Ein Mord ist nicht genug - Thorsten Sueße - E-Book

Ein Mord ist nicht genug E-Book

Thorsten Sueße

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Beschreibung

Wenn die eigene Familie zur Belastung wird … Eine junge Frau wird erdrosselt, der Mörder rasiert ihr anschließend den Schädel. Soll das ein Zeichen oder ein Stigma sein? Bei Kriminaloberkommissar Raffael Störtebecker ruft der Leichenfund schnell Assoziationen über das Tatmotiv hervor. Denn die Frau hatte sich in den Monaten zuvor in mehreren problematischen Milieus aufgehalten – offenbar, um sich von ihrem Vater, einem gut situierten Chirurgen, abzugrenzen. Ist der Frau ihr Protestverhalten möglicherweise zum Verhängnis geworden? Die Beziehungen in ihrer Familie sind komplex und kompliziert, zeigen die Ermittlungen. Zu allem Überfluss kommt Oberkommissar Störtebecker auch noch sein skurriler Cousin Torben in die Quere, der sich als Privatdetektiv und Esoterik-Fan ebenfalls mit dem Fall beschäftigt. Dass währenddessen ein weiteres Familienmitglied des Mordopfers in Todesgefahr gerät, ahnt jedoch keiner von beiden.

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Wer auf Rache aus ist, der grabe zwei Gräber.(Konfuzius)

Der Kriminalroman spielt in der Region Hannover.Personen und Handlung sind frei erfunden, eventuelle Ähnlichkeiten mit realen Personen oder Geschehnissen wären rein zufällig.Im Verlag CW Niemeyer sind bereits folgende Bücher des Autors erschienen:Toter Lehrer, guter LehrerDie Tote und der PsychiaterSchöne Frau, tote FrauHannover sehen und sterbenAtemlos in HannoverBibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über https://www.dnb.de© 2023 CW Niemeyer Buchverlage GmbH, Hamelnwww.niemeyer-buch.deAlle Rechte vorbehaltenUmschlaggestaltung: C. RiethmüllerDer Umschlag verwendet Motiv(e) von 123rf.comeISBN 978-3-8271-9781-8

Thorsten SueßeEin Mordist nicht genugKriminalroman

1

Wie ich es mache, steht fest. Die Details habe ich genau vor Augen.

Er beschäftigte sich mit dem Grund seines Vorhabens.

Nicht jeder wird mich verstehen, wahrscheinlich sogar die wenigsten. Aber ein Zurück gibt es für mich nicht. Ich ziehe es durch, mit aller Konsequenz.

Er versuchte sich vorzustellen, wie sie aussah, nachdem er sie getötet hatte. Eine tiefe innere Befriedigung erfasste ihn, die ihn gleichzeitig massiv erschreckte.

An diesem Wochenende könnte es so weit sein. Ich bin jedenfalls bereit.

2

Rums … rums … rums.

Dieses Wochenende verlief tatsächlich in vielerlei Hinsicht anders, als Kriminaloberkommissar Raffael Störtebecker es geplant hatte.

Da war am Samstagmorgen dieser Traum, den er gerne noch einige Zeit ausgekostet hätte. Aber nein, das fürchterliche Geräusch aus der Wohnung über ihm, das sich in kurzen Abständen mehrfach wiederholte, machte alles kaputt.

Rums … rums … rums.

Oh, Mann, das darf doch nicht wahr sein!

Raffael hielt bewusst die Augen geschlossen, als könnte er damit erreichen, seinen angenehmen Traum zu verlängern.

Rums … rums-rums … rumms-rumms.

Die Erschütterungen über ihm hörten nicht auf, veränderten jedoch ihre Lautstärke und ihren Rhythmus. Raffael versuchte die letzten Bilder von eben zurückzuholen, aber sie zerbröselten langsam vor seinem geistigen Auge.

Ach Mensch!

Die konkreten Erinnerungen an den Traum verblassten.

Emil, du kleiner Mistkerl! Irgendwann dreh ich dir den Hals um.

Raffael blieb nur ein einziges Bild, das sich in sein Gedächtnis einbrannte. Das aufgeräumte Wohnzimmer, ohne irgendwelche Kartons, Kisten oder sonstige Verpackungen auf dem Fußboden. So etwas hatte er sich in den letzten Monaten – nach seinem Umzug von Hamburg nach Hannover – immer gewünscht: eine aufgeräumte Wohnung, in der er zu jeder Zeit Besuch empfangen konnte, ohne schamrot anzulaufen.

Der Traum war endgültig passé. Raffael schlug die Augen auf und starrte zur Schlafzimmerdecke.

Über das Chaos in meiner Wohnung hat noch nie jemand gemeckert. Na gut – ich habe ja bisher auch niemanden reingelassen.

Oben herrschte für einen Moment Stille. Raffael überlegte, ob er versuchen sollte, noch einmal einzuschlafen. Die Entscheidung wurde ihm in der nächsten Sekunde abgenommen.

Emil setzte erneut sein frühmorgendliches Hüpfen gnadenlos fort.

Raffael richtete sich mit einem Ruck im Bett auf. Der aufkommende Ärger wirkte wie ein Energydrink.

„Emil, Ruhe! Hör auf damit!“, rief Raffael. Er stand inzwischen mit beiden Füßen auf der Matratze seines Bettes und klopfte mit der rechten Hand an die Decke.

Das wiederkehrende Rumsen endete erst, nachdem Raffael ein zweites Mal an die Decke geklopft und um Ruhe gebrüllt hatte.

Stattdessen wurde jetzt von oben auf den Fußboden geschlagen, in einer Weise, die Raffaels Klopfrhythmus nachahmte.

„Emil, jetzt reicht’s!“, blökte Raffael, ohne erneut an die Decke zu schlagen.

Und auf einmal endete das Spektakel. Kein Klopfen, kein Rumsen von oben. Raffael meinte, oben eine weibliche Stimme gehört zu haben.

Ist Frau Gerold aufgewacht? Bringt sie ihr Früchtchen jetzt endlich zur Räson?

Diese Ruhestörung am Samstagmorgen war leider kein Einzelfall. Bereits vor einer Woche hatte sich Emil am Samstag und Sonntag in ähnlicher Weise ausgetobt, wobei Raffael schon vor vierzehn Tagen zum ersten Mal den Krach aus der Wohnung über sich gehört hatte. Damals noch zögerlich und verhalten, aber seit letzter Woche hatte Emil sämtliche Zurückhaltung aufgegeben.

Und irgendwie bin ich sogar selbst schuld, dass mich dieses kleine Ungeheuer an den Wochenenden malträtiert. Ich hab beim Smalltalk mit Andrea nicht an die Konsequenzen gedacht und den Gedanken einfach so rausgehauen. Das Ergebnis ist jetzt leider unüberhörbar.

Seine Kollegin, Kriminaloberkommissarin Andrea Renner, hatte vor zwei Monaten erwähnt, dass ihre Schwester Katja kurzfristig eine neue Wohnung sucht. Über Raffael war tatsächlich gerade eine Wohnung frei geworden. Die bisherige Mieterin, eine ältere alleinstehende Frau, war plötzlich verstorben. Davon hatte Raffael seiner Kollegin erzählt, ohne zu ahnen, welche Folgen daraus für ihn erwachsen würden.

Katja Gerold war vor einem Monat mit ihrem Sohn Emil in das Mehrfamilienhaus eingezogen – in den zweiten Stock direkt über Raffael.

Letzten Sonntag hatte er bei Katja geklingelt und sie gebeten dafür zu sorgen, dass sich ihr Sohn zukünftig leiser verhält. Sie hatte geäußert, dass sie davon gar nichts mitbekommen hätte, sich aber kümmern würde.

Alles leere Worte!,fluchte Raffael innerlich.Die Dame hat heute wieder fernab des Geschehens in ihrem Schlafzimmer gepennt, während ihr Sohn im Kinderzimmer tobt. Das hört sich an, als wenn er vom Bett springt und auf dem Boden herumhopst. Sein Zimmer liegt auch noch direkt über meinem Schlafzimmer und ich höre alles viel lauter als die liebe Frau Nachbarin.

Auch wenn jetzt Ruhe herrschte, an Wiedereinschlafen war nicht zu denken.

Raffael verließ langsam das Schlafzimmer, schlich auf dem Flur an einigen Kartons vorbei ins Badezimmer. Der Blick in den Spiegel zeigte einen Mann Mitte dreißig mit verstrubbelten lockigen schwarzen Haaren und einem mürrischen Gesichtsausdruck.

He, Raffael. Heute ist Wochenende. Du hast zwei Tage hintereinander frei und triffst dich abends mit deiner Kollegin Andrea, die sich wirklich bemüht, freundlich zu sein. Lass dir nicht die Stimmung durch ein hyperaktives Balg vermiesen.

Der Gang unter die Dusche wirkte Wunder. Erfrischt und deutlich besser gelaunt zog er sich an und schaute in der Küche nach Essbarem fürs Frühstück. Toast, Marmelade, etwas Käse, dazu einen Becher Kaffee. Er hatte es gestern nicht mehr geschafft einzukaufen. Das würde er heute Vormittag nachholen. Auf der Ablage türmte sich das benutzte Geschirr, das nicht mehr in die Spülmaschine gepasst hatte.

Ich muss das Ding mal anstellen. Aber wo sind die Geschirrspültabs?

Auch die beiden Pizzateller auf dem Tisch im Wohnzimmer hatten leider keinen Platz mehr im Geschirrspüler gefunden.

Es gab Tage, da hatte er sich an die Umzugskartons, die überall verteilt in der Wohnung ihren Platz gefunden hatten, gewöhnt. Einige von ihnen waren fast leer, andere wiederum noch vom Umzug original verpackt. Die nicht aufgehängten Bilder hatte er in gleichmäßigem Abstand im langen Flur aufgereiht.

Vor vier Monaten hatte er sich von Hamburg nach Hannover zur dortigen Polizeidirektion versetzen lassen. Weil er von der niedersächsischen Landeshauptstadt so angetan wäre, hatte er den hannoverschen Kollegen weismachen wollen. Innerlich war er hier noch immer nicht angekommen. Ihm fehlte der Schwung, die Kartons vollständig auszupacken und seine vier Wände endlich in eine gemütliche, vorzeigbare Wohnung zu verwandeln. Andrea hatte schon öfters durchblicken lassen, dass sie gerne einmal seine Wohnung sehen möchte.

Zum Glück ist mir immer eine plausible Erklärung eingefallen, warum es gerade nicht passt. Aber es fällt mir zunehmend schwerer, mich rauszureden. Sollte sie meine Wohnung im jetzigen Zustand sehen, rutsche ich in ihrer Achtung gleich ins Kellergeschoss.

Er verzog den Mund zu einem Grinsen.

Vielleicht sollte ich einfach mal auspacken und gründlich aufräumen.

Auf dem Weg zum Wohnzimmer kickte er mit dem Fuß einen Karton zur Seite.

Muss ja nicht dieses Wochenende sein.

Er ließ sich auf die Couch fallen und betrachtete die Sammlung seiner mehr oder minder ungelesenen Zeitungen und Musikzeitschriften in einer Ecke des Wohnzimmers. Während er begann, den Lennon-Song Cleanup Time anzustimmen, plante er sein weiteres Vorgehen.

Erst einkaufen und dann Frau Gerold und Emil die Meinung geigen oder umgekehrt?

Er entschied sich dafür, noch eine halbe Stunde abzuwarten und sich danach als Erstes die Nachbarin vorzuknöpfen. Mit Ärger im Bauch konnte er sich schlecht auf den Einkauf konzentrieren.

Fünfunddreißig Minuten später stand er vor der Wohnungstür mit dem Namensschild „Gerold“ und klingelte.

Als nichts passierte, drückte er erneut – und diesmal etwas energischer – auf den Klingelknopf. Es dauerte eine Weile, bis die Tür endlich geöffnet wurde. Vor Raffael stand ein acht- oder neunjähriger Junge, braune Haare (vorne kurz, hinten lang), bekleidet mit halblanger Jeans und einem T-Shirt, auf dem die Film-Piratenfigur Jack Sparrow zu sehen war.

Emil hatte seine braunen Augen weit aufgerissen, legte den Kopf zur Seite und musterte Raffael, der schlecht einschätzen konnte, ob er die Geste des Jungen als verlegen oder dreist interpretieren sollte.

„Guten Morgen, Emil …“, setzte Raffael an. Er wunderte sich, dass Katja Gerold nicht auf das Klingeln reagiert hatte.

„Hallo, Käpt’n Blaubär“, antwortete sein Gegenüber in einem Tonfall, als wäre diese Titulierung eines Erwachsenen die selbstverständlichste Sache der Welt.

Respektloser Bengel!

„Sag mal, wie kommst du dazu, mich ‚Käpt’n Blaubär‘ zu nennen?!“

„Meine Mama nennt dich so. Hat ihr Tante Andrea erzählt.“

Raffael zuckte innerlich zusammen.

„Was hat Tante Andrea gesagt?“, fragte er nach. Es interessierte ihn schon sehr, was seine Kollegin Andrea Renner ihrer Schwester über ihn erzählt hatte.

„Bei der Polizei heißt du ‚Käpt’n Blaubär‘. Weil du genauso redest.“

Offenbar eine Anspielung auf Raffaels hanseatischen Akzent, bei dem er „s-t“ und „s-p“ getrennt sprach anstelle des sonst üblichen „Sch-t“ oder „Sch-p“ – wie der menschenähnliche Bär aus dem Kinderfernsehen. So wurde er also hinter seinem Rücken genannt. Das war ihm gar nicht bewusst gewesen.

„Ist deine Mutter nicht da?“, wunderte sich Raffael.

„Nein. Die ist eben auf den Dachboden gegangen und hängt Wäsche auf.“

„Egal. Es geht sowieso um dich. Ich bin heute Morgen von dem Krach aufgewacht, den du veranstaltet hast. Das geht so nicht! Ich möchte dich bitten, dass du mit dem Springen und Hopsen in deinem Zimmer aufhörst, besonders morgens am Wochenende, wenn ich mal ausschlafen möchte.“

Und als Emil nichts erwiderte, schob Raffael hinterher: „Was genau machst du da eigentlich in deinem Zimmer?“

„Ich springe von meinem Schiff aufs andere und kämpfe gegen die Piraten. Und dann habe ich die Piraten mit dem Beiboot bis zum Strand der Insel verfolgt.“

Der Junge scheint’s mit Piraten zu haben.

„Hier in Hannover gibt’s kein Meer“, brummte Raffael. Der Umgang mit Kindern im Grundschulalter war nicht so sein Ding. „Schlaf doch morgens ein bisschen länger oder geh rüber zu deiner Mutter und lass dir was vorlesen, okay?“

„Mama hat gesagt, ich soll sie morgens am Wochenende nicht vor acht Uhr aufwecken und für mich allein im Kinderzimmer spielen.“

Ach nee.

Emil musterte den Mann vor der Wohnungstür und meinte: „Ist dein Ur-Opa ein Pirat?“

„Mit dem Piraten Störtebeker bin ich nicht verwandt.“

„Ich dachte, du bist ein geheimer Pirat und gibst von unten Klopfzeichen.“

„Mein Klopfen bedeutet, dass ich meine Ruhe haben will. Merk dir das bitte für die Zukunft!“

„Schade …“, murmelte Emil. Auf einmal wirkte sein Gesichtsausdruck traurig.

Raffael überlegte einen Moment, dann fragte er den Jungen: „Was ist die Lieblingsspeise von Piraten?“

„Weiß nicht …“

„Kapern.“

Emil schaute den Mann verständnislos an. Die kleinen essbaren Knospen des Kapernstrauches schien er nicht zu kennen. Insofern konnte er mit Raffaels Antwort überhaupt nichts anfangen.

Raffael verabschiedete sich mit dem Hinweis, dass er irgendwann später mit Emils Mutter sprechen würde. Dann drehte er sich um und ging die Treppen nach unten. Als er die erste Etage erreichte, öffnete sich die Tür der Nachbarin von gegenüber. Die Frau in den Sechzigern guckte ihm ins Gesicht und sagte: „Haben Sie heute Morgen laut in Ihrer Wohnung herumgeschrien und geklopft?“

Raffael stoppte, blickte die Frau verdutzt an.

„Ja, aber ich habe auf den Krach des Jungen über mir reagiert, der mich mit seinem lauten Spielen geweckt hat“, verteidigte er sich.

„Das ist doch ein Kind, das spielen möchte“, äußerte die Frau. „Sie sind schließlich Polizeibeamter. Wenn Sie ebenfalls Krach machen, sind Sie kein gutes Vorbild. Ich möchte Sie höflich bitten, das zu unterlassen.“

„Verzeihen Sie, wenn ich Sie gestört habe“, maulte Raffael und verzog sich in seine Wohnung.

Na toll, jetzt bin ich noch der Buhmann.

Über Katja Gerold wusste er nur wenig. Andrea hatte vor längerem etwas über sie erzählt, aber er hatte nicht genau zugehört. Probleme anderer Familien interessierten ihn momentan nicht. Andrea und ihre Schwester hatten offenbar auch keine enge Beziehung zueinander. Raffael war noch in Erinnerung, dass Katja nicht mehr mit ihrem Mann zusammenlebte und sich allein um die Erziehung ihres Sohnes kümmerte, der wohl zuletzt Schwierigkeiten in der Schule gehabt haben soll. Katja Gerold hatte sich und Emil vor einem Monat bei ihm kurz mit Namen vorgestellt. Beim Einzug in dieses Haus und die Wochen danach war immer wieder ein Typ in den Dreißigern hier aufgetaucht, der sie besuchte.

Wenn das ihr neuer Freund ist, kann der sich ja mal als gutes männliches Vorbild an der Erziehung ihres Sohnes beteiligen.

3

Andrea Renner stand direkt vor dem italienischen Restaurant „Amici Miei“, das in der Nähe des hannoverschen Hauptbahnhofes in der Einkaufsstraße Lister Meile lag. Die schlanke, sportliche Frau Ende dreißig war hier um neunzehn Uhr mit ihrem Kollegen Raffael verabredet. Die Sitzplätze draußen waren alle belegt. Und auch drinnen im Restaurant war am Samstag um diese Zeit nur dann ein Tisch zu bekommen, wenn man rechtzeitig vorher reserviert hatte. Darum hatte sich Raffael gekümmert – hoffte sie jedenfalls.

An diesem ersten September-Wochenende war es sommerlich warm in Hannover. Andrea trug eine helle kurzärmelige Bluse zu einer engen Bluejeans, dazu ausnahmsweise Sandalen mit Stöckelabsatz. Dienstlich war sie sonst anders gekleidet, insbesondere was ihr Schuhwerk anging.

Seit vielen Jahren arbeitete sie als Kriminaloberkommissarin in der Polizeidirektion Hannover für das 1. Kommissariat der Kriminalfachinspektion 1, Straftaten gegen das Leben. Seit vier Monaten teilte sie sich ein Büro mit Raffael Störtebecker, an den sie sich zunächst nur schwer gewöhnen konnte. Sein spezieller Humor, sein hanseatischer Akzent und seine Heimlichtuerei hatten es ihr nicht gerade einfach gemacht. Inzwischen empfand sie die Zusammenarbeit mit ihm als weitgehend angenehm.

Ich denke, hinter seiner direkten nüchternen Art versteckt sich ein warmherziger, zuverlässiger Typ. Apropos zuverlässig. Wie spät ist es eigentlich?

Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr: 19:07 Uhr.

Ein pünktlicher Pedant ist er jedenfalls nicht. Ich hoffe, dass er unsere Verabredung nicht vergessen hat.

In diesem Moment sah sie ihn auf dem Gehweg kommen. Zwar noch in einiger Entfernung, aber eindeutig mit schnellen Schritten, wie sie mit Genugtuung registrierte. Ihm war offenbar bewusst, dass er leicht verspätet war. Aber über diese sieben Minuten würde sie großzügig hinwegsehen. Direkt nach Dienstschluss waren sie schon mal zusammen in den Biergarten gegangen. Aber es war das erste Mal, dass sie sich privat in einem Restaurant zum Essen trafen.

Das ist natürlich kein Date, aus dem sich eine Liebesgeschichte entwickelt, hatte sie sich gleich nach der Vereinbarung dieses Treffens gesagt.Es geht lediglich darum, das tägliche Arbeitsklima noch ein wenig zu erwärmen.

Schon von Weitem winkte er ihr zu.

Ich bin gespannt, wie der heutige Abend verläuft. Über welche Themen reden wir?

Andrea wusste mittlerweile, dass Raffael mit seiner bisherigen Heimatstadt schmerzhafte Erinnerungen verband. Seine Ursprungsfamilie war in Hamburg auseinandergebrochen. Raffaels Frau war dort Anfang dieses Jahres an einer Krebserkrankung verstorben. Er hatte Andrea zu verstehen gegeben, dass sein Familienleben in Hamburg kein Gesprächsthema zwischen ihnen wäre. Andrea hatte das akzeptiert, obwohl sie der Überzeugung war, dass Raffael Gespräche über seine Hamburger Vergangenheit langfristig helfen würden, den Schmerz zu überwinden. Seine Versetzung nach Hannover interpretierte sie als Fluchtverhalten.

„Hallo Andrea“, begrüßte er sie. Beide standen voreinander und lächelten sich an. „Da bin ich.“

Er wirkte etwas verlegen, fast wie an dem Tag, als sie sich zum ersten Mal in ihrem Büro in der Polizeidirektion Hannover begegnet waren.

Das hellblaue kurzärmelige Leinenhemd mit dem V-Ausschnitt und die weiße Jeans stehen ihm gut,ging ihr durch den Kopf.

„Ja, schön, dass es mit unserer Verabredung endlich geklappt hat“, sagte Andrea, die sich sofort darüber ärgerte, dass ihr das Wörtchen endlich herausgerutscht war.

Im „Amici Miei“ saßen sie sich in gemütlicher Atmosphäre an einem hölzernen Zweiertisch im Seitenbereich gegenüber. Das Stimmengewirr der zahlreichen Gäste und die typischen verlockenden Gerüche der italienischen Küche umgaben sie.

Plötzlich fing am Nachbartisch eine junge Frau laut an zu husten und schnappte nach Luft. Sie hatte sich offensichtlich an ihrer Suppe verschluckt.

Für einen kurzen Moment spürte Andrea Panik in sich aufsteigen. Ein schrecklicher Gedanke erfasste sie: Es ist wie ein Zeichen, dass tatsächlich ein Mensch in unmittelbarer Todesgefahr ist.

Als das Husten verebbte und die Frau neben ihr wieder normal durchatmete, beruhigte sich Andrea.

Was war mit mir los? Ist doch alles Quatsch!

Sie konzentrierte sich wieder auf die Speisekarte und bestellte schließlich als Hauptgericht Saltimbocca alla Romana. Raffael entschied sich für Lachs in Karotten-Ingwer-Soße.

Während sie auf das Essen warteten, kamen sie schnell ins Gespräch über unverfängliche Themen. Erstaunt nahm sie zur Kenntnis, dass Raffael Gitarre spielte, offenbar gut singen konnte und sogar eigene Songs komponiert hatte. Als junger Erwachsener war er vorübergehend an Wochenenden mit einer Band in Hamburg aufgetreten.

„Jetzt singe ich nur noch manchmal leise in meiner Wohnung zur Gitarre.“

„Das klingt spannend. Das würde ich mir gerne mal anhören.“

„Geht leider momentan nicht. Meine Gitarre ist defekt.“

„Eilt ja nicht.“

„Stimmt, vielleicht später. … Hast du Zeit für Hobbys?“

Andrea erzählte ihm von ihren privaten Aktivitäten in den letzten Jahren, die sich hauptsächlich im sportlichen Bereich abspielten: Joggen, Schwimmen, Klettern, Bogenschießen.

„Bist du schon Katja und Emil im Haus begegnet?“, spielte Andrea den Ball zurück.

„Oh ja. Mit deiner Schwester habe ich gerade eben gesprochen. Und vorher mit Emil.“

„Ach, prima. Worüber sprecht ihr denn so?“

„Über ‚Käpt’n Blaubär‘ zum Beispiel.“

Andrea zuckte zusammen.

Ich hab meiner Schwester erzählt, dass ich ihn gegenüber den Kollegen so nenne. Hat die kleine Plaudertasche das etwa nicht für sich behalten?!

Raffael erklärte, was er morgens von Emil gehört hatte.

„Tut mir leid“, sagte Andrea kleinlaut. „Aber das ist wirklich ein nett gemeinter Spitzname.“

„Klar. Der blaue Bär mit seinen Lügengeschichten ist ein echter Sympathieträger.“ Raffael lächelte sie an. „Das meine ich ernst und ich bin nicht beleidigt. Aber überrascht war ich schon.“

Andrea atmete erleichtert auf.

Das war knapp. Ich sollte mir überlegen, was ich Katja zukünftig anvertraue.

Sie kamen ins Plaudern, genossen das köstliche Essen und den Chardonnay. Raffael zeigte sich als Kavalier und bezahlte für beide die Rechnung. Gegen zweiundzwanzig Uhr verließen sie das Restaurant.

Andrea wusste, dass Raffael vom „Amici Miei“ nur fünfhundert Meter entfernt in der Oststadt wohnte, in der Nähe der Apostelkirche.

„Ein wirklich gelungener Abend“, freute sich Andrea. „Und Danke für die Einladung. Dafür begleite ich dich noch und sorge dafür, dass du heil in deiner Wohnung ankommst.“

Beim Wort „Wohnung“ hatte Raffaels Mimik eine besorgte Note bekommen.

Er wird doch nicht denken, dass ich in seiner Wohnung mehr von ihm möchte?

„Ich kann unmöglich zulassen, dass du den Weg von mir zur U-Bahn allein im Dunkeln gehen musst“, verkündete er. „Außerdem sieht es nach Gewitter aus. Ich begleite dich stattdessen zur U-Bahn.“

Der Abgang zur U-Bahn war nur wenige Meter vom italienischen Restaurant entfernt.

„Nicht, dass du eben dachtest …“, murmelte Andrea. Auf einmal empfand sie Peinlichkeit.

Raffael überlegte einen Moment, dann äußerte er lächelnd: „Dazu fällt mir gerade etwas ein. Spätabends nimmt ein Mann einen Anhalter mit und fragt ihn: ‚Haben Sie gar keine Angst, dass ich ein Serienmörder sein könnte?‘ – ‚Aber nein‘, lacht der Anhalter: ‚Es ist äußerst unwahrscheinlich, dass in einem Auto zur selben Zeit gleich zwei Serienmörder sitzen‘.“

Andrea runzelte die Stirn, sagte dann mit einem Kopfnicken: „Du hast recht. Gehen wir gemeinsam zur U-Bahn. Von dort aus komme ich gut allein nach Hause.“

4

Die Sonne war kurz nach zwanzig Uhr untergegangen. Es wurde jetzt zunehmend dunkel. Er wusste, dass die Frau mit großer Wahrscheinlichkeit allein zuhause war. Das Wetter lud dazu ein, sich noch auf die Terrasse zu setzen.

Das angekündigte Gewitter lässt hoffentlich noch auf sich warten. Heute könnte es klappen!

Jasmin Wegner wohnte bei ihrem Freund in einem freistehenden Einfamilienhaus mit Garten. Es handelte sich dabei um ein Eckgrundstück, das an den Seiten von einem hohen Lattenzaun umgeben war.

Jetzt war er am Zielort eingetroffen. Der Zaun schützte den Garten und das Erdgeschoss des Hauses weitgehend vor neugierigen Blicken. Allerdings nicht vollständig. Vor ein paar Tagen hatte er bemerkt, dass sich zwischen einigen Längslatten des Zauns kleine Spalten befanden, durch die er den Garten beobachten konnte. Momentan brannte in der ersten Etage kein Licht. Er war auf dem Gehweg neben dem Zaun stehen geblieben, wobei er durchgängig auf dem Schirm hatte, sich nicht auffällig zu verhalten.

Vom Grundstück nebenan waren zahlreiche Stimmen und Musik in moderater Lautstärke zu hören. Dort fand eine Grillparty statt, zu der Jasmin aber nicht eingeladen war. Der Lattenzaun grenzte beide Grundstücke voneinander ab. Das war ein wichtiger Aspekt, damit er im Zweifelsfall nicht von den Nachbarn gesehen wurde.

Durch einen Spalt im Zaun erkannte er, dass sich Jasmin von der hell erleuchteten Terrasse in den Garten bewegte, in dem seitlich einzelne Solarlampen die Pflanzen auf den Beeten in ein dezentes Licht rückten. Jasmin war mit Shorts und einem T-Shirt bekleidet, um ihr linkes Sprunggelenk trug sie eine Bandage. Sie ging auf dem Rasen hin und her, während sie mit ihrem Smartphone telefonierte. Was sie sagte, konnte er nicht verstehen.

Alles was er brauchte, hatte er in einer unscheinbaren Umhängetasche dabei. Für einen Moment erstarrte er komplett und ging noch einmal in sich.

Will ich es wirklich tun? Ist mein Handeln richtig … oder verrückt?

Er traf die endgültige Entscheidung. Dann kam Bewegung in ihn.

Auf der linken Vorderseite des Grundstücks befand sich eine gepflasterte Auffahrt, die zu einem hölzernen Carport führte, das sich über die komplette Länge der Giebelseite des Hauses erstreckte.

Gerade keine unerwünschten Zeugen auf der Straße.

Beim Betreten der Auffahrt ging vorne ein Bewegungsmelder an, was Jasmin jedoch vom hinteren Teil des Grundstückes nicht sehen konnte. Zwischen Haus und Hinterwand des Carports war ein schmaler offener Durchgang zum Garten. Im Carport selbst parkte ein dunkelblauer SUV der Marke BMW. Der Mann blieb neben dem Wagen stehen und wartete, bis das Licht im Vorgarten wieder ausging. Später im Garten würde er darauf achten, nicht auf Erde zu treten und keine Schuhabdrücke zu hinterlassen. Er zog sich die Latexhandschuhe an und streifte sich anschließend eine Sturmmaske übers Gesicht.

Sicher ist sicher. Ich darf nicht erkannt werden.

Er holte den schwarzen Schal, bereits zu einer Schlinge gebunden, aus der Umhängetasche, die er auf dem Boden abgestellt hatte. Das Carport war ein gutes Versteck, um nicht vorzeitig von Jasmin entdeckt zu werden. Von dort spähte er in den Garten.

Sie beendete gerade ihr Telefonat und blieb auf dem Rasen stehen – mit dem Rücken zu ihm, das Gesicht Richtung Nachbargrundstück zum beleuchteten Blumenbeet gerichtet. Vermutlich lauschte sie den Stimmen von nebenan.

Jetzt ist es günstig!

Den schwarzen Schal in beiden Händen rannte er von hinten geduckt auf sie zu. Die Partygeräusche verhinderten, dass sie ihn hörte. Blitzschnell warf er die Schlinge des Schals um ihren Hals und zog mit maximaler Kraft an beiden Schalenden. Jasmin war total überrascht, unfähig zu einer effektiven Gegenwehr. Ihre Hände bewegten sich reflektorisch Richtung Hals, um die todbringende Schlinge zu lockern.

Es soll schnell zu Ende gehen.

Die Frau verlor das Bewusstsein und sackte in sich zusammen. Der Mann ließ erst von ihr ab, nachdem er sicher war, dass sie nicht mehr lebte.

Unruhig blickte er in alle Richtungen.

Da hat niemand etwas bemerkt.

Als nächstes lockerte er den Schal um ihren Hals, holte die darunter eingeklemmten mittellangen blonden Haare wieder hervor und drehte Jasmin auf den Rücken. Er schnappte sich seine Umhängetasche, entnahm ihr eine Stirnlampe, eine runde metallene Keksdose sowie einen akkubetriebenen Langhaarschneider, bei dem er den Aufsatz entfernt hatte.

Der Mann streifte sich die eingeschaltete Stirnlampe über die Maske. Dann kniete er sich neben den Kopf der toten Frau, stellte die Dose auf den Rasen und machte den Deckel ab. Fasziniert starrte er auf Jasmins blonde Haare. Zielsicher setzte er den Haarschneider an ihrer Stirn an und begann, ihr in einer Bahn von vorne zur Schädelmitte entgegen der Wuchsrichtung die Haare abzurasieren. Eine Bahn folgte der nächsten und verbreiterte kontinuierlich die Schneise durch die blonde Haarpracht. Dabei blieb die Kopfhaut der Frau unverletzt. Die Haare fielen büschelweise auf den Rasen. Konzentriert drehte er im Licht der Stirnlampe den Kopf seines Opfers hin und her oder hob ihn an, um die langen Haare vom ganzen Schädel zu entfernen.

Nach ungefähr zehn Minuten, in denen er die Geräusche vom Nachbargrundstück komplett ausgeblendet hatte, vollendete er sein Werk. Die Kopfhaare der Frau waren bis auf einen gleichmäßigen Flaum entfernt.

Langsam sammelte er die auf dem Rasen und vereinzelt auf dem Schal befindlichen abrasierten Haarbüschel ein und stopfte sie in die Keksdose. Ihm war klar, dass er nur einen Teil der Haare mitnehmen konnte.

Jetzt ist es genug.

Er drückte den Deckel auf die Keksdose, verstaute sie anschließend zusammen mit dem Langhaarschneider und der Stirnlampe in der Umhängetasche. Erst jetzt nahm er wieder die Stimmen der Partygäste und die Musik wahr.

Der schwarze Schal um deinen Hals steht dir.

Er wollte den Schal gerade entfernen, als er in unmittelbarer Nähe das Bellen eines Hundes hörte.

Der ist auf dem Fußweg neben dem Lattenzaun, hat mich gewittert.

„He, was ist los, Charly?!“, rief eine männliche Stimme. Dem Bellen zu urteilen handelte es sich bei Charly um einen größeren Hund.

Der Mann mit der Umhängetasche lief ins Carport, wo er neben dem SUV verharrte.

Verdammt, das hat mir gerade noch gefehlt, wenn der Mistköter hier reingerannt kommt und mich auf dem Grundstück entdeckt. Ich hoffe, dass der Besitzer des Köters nicht auch durch eine der Spalten im Zaun geguckt hat. Nicht, dass der Typ Jasmin auf dem Rasen liegen sieht.

Der Hund bellte unaufhörlich weiter. Seinem Herrchen gelang es nicht, ihn zu beruhigen.

„He, Wauwau, jetzt reicht’s!“, ertönte es schließlich vom Nachbargrundstück. Vermutlich einer der Partygäste, den das Gebelle nervte.

Ich darf nichts Unüberlegtes tun! Muss unentdeckt vom Grundstück kommen!

In Charlys Gebell stimmte plötzlich ein zweiter Hund ein.

Jetzt bellen die beiden Köter noch um die Wette.

Offenbar war ein weiterer Spaziergänger mit seinem Hund vor dem Lattenzaun eingetroffen. Die Hunde schienen sich untereinander zu begrüßen, auch ihre Herrchen kamen ins Gespräch.

„Im Garten hinter dem Zaun ist bestimmt eine Katze oder ein Igel“, vermutete einer der beiden.

Die fangen an, miteinander zu quatschen. Das ist der richtige Moment, dass ich schnellstmöglich von hier verschwinde.

Er schob sich am SUV vorbei und verließ über die Auffahrt das Grundstück. Die Hundehalter waren nicht zu sehen, sie standen noch auf dem Gehweg der Querstraße um die Ecke und unterhielten sich. Der Mann mit der Umhängetasche zog sich die Maske vom Gesicht und verschwand in entgegengesetzter Richtung in die Dunkelheit.

Ich hab in der Aufregung vergessen, den Schal mitzunehmen, ging ihm durch den Kopf.

5

Raffael Störtebecker konnte nicht gleich einschlafen. Seine Gedanken kreisten um den heutigen Abend mit Andrea.

Wollte sie mich tatsächlich bis zu meiner Wohnungstür begleiten? Hat sie gemerkt, dass ich das auf keinen Fall wollte? Am Ende war die Stimmungskurve leicht abgeflacht. Oder bilde ich mir das ein?

Dann hörte er das erste Donnern. Gewitter und starker Regen setzten ein. Aber das störte ihn nicht.

Hoffentlich lässt Emil morgen sein Gehopse, war Raffaels letzter Gedanke. Dann fiel er in einen tiefen Schlaf.

Die Nacht war leider nur kurz. Wobei weder Emil noch ein fälschlich zu früh eingestellter Wecker daran Schuld hatten. Es war Raffaels Smartphone auf dem Nachttisch, das ihn erbarmungslos aus dem Schlaf riss.

Schon der Name des Anrufers auf dem Display ließ keinen Zweifel über den Grund dieser unerwünschten Ruhestörung aufkommen.

„Ja …?“, stöhnte Raffael, als er den Anruf annahm.

„Hallo Raffael, tut mir leid, dass ich dich am Sonntagmorgen stören muss“, nahm er schlaftrunken die Stimme von Kriminaloberkommissar Jan Schuster wahr. „Aber wir brauchen unbedingt deine Unterstützung. Eine erdrosselte junge Frau, einundzwanzig Jahre alt, ist heute in den frühen Morgenstunden gefunden worden. Da ist einiges zu tun. Alles Weitere bei uns im Büro. Andrea ist auch schon informiert.“

„Alles klar, ich komme“, murmelte Raffael.

Freier Sonntag ade. Aber der Samstag war immerhin ganz nett – teilweise zumindest.

*

Die Räumlichkeiten der Kriminalfachinspektion 1 befanden sich in der vierten Etage eines weißen fünfstöckigen Gebäudes an der Waterloostraße 9, im zentral gelegenen hannoverschen Stadtteil Calenberger Neustadt.

Im großen Besprechungsraum wurden Raffael Störtebecker, Andrea Renner und eine Gruppe ebenfalls aus dem Frei geholter Kolleginnen und Kollegen von Jan Schuster auf den aktuellen Stand der Ermittlungen im Fall der getöteten Jasmin Wegner gebracht.

Kriminalhauptkommissar Thomas Stelter, ein korpulenter Mann Mitte fünfzig mit schütteren grauen Haaren, mit dem sich Andrea jahrelang ein Büro geteilt hatte, saß ebenfalls mit im Raum.

Der Freund der Toten, Hendrik Raschke, hatte den Leichnam der Frau gegen zwei Uhr morgens im Garten seines Hauses entdeckt, nachdem er von einer Feier mit dem Taxi nach Hause gekommen war. Der Ort des Geschehens lag in Groß-Buchholz, einem Stadtteil im Nordosten der Landeshauptstadt.

Jan Schuster, Mitte dreißig, ein sehniger athletischer Typ, hatte an diesem Wochenende zusammen mit einer Kollegin vom Kommissariat 3 „Mordbereitschaft“, war damit momentan in der Kriminalfachinspektion 1 erster Ansprechpartner bei neu gemeldeten Tötungsdelikten. Der Kriminaldauerdienst kümmerte sich am Fundort der Leiche um die Spurensicherung, ließ in den abgesperrten Bereich vor Abschluss der kriminaltechnischen Untersuchung niemanden herein. Vermutlich waren in diesem Fall Fundort und Tatort identisch. Jan und dem sonstigen Ermittlerteam mussten zunächst die vom Fundort angefertigten Fotos und Videos der Spurensicherung ausreichen.

„Hendrik Raschke konnte bisher nur sehr eingeschränkt befragt werden“, erläuterte Jan. „Er war wohl bereits angetrunken, als ihn das Taxi zu Hause absetzte. Der Fund seiner toten Freundin hat ihn ziemlich aufgewühlt. Um den Hals hatte sie noch einen schwarzen Schal, mit dem sie höchstwahrscheinlich erdrosselt worden ist.“

Den Anwesenden fiel auf den aufgehängten Fotos außerdem der kahlrasierte Schädel der Frau sowie ihre vom Regen durchnässte Kleidung auf.

„Bisher kein Hinweis auf eine Vergewaltigung“, fuhr Jan fort. „Im Haus scheint nichts beschädigt oder gestohlen worden zu sein.“

Hendrik Raschke war wohl beim Betreten des Hauses aufgefallen, dass die Lampen auf der Terrasse noch brannten. Deshalb wäre er auf die Terrasse gegangen und hätte dabei den grausigen Fund im Garten gemacht. Die Terrassentür wäre nur angelehnt gewesen.

Nach eigenen Angaben hatte er umgehend die Polizei angerufen.

„Als die Kollegen vor Ort kamen, war er neben der Spur, hat herumgeschrien, zwischenzeitlich geheult. Wir haben kurz einen Arzt draufschauen lassen. Zu seiner eigenen Sicherheit haben wir ihn mit ins Kommissariat genommen. Damit war er einverstanden. Sollte es seine Verfassung zulassen, müssen wir ihn hier noch mal befragen.“

Sie würden sein Alibi überprüfen und mit dem von der Rechtsmedizin ermittelten Todeszeitpunkt abgleichen.

„Über Hendrik Raschke wissen wir, dass er ein Bekleidungsgeschäft in Hannover-List betreibt – mit Klamotten, die gerne von der rechtsextremen Szene gekauft werden.“ Jans Mimik spiegelte Abneigung wider. „Da geht es beispielsweise um bedruckte T-Shirts und Jacken mit Figuren aus der germanischen Mythologie und die bei Neonazis beliebten Runenzeichen.“

Mord an einer Neonazi-Braut. Na, das hat uns gerade noch gefehlt.

„Zur rechtsextremen Szene passt ja exzellent die Skinhead-Frisur des Opfers“, warf Raffael ein.

„Die Kahlrasur des Schädels geht offenbar auf das Konto des Täters“, belehrte ihn Jan. „Wir haben einige der abgeschnittenen Haare am Tatort gefunden.“

„Was ist uns über Jasmin Wegner bekannt?“, meldete sich Thomas Stelter.

„Sie hat Farbtechnik und Raumgestaltung an der Leibniz Universität in Hannover studiert“, antwortete Jan. „In Groß-Buchholz ist sie erst seit einem Monat gemeldet.“

Raffael runzelte die Stirn: Ein überraschend kurzer Zeitraum.

*

Der einundvierzigjährige Mann, der Raffael Störtebecker gegenübersaß, trug eine schwarze Jacke und darunter ein ebenfalls schwarzes T-Shirt mit einem aufgedruckten Wikingerkopf. Hendrik Raschke hatte kurze braune Haare, in der Mitte gescheitelt, dazu einen Vollbart. Er rutschte auf dem Stuhl hin und her, strich sich mehrfach über den Bart oder stützte sich mit den Händen an der Tischkante ab. Inzwischen war er vollständig nüchtern.

„Meine Kleine war eine tolle Frau, wirklich außergewöhnlich“, beschrieb er die getötete Jasmin. „Wir waren total heiß aufeinander und haben so viel Zeit wie möglich zusammen verbracht.“

„Aber gestern Abend ja anscheinend nicht“, bekundete der Oberkommissar. „Warum haben Sie Ihre Freundin nicht mit zu der Feier genommen, auf der Sie waren?“

Zwischen den beiden Männern stand ein Tisch mit Aufzeichnungsgerät und Mikrofon.

„Das ging nicht!“ Raschke verzog das Gesicht. „Das war ein Männerabend. Lauter Kunden und gute Bekannte von mir.“

„Machen Sie so was öfters?“

„Ja, alle paar Monate.“

„Und warum ohne Frauen?“

„Was für ‘ne Frage, Mensch?!“ Raschke machte einen genervten Eindruck. „Man ist unter sich, nur Männerthemen, ungezwungene Atmosphäre, geiles Wir-Gefühl. Jeder trägt hier seine Szeneklamotten.“

„Und wie viele Männer waren da?“

„So fünfunddreißig bis vierzig.“

Raffael notierte sich die Adresse der Gaststätte, in der die Feier stattgefunden hatte. Raschke war offenbar einer der Mitorganisatoren des Männerabends, wobei die Gäste Getränke und Essen selbst bezahlten.

„Welcher Personenkreis – außer den Gästen – wusste von der Feier?“, erkundigte sich Raffael.

„Keine Ahnung. Ich hab die Feier auf meiner Website und verschiedenen Social-Media-Plattformen angekündigt. In meinem Geschäft war ein Aushang, der sich aber nur an männliche Stammkunden richtete.“

„Die Szene, die in Ihrem Laden einkauft, ist ja nicht überall gern gesehen …“, setzte Raffael Störtebecker an, wurde jedoch abrupt von seinem Gegenüber unterbrochen.

„Wir lassen uns nicht ins kriminelle Abseits schieben! Ich verkaufe lediglich hochwertige Kleidung einer speziellen Stilrichtung und treffe mich gerne mit Menschen, denen bestimmte Werte in diesem Land immer noch etwas bedeuten. Trotzdem bin ich Opfer von Intoleranz geworden!“ Er schlug mit der rechten Faust auf den Tisch. „Zweimal wurde mein Laden mit linken Parolen beschmiert, einige meiner Nachbarn in Groß-Buchholz halten sich auf Distanz und zerreißen sich das Maul über mich. Aber ich habe genug Freunde und Bekannte, dass ich damit klarkomme.“

Raffael hatte keine Lust, sich mit Raschke auf einen Disput über dessen politische Anschauung einzulassen.

Ich verabscheue diese ganze Neonazi-Szene. Aber jetzt will ich einfach nur Informationen, um in diesem Mordfall weiterzukommen.

„Ich möchte noch einmal auf Ihre Beziehung zu Jasmin Wegner zurückkommen.“ Der Oberkommissar wechselte den Fokus. „Wie lange kennen Sie die junge Frau?“

„Seit zwei Monaten.“

„Wie haben Sie sich kennengelernt?“

„Sie war Kundin in meinem Geschäft. Es hat gleich gefunkt zwischen uns. Wir haben uns mehrfach privat verabredet und vor einem Monat ist sie bei mir eingezogen.“

„Sie sind echt von der schnellen Truppe.“ Raffael stieß einen Pfiff aus, bei dem Raschke den Mund verzog. „Wo hat sie denn vorher gewohnt?“

„In einem Studentenwohnheim.“

„Von wem ging die Initiative aus, dass Sie zusammenziehen?“

„Von uns beiden gleichzeitig.“

„Wie schön, dass Sie sich da einig waren und gleiche Interessen haben“, meinte Raffael leise. „Immerhin liegt zwischen Ihnen ein Altersunterschied von genau zwanzig Jahren. Was hat Sie miteinander verbunden?“

„Alter ist kein Hinderungsgrund, wenn sich zwei Menschen zueinander hingezogen fühlen“, verkündete Raschke mit nüchternem Tonfall, als würde er einen auswendig gelernten Satz wiedergeben. „Außerdem harmonierten wir körperlich perfekt miteinander.“

„Sie hatten also zufriedenstellenden Sex mit ihr?“

„Oh ja, das kann man wohl sagen. Fast jeden Tag, zumindest die ersten Wochen, eine Erfüllung …“ Raschke machte den Eindruck, als schaue sich gerade sein geistiges Auge einige einschlägige Szenen an.

„Eine Erfüllung? Für wen?“, hakte Raffael nach.

„Für uns beide natürlich.“

„Was hat Jasmin als sehr junge Frau an Ihnen als deutlich älterem Mann geschätzt?“ Diese Frage interessierte Raffael brennend.

Raschke musste nicht lange überlegen: „Meinen Körper, meine Ausstrahlung, meine Lebenserfahrung.“

„Und zu wem hatte sie sonst noch Kontakt?“

„Die Abende hat sie fast ausschließlich mit mir verbracht. Da kam keine Langeweile auf. Gelegentlich ist sie mit einer Kommilitonin unterwegs gewesen … Kiara.“

Plötzlich wischte sich Raschke aufkommende Tränen aus dem Gesicht.

„Was ist mit der Kommilitonin?“, erkundigte sich Raffael.

„Kiara wollte gestern Abend mit Jasmin in die Disco, aber Jasmin hatte keine Lust, weil sie vor ein paar Tagen mit dem linken Fuß umgeknickt war und eine Bandage tragen musste.“ Raschke stockte einen Moment. „Wären die beiden gemeinsam losgezogen, würde meine Kleine jetzt noch leben …“

„Wäre das denn für Sie okay gewesen, wenn Ihre Freundin abends in die Disco geht?“

„Wieso nicht?! Meine Kleine hätte nie was Ernsthaftes mit ‘nem anderen Typen angefangen. Sie wusste genau, was sie an mir hat.“

An mangelndem Selbstwertgefühl leidet er nicht, stellte Raffael fest.

Auf Nachfrage berichtete Raschke, dass er die Familie seiner Freundin nie kennengelernt hätte: „Jasmin hat wenig über ihre Eltern und ihre Schwester erzählt, sie auch nicht besucht. Ihr Vater ist Chirurg in Hannover.“

„Haben Sie einen Verdacht, wer Ihre Freundin getötet haben könnte?“

„Das muss doch ein Psychopath gewesen sein!“ Raschkes Gesicht verzog sich zu einer Fratze. „Wer sonst würde einer toten Frau die Haare abrasieren und die Haare mitnehmen?!“

„Könnte der Skinhead eine Botschaft des Täters sein?“

„Was denn für eine Botschaft? Ich kann darin keine Botschaft entdecken!“

„Na ja, vielleicht wollte der Täter damit seine Abneigung gegen Ihre politische Auffassung ausdrücken …“

„Politische Auffassung?! Was wissen Sie schon von meiner politischen Auffassung?“ Wütend starrte Raschke den Oberkommissar an. „Ich bin keiner Ihrer Neonazis, sondern ein rechtschaffener Bürger!“

„Hatte Jasmin Streit mit anderen Personen?“, fragte Raffael, ohne weiter auf Raschkes Einwurf einzugehen. „Ist sie mal von jemandem bedroht worden?“

„Da kann ich einiges zu sagen! Sie hat mir erzählt, dass ein Ex-Freund sie noch Wochen nach der Trennung bedrängt und beschimpft hat. Enno, ein Kommilitone von ihr. Das muss vor ein paar Monaten passiert sein. Ich kenn den Typen nicht!“

„Und sonst?“

„Meine Kleine sah gut aus, da gab es genug Kerle, die was von ihr wollten. Einmal hatte sie Stress mit ’nem Nafri, der sie auf der Straße angemacht hat. Dem ist sie später noch mal in der Nähe unseres Hauses begegnet.“

„Nafris gibt es hier nicht“, brummte Raffael. Die Bezeichnung ‚Nafri‘ war ein von der Polizei Nordrhein-Westfalen verwendetes diskriminierendes Kürzel für junge Nordafrikaner, die als kriminell eingestuft wurden.

„Sie wissen schon, was ich meine“, entgegnete Raschke ärgerlich. „So ein alleinstehender Typ aus Marokko, Libanon oder Syrien, der scharf auf blonde Frauen ist und glaubt, sich hier einfach bedienen zu können.“

„Was genau ist wann passiert?“

„Jasmin hat mir vor drei Wochen erzählt, dass sie von so einem afrikanischen Typen angequatscht wurde. Ob sie Lust hätte, mit ihm was zu unternehmen. Na, was wollte der wohl?! War anscheinend richtig hartnäckig. Eine Woche später hat sich das Ganze noch mal wiederholt. Sie hat ihm jedes Mal eine Abfuhr erteilt.“

„Hat er sie bedroht oder angefasst?“

„Nein, offenbar nicht. Aber ich war nicht dabei.“ Raschke war anzusehen, dass er überlegte. „Und dann war da noch so ein Spinner, der sie nach einem Treffen mit Kiara in der Nähe des Studentenwohnheims angelabert hat. Das muss auch vor zwei Wochen gewesen sein, als sie mir davon berichtet hat.“

„Wieso Spinner …?“

„Jasmin meinte, der Typ habe behauptet, er sei angeblich Privatdetektiv und hätte einen Auftrag, sie zu beobachten. Er könne zwischenmenschliche Schwingungen wahrnehmen und spüren, dass sie ein guter Mensch wäre, oder so was Ähnliches. Ihm würde ihr Wohlergehen sehr am Herzen liegen.“

„Ein Privatdetektiv? In wessen Auftrag soll er Jasmin observiert haben?“

„Ich glaube, das war gelogen und einfach eine dämliche Anmache. Der wollte sich interessant machen, um an sie ranzukommen. Er hat auch seinen vermeintlichen Auftraggeber nicht genannt.“

„Hat Jasmin ihn näher beschrieben?“

„In den Dreißigern, betont norddeutscher Akzent.“ Der Befragte hielt inne. „Wohl so ähnlich wie Sie. Und abstehende Ohren.“

„Hat Ihre Freundin sich von dem Mann bedroht gefühlt?“

„Bedroht nicht, aber die verquere Anmache und das esoterische Gequatsche haben sie genervt.“

Ist die Frau vielleicht wirklich von einem Privatdetektiv im Auftrag einer unbekannten dritten Person überwacht worden?

„Kann es sein, dass jemand damit Probleme hatte, dass Sie eine schöne junge Freundin haben, die bei Ihnen eingezogen ist?“, wollte der Oberkommissar wissen.

„Sie meinen, eine eifersüchtige Ex? Ich hab fast zehn Jahre mit einer Frau zusammengewohnt, dann hat mich das Luder betrogen und ist ausgezogen. Der wird’s egal gewesen sein, dass ich Jasmin kennengelernt hab und sie bei mir eingezogen ist. Meine Ex ist nicht die Mörderin meiner Kleinen! Aber wenn ich den Scheißkerl in die Finger kriege, der das getan hat, kann ich für nichts garantieren …“

6

Sabine Wegner war auf einmal eine gebrochene Frau. Sie saß weinend auf dem Sofa im Wohnzimmer, den Oberkörper nach vorne gebeugt, den Kopf in beide Hände vergraben. Die unerwartete Nachricht vom Tod ihrer Tochter Jasmin hatte sie schwer getroffen.

Neben ihr saß die junge Kriminaloberkommissarin Emma Falkenberg, die der Frau tröstend eine Hand auf die Schulter legte. Begleitet wurde Emma von Kriminaloberkommissar Arif Kimil, der im Sessel gegenüber Platz genommen hatte.

Emma und Arif gehörten wie Andrea und Raffael zum 1. Kommissariat der hannoverschen Kriminalfachinspektion 1. An diesem Sonntag hatten sie Sabine Wegner in deren Haus aufgesucht. Die Endvierzigerin wohnte in einem kleinen Reihenhaus mit Garten in Arnum, einem Stadtteil von Hemmingen im südlichen Umland der Region Hannover.

„Wer ist zu so einer grausamen Tat fähig?!“, brachte Jasmins Mutter stockend hervor. „Brutal ermordet …“ Sie drehte ihren Kopf zur Seite und schaute die junge Polizistin an.

Emma waren sofort die ähnlichen Gesichtszüge von Jasmin und Sabine Wegner aufgefallen.

Eine schöne Frau, ebenfalls blond, ging Emma durch den Kopf. Aber schon bevor sie die schlimme Nachricht erfuhr, wirkte sie abgekämpft.

„Hat meine Tochter dort, wo sie gefunden worden ist, gewohnt?“, fragte Sabine.

Emma nickte. So wie es aussah, war Sabine Wegner nicht auf dem neuesten Stand, was die Lebensumstände ihrer Tochter anging.

Sabine brauchte einige Zeit, um wieder durchgängig reden zu können: „Ich wohne seit fünf Jahren in Arnum, seit der Trennung von meinem Mann. Wir sind inzwischen auch geschieden. Unsere beiden Töchter, Jasmin und Linda, sind mit mir hierhergezogen.“

„Und ihr Mann?“, fragte Arif dazwischen.

„Der wohnt weiterhin im selben Haus in Hannover. Mittlerweile ist er wieder verheiratet.“

„Sie wollten nicht mit Ihren Töchtern in Hannover bleiben …?“, hakte der Oberkommissar nach.

„Nein, mir war ein Tapetenwechsel wichtig. Ich habe auch wieder angefangen als Krankenschwester zu arbeiten. Im Agnes-Karll-Krankenhaus in Laatzen.“

Emma übernahm die Gesprächsführung: „Wie war Ihr Verhältnis zu Jasmin? Offenbar haben Sie einige Zeit nichts voneinander gehört.“

„Wir hatten ein liebevolles Verhältnis. Sie ist wie ihre Schwester von hier aus zur KGS Hemmingen gegangen und hat dort Abitur gemacht. Kurz danach ist sie ausgezogen und hat in Hannover studiert. Wir haben nicht mehr so viel Kontakt. Vor einigen Wochen hat sie mich zuletzt angerufen.“

„Ach, das klingt so … distanziert. Waren Sie sauer aufeinander?“

„Nein, wir waren nicht zerstritten. Sie wollte selbstständig sein und hat das bewusst gelebt. Ich konnte das gut akzeptieren. Manchmal hat sie mich auch besucht.“

„Hat Ihre Tochter mal davon gesprochen, dass sie bedroht oder belästigt wird?“

„Nein.“

„Hatte Jasmin noch Kontakt zu ihrer Schwester?“

„Auch nicht mehr als zu mir. Linda lebt noch bei mir im Haus.“ Sabine Wegner schüttelte den Kopf. „Die beiden sind zwar eineiige Zwillinge, aber vom Wesen her erstaunlich unterschiedlich. Jasmin war die trotzige Rebellin mit durchwachsenen Schulnoten, Linda die strebsame Musterschülerin, die immer einen engeren Kontakt zu mir hatte.“

Sabine Wegner berichtete, dass Linda Zahnmedizin an der Medizinischen Hochschule Hannover studiert. Von Arnum aus wäre Linda über die Schnellwege schnell in der MHH. Zudem würde sie hier noch beim SV Hemmingen mit einer ehemaligen Schulfreundin regelmäßig Badminton spielen.

„Und wo ist Ihre Tochter Linda jetzt?“

„Sie ist an diesem Wochenende mit einer Freundin in Süddeutschland.“

„Und wie ist aktuell das Verhältnis zu Ihrem Ex-Mann?“, erkundigte sich Arif.

„Ich habe seit unserer Scheidung fast gar keinen Kontakt zu ihm. Wir gehen unsere eigenen Wege.“ Sabine Wegner machte eine kurze Pause, dann fuhr sie fort: „Linda besucht ihren Vater gelegentlich. Könnte sein, dass sich auch Jasmin bei ihm ab und zu gemeldet hat.“

7

Es war wieder warm geworden an diesem Sonntag. Nach dem nächtlichen starken Gewitter hatte sich das Wetter in Hannover beruhigt und inzwischen war der Himmel nahezu wolkenlos.

Mit ihrem Dienstwagen, einem grauen VW Passat, brauchten Raffael Störtebecker und Andrea Renner von ihrem Dienstort nur ungefähr eine viertel Stunde, um ihr Ziel im Nordwesten der Landeshauptstadt zu erreichen. Im Stadtteil Herrenhausen, der einen der bedeutendsten Barockgärten Europas und Teile der Universität beherbergt, wohnte der Vater des getöteten Opfers.

Bevor sie losgefahren waren, hatten sie im Internet recherchiert. Dr. Burkhard Wegner war der Inhaber einer am hannoverschen Stadtwald Eilenriede gelegenen Privatklinik für Plastische und Ästhetische Chirurgie, die er auch ärztlich leitete.

Sie parkten den Passat direkt vor einer zweistöckigen Villa, deren großzügiger Garten von einem halbhohen Metallzaun mit gemauerten Pfosten umgeben war. Die Rasenflächen, die Blumenbeete und der Baumbestand sowie das Haus und die Doppelgarage wirkten, soweit einsehbar, äußerst gepflegt.

„Das sieht schon von außen nach mächtig Kohle aus“, äußerte Raffael beim Verlassen des Fahrzeugs. „Der Mann hat keine finanziellen Sorgen.“

Durch die Pforte neben dem Gartentor gelangten Raffael und Andrea, nachdem sie sich an der Gegensprechanlage zu erkennen gegeben hatten, auf das Grundstück. Sofort fiel ihnen am Haus die Videokamera im Eingangsbereich auf.

„Hier wird auf Sicherheit gesetzt“, murmelte Andrea.

*

Die Innenausstattung der Villa stand der Außenanlage in nichts nach.

Burkhard Wegner hatte Raffael und Andrea in sein geräumiges Wohnzimmer gebeten. Der Blick des Oberkommissars schweifte über die modernen Sitzmöbel, die Ölgemälde an den Wänden, den gemauerten Kamin und die breite Fensterfront zum hinteren Teil des Gartens, in dem Raffael einen Swimmingpool und eine Außensauna entdeckte. Unter der Couch sah er eine schwarze Perserkatze.

Wegner war eine stattliche Gestalt, um die fünfzig, ohne erkennbaren Bauchansatz, durchtrainiert, gebräunte Haut, mit vollen dunkelblonden Haaren. Er war mit einem beigefarbenen modischen Golf-Polohemd und einer dunkelblauen Jeans bekleidet.

Solariumbräune, schoss Raffael etwas unpassend durch den Kopf. Und die Haare sind bestimmt gefärbt.

An seiner Seite hatte Wegner eine junge gutaussehende Frau mit langen blonden Haaren, deren Alter Raffael auf Anfang dreißig schätzte. Das ärmellose rote Kleid, das bis zu den Knien reichte, unterstrich ihre schlanke Figur. Wegner hatte sie als seine Ehefrau Maria vorgestellt.

Ein sehr schönes Gesicht. Die ist mir sympathisch, auf merkwürdige Weise vertraut.

Raffael hatte die Bombe vom Tod Jasmins platzen lassen. Das Ehepaar Wegner wirkte überrascht und betroffen, wobei beide die Nachricht erstaunlich tapfer wegsteckten. Sie alle hatten im Wohnzimmer Platz genommen. Maria saß neben ihrem Mann auf der Couch und hielt seine Hand.

Wegner zeigte wenig Mimik, schaute Raffael und Andrea bewegungslos an. Auf Raffaels Frage, ob er das folgende Gespräch mitschneiden dürfe, antwortete er knapp: „Natürlich. Kein Problem.“

„Wie schrecklich“, sagte Maria mit leiser Stimme. Sie streichelte die Hand ihres Mannes und blickte ihn besorgt an. „Es tut mir so leid um deine Tochter.“

Auf einmal kam Leben in Wegners Gesicht. Mit fester Stimme fragte er: „Wissen Sie, wer Jasmin getötet hat? Oder haben Sie zumindest einen Verdacht?“

„Nein“, bekundete Andrea. „Noch stehen wir am Anfang unserer Ermittlungen.“

„Wo genau ist es passiert?“

Raffael benannte den Fundort der Leiche und erklärte, dass Jasmin dort seit einem Monat gewohnt hätte – im Haus von Hendrik Raschke. Auf Wegners Nachfrage, wer genau dieser Mann wäre, erwähnte der Oberkommissar das Bekleidungsgeschäft, welches sich großer Beliebtheit in der rechtsextremen Szene erfreute.

„Ich finde es ganz entsetzlich, dass sich Jasmin mit Neonazis abgegeben hat!“, platzte es aus Wegner heraus. „So habe ich sie nicht erzogen!“

„War Ihre Tochter überhaupt an politischen Themen interessiert?“, griff Raffael das Thema auf. „Hat sie sich für bestimmte Ziele engagiert, wobei sie angeeckt sein könnte?“

„In der Vergangenheit ist sie mal für den Klimaschutz auf die Straße gegangen. Sonst wüsste ich nicht.“

„Hat Sie Ihnen über Ärger und Konflikte mit Menschen aus ihrem Umfeld erzählt?“

Wegner lachte bitter, dann meinte er: „Bei ihrer selbstbewussten Art kann ich mir gut vorstellen, dass sie mit anderen Menschen aneinandergeraten ist. Aber Konkretes weiß ich dazu nicht.“

„Wann haben Sie denn Jasmin zuletzt gesehen oder gesprochen?“, erkundigte sich Raffael.

„Vorletzte Woche haben wir uns kurz in der Nähe der Uni getroffen. Und vor vier Monaten habe ich sie abends im Studentenwohnheim besucht. Insgesamt haben wir uns die letzten Jahre nur selten gesehen. Sie war mal hier, um ihre neue Stiefmutter kennenzulernen.“ Wegner verzog flüchtig das Gesicht, dann fuhr er fort: „Wir haben gelegentlich miteinander telefoniert. Zuletzt …? Vielleicht vor einem Monat.“

„Da hat sie Ihnen aber nichts davon erzählt, dass sie aus dem Studentenwohnheim auszieht?“

„Nein. Aber sie hat mir gelegentlich Fotos von sich aufs Handy geschickt. Da hab ich mitbekommen, dass sie sich vor zwei oder drei Monaten die Haare völlig bunt gefärbt hatte. Dann war sie wieder blond.“

„Haben Sie Jasmin von sich aus öfters angerufen oder war es umgekehrt?“

„Ach, Jasmin anzurufen war nicht einfach. Sie ist oft nicht ans Handy gegangen, weil es ihr in diesem Moment nicht passte. Damit wollte sie zeigen, dass sie selbstständig ist.“

„Wie war Ihr Verhältnis?“, hakte Raffael nach.

„Gut. Eine normale Vater-Tochter-Beziehung.“ Wegner schaute kurz seine Frau an, dann ergänzte er: „Ich wollte immer nur das Beste für meine Töchter. Dass sie einen guten Weg durchs Leben finden und ihre Ressourcen nutzen.“

Raffael sprach daraufhin Maria an: „Hatte Ihre Stieftochter Jasmin zu Ihnen Kontakt? Persönlich oder telefonisch, so von Frau zu Frau …?“

„Wir hatten nicht viel miteinander zu tun“, antwortete Maria nach einem Zögern. „Über ihren schrecklichen Tod bin ich sehr bestürzt. Sie war eine energiegeladene junge Frau.“ Maria überlegte, äußerte dann: „Mein Mann und ich sind seit einem Jahr verheiratet. Meine Stieftochter war nicht oft hier, insofern war unsere Beziehung nur oberflächlich, aber gut. Telefoniert haben wir praktisch nie miteinander, uns auch nicht gemailt.“

Nebenbei erfuhren Raffael und Andrea von Wegner, dass er seit der „einvernehmlichen Trennung“ von seiner Frau diese „nur selten“ sehe, ihn jedoch seine Tochter Linda „bisweilen besuchen“ würde.

Routinemäßig erkundigte sich Raffael, wo sich Burkhard und Maria Wegner am gestrigen Abend aufgehalten hätten.

Ohne sich auch nur im Ansatz zu echauffieren, bekundete der Schönheitschirurg: „Am Samstag war ich den ganzen Tag auf einer ärztlichen Fortbildung in Hildesheim, wo ich anschließend wegen des guten Wetters abends noch durch die Stadt gebummelt bin. Vor dem Gewitter war ich zum Glück wieder zu Hause.“