aß. Der Junge lächelte freundlich und sah dabei aus wie ein Engel. Tante Rose hatte immer an Engel geglaubt und erzählt, dass sie uns beschützen würden. Ob er meiner war?

Vorsichtig nahm ich seine Hand und ließ mir hoch helfen. »Freya«, stellte ich mich vor und wischte mir dabei die Tränen weg, wodurch etwas Sand in meinem Gesicht kleben blieb und über meine Haut kratzte.

»Hast du dir wehgetan?«, fragte er und schaute mich von oben bis unten an.

Kopfschüttelnd klopfte ich den Sand von der Strumpfhose ab. »Danke, Noah.«

Er steckte seine Hände schüchtern in die Hosentaschen und lächelte mich vorsichtig an. »Gerne, Freya.«

Gegenwart

»Freya? Freya, ist alles in Ordnung? Du siehst ganz bleich aus.«

Benommen schüttelte ich den Kopf, um das gerade Erlebte zu verarbeiten.

»Ich … ich glaube, ich kann mich erinnern«, stotterte ich leicht, was Noah hörbar nach Luft schnappen ließ.

»Etwa an alles?« Seine Stimme klang hoffnungsvoll, was mir sogleich ein schlechtes Gefühl übermittelte.

»Nein, leider nicht, aber als du mit deiner Erzählung angefangen hast, da war es plötzlich, als würde die ganze Erinnerung wie bei einer Videoaufnahme vor mir ablaufen. Ich konnte mich erinnern, warum ich da war und wie mich die Jungs jedes Mal geärgert haben. Bis zu dem Tag, an dem du gekommen bist und mich beschützt hast.«

Ich legte eine kleine Pause ein und ignorierte das sanfte Pochen meines Kopfes.

»Du warst mein Schutzengel, habe ich dir das jemals erzählt?«, fragte ich. Ein Lächeln stahl sich bei dem Gedanken auf meine Lippen.

»Ja, du hast mich im darauffolgenden Jahr sogar dazu gezwungen, als Engel verkleidet zur Halloweenfeier in der Schule zu kommen. Alle haben mich ausgelacht, weil ich sogar eine weiße Strumpfhose getragen habe«, erklärte er leicht missmutig.

Die Vorstellung von diesem kleinen Jungen, der mit Schmollmiene im Klassenraum stand, ließ mich laut lachen – was ich jedoch sogleich bereute, da die Schnitte in meinem Gesicht dabei brannten und sich mein Brustkorb anfühlte, als würde er zerbersten. Mein Gefühl sagte mir, dass sicherlich auch Noah in diesem Moment darüber schmunzeln musste, wenngleich ich es weder genau wissen noch sehen konnte.

»Woran erinnerst du dich denn noch?«, fragte er neugierig.

Nachdem ich einmal kurz die Zähne aufeinandergepresst und den Schmerz verscheucht hatte, erzählte ich ihm alle Details, die hängen geblieben waren.

»Ich bin ehrlich gesagt ziemlich gespannt, wie du heute aussiehst«, bemerkte ich mit einem leicht verunsicherten Lächeln.

Hatte er noch immer blonde Locken und diese schokobraunen Augen? Sah er freundlich und vertrauensvoll aus oder doch eher sehr markant und gefährlich? Was hatte die Zeit und das Erwachsenwerden aus dem zarten Gesicht des Jungen geformt?

Er lachte zaghaft. »Am liebsten würde ich sagen, genauso niedlich wie früher, aber du würdest meiner Lüge wahrscheinlich sowieso auf die Schliche kommen.«

Trotz seiner Aussage wusste ich, dass er sich nur schlechter machte, als er in Wirklichkeit war. Ich spürte, dass er schon immer so zurückhaltend gewesen war und sich in den Hintergrund gestellt hatte. Das subtile Bild eines goldgelockten Bodybuilders konnte ich also schon mal wieder streichen. Vielleicht war er doch eher der romantische Frauenversteher-Typ.

»Wahrscheinlich verdrehst du den Frauen in Wahrheit jedes Wochenende den Kopf«, sagte ich mit einem vorsichtigen Lächeln.

Noah berührte meine Hand mit seiner und entlockte mir ein kribbelndes Gefühl, das meinen Handrücken hinaufkroch. »Du lächelst wieder. Das mochte ich schon immer besonders gerne an dir.«

Hitze schoss mir ins Gesicht und ich neigte den Kopf leicht verlegen nach unten. Hatte ich früher auch schon so auf ihn reagiert, oder lag es an der Verunsicherung durch den Gedächtnisverlust, die ich noch immer nicht ganz abschütteln konnte. Auch wenn es sich manchmal vertraut anfühlte, wie jetzt nach der ersten Erinnerung, so war er noch immer zum größten Teil ein Fremder für mich.

Mein Inneres war zwiegespalten und verwirrt über die ganze Situation. Manchmal riet mir mein Körper, so schnell wie möglich wegzulaufen, und dann wiederum sendete er mir gewohnte Gefühle, die mir einen Hauch von Geborgenheit vermittelten, obwohl ich heute zum ersten Mal richtig mit ihm sprach. War die Kindheitserinnerung daran schuld, dass ich ihm plötzlich ein solches Zutrauen entgegenbrachte?

»Ich weiß nicht, wie ich es richtig erklären soll, aber ich glaube, ich fühle mich wohl in deiner Gegenwart. Da ist etwas in mir, was mir sagt, dass ich dir vertrauen kann. Du schaffst es, mich abzulenken und ich glaube, wenn du nicht hier wärst, würde ich in Selbstmitleid versinken, weil ich weder aufstehen noch sehen kann, und mich in den Schlaf weinen.«

Mit seiner warmen Hand drückte er leicht zu, und für einen Bruchteil der Sekunde hatte ich wieder das Bedürfnis, ihm meine zu entziehen und vor ihm zurückzuweichen, wie man es bei Fremden tat. Rückte mir ein Sitznachbar in der U-Bahn auf den Leib, presste ich mich automatisiert jedes Mal so weit wie möglich an die Wand, um jedweden Körperkontakt zu vermeiden. Natürlich funktionierte dies nicht immer und es war keine Abneigung spezifisch gegen den Menschen neben mir, sondern gegen jegliche Fremde. Es machte mich wütend, dass ich in einem Moment ein solch positives Gefühl empfand und im nächsten wieder durch ein negatives verunsichert wurde.

»Nein, ich weiß, dass du auch ohne mich stark bist. Das warst du schon immer und das wärst du auch ohne mich«, widersprach er mir und durchbrach meine Gedanken.

»Das sagt ausgerechnet derjenige, der mich im Sandkasten retten musste«, antwortete ich und hielt es zurück, ihm dabei verspielt die Zunge rauszustrecken.

In einer Sekunde zweifelte ich, ob ich ihm vertrauen konnte, und im nächsten Moment überkamen mich diese unkontrollierten Gefühle, die ich nicht einordnen konnte, und mein Körper wollte eine Reaktion zeigen, die ich mir nicht erklären konnte. Es war zum Verrücktwerden und deprimierend, in diesem emotionalen Zustand gefangen zu sein. Ich fühlte mich nicht wie eine junge erwachsene Frau, sondern wie ein pubertierender Teenager, mit dem die Gefühle durchgingen. Dabei hasste ich es schon, wenn ich Mittzwanziger sah, die in gackernden Grüppchen zusammensaßen und sich wie Sechzehnjährige aufführten.

Wieder lachte er und strich mit seinem Finger beruhigend über meine Handfläche. Ich versuchte mich ein wenig aufzurichten, was mir aber misslang und mich zusätzlich frustrierte. In der Stille, in der wir beide unseren eigenen Gedanken nachhingen, wollte ich mir jegliche Form von Erinnerung an den Unfall zurück ins Gedächtnis rufen, jedoch funktionierte auch das nicht.

Obwohl erst einige Tage vergangen waren, machte mich das Gefühl, einfach nur rumzuliegen, langsam wahnsinnig. Ich war es gewohnt, aktiv am Leben teilzunehmen. Noch nie war ich sonderlich gut darin gewesen, lange Zeit still zu sitzen oder untätig zu bleiben.

Zudem hatten mich die Ärzte zum CT geschickt, meine Blutwerte überprüft und meine Reaktionen getestet, um die Auswirkungen der Hirnschädigung beurteilen zu können. Recht schnell hatten sie eine Störung der Feinmotorik und eine, wie der Arzt sie nannte, Ataxie festgestellt. Somit hatte ich Probleme mit dem Gleichgewicht sowie der Bewegungskoordination und konnte vor allem nur schwer kleine präzise Bewegungen mit den Händen durchführen.