Ein mörderisches Paar - Der Verdacht - Klaus-Peter Wolf - E-Book

Ein mörderisches Paar - Der Verdacht E-Book

Klaus-Peter Wolf

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Beschreibung

Von Kopfgeldjägern und Frauenhelden - der zweite Band der Reihe »Ein mörderisches Paar« von der Nummer 1 in der Spannung Klaus-Peter Wolf Ein Kopfgeld von 10 Millionen ist auf Dr. Bernhard Sommerfeldt ausgesetzt, eine Summe, die sich kein Profikiller gerne entgehen lässt. Und wenn Markus Baumann aus Meppen davon gewusst hätte, dann hätte er Birgit Ritter vielleicht anders angesprochen. Doch seine Sommerfeldt-Masche ist einfach zu erfolgreich, reihenweise verfallen ihm die Frauen. Auch Birgit Ritter glaubt fest, den echten Sommerfeldt vor sich zu haben, als plötzlich und unerwartet Johann Baptist Reichhart, seines Zeichens Kopfgeldjäger, im Raum steht und das Rendezvous mit Markus Baumann final beendet. Das ist kein einfacher Fall für Ann Kathrin Klaasen und ihr Team  in Ostfriesland, aber ein hundertprozentiger Auftrag für den echten Sommerfeldt und seine Ehefrau Frauke. Alles läuft auf einen großen Showdown auf Norderney hinaus. »Ein mörderisches Paar. Der Verdacht« ist der zweite Band der Serie und ein Buch für die heißesten Tage des Jahres. 

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Seitenzahl: 559

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Klaus-Peter Wolf

Ein mörderisches Paar – Der Verdacht

Ostfriesenkrimi

 

 

Über dieses Buch

 

 

Ein Kopfgeld von 10 Millionen ist auf Dr. Bernhard Sommerfeldt ausgesetzt, eine Summe, die sich kein Profikiller gerne entgehen lässt. Und wenn Markus Baumann aus Meppen davon gewusst hätte, dann hätte er Birgit Ritter vielleicht anders angesprochen. Doch seine Sommerfeldt-Masche ist einfach zu erfolgreich, reihenweise verfallen ihm die Frauen. Auch Birgit Ritter glaubt fest, den echten Sommerfeldt vor sich zu haben, als plötzlich und unerwartet Johann Baptist Reichhart, seines Zeichens Kopfgeldjäger, im Raum steht und das Rendezvous mit Markus Baumann final beendet.

Zwei Tote in Ostfriesland bringen nicht nur die Polizei in Aurich gehörig unter Druck, sondern auch den echten Sommerfeldt und seine Frau Frauke. Der zweite Band der Trilogie »Ein mörderisches Paar.«

 

»Wolf versteht es mustergültig, seine überaus lebendigen Figuren vor der authentischen Kulisse Ostfrieslands agieren, philosophieren und morden zu lassen. Und: ein fabelhaftes Setting, wendungsreiche Spannung sowie rabenschwarzer Humor.« EvS/Kölner Stadtanzeiger

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Klaus-Peter Wolf, 1954 in Gelsenkirchen geboren, lebt als freier Schriftsteller in der ostfriesischen Stadt Norden, im selben Viertel wie seine Kommissarin Ann Kathrin Klaasen. Wie sie ist er nach langen Jahren im Ruhrgebiet, im Westerwald und in Köln an die Küste gezogen und Wahl-Ostfriese geworden. Bislang sind seine Bücher in 26 Sprachen übersetzt und über vierzehn Millionen Mal verkauft worden. Mehr als 60 seiner Drehbücher wurden verfilmt, darunter viele für »Tatort« und »Polizeiruf 110«. Der Autor ist Mitglied im PEN-Zentrum Deutschland. Derzeit werden mehrere Bücher der Serie mit Ann Kathrin Klaasen prominent fürs ZDF verfilmt und begeistern Millionen von Zuschauern.

Inhalt

[Motto]

Markus Baumann hatte viele Methoden...

Die Situation irritierte...

Bernhard wirkte nachdenklich...

Den Triumph wollte...

Für Dr. Bernhard...

Bettina Göschl eröffnete...

Kurt Kleinhaupt galt...

Nordens Bürgermeister Florian...

Leseprobe: Ein mörderisches Paar, Teil 3

Leseprobe: Ostfriesennebel

Leseprobe: Der Weihnachtsmannkiller II

»Weniger ist nicht mehr. So ein Blödsinn. Mehr ist mehr!«

Willi Klempmann, genannt George, Gangsterkönig

 

»Ich schnarche gar nicht – ich träume nur manchmal, ich sei ein Motorrad.«

Hauptkommissar Rupert, Kripo Aurich

 

»Erfüllte Träume machen uns müde. Die Sehnsucht danach aber gibt uns Kraft und treibt uns an.«

Dr. Bernhard Sommerfeldt, Klinikleiter und Serienkiller

 

»Ich traue keinen perfekten Menschen. Perfektion ist seelenlos. Wer eine Seele hat, hat auch schwarze Flecken und Risse. Sie machen uns aus. Es sind die Narben unserer Erfahrungen.«

Frauke

Markus Baumann hatte viele Methoden ausprobiert, Frauen rumzukriegen. Keine war so erfolgreich wie die Sommerfeldt-Masche. In letzter Zeit hatte es drei Fernsehsendungen über den Serienkiller gegeben, eine Reportage über die Misserfolge bei der Fahndung nach seinem Ausbruch und über mögliche Helfershelfer in Ostfriesland, eine Sondersendung von Aktenzeichen XY … ungelöst, mit der die aktuelle Fahndung nach ihm befeuert werden sollte, und dann unterhielten sie sich im Literarischen Quartett über ihn und seine Biographie. Zum ersten Mal hatte die Sendung mehr als drei Millionen Zuschauer und wurde in der Mediathek zigmal aufgerufen. Angeblich drehte das ZDF einen Spielfilm auf der Grundlage seiner Biographie Totenstille im Watt, aber wer die Hauptrolle, also Dr. Bernhard Sommerfeldt, spielen sollte, wurde wie ein Staatsgeheimnis gehütet.

Er hatte sich viel mit Sommerfeldt beschäftigt, und seitdem er auf Sommerfeldt machte, legte er reihenweise Frauen flach. Sie vertrauten ihm sofort, waren bereit, ihn zu verstecken, boten ihm Geld an und liebten ihn bis zur Erschöpfung.

Er selbst war ein Jäger. Er war auf keinen Frauentyp festgelegt. Für ihn war es ein Sieg, wenn sie mit ihm ins Bett stiegen, und genau darum ging es.

In frühester Kindheit schon hatte er erlebt, dass er nicht um seiner selbst willen geliebt wurde, sondern höchstens für Leistungen, die er vollbrachte. Also gab er für seinen Vater den tollen Torwart, obwohl er es ziemlich bescheuert fand, sich mit dem Kopf voran auf einen Ball zu stürzen, nach dem andere traten. Vier Finger waren ihm beim Spiel gebrochen worden und einmal auch die Nase.

Für seine Mutter wollte er das musische Genie geben, doch Torwart und Klavierspielen, das passte nicht zusammen. Mit gebrochenen Fingern spielt sich Mozart schlecht.

In seinem Innern war er weder Fußballer noch Musiker, und auch den braven Schüler spielte er nur. Er wollte geliebt werden und strampelte sich ab. Um die Liebe seiner Eltern kämpfte er schon lange nicht mehr, das war Schnee von gestern. Jetzt sammelte er Erlebnisse mit Frauen, am besten an jedem Wochenende mit einer anderen. Und mit der Sommerfeldt-Masche war das überhaupt kein Problem.

Zu seiner Ausstattung gehörte ein helles Leinenjackett. Aus der rechten Tasche ragte immer ein Buch von Dr. Bernhard Sommerfeldt.

Baumann fand die Frauen in Bibliotheken, bei Krimilesungen, bei Spaziergängen im Park, und besonders viele von ihnen machten gern Urlaub an der Nordsee. Sie besuchten die Plätze, an denen Sommerfeldt sich laut seiner Bücher aufgehalten hatte. Welcher Sommerfeldt-Fan wollte nicht mal im Café ten Cate Baumkuchen gegessen haben? Natürlich besuchten sie den Lütetsburger Park, wollten auf Langeoog in einem Anna-See-Apartment wohnen, am liebsten mit Blick auf die Eisdiele Venezia.

Er wusste, wie er sie fand, und er wusste, wie er sie ansprechen musste. Dazu waren keine Verrenkungen in Diskotheken notwendig, und er musste auf keiner Skipiste mit dem Skilehrer konkurrieren. Er begann ein lockeres Gespräch über Ostfriesland und über Sommerfeldt, und wenn er den Glanz in ihren Augen sah, dann verriet er nach nicht allzu langer Zeit, er sei Dr. Bernhard Sommerfeldt. Natürlich nicht mehr ganz so schön wie auf den Fahndungsplakaten, denn er habe sich umoperieren lassen, sonst könne er sich ja nicht an seinen Lieblingsorten aufhalten. Er sei verpfiffen worden und brauche dringend eine sichere Wohnung für die Nacht.

Von zehn Versuchen hatten acht funktioniert. Zweimal hatte er die Geschichte selbst abgebrochen, weil sie ihm frei heraus sagte, ihr Mann hätte bestimmt nichts dagegen, der sei auch Sommerfeldt-Fan.

Besonders angenehm an der Sommerfeldt-Methode fand er auch, dass er danach nicht großartig Schluss machen musste und es keine schrecklichen Abschiedsszenen gab, keine Ich-hasse-dich-Schreie, sondern jede verstand, dass er weiterziehen musste und ihr weder eine Telefonnummer geben konnte noch eine Adresse.

Er ging mit einem Augenzwinkern und versprach, sich wieder zu melden. Das war es dann auch schon.

Er arbeitete als Verwaltungsangestellter in Meppen. So konnte er jedes Wochenende einen kurzen Trip nach Ostfriesland machen. Am Anfang buchte er sich noch ein Zimmer, gern im Smutje, weil dort viele Leserinnen von Dr. Sommerfeldt übernachteten, inzwischen sparte er sich das Geld. Meist brauchte er ja gar kein eigenes Zimmer, weil er die Nacht sowieso in einem anderen Bett verbrachte. Das erhöhte für ihn sogar noch den Spaß bei der Jagd und den Druck, es auch hinzukriegen. Wenn alles schiefging, konnte er immer noch nach Hause fahren und es am anderen Tag noch mal versuchen.

Die neugestaltete Wasserkante in Norddeich, das Deck, war ein magischer Anziehungspunkt für Sommerfeldt-Fans. Dazu das Meer, die Sonne, die entspannte Stimmung, vielleicht noch ein Glas Weißwein vor dem Haus des Gastes – was sollte da schiefgehen?

Doch diesmal lief nicht alles so gut für ihn. Er glaubte, noch in der glücklichsten Phase seines Lebens zu sein. Er sah einer vollbusigen Fünfzigjährigen in die Augen, die sogar Stellen aus der Sommerfeldt-Trilogie wörtlich zitieren konnte. Sie tranken Weizenbier und rieben sich gegenseitig mit Sonnencreme ein, doch keine drei Meter von ihnen entfernt saß Johann Baptist Reichhart, auch der Henker genannt. Inzwischen hatte es sich bis zu ihm rumgesprochen, dass Sommerfeldt zum Frauenhelden mutiert war, der gern in Norddeich, Bensersiel und Greetsiel auf die Jagd ging.

Für Johann Baptist war Sommerfeldt zehn Millionen wert, denn genau so viel hatte Willi Klempmann auf seinen Kopf ausgesetzt.

Die beiden Turteltäubchen sahen nicht so aus, als ob sie sich heute noch trennen würden. Mir wird gar nichts anderes übrig bleiben, dachte Johann Baptist und spielte mit der rechten Hand in seiner Jackentasche mit der Stahlschlinge. Ich muss beide töten. Zuerst ihn – der gefährlichste Gegner muss immer sofort ausgeschaltet werden – und danach sie. Zeugen kann ich wahrlich nicht gebrauchen.

Zur gleichen Zeit heiratete der echte Dr. Bernhard Sommerfeldt unter dem Namen Ernest Simmel seine geliebte Frauke Winterberg im Alten Leuchtturm auf Wangerooge. Hauptkommissar Rupert und seine Frau Beate waren Trauzeugen.

Jörg und Monika Tapper hatten die Hochzeitstorte persönlich nach Wangerooge gebracht.

Das dreistöckige Kunstwerk wartete jetzt im Apartment Anna Düne mit Meerblick darauf, angeschnitten zu werden.

Als Klinikleiter wollte Simmel keine große Hochzeit. Er hatte Angst, alle einladen zu müssen, und eine Riesenfeier mit all den Offiziellen stellten die beiden sich eher unromantisch vor. Nicht mal Freunde aus dem Lütetsburger Golfclub hatten sie eingeladen. Es sollte ein ganz intimes, kleines Fest werden.

Sommerfeldt bestand darauf, seine Braut, die natürlich in Weiß geheiratet hatte, jetzt über den Sand in die Nordsee zu tragen. Jörg machte Fotos. Viele Menschen verließen ihre Strandkörbe, um zuzusehen und Beifall zu klatschen. So eine Hochzeit bei herrlichem Wetter direkt am Strand lockte einfach immer viele Menschen an.

Der Wind blies in Fraukes Kleid und ließ sie schwanger erscheinen. Die Wellen leckten an ihren Füßen. Sie kreischte vor Freude, und Sommerfeldt tauchte mit ihr gemeinsam vollständig unter. Es sah ein bisschen aus wie eine Taufe.

Im freudigen Überschwang, angestachelt von der Meerluft und dem Applaus, packte Rupert seine Beate und kreischte: »Nach so vielen Jahren Ehe machen wir das jetzt auch mal! Davon hab ich schon immer geträumt!« Er rannte mit Beate ins Wasser.

»Du bist verrückt!«, schrie sie.

»Ja«, antwortete er, »deshalb hast du mich doch geheiratet.«

Monika Tapper sah ihren Mann an, der Fotos machte, breitete die Arme aus und sagte: »Ja, nun, und was ist mit mir?«

Er gab einem Kind sein Handy und sagte: »Pass gut drauf auf, Kleiner.« Dann schnappte er seine Frau und trug sie wie eine Beute zu den anderen ins Wasser.

Als sie klatschnass, aber glücklich, wieder im Sand standen und die drei Pärchen sich beklatschen und fotografieren ließen, lud Sommerfeldt die Umstehenden ein, mit ihnen zum Friesenjung zu kommen.

»Da oben«, sagte er, »habe ich eine Hochzeitstorte, die ist eh zu groß für uns. Wer möchte, bekommt ein Stück.«

»Und falls es Beschwerden gibt«, rief Jörg Tapper, »ich bin der Konditor.«

»So etwas«, sagte ein Mann zu seiner Frau, »erlebst du nur in Ostfriesland, Hilde. Ich hab’s dir doch gesagt: Lass uns wieder hin. Hier fühle ich mich immer zwanzig Jahre jünger.«

Sie küsste ihren Mann auf die Wange und bestätigte: »Ich mich auch!«

Beim Anschneiden der Torte achteten Monika und Beate darauf, dass Sommerfeldt und Frauke gemeinsam den ersten Schnitt machten, und als Frauke ihre Hand oben hatte, lachte Beate: »Jetzt wissen wir auch, wer in der Ehe die Hosen anhat!«

Das Brautpaar verteilte Tortenstücke an alle Anwesenden. Sommerfeldt hatte schon Sorge, selbst nichts mehr abzubekommen, zumal Rupert bereits das dritte Stück aß. Schließlich war es ja auch eine dreistöckige Torte mit drei verschiedenen Geschmacksrichtungen.

Pfirsich-Maracuja fand Rupert ganz klasse, aber sein Favorit war Whisky-Sahne. Auf Himbeer-Sahne fuhr besonders Beate ab. Echte Früchte konkurrierten mit Marzipangebilden.

Dazu gab es Ostfriesentee und heißen Kaffee, doch wirklich warm wurde ihnen nicht davon. Zum Glück gab es unten im Anna-Düne-Gebäude eine Sauna, und die hatten sie vorsichtshalber anheizen lassen. Die sechs zogen sich dorthin zurück.

Monika Tapper wagte nicht, es auszusprechen. Sie hatte es nur einmal ihrem Mann erzählt und sich dann entschieden, den Mund zu halten. Dieser Ernest Simmel hatte manchmal etwas von ihrem alten Stammgast Dr. Bernhard Sommerfeldt. Er sah völlig anders aus, aber er liebte die gleichen Speisen, er lachte über die gleichen Scherze, er konnte leidenschaftlich über Literatur reden, und in seiner Nähe bekam jede Frau das Gefühl, etwas ganz Besonderes zu sein. Ein schützenswertes Kulturgut, wie sie es mal genannt hatte, ja geradezu ein göttliches Wesen.

Sommerfeldt verehrte die Literatur, die Kunst und die Frauen auf eine fast schon religiöse Weise. Bei Ernest Simmel erlebte sie etwas Vergleichbares. Dazu diese Lebensgier, dieser Wille, Spaß zu haben und aus der Zeit, die einem auf Erden blieb, das Beste herauszuholen. Und die Art, wie er Torte aß, als würde er sie einatmen … Er hatte ein fast erotisches Verhältnis zu Sahne und Marzipan, als würde er mehr riechen und schmecken als andere. Auch darin glich er Sommerfeldt. Diese Hingabe an Gaumenfreuden hatte sie nicht bei vielen Menschen erlebt.

Sie grinste. Ihr Mann war so ähnlich.

Rupert aß einfach gierig, als wollte er die Energie haben, die darin enthalten war. Sommerfeldt und ihr Mann hatten sich stattdessen immer ganz dem Genuss hingegeben.

Die Marzipanröschen auf der Torte waren nicht einfach Verzierung, sondern Ernest Simmel aß sie wie eine Offenbarung, ließ die einzelnen Blätter mit geschlossenen Augen auf der Zunge zergehen.

Vielleicht, dachte Monika, ist er ja wirklich Sommerfeldt. Aber ich werde ihn nicht fragen. Und ich werde diesen Gedanken nicht äußern.

Sie schaute sich ihren Mann Jörg an. Hegte der etwa auch einen Verdacht? War es die feine Anspielung eines Konditors, dass er blutrot gefärbte Schokolade von der Torte tropfen ließ, als hätte er sich beim Herstellen der Torte verletzt? War das seine Art, Dr. Ernest Simmel zu sagen: Ich weiß, wer du wirklich bist, Kumpel. Aber ich werde dich nie verraten.

Sie hieß Birgit Ritter und leitete eine Kindertagesstätte in Essen. Vor knapp zehn Jahren hatte sie begriffen, dass ihre Ehe ein nicht mehr zu reparierender Trümmerhaufen war, und sich dafür entschieden, ihr Glück zu suchen, statt im Unglück auszuharren.

Es kam ihr vor wie eine Entscheidung auf Leben und Tod, eine Entscheidung für sie selbst. Es lag etwas Verbotenes darin, denn sie hatte so lange gebraucht, sich zu trauen.

Seitdem war vieles angenehmer geworden. Sie aß, worauf sie Lust hatte, sah sich die Filme an, die ihr gefielen, und niemand war beleidigt, wenn sie abends im Bett las oder Hörbücher hörte. Sie machte jedes Jahr vierzehn Tage Urlaub in Norddeich, und ein Tagesausflug nach Norderney war auch immer drin.

Manchmal schrieb sie Besprechungen über ihre Lieblingsbücher und veröffentlichte sie bei Lovelybooks. Einmal im Monat ging sie mit ihren Freundinnen in die Sauna. Sie genoss es, beflirtet zu werden. Endlich glaubte niemand mehr, ein Recht darauf zu haben, eifersüchtig zu werden.

Und jetzt saß sie hier auf dieser Bierbank mit Blick aufs Meer mit einem Mann, der behauptete, Dr. Bernhard Sommerfeldt zu sein, und sie hatte keinen Grund, an seiner Aussage zu zweifeln. Trotzdem wollte sie ihn einem kleinen Test unterziehen, und sei es nur, um ihren Freundinnen, die das alles sicherlich nicht glauben würden, hinterher etwas erzählen zu können.

Sie schlug ihm vor, ein Selfie zu machen. Er lehnte das lächelnd ab, und sie sagte: »Klar, verstehe schon. War blöd von mir.«

Sie lud ihn in ihren Strandkorb mit der Nummer 351 ein. Sie hatte extra einen gewählt, der weit von den Spielgerüsten entfernt war, denn sie fürchtete, dass sonst wieder die Erzieherin mit ihr durchgehen könnte. Auch wollte sie nicht gern von Eltern oder Kindergartenkindern aus Essen, die vielleicht auch hier Urlaub machten, erkannt werden. Norddeich-Zeit war private Zeit!

Die Zartheit, mit der er ihr vor dem Strandkorb den Rücken eincremte, hatte schon fast etwas von einem Vorspiel an sich.

Wie oft hatte Johann Baptist Reichhart andere Männer beobachtet … Er hatte versucht, von ihnen zu lernen. Er war nicht sehr erfolgreich. Meist hatte er für Sex bezahlen müssen, und im Grunde war es ihm auch lieber so, um in keinerlei emotionale Abhängigkeit zu geraten. Doch genau da hinein war er jetzt gerutscht.

Seine Desiree kümmerte sich gerade in Emden-Twixlum um ihre heiligen Tomaten und hatte ihm für heute Abend eine selbst gemachte Pizza versprochen. Er hoffte, es bis dahin hinter sich gebracht zu haben.

Desiree wusste nicht, wovon er wirklich lebte. Vielleicht ahnte sie es. Offiziell war er Handelsvertreter. Dies hier sollte sein letzter Job werden.

Zehn Millionen für Dr. Bernhard Sommerfeldt! Er musste schnell sein.

Hinter dem Kopfgeld waren viele her.

Im Grunde hatte er den Tipp sogar von Desiree. Eine Freundin hatte ihr erzählt, sie hätte eine Nacht mit dem berühmten Serienkiller verbracht. Sie hätte schon besseren Sex gehabt, aber eben nicht mit so einem berühmten Mann.

Er hatte sie angeblich in Greetsiel angesprochen, wo sie vor der Eisdiele saß und eins seiner Bücher las.

»Bitte erschrecken Sie nicht«, hatte er angeblich gesagt. »Das Buch ist von mir. Es sind ein paar böse Jungs hinter mir her. Können Sie mir helfen, mich zu verstecken?«

Johann Baptist glaubte diese Aussage und folgerte daraus, dass Sommerfeldt tatsächlich auf der Flucht war, verängstigt, vermutlich, weil er wusste, dass zehn Millionen auf seinen Kopf ausgesetzt worden waren. Er würde also misstrauisch sein und vorsichtig. Er sprach Frauen an, um ein wenig Sicherheit zu finden, aber er war nicht in der Lage, sich wirklich von Ostfriesland zu trennen. Auch das passte zu Sommerfeldt.

Als er sah, wie Sommerfeldt diese Frau bezirzte, stieg seine Lust darauf, ihn umzubringen, denn dieser Mann gehörte genau zu den Typen, die ihm immer die besten Frauen vor der Nase weggeschnappt hatten. Je weniger von den Typen herumliefen, umso besser würde es ihm gehen.

Die Leinenjacke mit dem Roman hatte er an den Strandkorb gehängt, so dass man die Hälfte des Covers von Totenstille im Watt immer noch sehen konnte. Sommerfeldt hatte also seine Angel schon wieder ausgeworfen. Johann Baptist Reichhart folgerte daraus, dass sich Sommerfeldt sehr sicher fühlen musste. Im Grunde war er ein Angeber, eine leere Dose, die laut klapperte. Ohne seine Bücher, ohne seinen Ruhm, wäre er nichts.

Gleichzeitig klingelten in Johann Baptist die Warnglocken. Unterschätz ihn nicht! Er hat sechs Morde gestanden und wahrscheinlich ein Dutzend begangen. Er ist immer wieder entwischt.

Doch so, wie er da im Strandkorb diese Frau beflirtete, machte er den Eindruck eines Mannes, der unvorsichtig und träge geworden war. Der nicht ständig das Umfeld beobachtete, um eine Gefahr schnell genug erkennen zu können. Er benahm sich nicht wie einer auf der Flucht. Eher wie ein Tourist, der auf ein Abenteuer aus war.

Jeder hat seine Schwachstellen, dachte Johann Baptist. Deine sind die Frauen. Und darüber wirst du stolpern, du blöder Angeber, du.

Noch heute wirst du mich reich machen!

Er schloss einen Moment die Augen und genoss die Sonne im Gesicht. Es fühlte sich an, als würde der Wind seine Wangen streicheln. Würde das in Zukunft sein Leben werden? Vielleicht zusammen mit Desiree? Nur noch Sonne, Meer, Freizeit und Genießen?

Er erschrak bei dem Gedanken und riss die Augen wieder auf. Wurde auch er müde und faul, unvorsichtig und träge? War er dabei, zum selbstgefälligen Henker zu werden, der sich auf seinem Ruhm ausruhte?

Sein eigentliches Ziel, so wie sein Vorbild Reichhart dreitausend Leute hinzurichten, hatte er eh aufgegeben. Er würde nie gegen den richtigen Johann Baptist Reichhart gewinnen. Der hatte schließlich in staatlichem Auftrag handeln dürfen. Erst für die Weimarer Republik, dann für die Nazis und schließlich für die Amerikaner. Das war ein ungleicher Kampf, den konnte er nicht gewinnen. Er war Freiberufler und stolz darauf. Er handelte nicht in staatlichem Auftrag. Er hatte kein System hinter sich. Er suchte sich seine Jobs selbst aus.

Er konnte es gar nicht abwarten, Sommerfeldt endlich hinzurichten, und befürchtete auch, es könne ihm selbst jetzt noch jemand anders zuvorkommen. Was, wenn plötzlich einer der Eis schleckenden Touristen da vorne aus seiner Jogginghose einen Revolver zog und in den Strandkorb feuerte? Dieser Idiot von Sommerfeldt ließ doch jeden ganz nah an sich ran. Jetzt zum Beispiel.

Ein schwer bepackter Mann mit einem stattlichen Bierbauch ging direkt an dem Strandkorb vorbei, in dem die zwei sich ständig neue Spiele in Sachen Haut ausdachten. Der Mann konnte eine Pumpgun unter der Decke tragen oder ein Samurai-Schwert.

Sommerfeldt beachtete ihn nicht einmal.

Johann Baptist ging davon aus, dass auch er selbst noch nicht bemerkt worden war, obwohl er sich die ganze Zeit in seiner Nähe aufhielt. Der hat nur Augen für die Frauen, dachte er, und genau das wird ihm jetzt das Genick brechen.

Was die beiden da im Strandkorb trieben, war inzwischen nicht mehr ganz jugendfrei und mit einer größeren Öffentlichkeit kompatibel. Sie erkannten das selbst und gingen Hand in Hand zwischen den Strandkörben auf dem kürzesten Weg zu ihrer Ferienwohnung.

Sie waren unabhängig, und sie waren scharf aufeinander.

Voller Neid und Missgunst schlich Johann Baptist ihnen nach.

In der Ferienwohnung angekommen, riss sie alle Fenster und Türen auf. Die Vorhänge flatterten nach draußen. Irgendein alter Muff musste raus, bevor die neue Liebe einziehen konnte.

Er überlegte ernsthaft, ob er ihnen ein bisschen Zeit lassen sollte. War es schöner, ihn jetzt sofort zu holen, oder sollte er ihm noch einen letzten Spaß gönnen, sozusagen die Henkersmahlzeit? Sie mussten eh beide sterben.

Was wird schöner, dachte er, was ist besser für mich? Wenn ich sie umbringe, während sie noch vor Sehnsucht brennen oder wenn sie schon erschöpft, vielleicht gar ein bisschen enttäuscht, nebeneinander liegen?

Auf dem Nachbargrundstück spielten Kinder. Ihre Mutter lag im Liegestuhl, löste Kreuzworträtsel und forderte die Kinder auf, nicht so laut zu sein und sich zu vertragen.

Die Mutter zog ihr Bikinioberteil aus und cremte sich mit einer Sonnenschutzmilch die weißen Brüste ein, um sich ein wenig oben ohne zu sonnen.

Er hätte ihr gern noch ein wenig zugesehen, wie sie sich so im Liegestuhl flegelte, als sei sie in einer Parallelwelt.

Kann ich das auch, dachte er, so entspannen und alles ausblenden?

Er hatte Angst, noch länger vor dem Haus herumzustehen. Die Gefahr, hier gesehen und später beschrieben zu werden, war einfach zu groß.

Er wollte sich nicht die Mühe machen, die Leichen zu entsorgen. Er würde sie einfach in der Ferienwohnung lassen. Natürlich würde die Kripo bei allen Nachbarn klingeln und fragen, ob sie etwas gesehen hätten.

Nein, er musste schnell handeln. Außerdem bestand auch die Gefahr, dass sie für ihre intime Zweisamkeit Fenster und Türen wieder schlossen.

Er musste seine Chance jetzt nutzen.

Er trat ins Wohnzimmer, hörte das Flattern der Vorhänge und das Kichern der zwei in der Küche.

»Einen Wunsch habe ich«, sagte sie gerade.

Markus Baumann war nur zu gern bereit, seiner neuen Eroberung lang gehegte sexuelle Wünsche zu erfüllen. Der Gedanke machte ihn scharf.

Doch sie sagte: »Würdest du denn für mich deine berühmte Fischsuppe kochen? Wenn ich das meinen Freundinnen erzähle, dass Dr. Bernhard Sommerfeldt für mich seine Fischsuppe gekocht hat, dann …« Sie verstand, dass ihm das nicht gefallen würde, und entschuldigte sich sofort: »Keine Sorge, ich erzähle es natürlich meinen Freundinnen nicht. Niemand wird jemals erfahren, dass wir beide hier … Aber deine Fischsuppe, das wäre wirklich das Größte!« Sie zitierte den Satz aus seinen Aufzeichnungen wörtlich: »Es ist viel schwieriger, eine gute Fischsuppe zuzubereiten, als an eine neue Identität zu kommen.«

Er hatte zwar mit ganz anderen Wünschen gerechnet, versprach aber: »Na klar mach ich für dich meine Fischsuppe. Ich würde sie selbst gern mal wieder essen. Aber dann muss ich vorher einkaufen gehen. Das ist riskant. Ich lasse mich nicht gerne in der Öffentlichkeit blicken im Moment.«

»Aber warum, dein neues Gesicht kennt doch noch niemand, oder?«, fragte sie erschrocken. »Wir haben doch auch gerade zusammen im Strandkorb gesessen und vor dem Haus des Gastes.«

Er merkte, dass er sich verhaspelt hatte. An einer anderen Stelle seines Körpers hatte sich so viel Blut angesammelt, dass für sein Gehirn nicht mehr genug übrig blieb. Er kannte das von sich. Kurz vorher begann er, Unsinn zu reden. Er musste jetzt schnell zur Sache kommen.

»Ich gehe für uns einkaufen«, schlug sie vor. »Schreib mir einfach alles auf, was du brauchst.«

Johann Baptist Reichhart zog die Stahlschlinge aus seiner Tasche und betrat die Küche.

Baumann stand mit dem Rücken zu Johann Baptist. Noch bevor er das Gesicht seines Mörders gesehen hatte, lag die Schlinge der Garotte bereits um seinen Hals.

Er fuchtelte mit den Armen herum, bog seinen Rücken durch, versuchte, das Seil zu greifen, und bekam keinen Ton heraus.

Birgit Ritter dagegen reagierte sofort. Sie schnappte sich die Teekanne vom Tisch. Ostfriesische Rose. Und sie griff ihn damit an. Noch nie in seinem Leben war Johann Baptist mit einer Teekanne attackiert worden. Die Stahlschlinge erforderte beide Hände.

Birgit traf ihn einmal an der Schläfe, und mit dem zweiten Schlag zerschmetterte sie die Kanne direkt an seiner Stirn.

Ihm wurde schwarz vor Augen. Sterne flogen auf ihn zu. Er sah sich taumeln. Die Garotte baumelte von Sommerfeldts Hals herunter wie eine Krawatte, deren Knoten nach einer langen steifen Feier endlich gelöst worden war.

Er hörte die Frau kreischen: »Hau ab! Hau ab! Ich halte ihn auf!«

Jetzt traktierte sie ihn mit einem Besenstiel. Wie eine Löwenmutter ihre Jungen verteidigt, so versuchte sie, den vermeintlichen Sommerfeldt zu schützen.

Dass die Garotte in die Ecke flog, erkannte Johann Baptist Reichhart am Geräusch. Er hatte Mühe, etwas zu sehen. Für einen Moment glaubte er, sein Gesicht sei voller Blut, doch es war nur der Rest Bünting-Tee, der über sein Auge gelaufen war.

Er versuchte, den Besenstiel zu fassen, mit dem sie wie mit einem Aikido-Stab nach ihm schlug und stach.

Natürlich hatte er Sommerfeldt für den stärkeren Gegner gehalten, doch mit ihr fertigzuwerden, war ein viel größeres Problem.

»Lauf, Bernhard, lauf!«, rief sie und rammte Johann Baptist die Spitze des Besenstiels in die Rippen. Der jaulte vor Schmerz.

So war es schon immer gewesen: Schmerzen befreiten sein Gehirn, halfen ihm, sich zu fokussieren. Er vergrub sein Gesicht in der Armbeuge, damit trocknete er gleichzeitig seine Augen und raffte sich auf. Zweimal traf ihn der Besenstiel am Kopf, noch einmal hörte er den Ruf: »Lauf, Bernhard! Ich werde schon fertig mit dem!«

Sie versuchte, ihm jetzt in die Weichteile zu treten. Zu seinem Glück traf sie nur seinen Oberschenkel.

»Er wollte mich umbringen«, rief Markus Baumann entsetzt. Er stürmte in Richtung Außenterrasse: »Ich rufe die Polizei!«, schrie er und tippte auf seinem Handy herum. Aber Birgit warnte ihn: »Du kannst doch nicht die Polizei rufen! Mein Gott, erinnere dich daran, wer du bist!«

Vielleicht war das der Moment, in dem ihr die ersten Zweifel kamen. Sie stürmte hinter ihm her. Auf dem Weg zur Terrasse stolperte Baumann über eine Falte im Teppich.

Sie stellte sich breitbeinig vor ihn, um ihn zu schützen.

Johann Baptist stach gnadenlos zu. Weil die Klinge so scharf war, spürte sie nicht einmal einen Schmerz. Sie sah nur, dass sich auf ihrem Shirt ein großer roter Fleck ausbreitete. Rückwärts stürzte sie über den Mann, den sie für Bernhard Sommerfeldt hielt. Ihre Beine lagen über seinem Bauch.

Johann Baptist kniete sich nieder, um Sommerfeldt den Hals durchzuschneiden. Er nahm sich vor, es zu genießen. Er setzte die Klinge an und sagte: »Weißt du, wie viel ich für dich kriege?«

Kalter Tee tropfte von seinem Kinn in Baumanns Gesicht.

»Ich bin’s nicht!«, rief Markus Baumann. »Sie töten den Falschen! Sie wollen bestimmt den richtigen Dr. Sommerfeldt! Ich bin doch nur …«

Johann Baptist zitierte Birgit: »Lauf, Bernhard, lauf! Sie ist bereit, für dich zu sterben. Für sie kriege ich gar nichts, aber für dich zehn Millionen. Gute Reise. Nimm’s nicht persönlich. Es ist rein geschäftlich.«

Markus Baumanns Körper zitterte. Er strampelte. Er leistete nicht die geringste Gegenwehr.

Einen Moment überlegte Johann Baptist, ob er Sommerfeldt enthaupten sollte, um den Kopf tatsächlich auf einem Silbertablett zu Klempmann zu bringen. Gleichzeitig schätzte er Klempmann als nicht sehr humorvoll ein.

Das viele Blut machte ohnehin schon eine große Sauerei. Er konnte so nicht nach draußen gehen, deshalb schloss er alle Fenster und Türen.

Birgit versuchte, ein paar Meter in Richtung Badezimmer zu kriechen, warum auch immer. Er gab ihr mit dem Messer den Rest.

Vorsichtshalber machte er von dem Mann, den er für den toten Sommerfeldt hielt, einige Fotos. Schließlich konnte sich jeder hinterher als Vollstrecker aufspielen und das Geld für sich beanspruchen.

Er schickte eine Nachricht an Willi Klempmann: Ich habe mir erlaubt, Ihnen eine große Freude zu machen.

Dann duschte er, wusch das Blut aus seinen Klamotten, reinigte alles, so gut es ging, nahm sich aus der Obstschale eine Banane und aß sie auf dem Weg zurück zu seinem Motorrad.

Es ist vollbracht, dachte er. Jetzt musste er nur noch zusehen, dass niemand versuchen würde, ihn um die zehn Millionen zu betrügen oder sie ihm abzujagen. Er brauchte neue Papiere, einen neuen Namen für sich und für Desiree. Und dann ein neuer Anfang. Ein neues Glück.

Er ging beschwingt, kaufte sich bei Riva ein Eis und schlenderte noch einmal zum Deich hoch, um aufs Meer zu schauen. Juist sah zum Greifen nah aus.

Er hatte das Gefühl, an einem Wendepunkt seines Lebens zu stehen. Es kam ihm so vor, als hätte er bisher gar nicht gewusst, wie man wirklich lebt, und deswegen einfach andere nachgemacht. Er hatte sich als Vorbild den letzten Henker, Johann Baptist Reichhart, ausgesucht und darüber vergessen, wer er wirklich war. Jetzt, vielleicht zusammen mit Desiree, könnte alles anders werden. Vielleicht würde er sich selbst finden und entdecken. Gleichzeitig kam ihm der Gedanke kitschig vor. Er gehörte eigentlich nicht zu den Leuten, die im Leben immer einen tieferen Sinn suchten. Die meiste Zeit war ihm alles sinnlos erschienen. Zufällig.

Er bestieg sein Motorrad, als sei er bereits ein neuer Mensch geworden. Die zehn Millionen würden ihm helfen, endlich so zu leben, wie er es sich immer gewünscht hatte: Frei und unabhängig!

Das Motorradfahren befreite seinen Kopf. Er liebte es, durch den Gegenwind zu zischen. Manchmal empfand er die Luft wie eine Mauer, in die er mit seiner Maschine eine Schneise schnitt, so, wie er mit seinem Messer einen Hals durchtrennte. Die Maschine zwischen den Schenkeln ließ seinen ganzen Körper vibrieren. Es hatte etwas Triumphales an sich, wenn er an den Autos vorbeirauschte. Er fühlte sich wie ein Gott, der Leben nehmen konnte und sich frei bewegte in Zeit und Raum.

Doch nach jedem Höhenflug folgte für Johann Baptist Reichhart der Absturz. Es war wie diese Leere, nachdem man Koks geschnupft hatte. Wenn man begriff, dass man doch kein unsterblicher Held war, dem alles gelang, sondern nur eine der gewöhnlichen Arschgeigen, die auf dieser Welt versuchten, einen Platz zu finden und etwas darzustellen.

Jetzt kamen ihm Zweifel. Klar, die Furie hatte ihn Bernhard genannt, aber er sah wirklich nicht aus wie Dr. Bernhard Sommerfeldt. Sicher, der hatte sich umoperieren lassen, keine Frage. Das war allgemein bekannt. Doch in seiner Vorstellung war Sommerfeldt ein Kämpfer. Sportlich. Muskulös. Ja, drahtig. Einer, der fünfzig Liegestütze am Morgen machte und in der Lage war, einen Mann mit einem einzigen Fausthieb zu fällen.

Gut, vielleicht hatte er sich mit der Zeit ein bisschen gehen lassen. Aus dem Serienkiller war ein Frauenheld geworden, und bestimmt hatte er auch ein paar Kilo zugenommen. Nicht nur aus Tarnungsgründen … Dass er Torten liebte und sich öfter mal in seinem Lieblingscafé ten Cate einen Baum- oder Apfelkuchen gegönnt hatte, war Teil der Legende. Aber hätte sich ein Sommerfeldt nicht anders verhalten? Hätte er nicht härter gekämpft? War der Mann, den alle fürchteten, so leicht zu besiegen?

Johann Baptist Reichhart war auf der Wirdumer Straße, Richtung Marienhafe, als das Handy in seiner Jacke über dem Herzen vibrierte. Kurz vor Loppersum hielt er an, stellte sein Motorrad zwischen zwei Bäumen ab, urinierte ins Gras und fischte sein Handy aus der Lederjacke. Er sah die Nummer auf dem Handy. Es war Klempmanns Erfüllungsgehilfin Christine, die anders hieß, aber sich so nannte, nach der von ihr verehrten Profi-Kickboxerin Christine Theiss.

Er hasste beide Frauen, von denen Klempmann sich beschützen ließ: Christine genauso wie Annika Schneider. Klempmann nannte sie meine Engelchen. Für Fremde sah es aus, als würde ein Vater mit seinen Töchtern spazieren gehen.

In Wirklichkeit waren sie eiskalt und berechnend.

Wenn ich in Klempmanns Situation wäre, dachte er, würde ich mich auch lieber von zwei schönen Frauen als von zwei schäbigen Kerlen beschützen lassen.

Er behandelte sie, als seien sie sein Besitz, aber sie taten es genauso mit ihm. Nach außen hin wirkte es so, als würde Klempmann ihnen gehören. Man kam nicht an ihn ran, ohne von den beiden durchgecheckt zu werden. Sie entschieden, wer in seine Nähe durfte, und sie gaben sich Mühe, jeden Besucher einzuschüchtern. Von Anfang an sollte ganz klar sein, dass sie jeden töten würden, der es wagte, die Hand gegen Klempmann zu erheben.

Christine Theiss war in Baptists Augen eine kaltschnäuzige Ziege. Widerwillig rief er sie zurück. Vermutlich würde sie ihm die zehn Millionen übergeben.

Dieser Traum platzte schon, als er ihren Atem hörte, noch bevor sie das erste Wort gesagt hatte. Da war etwas Überhebliches in ihrer Stimme, wenn sie mit ihm sprach, so als sei er für sie ein Idiot, dessen Dienste sie nur in Anspruch nahm, weil sie sich zu solch niedrigen Tätigkeiten nicht herablassen wollte.

»Wir kaufen nur das Original. Man hat uns schon viele Fälschungen angeboten. Ein Gutachter muss das Gemälde zunächst überprüfen«, erklärte sie, als ginge es hier darum, ein Kunstwerk zu verkaufen.

Klempmanns Leute waren geschult darin, Gespräche zu führen, die von Fahndungsgruppen ruhig abgehört werden konnten. Vor Gericht lieferten sie keine Beweise. Man redete über Reisen, Kunst, Partys – sogar Zoo- oder Theaterbesuche.

Diese Gespräche erinnerten ihn immer an den Deutschunterricht. Man redete über Tiere, meinte aber Menschen. Christine redete über Bilder, meinte aber einen Mord.

Für Interpretationen konnte niemand verurteilt werden. Nur für klare Aussagen. Dieses Gespräch war also, juristisch gesehen, nicht gerichtstauglich.

Er antwortete und bemühte sich um eine feste Stimme. Sie durfte seine Zweifel auf keinen Fall spüren: »Das Gutachten wird bestimmt bald öffentlich bekanntgegeben. Wenn ein wertvolles Objekt wie dieses den Besitzer wechselt, steht das bestimmt in der Fachpresse.«

»Wir können im Moment keinen Gutachter schicken. Sie haben hier die Bringschuld.«

Er schluckte und lachte demonstrativ: »Bringschuld?«

Glaubte sie ernsthaft, er würde die Leiche jetzt zu Klempmanns Yacht karren? Wollten sie ihn um sein Geld betrügen?

Ich hätte ihm doch den Kopf abschneiden sollen, dachte er, um ihn Klempmann auf einem Silbertablett zu präsentieren.

»Es ist nicht ungefährlich, ein so wertvolles Objekt zu transportieren … Da müssen auch Versicherungsfragen geklärt werden …«

Spitz stellte Christine fest: »Wie gesagt, ein Foto genügt uns nicht. Sie haben die Bringschuld. Wenn Sie beweisen können, dass Sie das Original haben, sind wir im Geschäft, ansonsten stehlen Sie uns bitte nicht länger unsere Zeit.«

Sie beendete das Gespräch ohne irgendeine freundliche Floskel. Vermutlich war irgendein Zeitlimit überschritten, das man brauchte, um sie zu orten. Klempmann hatte die merkwürdigsten Regeln aufgestellt. Einige davon waren längst obsolet geworden, weil die moderne Technik seine Sicherheitsvorkehrungen aushebelte. Doch er hielt an ihnen fest.

Johann Baptist Reichhart fuhr wieder zurück nach Norddeich. Diesmal konnte er die Motorradfahrt nicht genießen. Er brauchte sie mehr, um seine Wut abzubauen.

Plötzlich fand er die laute Maschine verräterisch. Er stellte sie im Dörper Weg an der Tourismuszentrale bei den Fahrradständern ab und ging den Rest zu Fuß.

Er musste irgendetwas kaputt machen. Die kurze Fahrt hatte wenig geholfen. Er kochte vor Wut. Am liebsten hätte er dieser Christine den Hals durchgeschnitten. Er hoffte, Klempmann würde ihm eines Tages den Auftrag dazu erteilen, weil sie zu viel wusste und drohte, zur Verräterin zu werden. Wer Gangsterbossen sehr nahekam, war selten lange sicher.

Es wäre ihm eine Genugtuung, einen solchen Auftrag zu erledigen.

Er musste etwas zerstören, seine Wut an etwas auslassen. Ein kläffender Hund wäre jetzt genau das Richtige gewesen. Die Möwen über ihm waren unerreichbar und schienen ihn auszulachen.

Er stellte sich vor, wie es wäre, hier eine Ferienwohnung zu mieten, ganz oben unterm Dach, und von dort aus mit einem Gewehr Möwen abzuschießen. Das war spannender als Tontaubenschießen. Diese öde Ballerei hatte ihm nie Spaß gemacht. Er brauchte ein lebendes Objekt.

Es wäre leicht gewesen, anders ins Haus zu kommen. Es gab viele professionelle Möglichkeiten, doch er trümmerte seinen Ellbogen wie ein zorniger Amateur gegen die Glasscheibe im Wohnzimmer. Der Schmerz durchfuhr ihn wie ein Blitz.

Warum mache ich so etwas, fragte er sich. Mein Gelenk wird anschwellen und wochenlang weh tun. Ich werde Voltaren brauchen und Schmerztabletten und lange an diesen Mist erinnert werden. Das war völlig unprofessionell. Geradezu idiotisch. Ich will doch genau das Gegenteil sein: Klar. Kalt. Berechnend. Nicht von Emotionen getrieben.

Aber diese Christine machte ihn rasend. Er hielt es nicht aus, dass eine Frau glaubte, Macht über ihn zu haben. Das stürzte ihn zurück in schlimmste Kindheitserinnerungen. Dies hier war auch ein Kampf um Autonomie und darum, sein Leben selbst zu bestimmen. Für ihn war es unmöglich, irgendwo angestellt zu sein. Er konnte keinen Chef über sich akzeptieren. Er war ein Jäger. Er machte Beute. Ein Freelancer. Einer, der nur eine Partei kannte: seine eigene.

Als müsse er sich beweisen, wie blöd er sein konnte, schlug er nun auch noch ein paar herausstehende große Splitter mit dem Ellbogen aus dem Rahmen. Dann griff er durch zur Klinke und öffnete das Fenster.

Er zog seine Motorradhandschuhe aus und zwängte seine Finger in blaue Chirurgenhandschuhe. Das Geräusch hörte sich an, als würde er ein Präservativ über sein Glied streifen.

Er betrat das Wohnzimmer und sah sich sein Werk an. Er mochte Frauen, die etwas mehr auf den Hüften hatten. Die hier hätte ihm auch gefallen können. Doch seit er Desiree in seinem Leben hatte, interessierte er sich nicht mehr für andere Frauen. Er hatte sogar die Lust verloren, sich Sex zu kaufen. Mit ihr und Willi Klempmanns zehn Millionen wäre er endlich frei.

Plötzlich ergriff ihn ein fast zärtliches Gefühl für Birgit Ritter. So sollte die Polizei sie nicht finden. Er bedeckte sie mit einer bunt gemusterten Wolldecke und ordnete ihre Haare.

Er holte ein Schneidebrettchen aus der Küche und überlegte sogar einen Moment, eins der Küchenmesser zu benutzen, doch dann entschied er sich dagegen. Er nahm sein eigenes, um Dr. Bernhard Sommerfeldt den kleinen Finger der rechten Hand abzuschneiden.

In der Küche fand er Brötchentüten. In einer lag noch ein angebissenes Schokocroissant. Plötzlich brach der kleine Junge in ihm durch. Er biss in das Croissant. Es schmeckte ihm. Er wollte es gerade weglegen, doch dann befürchtete er, aus seinem Biss könne die Kripo Rückschlüsse ziehen, ja vielleicht gar seine DNA herausfiltern. Er aß also das Croissant in Ruhe komplett auf, wischte sich den Schokomund ab und benutzte dann die Tüte, um den kleinen Finger zu transportieren.

Plötzlich entschied er sich um. Es gab auch zwei Butterbrotdosen in der Ferienwohnung. Eine gelbe und eine blaue. Er nahm die blaue.

Je schneller sie Sommerfeldt finden würden, umso eher würde es in der Zeitung stehen. Die Berichterstattung könnte ihm nutzen, die Millionen abzukassieren. Also ließ er die Wohnungstür sperrangelweit auf, als er die Wohnung verließ.

Er ging über den Dörper Weg zurück zur Touristeninformation, verstaute die Butterbrotdose mit dem kleinen Finger darin in seiner Motorradtasche und fuhr zu seiner Desiree.

Alles wird gut werden, dachte er. Ich bin ganz kurz davor. Mit den zehn Millionen werde ich ein neues Leben beginnen. Ich will nicht länger Johann Baptist Reichhart sein. Ich schaffe es eh nicht, mehr als dreitausend Leute umzubringen. Ich werde nie so weit kommen wie mein Vorbild, der berühmte Henker. Soll er doch dieses Spiel gewonnen haben, und ich mache mir dafür ein schönes Leben mit Desiree.

Er würde ihr die Wahl des Wohnorts überlassen. Sie konnten auf der ganzen Welt von vorn anfangen. Doch er befürchtete, so wie er sie kannte, würde sie am liebsten in Twixlum bleiben, im Haus ihrer Großeltern. Sie war auf eine merkwürdige Art heimatverbunden, etwas, das ihm immer gefehlt hatte. Sie wusste, wo sie hingehörte. Er nur, wo er nicht sein wollte.

Im Grunde wollte er nicht einmal er selbst sein, sondern immer ein anderer. Vielleicht könnte er mit Desiree der werden, der er nie gewesen war.

Janine Feldhaus studierte im fünften Semester Germanistik, Kunstgeschichte und Philosophie. In der Saison arbeitete sie gern in Ostfriesland als Aushilfskellnerin oder auch in einer Putzkolonne. Sie scheute Arbeit nicht, mochte den Umgang mit Menschen und das Gefühl, ihren Lebensunterhalt selbst zu verdienen.

Wenn die Nordrhein-Westfalen Ferien hatten, waren in Ostfriesland Servicekräfte knapp. Tagsüber arbeitete sie beim Gebäudereinigungsservice Die Nordseehexe, säuberte Ferienwohnungen und hatte das Gefühl, dabei viel über Menschen zu lernen. Die Art, wie sie ihre Ferienwohnungen verließen und was sie zurückließen, erzählte einiges über die Menschen.

Sie stellte sich vor, wer hier gewohnt hatte, warum dort ein zerrissenes Micky-Maus-Taschenbuch im Papierkorb lag, wie die Socken in die Couchritze kamen und warum das Schlafzimmer so wirkte, als hätte hier nur eine Person geschlafen.

Viele ließen für die nächsten Gäste etwas zurück. Wahrscheinlich meinten sie es sogar gut, wenn sie Butter oder Aufschnitt im Kühlschrank liegen ließen. Aber es gab Auflagen in Sachen Hygiene vom Gesundheitsamt. Außer Pfeffer und Salz und vielleicht ein paar Kaffeefiltertüten und Teebeuteln durfte sie nichts in den Wohnungen lassen. Alles andere galt als Müll und musste entsorgt werden.

Sie nahm sich oft Sachen mit und hatte dabei das Gefühl, Lebensmittel zu retten, wie sie es nannte. Außerdem wirkte sich das alles sehr positiv auf ihre Kasse aus. Filterkaffee musste sie sich fast nie kaufen, es blieb meist Kaffee zurück, Tee sowieso. Sie trank keine Kuhmilch, aber immer häufiger ließen die Leute auch Hafer- oder Mandelmilch da.

Einmal hatte sie einen Liebesbrief gefunden. Sie hatte es nicht übers Herz gebracht, ihn wegzuwerfen. Tagelang hatte sie mit sich gehadert, ob sie ihn an die Frau, an die er gerichtet war, schicken sollte. Oder würde sie ihr damit nur Schmerz bereiten? Aber sie hatte den Brief eben nicht weggeworfen, sondern er lag unterm Kopfkissen in ihrem Bett.

Diesen Morgen würde sie nie vergessen.

Sie hatte bis fast zwei Uhr im Bett gelesen. Wenn ein Buch sie richtig gefangennahm, konnte sie nicht aufhören. Es fielen ihr sogar manchmal die Augen zu, aber dann erwachte sie wieder, suchte die Stelle, wo sie aufgehört hatte, und versuchte, wenigstens noch bis zum Ende des Kapitels zu kommen.

Manchmal träumte sie von dem, was sie gelesen hatte. Sie wurde zu einer der handelnden Personen. Nicht immer war sie dabei die Gute. In ihrem Leben war sie es zweifellos, doch in ihren Träumen identifizierte sie sich manchmal mit den Antagonisten, den bösen, verschlagenen Typen, mit gerissenen Frauen, die Männer benutzten und egoistisch ihr Ding durchzogen, ohne Rücksicht auf den Rest der Welt. Im wirklichen Leben war sie immer bemüht, niemanden zu verletzen und keinen Schaden anzurichten. Sie nahm sich eher zurück, als in die erste Reihe zu treten, suchte eher den Ausgleich als den Konflikt.

An diesem herrlichen Sommertag stand die Wohnungstür weit offen, aber das war nicht ungewöhnlich, wenn Gäste ihre Ferienwohnung verließen. Die, die vergaßen abzuschließen, waren ihr lieber als die, die aus Versehen den Schlüssel mitnahmen, dafür aber ihren eigenen auf dem Küchentisch neben der Kaffeetasse liegen ließen.

Einige räumten vorher noch die Spülmaschine aus, und das gesamte Geschirr stand wieder sauber im Regal, andere dagegen hatten kein Problem damit, einen wüsten Frühstückstisch mit halbvollen Tassen und verkrümelten Tellern zurückzulassen.

All das nahm Janine gelassen hin. Sie war einiges gewöhnt. Doch zwei Leichen hatte sie noch nie gefunden.

Sie schrie nicht. Es war, als würde sie aus ihrem Körper treten und sich selbst von außen betrachten.

Was denkt eine Frau, die plötzlich vor zwei Toten steht, fragte sie sich.

Es war, als würde das Ganze nicht ihr geschehen, sondern vielleicht einer Freundin.

Was, dachte sie, ist jetzt richtig? Rausrennen? Um Hilfe schreien? Nach den beiden gucken, ob vielleicht noch jemand lebt? Erste Hilfe leisten?

Wobei ihr völlig klar war, dass beide tot waren und sie nicht in der Lage gewesen wäre, jemanden mit einer Mund-zu-Mund-Beatmung zu retten.

Ja, sie hatte das geübt, und die Vorstellung, einem Menschen in größter Not zu helfen, gefiel ihr. Doch jetzt spürte sie, dass sie nicht in der Lage dazu wäre. Da war viel zu viel Blut. Ein bisschen hoffte sie sogar, dass die beiden tot waren und so keine Hilfe von ihr benötigten.

Ruft man erst die Polizei? Erst einen Krankenwagen? Musste sie ihren Arbeitgeber informieren, weil gleich bei den nächsten Ferienwohnungen ja ein gewisser Zeitdruck da war? Die einen zogen aus und wollten so lange wie möglich drinbleiben, die anderen wollten so schnell wie möglich rein und dann sofort ab an den Strand.

Sie konnte sich nicht vorstellen, heute weiterzuarbeiten. Irgendwie war dieser Tag ein Einschnitt in ihrem Leben. Nichts wäre mehr so wie vorher. Plötzlich kam ihr ihr bisheriges Dasein als Easy Living vor. Alles war geregelt und lief gut, niemand wollte ihr etwas Böses. Die wirklich schlimmen Dinge fanden woanders statt. In Büchern. In Filmen. Oder in Ländern, die sie nie besucht hatte.

Sie hätte nicht sagen können, wie lange sie so herumgestanden hatte. Dann ging sie nach draußen vor die Tür, um dort zu telefonieren. Einerseits fühlte sie sich dort sicherer, andererseits quälte sie der Gedanke, die Toten im Stich zu lassen.

Sie rief zunächst die Polizei an. Sie sprach mit einer gewissen Marion Wolters, die sehr freundlich war, ja einfühlsam, und genaue Daten abfragte. Vielleicht weil die Kommissarin so nett war, begann Janine plötzlich zu schluchzen. Es brach aus ihr heraus: »Ich weiß gar nicht, was ich jetzt machen soll …«

»Sie müssen gar nichts machen. Warten Sie einfach dort«, sagte Marion Wolters. »Sie können auch gern psychologische Hilfe in Anspruch nehmen. Wir haben dafür …«

»Nein, das meine ich gar nicht. Ich weiß gar nicht, wie ich jetzt weitermachen soll. Ich bin doch gekommen, um die Wohnung zu putzen. Ich kann das nicht! Da ist so viel Blut …«

»Oje«, Marion Wolters versuchte sofort, sie zu bremsen. »Das dürfen Sie auch gar nicht. Das ist jetzt ein Tatort.«

»Ja, aber ich werde doch dafür bezahlt, dass ich …«

»So ein Verbrechen ist immer ein Einschnitt. Da geht das normale Tagwerk nicht weiter«, erklärte Marion Wolters. »Ihre Chefs werden Verständnis dafür haben. Das müssen sie sogar … Sobald die Kollegen da sind, wird alles abgesperrt werden, dann kommen Spurensicherer, Notärzte und …«

»Warum«, fragte die junge Frau, »habe ich in dieser Situation das Gefühl, alles falsch gemacht zu haben?«

»Sie haben nichts falsch gemacht.«

»Ja, das weiß ich ja, aber warum fühlt es sich so an, als sei ich daran schuld, dass da drin zwei Leichen liegen?«

Marion Wolters kannte das. Manche Menschen fühlten sich an etwas schuldig, was gar nichts mit ihnen zu tun hatte, ja was sie nicht einmal beeinflussen konnten. Andere dagegen fühlten sich nicht mal verantwortlich für den Scheiß, den sie selbst verzapft hatten. Sie ließen ihren Müll rumliegen, als sei der Rest der Welt dazu da, hinter ihnen aufzuräumen. Sie hinterließen in Beziehungen verbrannte Erde und kümmerten sich einen Dreck um den Schaden, den sie angerichtet hatten.

Am liebsten hätte Marion Wolters die junge Frau in den Arm genommen. Stattdessen schickte sie die Einsatzwagen nach Norddeich.

Frank Weller redete vor der Tür mit Janine Feldhaus. Sie hatte sich ins Gras gesetzt, und er hockte sich zu ihr. Sie trank Leitungswasser aus einer Plastikflasche und musste nach jedem zweiten Satz einen Schluck nehmen.

Ann Kathrin Klaasen betrat den Tatort als Erste. Es war, als würden Mord und Verbrechen wie alte Spinnennetze im Raum hängen, und sie müsse sich erst einen Weg durch den verstaubten Vorhang bahnen. Sie sog die Luft ein. Da war dieser metallische Blutgeruch, ein bisschen nach Kupfer. Dazwischen ein unangenehmes Rasierwasser, viel zu scharf, wie Männer es manchmal benutzten, um ihre Alkoholfahne zu übertünchen.

Was war hier geschehen?

Dem Mann war auf einem Brettchen der kleine Finger abgeschnitten worden. Die beiden Toten lagen merkwürdig verrenkt. Hier hatte ein Kampf stattgefunden.

Die Frau war fast liebevoll zugedeckt worden, so als würde es dem Täter leidtun oder als würde er sich schämen für das, was er angerichtet hatte.

Ann Kathrin war immer froh, wenn sie vor den KTUlern und der Spurensicherung vor Ort war. So konnte sie den Tatort betrachten, ohne herumwuselnde Leute, irritierende Schildchen, Pülverchen und Pröbchen. Für Minuten war es dann fast so, als könnten die Wände zu ihr sprechen. Sie erzählte das nicht, sie wollte schließlich nicht ausgelacht werden. Doch diese kurze Zeit allein am Tatort war für sie sehr wertvoll. Später dann zerfetzten Kollegen mit ihrer Geschäftigkeit die Aura des Verbrechens.

Hinter ihr betrat, in ihren Augen viel zu früh, Helmut, der Kollege von der KT, in einem weißen Schutzanzug die Ferienwohnung.

Sie konnte Helmut nicht leiden. Sie lehnte ihn so sehr ab, dass sie sogar seinen Nachnamen immer wieder vergaß. So, wie er Frauen ansah und über sie sprach, gehörte er ihrer Meinung nach überhaupt nicht in den Polizeidienst. Er hatte nie etwas getan, was dienstrechtlich von Belang gewesen wäre, doch ihr gefiel seine Denke nicht. Er zog Frauen gern mit Blicken aus, reduzierte sie auf ihre Sexualität und kommentierte gern Körperformen, ja verteilte Noten. Es ging das Gerücht, dass er von den weiblichen Leichen gern Fotos als Andenken mit nach Hause nahm und sogenannte Muschibilder sammelte. Es war nur ein Gerücht, aber sie hatte sich fest vorgenommen: Sollte sie ihn auch nur ein einziges Mal dabei erwischen, wäre das das Ende seiner Karriere.

Er hatte Probleme im sozialen Umgang mit Menschen, deswegen waren ihm Tote und Gegenstände lieber. Nie wäre er in der Lage gewesen, ein Verhör zu führen, wie sie es tat, oder jemanden zum Reden zu bringen. Im Gegenteil – dort, wo er auftauchte, verstummten die Menschen oft. Niemand hörte ihm gern zu. Er wusste das genau und kämpfte zumindest um die Anerkennung von Männern, indem er zotige Bemerkungen machte. Damit kam er aber längst nicht bei allen gut an.

Er lüftete die Decke, mit der Birgit Ritter zugedeckt worden war, sofort. Als Ann Kathrin sah, wie er die Tote betrachtete, hätte sie ihm am liebsten eine reingehauen. Sie tat es nicht. Sie versuchte, ihn einfach zu ignorieren und ihre Arbeit zu machen, doch er ermahnte sie, den Tatort nicht mit ihrer DNA zu kontaminieren.

Ann Kathrin würdigte ihn keines Blickes mehr. Sie ging in die Küche. Sie versuchte, für sich zu rekonstruieren, was geschehen war.

Die Blutspuren zeigten ein deutliches Bild. Ann Kathrin vermutete, dass der Täter mit dem abgeschnittenen Finger in die Küche gegangen war. Die Blutstropfen deuteten darauf hin.

Er musste längere Zeit an der Arbeitsplatte gestanden haben. Möglicherweise hatte er Schubladen auf- und zugezogen. Ann Kathrin entdeckte Croissantkrümel.

War es möglich, dass der Täter hier im Stehen gegessen hatte, mit dem abgeschnittenen Finger des Toten in der Hand?

Janine Feldhaus erinnerte Frank Weller an seine eigenen Töchter. Am liebsten hätte er sie nach Hause gefahren und ihr vorher noch ein Eis ausgegeben.

Helmut rief hinter Ann Kathrin her: »Fassen Sie bitte nichts an, Frau Klaasen! Lassen Sie uns erst unsere Arbeit tun! Herrgott nochmal, wie oft muss ich das sagen?«

Er hatte nicht bemerkt, dass Weller bereits hinter ihm stand. Er überprüfte gerade, ob Birgit Ritter einen Slip trug oder nicht. Weller ermahnte ihn genervt: »Wenn du irgendein Problem mit uns hast, dann nur frei raus damit. Ich habe nämlich auch eins mit dir.«

Helmut blickte zu Weller hoch. »Was soll das heißen?«

»Wir können das auch gleich hier klären«, schlug Weller vor.

»Willst du dich mit mir prügeln? Am Tatort?«

»Nein«, korrigierte Frank ihn, »ich würde vorschlagen, wir gehen vorher raus in den Garten.«

Ann Kathrin hatte den Dialog gehört. Sie mochte es nicht, wenn ihr Ehemann Frank sich ständig mit breiter Brust vor sie stellte, um sie zu verteidigen, denn sie glaubte, so etwas gar nicht nötig zu haben, war aber gleichzeitig gerührt davon. Sie ermahnte die beiden Männer: »Wir sind Polizisten! Wir haben hier einiges zu erledigen. Gehen wir das bitte so professionell wie möglich an.« An Frank gewandt, sagte sie: »Fragen wir uns, was hier geschehen ist!«

Ann Kathrin ließ die beiden stehen und ging ins Badezimmer.

»Ja, will die jetzt hier zum Klo?«, fragte Helmut.

Frank ballte seine rechte Faust. Das reichte als Drohung vollkommen aus.

Ann Kathrin rief aus dem Bad: »Frank, komm doch mal!«

Er war sofort bei ihr, bemühte sich dabei aber, nicht in irgendwelche Blutlachen zu treten. Sie zeigte auf die Handtücher, die Feuchtigkeit an den Wänden und sagte: »Wenn mich nicht alles täuscht, hat der Täter hier geduscht, nachdem er die beiden getötet hat.«

An einem Handtuch, das auf dem Boden lag, glaubte Ann Kathrin eine verwaschene Blutspur zu erkennen.

Aus dem Wohnzimmer rief Helmut: »Ja, es kann aber auch sein, dass sich der Tote heute Morgen beim Rasieren geschnitten hat. Herrje! Das ist doch alles nur Spekulatius! Wir müssen erst die Blutgruppen überprüfen, DNA und …«

Weller schloss die Tür zum Badezimmer, um Helmut nicht länger hören zu müssen. »Es ist unerträglich mit dem«, grummelte er. »Können wir nicht mit unserer Chefin reden, ob wir einen anderen Partner bekommen?«

»Er ist nicht unser Partner. Er ist einfach nur ein blöder Typ. Warum soll es bei der Polizei anders sein als im Rest der Gesellschaft? Wir sind halt auch nur ein Spiegel des Ganzen. Alles Gute, Schlechte und Dämliche, das es im ganzen Land gibt, gibt es auch bei uns.«

»Als ich zur Polizei ging«, sagte Weller, »da dachte ich, ich hätte mich für die Seite der Guten entschieden. Ich wusste nicht, dass da auch solche Arschlöcher herumlaufen.«

Ann Kathrin zuckte mit den Schultern. Frank kam zum Fall zurück: »Die Tote ist mit hoher Wahrscheinlichkeit Frau Birgit Ritter aus Essen. Dort war sie Leiterin einer Kita. Sie hat die Ferienwohnung bis heute gemietet. Sie ist geschieden. Vielleicht hat sie hier mit ihrem Freund Urlaub gemacht, und das hat ihn dann das Leben gekostet. Wir wissen noch nichts über seine Identität.«

Ann Kathrin schüttelte den Kopf und deutete auf die Ablage über dem Waschbecken: »Da ist nur eine Zahnbürste, Frank, und alles, was du hier siehst, sind deutlich weibliche Toilettenartikel. Ich bezweifle, dass sie hier mit einem Mann gewohnt hat. Vielleicht hat sie ihn gerade erst kennengelernt und auf einen Kaffee eingeladen.«

»Oder«, gab Frank zu bedenken, »sie hat eine Urlaubsbekanntschaft gebeten, mit in ihre Ferienwohnung zu kommen, weil sie Angst hatte, sich verfolgt fühlte oder so.«

Ann Kathrin war anderer Meinung: »Nein, Frank, es ging nicht um sie. Es ging um ihn. Der Täter hat ihm, warum auch immer, einen Finger abgeschnitten.«

»Ein Trophäenjäger?«

Ann zuckte mit den Schultern: »Das Ganze kommt mir sehr merkwürdig vor.«

Helmut öffnete die Badezimmertür und mischte sich ein: »Wollt ihr hier alleine sein oder was? Habt ihr keine eigene Wohnung? Das ist doch eine ganz klare Situation. Ein Einbrecher. Er hat die Scheibe eingeschlagen, ist von den beiden erwischt worden, und dann die typische Verdeckungstat.«

Ann Kathrin verzog den Mund. Solche voreiligen Schlussfolgerungen machten sie ziemlich sauer und bewiesen aus ihrer Sicht nicht mehr als die Inkompetenz des Kollegen. »Ja, ganz typisch bei einer Verdeckungstat ist, dass man einem Opfer den Finger abschneidet und ihn vorher mit einer Garotte würgt …«

Helmut hob die Hände, als würde er sich ergeben: »Schon gut, schon gut, Frau Kommissarin, ich wollte mich nicht in Ihre Arbeit einmischen. Aber es ist doch augenscheinlich, dass …«

Ann Kathrin führte Weller an Helmut vorbei aus dem Badezimmer und zeigte auf die Scherben am Boden. »Die Scheibe wurde eingeschlagen, nachdem bereits Blut auf den Boden gespritzt war.«

Weller bückte sich, betrachtete alles aus der Nähe und nickte. »Ja, Ann, stimmt.«

»Und was bedeutet das?«, fragte Helmut.

»Dass der Täter zurückgekommen ist. Und diesmal war er in Eile. Irgendetwas stimmte noch nicht. Er hatte noch etwas zu erledigen. Ich vermute, er hat erst dann den Finger abgeschnitten und die Frau zugedeckt.«

»Langsam«, rekapitulierte Weller, »du meinst, hier bricht einer ein, tötet die beiden, duscht dann in Ruhe, haut ab, kommt nach einer Weile zurück, schlägt die Scheibe ein, statt über den Weg zu gehen, den er vorher genommen hat, schneidet dem Mann einen Finger ab, deckt die Frau zu und verschwindet dann wieder?«

»Nicht ganz«, sagte Ann. »Beim ersten Mal ist er nicht eingebrochen. Entweder sie haben ihn hereingelassen, oder eine Tür stand offen. Ich vermute, so oder so ähnlich muss es gewesen sein.«

Weller guckte ratlos: »Aber warum macht einer so etwas?«

»Wenn wir das herausfinden, sind wir ihm schon sehr nahe gekommen.«

»Ja«, lästerte Helmut, »ich höre schon die Handschellen klicken.«

Weller durchsuchte Markus Baumanns Jacke, die in der Küche über dem Stuhl hing. Er fand den Roman Totenstille im Watt. Keinen Ausweis, keine Papiere, aber zwei in Folie gehüllte Illustriertenseiten über Dr. Bernhard Sommerfeldt. In der rechten Jackentasche ein Handy.

Weller wusste, dass das, was er jetzt machte, nicht ganz legal war, aber er empfand alle Regeln und Gesetze, die die Polizei an der Aufklärung eines Verbrechens hinderten, als Störmanöver aus Gangsterkreisen.

Er ging mit dem Handy zum Toten. Dabei trat er versehentlich in eine Blutlache, was Helmut zu einem Aufschrei veranlasste. Weller hielt das Handy vor Markus Baumanns Gesicht.

»Was machen Sie da, verdammt?«, brüllte Helmut.

Weller sah ihn grinsend an: »Gesichtserkennung. Oder wollen wir tagelang warten, bis irgendwelche Spezialisten das Passwort für uns knacken, nachdem Richter und Staatsanwaltschaft unterschrieben haben, dass wir das auch dürfen? Sieh an«, lachte Weller, »Sesam öffne dich! Schon liegt uns die digitale Welt zu Füßen.«

Helmut spottete: »Das ist die ostfriesische Art des Datenschutzes, was?«

Weller deutete an, er solle den Mund halten und lieber seine Arbeit tun.

Zunächst durchstöberte Weller die WhatsApp-Nachrichten der letzten Tage.

»Na bitte, jetzt wissen wir doch schon einiges. Er heißt Bernhard, und er chattet mit verschiedenen Frauen.« Weller pfiff leise. »Der geht aber ganz schön ran, der Bursche.«

Rupert wurde es bei der Dienstbesprechung ganz anders, und das lag nicht nur an seinem Iliosakralgelenk. Er rieb sich den Rücken und wusste kaum, wie er sitzen sollte. Er brauchte dringend eine Behandlung bei der Heilpraktikerin Sabine Hartig. Sie hatte ihn immer wieder hingekriegt, und das, ohne ihm dabei besonders weh zu tun. Wenn ihn solche Rückenschmerzen quälten, fühlte er sich immer als alter Mann, und dieses Gefühl gefiel ihm überhaupt nicht. Es war schlimmer als der Schmerz.

Was hier bei der Dienstbesprechung auf den Tisch kam, bereitete ihm zusätzlich Magendrücken. Er ahnte Zusammenhänge, die die anderen noch nicht sahen, und er machte sich Sorgen um seinen Freund Bernhard Sommerfeldt. Ja, er scheute sich nicht, wenn er über ihn nachdachte, ihn Freund zu nennen. In der Öffentlichkeit hätte er das natürlich nie getan, doch sie hatten sich gegenseitig das Leben gerettet und mehrfach vor viel Ärger bewahrt. Gerade erst war er Trauzeuge bei dessen Hochzeit gewesen, und Sommerfeldt war jetzt mit der Frau verheiratet, die Rupert einmal sehr viel bedeutet hatte: Frauke.

Polizeidirektorin Elisabeth Schwarz fasste die Ermittlungsergebnisse zusammen: »Wir haben in der Ferienwohnung in Norddeich zwei Leichen gefunden. Die der Erzieherin Birgit Ritter aus Essen und die des Verwaltungsangestellten Markus Baumann aus Meppen. Woher die beiden sich kannten oder wie sie zueinander standen, wissen wir bisher nicht. Herrn Baumann wurde ein Finger abgeschnitten. Er wurde mit einem Stahlseil gewürgt und schließlich erdolcht …«

Weller räusperte sich: »Na ja, wir wissen schon etwas über deren Beziehung. Also, sie haben sich ziemlich heiße WhatsApp-Nachrichten geschickt. Merkwürdigerweise nannte er sich darin aber nicht Markus, sondern Bernhard.«

»Wie sind wir an diese WhatsApp-Nachrichtenwechsel gekommen?«, hakte Frau Schwarz nach.

Weller guckte vor sich auf den Tisch: »Na ja, sein Handy lag in der Wohnung rum …«

»Lag in der Wohnung rum«, wiederholte Frau Schwarz, als könne sie es nicht glauben. »Und wie sind Sie in die Nachrichten reingekommen?«

Weller gab es zu: »Gesichtserkennung.«

»Sein Handy akzeptiert Ihr Gesicht?«, fragte Frau Schwarz, die noch nicht ganz verstanden hatte.

Marion Wolters, die natürlich längst kapiert hatte, was geschehen war, grinste in sich hinein. Weller stieg gerade in ihrer Achtung.

Die Pressesprecherin Rieke Gersema hielt sich beide Hände vors Gesicht, und genau das tat Frau Schwarz auch, als sie Wellers Antwort hörte: »Nicht mein Gesicht, aber seins.«

Frau Schwarz bemühte sich um Luft. Dann stellte sie fest: »Wir sind also auf illegale Weise an Informationen gekommen, indem wir den Datenschutz umgangen haben und …«

Rupert schlug mit der Faust auf den Tisch, dass die Teetassen nur so klirrten und schimpfte: »Datenschutz ist oft nicht mehr als Täterschutz!«

Frau Schwarz stöhnte und versuchte, die Runde zu belehren: »Wenn wir auf illegale Weise an Informationen kommen, können wir die später vor Gericht nicht verwenden.«

»Ja, tut mir leid«, log Weller. »Ich gelobe auch Besserung. Ich werde das bestimmt nicht wieder tun, aber jetzt wissen wir doch ein paar Sachen. Also, die beiden waren ein Liebespaar, er gab sich als Bernhard aus …«

Ann Kathrin griff ein, indem sie einfach wieder zu den Fakten zurückkam: »In der Wohnung befindet sich nur das Blut von Frau Ritter und Herrn Baumann. Obwohl ein Kampf mit dem Täter stattgefunden haben muss, konnte die Spusi bisher kein Blut einer dritten Person nachweisen. Das bedeutet für uns auch, der Täter hat geduscht und sich das Blut abgewaschen. Später ist er dann zurückgekommen und …«

»Mein Gott, hat man es denn nur noch mit Verrückten zu tun?«, fragte Frau Schwarz.