Ein Sommer in den Hamptons - Karen Swan - E-Book
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Ein Sommer in den Hamptons E-Book

Karen Swan

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Beschreibung

»Leichte, leuchtende Sommerlektüre zum Davonträumen.« Sunday Mirror

Eine zufällige Hochzeitsbekanntschaft schenkt Rowena einen magischen Sommer in den Hamptons ...
Die Hamptons – hier verbringen die Reichen und Schönen Manhattans ihre Sommer, voller sonnensatter Tage, weißer Strände und exklusiver Partys im goldenen Abendlicht. Eine glamouröse Gesellschaft, in die die Fotografin Rowena Tipton eher aus Versehen hineinstolpert: Nachdem ihr Freund sich sang- und klanglos auf einen Selbstfindungstrip nach Asien verabschiedet hat, wird sie von einem flüchtigen Bekannten in sein Haus in den Hamptons eingeladen. Spontan sagt Rowena zu, und ein aufregender, nie enden wollender Sommer beginnt ...

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Buch

Eigentlich ist die Fotografin Rowena Tipton nicht auf der Suche nach Veränderung. Doch nachdem ihr Freund sich sang- und klanglos auf einen Selbstfindungs-Trip nach Asien verabschiedet hat, erhält sie ein Angebot, dem sie nicht widerstehen kann: Sie wird eingeladen, sich mit mehreren Bekannten ein Sommerhaus in den Hamptons zu teilen, der Ort, an dem die Reichen und Schönen Manhattans verkehren. Und so findet sie sich plötzlich in einem nie enden wollenden Sommer wieder, voll langer heller Tage an weißen Stränden, Cocktailpartys im goldenen Abendlicht und exklusiver Tennisturniere. Und dann ist da noch der unhöfliche Nachbar, mit dem sie eigentlich so wenig zu tun haben möchte wie möglich – und der ihr dennoch immer wieder dann, wenn sie es am wenigsten erwartet, zu Hilfe eilt …

Weitere Informationen zu Karen Swan

sowie zu lieferbaren Titeln der Autorin

finden Sie am Ende des Buches.

KAREN SWAN

Ein Sommer

in den Hamptons

Roman

Aus dem Englischen

von Gertrud Wittich

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
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Die englische Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel »The Summer Without You« bei Pan Books, an imprint of Pan Macmillan, London.
Copyright © der Originalausgabe 2014 by Karen Swan Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2018 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München Umschlagmotiv: Frau: Michael Nelson/Trevillion Images Haus: mauritius images/Mira/Alamy Meer, Strand, Glitter, Gold: FinePic®, München Redaktion: Maike Hopp em · Herstellung: kw

Für Ollie

Mein Sohn, meine Sonne

1. Kapitel

Das ist keineswegs das Ende.«

»Ach nein? Und wie würdest du es dann nennen? Wir sind fast unser halbes Leben zusammen, und jetzt willst du so mir nichts, dir nichts für sechs Monate abhauen?« Rowena Tipton musste gegen die Tränen ankämpfen, die an ihren Wimpern zitterten. Ihre Stimme war in verräterische Höhen geklettert.

»Wenn schon, denn schon? Keine Halbheiten?«, schlug Matt scherzend vor, aber ihr Gesichtsausdruck verriet, dass dies nicht die Zeit für dumme Scherze war. Er rieb ihre Hände, die sich klein in den seinen anfühlten, so wie immer. »Nennen wir es einfach einen Neuanfang.«

»Aber wozu denn?«, schniefte Rowena. »Den hatten wir doch vor elf Jahren. Ich mag’s, dass wir jetzt mittendrin sind.« Sie schaute mit ihren seelenvollen braunen Augen – »Rehaugen«, wie er sie nannte – flehend zu Matt auf. Der Wind blies ihr das lange Haar ins Gesicht. Wenn er doch nur Vernunft annehmen würde! Aber die Zeichen dafür standen gar nicht gut. Unter einem strahlend blauen Himmel mit weißen Schäfchenwolken, einem lauen Lüftchen und Armreifen aus geflochtenen Gänseblümchen um die Handgelenke hätte sie ihm seine Pläne einfacher ausreden können. Zumindest hätte sie dann ihren Ausschnitt zeigen können – dem konnte er noch nie widerstehen. Stattdessen trug sie eine warme Steppjacke und war bis zum Hals eingemummt. Ein schmutzig grauer Himmel überspannte die Landschaft wie ein zu lange benutztes Handtuch. Selbst die ehrwürdigen alten Eichen, die den Park säumten wie Aufpasser im Ruhestand, wirkten kahl und leblos. Die Vögel waren noch nicht aus ihren Winterquartieren im Süden heimgekehrt. Kein Vogelgezwitscher, sosehr sie auch die Ohren spitzte, und kaum eine Blume schaute aus der klumpigen braunen Erde hervor. Narzissen gab’s heuer nur spärlich, und Krokusse ließen sich bisher auch noch nicht blicken. Dabei war es schon Mitte März. Der Frühling ließ sich dieses Jahr Zeit. Kaum ein Mensch war zu sehen, die meisten verbrachten den Sonntag lieber in der warmen Stube. Der weitläufige Park wartete, ebenso wie sie, auf das Kommen der Sonne.

Matt strich Rowena das Haar zurück, und sie schmiegte ihre Wange in seine Handfläche. Er schaute ihr ernst in die Augen und sagte mit sanfter Stimme: »Wir sind zu bequem geworden, Baby. Zu bequem in unserer Beziehung. Es wird höchste Zeit, die Routine mal zu durchbrechen und was Neues zu versuchen.«

»Was Neues? Du meinst andere Partner?«

»Nein, das meine ich keineswegs. Wir trennen uns doch nicht, Ro. Wir bleiben zusammen.«

»Aber was ist es dann? Wie soll ich es nennen, wenn es keine Trennung ist? Was soll ich den Leuten sagen, wenn sie mich fra- …«

»Es ist eine Pause. Eine Beziehungspause.«

Rowena schaute mit feuchten Wimpern blinzelnd zu Matt auf. »Eine Beziehungspause?«

»Bevor wir uns endgültig füreinander entscheiden. Eine letzte Gelegenheit, mal egoistisch zu sein und zu tun, was einem gefällt.«

»Aber das liegt mir nicht, das weißt du doch!«, schluchzte sie.

Matt nickte, als habe er keine andere Antwort erwartet. »Weiß ich. Das liebe ich ja so an dir. Das wird mir fehlen. Du wirst mir fehlen. Aber das ist ja der Punkt, Ro: Ich will dich vermissen. Ich will …« Er zuckte die Achseln, suchte nach den richtigen Worten. »Ich will mich mal wieder so richtig nach dir sehnen. Und das kann ich nicht, wenn wir jede Nacht im selben Bett schlafen und jeden Sonntagvormittag zusammen auf derselben Parkbank sitzen.«

»Du hast mich satt, gib es ruhig zu!«, stieß Rowena erstickt hervor.

»Aber nein!«, rief er ungehalten aus und lachte gereizt. Er ließ seine Hand von ihrer Wange sinken und lehnte sich zurück, breitete beide Arme auf der Banklehne aus. Er ließ den Blick über den weitläufigen Windsor Park schweifen. Der Wind fuhr in Ros nicht ganz braunes und auch nicht ganz blondes Haar und wehte es ihr erneut ins Gesicht. Sie studierte Matts Profil, diese geliebten Züge, die sie beinahe besser kannte als ihre eigenen. Das Gesicht, das ihr Herz höherschlagen ließ, als es ihr zum ersten Mal zwischen den Bücherregalen in der Uni-Bibliothek entgegenblickte. Das sie beruhigt und getröstet hatte, als sie knapp die nötige Punktzahl für ein Stipendium für einen Fotolehrgang verfehlte, den sie sich aus eigenen Mitteln nicht leisten konnte. Das Gesicht, dessen lebhafte Mimik und Augenbrauen-Akrobatik sie immer zum Lachen brachte … Allein der Gedanke, es ein ganzes halbes Jahr (sechs Monate!) nicht mehr sehen zu können, war unerträglich. Diese herrlichen blauen Augen mit dem Feuerring um die Pupille, das schiefe, linkslastige Grinsen, das Grübchenkinn, auf das sie so gern drückte, der zerzauste fast schwarze Haarschopf.

Er wandte ihr den Kopf zu und schaute sie an, und was sie jetzt dort sah, erschreckte sie: Entschlossenheit. Er würde es tun. Er würde sich nicht davon abbringen lassen. Er würde die Reise machen.

»Das ist undenkbar, Ro. Das Einzige, was ich satthabe, ist die Routine. Unser Alltag. Wir sind schon so lange zusammen. Dabei sind wir gerade mal dreißig. Wir sind seit dem Studium zusammen, und ich kenne eigentlich kein Leben ohne dich. Ich weiß nicht, wie es ist, nicht mit dir zusammen zu sein. Wer ich ohne dich bin. Du bist meine große Liebe, Ro, so viel ist sicher. Aber wir haben uns einfach zu früh kennengelernt, zu jung.« Er streichelte zärtlich ihre Wange. »Ich muss das einfach machen. Ich will von dir weg, damit ich zu dir zurückkehren kann, verstehst du denn nicht? Ich möchte mich ganz neu in dich verlieben können.« Er blickte ihr forschend in die Augen, aber sie war blind vor Tränen. Die Panik drohte sie zu überwältigen.

»Nein, das verstehe ich eben nicht! Ich begreife nicht, warum das nötig sein soll, wo ich dich doch bereits liebe.«

Matt schüttelte den Kopf. »Du hörst mir nicht zu, Baby. Ich möchte, dass wir uns ganz neu ineinander verlieben. Dieses Taumeln, dieses Gefühl, sich ins Bodenlose zu werfen und dann zu merken, dass man fliegt! Ich habe mich vor elf Jahren in dich verliebt – und bin es noch immer, sehr sogar! –, aber unsere Beziehung ist einfach zu … zu bequem geworden. Ich möchte alles durchschütteln, frisch anfangen, die alte, oder nein, eine ganz neue Leidenschaft zu dir entdecken. Wer sagt, dass man sich nur einmal in ein und denselben Menschen verlieben kann?«

»Weil das nun mal so ist. Niemand verliebt sich zweimal in den oder die Gleiche.«

Er senkte sein Grübchenkinn und betrachtete sie amüsiert. »Ach ja? Steht das so im Gesetz?«

Es ärgerte sie, dass er einen Witz daraus machte, wo es ihr doch todernst war. »Ja, vielleicht tut es das. Eine chemische Reaktion findet statt, und wenn sie mal stattgefunden hat, lässt sie sich doch auch nicht ungeschehen machen. Die Verbindung mutiert dann entweder, oder sie … sie stirbt ab.«

Sie starrten einander an. Beide hatten, außer dem Schulwissen, nicht viel Ahnung von Chemie.

»Und wenn du nun eine andere triffst?«, fragte sie mit dünner, brüchiger Stimme. Ein apokalyptischer Gedanke.

»Das wird nicht geschehen. Mir geht’s doch darum, dass ich dich wieder ganz neu entdecken will, und um nichts anderes.«

»Aber wenn du dich während der Trennung veränderst? Oder ich mich? Oder wir beide?«

»Wir sind zusammen, seit wir erwachsen geworden sind. Glaubst du wirklich, dass sich in nur sechs Monaten so viel ändern könnte?«

»Die berühmten letzten Worte«, murmelte sie verstimmt und betrachtete das Rotwild, das in einiger Entfernung auf der Wiese äste. Matt ergriff erneut ihre Hände. Sie schaute ihn an.

»Ro, das beabsichtige ich nicht – und ich glaube auch nicht, dass so was passieren wird. Ehrlich nicht, auf mein Leben! Aber wenn es uns wirklich bestimmt ist, den Rest unseres Lebens miteinander zu verbringen – dann werden wir das auch durchstehen.«

»Du gibst also zu, dass es schwierig wird!«

Er belohnte sie mit einem schiefen Grinsen. Wieder einmal zog er den Kürzeren in einer Auseinandersetzung mit ihr – wie meistens. »Nein, leicht wird’s nicht gerade werden. Ich werde zum Beispiel nicht allzu oft anrufen können und schon gar nicht regelmäßig. Manchmal vielleicht ein, zwei Wochen lang nicht.«

Rowena schnappte entsetzt nach Luft. »Im Ernst?!«

»Ich glaube kaum, dass es in Kambodscha schon überall Mobilfunkempfang gibt. Aber das könnte auch ein Vorteil sein! Momentan telefonieren oder simsen wir fast zwanzigmal am Tag, aber wann hast du dich das letzte Mal so richtig gefreut, von mir zu hören? Wann ist es dir zum letzten Mal schwergefallen, mitzukriegen, was ich sage, weil du hingerissen vom Klang meiner Stimme warst? Das war anfangs ständig so. Aber jetzt geht’s meist nur noch darum, wer mit dem Säubern des Aquariums dran ist und wann wir die Orangenbäumchen reinholen müssen, damit sie keinen Frostschaden kriegen. Ich möchte, dass du dich nach einem Anruf von mir sehnst, so wie früher. Ich möchte, dass du rot wirst, wenn du dich vor mir ausziehst.« In seinen Augen entstand ein Glimmen. »Es kann alles wieder so werden wie früher, Ro. Diese sechs Monate werden ein Abenteuer, danach wird alles wieder so sein wie am Anfang.« Er zwinkerte ihr anzüglich zu. »Ist doch richtig sexy, finde ich.«

Ro blinzelte fassungslos. »Sexy?«, wiederholte sie ungläubig. »Sechs Monate Trennung? Spinnst du?«

»Überlege nur mal, wie verrückt du auf Sex sein wirst, wenn ich wiederkomme«, grinste er. »Du wirst mir förmlich die Klamotten vom Leib reißen.«

Rowena zog eine Schnute. Aber ihre Augen funkelten. »Das ginge auch einfacher, dafür musst du nicht für sechs Monate nach Kambodscha reisen. Du könntest es mir einfach ein bisschen schwerer machen, dich ins Bett zu kriegen.«

»Ach, du weißt doch, dass ich bei dir einfach nicht nein sagen kann.« Er strich mit dem Finger über ihren Nasenrücken, die Augen unverwandt auf sie gerichtet. »Ich möchte, dass du es kaum noch aushältst ohne mich. Dass du Entzugserscheinungen kriegst.« Sie bemerkte das belustigte Zucken seiner Mundwinkel, das verschwörerische Funkeln seiner Augen. Seine Worte waren halb scherzhaft gemeint, aber sie konnte sehen, wie sehr ihm der Gedanke gefiel, dass sie sich körperlich nach ihm verzehrte.

»Das tue ich doch jetzt schon.«

»Dann stell dir vor, wie das erst nach sechs Monaten sein wird.«

Sie musste schlucken. Sie hielt es ja kaum ein Wochenende ohne ihn aus.

»Und wenn ich wieder da bin, dann … glücklich bis ans Lebensende.«

Seine Worte schmerzten. Ro wandte den Blick ab. Er wusste ganz genau, welche Bedeutung er für sie besaß. Er war alles, was sie hatte: Geliebter, bester Freund, Familie. Trotzdem wollte er weggehen. Er legte erneut seine Hand an ihre Wange und zwang sie, ihn anzusehen.

»Versprochen, Ro. Ich nehme mir nicht nur eine sechsmonatige Auszeit. Ich will die Zeit nützen und mir Gedanken darüber machen, wie ich dir am besten einen Antrag mache. Wie ich dir am besten beweise, wie viel du mir bedeutest. Aufs Knie zu sinken reicht bei weitem nicht.«

»Mir würde das durchaus reichen.« Nach elf Jahren Beziehung hätte ihr sogar ein Ring aus Plastik und eine Schnellhochzeit gereicht.

Er schüttelte den Kopf. »Nein. Damit lassen wir uns nicht abspeisen. Man muss mehr vom Leben erwarten. Mehr als das hier.« Er wies auf seine Umgebung, den weitläufigen Park, auf die Autos, die am Straßenrand anhielten, um das Rotwild zu fotografieren, am Horizont die Hochhäuser von Roehampton, die zwischen vorbeiziehenden Wolkenbergen auftauchten. »Ich habe große Pläne für uns, Ro. Ich möchte kein stumpfsinniges, langweiliges Leben. Lass uns dieses halbe Jahr nutzen, um mal richtig aufzuwachen, uns auszustrecken und umzusehen. Du hast in ein paar Wochen diese Hochzeit in New York. Dein erster Auftrag in Übersee. Wer weiß, vielleicht ist das ja der Beginn einer neuen Zukunft? Vielleicht kannst du dein Geschäft ausweiten, international werden! Oder zumindest transatlantisch. Wieso nicht? Es ist nicht verboten, große Ziele zu haben.«

Ro schnaubte und verdrehte die Augen. Das würde er nicht sagen, wenn er die Braut kennen würde! Dann würde er keinen Fuß mehr außer Landes setzen. Nicht mal aus London.

Er hob ihr Kinn und zwang sie, ihn anzusehen. »Diesen Blick kenne ich. Jetzt sei doch nicht so stur. Du müsstest dich ohnehin mal ein bisschen mehr ums Geschäftliche kümmern. Deine Website ist viel zu langsam, damit fängt es schon mal an. Jetzt hast du mal Zeit, dich so richtig auf deine Karriere zu konzentrieren und alles so hinzubiegen, wie du es dir vorstellst. Wer weiß, wo du sein wirst, wenn ich zurückkomme. Vielleicht stehst du dann beruflich ganz anders da. Mit frischer Kraft und weit offenen Augen. Wir beide. Dann kann uns nichts mehr aufhalten.«

Das Spiel war verloren. Ro wusste, dass sie es ihm nicht mehr ausreden konnte. Er hatte seine Trumpfkarte ausgespielt: dass er sie nach seiner Rückkehr heiraten würde. Und was sollte sie tun? Etwa nicht auf ihn warten? Schön wär’s.

Sie zuckte widerwillig mit den Schultern. »Bleibt mir ja nichts anderes übrig, oder?«

Er stürzte sich auf sie und küsste sie überschwänglich, vergrub die Finger in ihrem Haar, küsste sie mit zunehmender Leidenschaft.

»Komm, lass uns nach Hause gehen«, schlug er mit heiserer Stimme vor.

»Jetzt schon? Aber wir wollten doch noch zum Brunch ins …«

»Ich fliege schon am Dienstag, Ro.«

Ros Magen schlug einen Salto. Kommenden Dienstag?

»Sch, sch. Ich wollte dich nicht länger beunruhigen als unbedingt nötig. Sechs Monate ohne diesen Körper, und ich verliere sicher den Verstand«, murmelte er und strich über ihre Hüften, hinauf zur Taille. Es stimmte. Was ihr an Körpergröße und Sportlichkeit fehlte, machte sie mit Kurven wieder wett. Sie hatte eine rasante Stundenglasfigur, mit üppigen Brüsten und einer Wespentaille, was in ihrer üblichen Boyfriend-Jeans zwar nicht ganz so auffiel, dafür aber umso mehr in einem der schicken Kleider, die sie tragen musste, wenn sie auf den zahlreichen Hochzeiten im Freundeskreis ihre Fotos machte. Selbst jetzt, nach über zehn Jahren, nachdem die erste Leidenschaft längst abgekühlt und sich auf mittlerer Temperatur eingependelt hatte, konnte Matt sie nicht an sich vorbeilassen, wenn sie in Unterwäsche herumlief. Ob er es wirklich sechs Monate lang ohne sie aushalten würde?

Ähnliche Zweifel las sie auch in seinem Gesicht, während seine Hände auf Wanderschaft gingen. Er kannte ihre Konturen im Schlaf, sie waren ihm in Fleisch und Blut übergegangen, und er wusste genau, wo er innehalten, wo er länger verweilen wollte.

Er packte sie bei der Hand und zog sie hoch, sein Kuss wurde drängender. Als er sich wieder ein wenig von ihr löste und sie ansah, machte Ros Herz einen Sprung. Die Lider auf Halbmast, stieß er heiser hervor: »Komm, wir gehen. Ich habe noch achtundvierzig Stunden, um mich für sechs Monate Trennung von dir zu entschädigen.«

Er rannte los und zog sie mit sich. Ro giggelte entzückt. Sie liefen den Hügel hinab zu dem leuchtend roten Polo, der auf dem Parkplatz stand. Vielleicht hatte er ja doch recht. Vielleicht wirkte es ja bereits. Wenn sie einander schon vermissten, noch ehe sie sich getrennt hatten, dann war das möglicherweise doch die Antwort. In sechs Monaten würde sie Mrs Rowena Martin werden, und sie würden beide bekommen, was sie wollten: Matt seinen Neuanfang. Und sie ihr Happy End.

2. Kapitel

Bitte mal hersehen … und noch einmal«, befahl Ro, die mit der rechten Hand die Feinjustierung der Kameralinse vornahm, um die Braut scharf zu bekommen. Nicht, dass es der Braut etwa an Schärfe mangelte. Erst vorhin hatte sie, die strahlend weißen, makellosen Zähne grimmig zusammengebissen, ihren eigenen Vater zur Schnecke gemacht, weil er versehentlich auf ihre Schleppe getreten war. Dies war eine sündteure Hochzeit, und Rowena wunderte sich nicht mehr, wie es dieser Frau gelungen war, den millionenschweren Gatten an Land zu ziehen.

Nach außen hin lief alles wie am Schnürchen, und alles sah geradezu perfekt aus: zwölf Brautjungfern in identischen, bodenlangen, schulterfreien, himmelblauen Schlauchkleidern mit hochgestecktem Haar und einer breiten Perlenkette, die sich eng um den Hals schmiegte; buschige Zitrusbäumchen, die in voller Blüte standen, zierten den Saal, und der Mittelgang war dick mit Rosenblüten bestreut. Selbst die Gäste hielten sich alle an den Dresscode und waren in Weißbeige erschienen. Ro hatte zuvor im Umkleidezimmer der Braut ein Erlebnis der etwas anderen Art gehabt, als sie, glücklicherweise hinter ihrem Fotoapparat verschanzt, einen Blick auf den »Brazilian« der Braut erhascht hatte, die beim Ankleiden ungeniert gleich die Unterwäsche wegließ, während sie in ihr täuschend schlichtes, schulterfreies Stufenkleid aus weißem Musselin von Vera Wang stieg. Ro gab dem Paar insgeheim nicht mal ein Jahr, höchstens acht Monate. Ihr waren die begehrlichen Blicke nicht entgangen, mit denen der Bräutigam die Trauzeugin der Braut musterte.

Die Kamera griffbereit um den Hals, schritt sie im Ballsaal des Waldorf Astoria umher und beobachtete die Gäste. Die meisten saßen noch an den Tischen, aber immer mehr erhoben sich und schlenderten umher, unterhielten sich mit diesem und jenem. Sie waren überwiegend in ihrem Alter, schätzte Rowena, vielleicht ein bisschen jünger, eher Ende zwanzig als Anfang dreißig. Kinder oder Babys waren jedenfalls nicht zu sehen, aber das konnte auch daran liegen, dass die Braut das Mitbringen des Anhangs untersagt hatte. Diese Braut schien jedenfalls nicht der Typ zu sein, der Spontaneität oder gar Chaos zuließ. Natürlich lief trotzdem nicht alles so reibungslos, wie es die Braut gerne gehabt hätte, bemerkte Rowena. In diesem Alter war das Leben noch eine einzige Party, mit fünf oder sechs Hochzeiten pro Jahr, auf denen der Freundes- und Bekanntenkreis allmählich unter die Haube gebracht wurde und man in Champagner und schönen Kleidern schwelgte.

Interessant war für sie vor allem der Unterschied zwischen einer britischen und einer amerikanischen Hochzeit. Gewöhnlich fotografierte sie nur auf der Insel – dies war ihr erster Ausflug »über den Großen Teich«. Sie war von der Schwester der Braut empfohlen worden, die vor zehn Monaten eine der Brautjungfern auf einer Hochzeit in Dorset gewesen war. Sie hatte die Fotos bewundert, die Rowena machte – ihre Spezialität war ein besonders farbintensiver Filter, der den Fotos etwas Nostalgisches verlieh –, und sich eine Visitenkarte eingesteckt. Der augenfälligste Unterschied zwischen den Briten und ihren amerikanischen Vettern war, dass die Amerikaner zu einer Hochzeit im Smoking erschienen anstatt im Cut. Das strenge Schwarzweiß der Anzüge machte sich gut auf den Fotos, wie Rowena fand. Und die Brautjungfern benahmen sich hier gesitteter als in England, um einiges professioneller. Sie waren beispielsweise alle noch nüchtern. Auch die Ansprachen waren korrekter und weniger exzentrisch. Das Brautpaar hatte das Gelöbnis selbstverständlich selbst verfasst, etwas, das sich im Vereinigten Königreich nicht so recht durchsetzen wollte, wo man nach wie vor eher auf die gute alte Bibel setzte und dazu vielleicht auf ein Zitat aus dem berühmten englischen Nonsense-Gedicht »Der Eul und die Miezekatz«.

Ja, interessant war’s schon – aber es lenkte sie nicht ab. Es spielte keine Rolle, dass sie sich im prächtigen Ballsaal des Waldorf Astoria in Manhattan befand, einem der ältesten und renommiertesten Hotels der Stadt und dreitausendfünfhundert Meilen von zu Hause entfernt. Denn das bedeutete nur, dass sie noch weiter von Matt weg war, ganze neuntausend Meilen sogar. Nie war die Entfernung zwischen ihnen größer gewesen, und sie hatten seit seiner Abreise vor drei Wochen nur dreimal miteinander Kontakt gehabt (darunter einmal noch während des Boardingvorgangs, was eigentlich nicht richtig zählte).

Dass es »nicht leicht werden würde«, wie er sich ausgedrückt hatte, war noch untertrieben. »Verheerend« kam dem schon näher. Es war eine Sache, Verständnis für seine Motive aufzubringen, eine andere jedoch, vom Flughafen in eine leere Wohnung heimzukehren – wo noch überall seine Klamotten herumlagen, seine elektrische Zahnbürste neben der ihren stand (»da, wo ich hingehe, wird’s kaum Strom geben«), in seinem Kissen noch der Abdruck seines Kopfes. Sie hatte so gut wie keinem erzählt, dass er weg war – und der Milchmann zählte ja nicht. Matt selbst hatte seine Reisepläne ebenfalls geheim gehalten – nicht nur vor ihr. Er wollte es sich nicht ausreden lassen und auch vermeiden, dass man zu sehr nach den Gründen forschte, warum er sie zurückließ. Es war daher kein Wunder, dass in den Wochen nach seiner Abreise das Telefon stillstand. Keiner rief an und wollte mit ihr auf ein Bier in den Pub gehen oder auf eine Mahlzeit zum Inder oder zum Shopping, um sie ein wenig aufzumuntern. Anfangs lief sie fast ausschließlich in seinen Klamotten herum und benutzte sein Deo. Es war so still im Haus, dass sie eines Abends, als sie in der Küche stand, sicher war, Shady, den Goldfisch, im Aquarium herumschwimmen zu hören.

Trotzdem war’s ein Fehler gewesen, ihren Aufenthalt in New York um ein paar Tage zu verlängern. Nur weil ihr die Tage in London unendlich lange vorkamen, hieß das nicht, dass sie hier kürzer waren. Früh zu Bett gehen bedeutete nur, dass die Tage zwar kürzer, die Nächte dafür umso länger waren. Mit der Fähre nach Staten Island zu schippern ließ die Zeit nicht schneller vergehen, als mit dem Fahrrad um die Barnes Common zu radeln, und ein Spaziergang im Central Park war dasselbe wie einer im Hyde Park. Das einzige Zugeständnis, das sie machen konnte, war, dass hier zumindest der Frühling ein wenig weiter fortgeschritten war als daheim. Es war Anfang April, und die Bäume standen bereits in voller Blüte; ein Meer von Gänseblümchen zierte die Wiesen, und auch die Jogger waren bereits auf Übergangskleidung umgestiegen …

Ro beobachtete, wie sich die Braut, der ihr Schleier jetzt, wo die Hauptsache vorbei war, lästig wurde, zurückzog, um ihr Make-up aufzufrischen. Sie blickte ihr nach und sah, wie ihre scharfen Schulterblätter über dem schulterfreien Kleid beim Gehen auf- und abfuhren wie Sensen. Der Bräutigam machte sich schnurstracks auf den Weg zur Bar. Rowena musste sich kurz an einen Stuhlrücken lehnen. Sie war total erschöpft und furchtbar durstig und ausgehungert. Ob man in der Küche vielleicht noch etwas zu essen bekäme? Sie war seit dem frühen Morgen auf den Beinen. Keiner war auf den Gedanken gekommen, ihr ein Glas Wasser anzubieten, geschweige denn ein Sandwich. Alle außer ihr hatten gegessen, und nun begann der zwanglose Teil. Der Alkohol floss doppelt so kräftig wie zuvor, und auf der Tribüne machte sich die Live-Band bereit.

Rowena fuhr herum und blieb mit einer Schuhspitze an der Gummisohle ihres anderen Schuhs hängen. Sie geriet ins Stolpern und wäre beinahe auf einen Kellner gefallen, der ein Tablett mit Sektkelchen balancierte.

»Hoppla!«, rief er lachend aus und hob das Tablett rasch hoch über ihren Kopf. »Immer mit der Ruhe, Tiger.«

»Tiger?«, prustete Ro empört. »So spricht man doch nicht mit Gästen!«

Er musterte ihren schwarzen Hosenanzug und die roten Segeltuchschuhe. »Aber du bist doch kein Gast«, entgegnete er. »Ich hab dich beobachtet. Du hast noch kein einziges Mal Pause gemacht.« Er hielt ihr grinsend sein Tablett hin. »Na, wie wär’s?«

Sehnsüchtig beäugte sie den Champagner. »Tja, wie du sagst, ich bin schließlich kein Gast.« Wie verdrießlich das klang.

»Ach komm, ich verrate schon nichts.«

»Nein danke. Ich trinke während der Arbeit nie Alkohol. Ich habe festgestellt, dass es einen direkten Zusammenhang zwischen einem benebelten Kopf und verschwommenen Fotos gibt.« Ros Blick fiel am Kellner vorbei zur Bar, wo sich soeben eine Gruppe Trauzeugen zusammenrottete und eine Brautjungfer auf die Arme nahm. Sie hoben sie hoch über ihre Köpfe, so wie zuvor auf den Fotos vor der Kirche. Der Alkohol zeigte offenbar Wirkung. Sie hob automatisch den Fotoapparat ans Auge und machte ein paar Bilder.

»Ich wette, du hast den ganzen Tag noch nichts gegessen, stimmt’s?«

Rowena, die hektisch den Auslöser betätigte, antwortete zerstreut: »Was? Ach nö, noch nicht.«

»Tz, tz, tz. Also diese Leute hier sind einfach unglaublich. Geben dreißig Riesen für Blumenarrangements aus, aber können nicht mal … ach was, komm mit.« Er hielt seine Pranke vor ihre Linse, und sie zuckte empört zurück.

»He!« Rasch zog sie ein Mikrofasertuch hervor und putzte das runde Glas ab. »Wehe, wenn ich jetzt deine Fingerabdrücke auf den Fotos habe!«

»Was, glaubst du, das könnte dem Botox-Face der Brautmutter schaden?«, lachte er.

Ro musste ebenfalls lachen. Es stimmte – die Brautmutter schien tatsächlich eine verhängnisvolle Vorliebe für Botox-Einspritzungen zu haben. Ro war es bisher noch nicht gelungen, eine »natürliche« Miene in den Kasten zu kriegen. Sie sah auf sämtlichen Fotos aus, als hätte man sie bei einem Schluckauf erwischt.

Ro schaute sich den frechen Kellner nun zum ersten Mal genauer an. Er war groß, hatte hellbraunes Haar und einen Stoppelschnitt, der schon ein klein wenig rausgewachsen war, und schien sich seit einer Woche nicht mehr rasiert zu haben. »Jetzt komm schon, das ist eine einmalige Gelegenheit. Ein Abendessen umsonst, während die Braut mit ihrem Spiegelbild beschäftigt ist. Wie lange haben sie dich gebucht? Bis Mitternacht, ja?«

Ro kaute unschlüssig auf ihren Lippen. Sie hatte einen Bärenhunger, und es war ihr noch nie leichtgefallen, auf eine Mahlzeit (oder zwei) zu verzichten. Matt liebte ihren unverwüstlichen Appetit – behauptete er jedenfalls. »Also, ich weiß nicht …«

»Komm einfach mit.«

Das Tablett fachmännisch über den Köpfen der Gäste balancierend, was ihm bei seiner Größe nicht schwerfiel, schob er sich mühelos durch die Menge. Ro musste laufen, um mit ihm Schritt zu halten. Mehrere versuchten ihn aufzuhalten und sich ein Glas vom Tablett zu nehmen, doch er wies sie jedes Mal mit einem bedauernden Lächeln ab – er müsse Nachschub holen. Wobei natürlich jeder sehen konnte, dass die Gläser voll waren.

Ro folgte mit um den Hals schwingendem Fotoapparat.

»Rechts halten«, warnte er, als sie die Schwingtüren erreichten, die zur Küche führten. Er stieß eine davon auf, während die linke gleichzeitig nach außen schwang und ein anderer Kellner mit einem vollen Tablett herausgeschossen kam. Ro konnte im letzten Moment zur Seite springen.

»Siehst du jetzt, was ich meine?«, grinste er.

Ro klopfte das Herz bis zum Hals. »Mann, das war knapp!« Sie folgte ihm in die Küche.

»He, José!«, brüllte er und stellte sein Tablett auf einem freien Platz auf der Anrichte ab. »Könntest du mal die Fotografin hier durchfüttern? Die kippt mir nämlich gleich um. Wir sind nicht die Einzigen, die sich hier die Hacken ablaufen.«

Kurz darauf wurde ein großer Teller mit einem dicken Steak, Kartoffeln und Gemüse über den Tresen geschoben. Ro hatte einen solchen Hunger, dass sie sich am liebsten mit dem Gesicht voraus auf die Portion gestürzt hätte.

»Da, setz dich«, befahl der nette Kellner und trug das Tablett zu einem kleinen Chefkoch-Tischchen in der Ecke. Er nahm einen Satz heißes Besteck aus der Spülmaschine und brachte es ihr. Irgendjemand reichte ihr ein Glas Wasser.

»Vielen Dank!«, sagte Ro, setzte sich rasch hin und fiel mit Begeisterung über den Teller her. Viel Zeit blieb ihr nicht, die Braut würde bestimmt bald wieder auftauchen.

»Du bist also aus England?«, erkundigte sich der Kellner. Er ließ sich ihr gegenüber auf einen Hocker sinken und beobachtete, wie sie sich das heiße Essen reinschaufelte und mit einem Schluck Wasser runterspülte, um sich nicht den Gaumen zu verbrennen.

»Mhm.«

»Zum ersten Mal in New York?«

»Theoretisch schon zum zweiten«, nuschelte sie mit vollem Mund.

»Theoretisch?«

Essen und reden? Keine gute Kombination. Sie kaute den Mundvoll hektisch herunter, ehe sie antwortete: »Ich bin hier geboren. Meine Eltern sind nach England gezogen, als ich acht Monate alt war.« Sie spießte ein Brokkoliröschen auf die Gabel und verschlang es.

»Ach so. Aber dann bist du ja Amerikanerin.«

»Theoretisch schon«, meinte sie achselzuckend, »aber ich bin im Grunde durch und durch Engländerin. Ich wüsste gar nicht, wie es sich anfühlt, Amerikanerin zu sein.«

»Fish ’n Chips und Afternoon Tea, all das, ja?«, fragte er spitzbübisch.

»Vielleicht nicht in der Kombi, aber ja«, grinste sie.

»Du hast also die doppelte Staatsbürgerschaft, du Glückskind. Ich beneide dich. Ich wollte schon immer mal nach London. Und eine Zeitlang dortbleiben.«

»Hm.« Ro warf ihm einen misstrauischen Blick zu. Sollte das ein Wink mit dem Zaunpfahl sein? War er auf eine Einladung aus?

»Bist du allein hier?«

»Mhm.« Der Kameramann, den sie hier auf Empfehlung einer Kollegin angeheuert hatte, um Videoaufnahmen von der Hochzeit zu machen, zählte nicht. Sie hatte ihn erst gestern kennengelernt, und das Ganze war sowieso rein geschäftlich. »Mein Lebenspartner ist derzeit auf Reisen«, erklärte sie – nur falls das eine Anmache sein sollte.

Er grinste übers ganze Gesicht. »Was für ’ne Schande.« Sein freches Grinsen war so ansteckend, dass sie lachen musste. Dann wurde sie schlagartig wieder nüchtern. Sie wollte gar nicht erst mit dem Flirten anfangen.

»Und gefällt’s dir hier?«

Sie machte eine vage Schaukelbewegung mit dem Kopf.

Er nickte. »Ja, verstehe. Allein in New York, das kann verdammt schwer sein.«

»He, Mann! Was hockst du hier rum?« Beide blickten auf und sahen einen Mann in weißer Kellnerjacke auf sie zustürmen. »Keine Zeit für einen Aufriss! Ich hab da draußen durstige Gäste! Oder kannst du jetzt auf das Geld verzichten?«

Der Kellner erhob sich schwer seufzend. »Na gut, ich gehe dann wohl besser wieder. War nett, mit dir zu reden.«

»Ja, ganz meinerseits«, nuschelte Ro und hielt dabei höflich die Hand vor den Mund, weil ihr fast die Backen platzten. »Und vielen Dank noch mal … für das Essen, meine ich.«

Er schlenderte mit einem Zwinkern davon. »Schon gut, ich komme ja! Ich komme.«

Ro schaute ihm nach und erhaschte dabei einen Blick auf seine bunt bedruckte Unterhose, die zwischen Hemd und Hose hervorschaute. Ein unkonventioneller Typ.

Sie aß rasch auf und wischte sich mit der Papierserviette, die man freundlicherweise ebenfalls beigefügt hatte, den Mund ab. Dann eilte sie in den Ballsaal zurück, wobei sie darauf achtete, ja nicht die falsche Schwingtür zu benutzen.

Die Braut stand mit in die Hüften gestemmten Händen auf der Tanzfläche und schaute sich grimmig um. Sie trug nun eine Mini-Version ihres Brautkleids, ein knappes schulterfreies weißes Teil mit Stufenröckchen, das bis zur Mitte der gebräunten Oberschenkel reichte. Der Bräutigam war nirgends zu sehen. Sie wurde von einem Schwarm Bediensteter umlagert, die ihr alle entweder etwas zu trinken anbieten oder sie zum Tanzen oder Hinsetzen überreden wollten. Aber je mehr sie bedrängt wurde, desto misstrauischer wurde sie. Ihre Augen verengten sich zu Schlitzen.

Ro schaute sich ebenfalls rasch nach dem Bräutigam um. Er war nirgends zu entdecken. Und die Trauzeugin der Braut war ebenfalls verschwunden. Oh nein, dachte Ro, die eine Katastrophe kommen sah.

Sie machte eine Runde um den Ballsaal. Alle standen herum und warteten auf den Eröffnungstanz des Brautpaars, damit sie selbst auf die Tanzfläche konnten. Die Abwesenheit von Bräutigam und Trauzeugin erregte von Minute zu Minute mehr Aufmerksamkeit.

Ro streckte den Kopf aus der Saaltür und spähte in den Korridor. Die Hochzeitsgesellschaft hatte mehrere Zimmer gebucht, einige als Garderobe oder zum Umkleiden, Badezimmer und Toiletten sowie einen kleinen Konferenzraum, in dem Rowena die Video-Interviews mit Freunden und Verwandten des Brautpaars durchgeführt hatte, die sie daheim dann in dem Hochzeitsfilm verwerten würde.

Auf leisen Sohlen ging sie den Korridor entlang. Einige der älteren Gäste machten sich bereits auf den Heimweg, andere tauchten übers Smartphone gebeugt aus dem Klo auf und checkten ihre Nachrichten.

Als sie an einem Fotoautomaten vorbeikam, der im Gang aufgestellt war, hörte sie hinter dem zugezogenen Vorhang der Kabine neckisches Gegacker und Gekicher. Sie hielt abrupt an. Ein Blitzlicht flammte hinter dem Vorhang auf, gefolgt von mehreren weiteren und dazu dem Klicken des Auslösers. Rowena bemerkte jetzt erst, dass jemand ein weißes Herrenhemd und eine schwarze Smokinghose hinter die Kabine gestopft hatte.

Sie zögerte. Unter dem Vorhang schaute der Zipfel eines himmelblauen Brautjungfernkleids hervor. Oh nein. Nein, nein, nein. Das durfte nicht sein. Diese Ehe durfte auf keinen Fall jetzt schon implodieren – jedenfalls nicht, bevor man sie bezahlt hatte.

Sie warf einen raschen Blick nach vorn und nach hinten, um sich zu vergewissern, dass sie nicht beobachtet wurde, dann bückte sie sich und spähte unter den Saum des Vorhangs. Tatsächlich erblickte sie ein Paar haarige, unbehoste Männerbeine.

Gekicher erklang, dann ein Summen und eine gedämpfte Unterhaltung. »Nicht!«, kreischte eine Frauenstimme entzückt und wollte damit offensichtlich das Gegenteil ausdrücken. Erneut blitzte es.

Ro verdrehte die Augen und bückte sich nach der Kleidung hinter der Kabine. In diesem Moment hörte sie hinter sich das Stakkatogeklapper von zornigen Absätzen. Sie schoss hoch und drehte sich um, die Kleider hinter dem Rücken verborgen, ein starres Lächeln auf den Lippen.

»Haben Sie meinen Mann gesehen?«, erkundigte sich die Braut und schaute mit flammendem Blick in jede Ecke des Korridors wie ein Jagdfalke auf der Suche nach einer Feldmaus.

Ohne sich zu bewegen, warf Ro das Kleiderbündel hinter ihrem Rücken in die Kabine, wo es mit einem dumpfen Plumps auf dem Boden auftraf. »Äh, nein, äh … nicht dass ich wüsste. Jetzt, wo Sie’s erwähnen, ich glaube, ich habe ihn schon eine ganze Weile nicht mehr gesehen. Ich habe schon in die Klos geschaut, äh, ich meine natürlich in die Toiletten, aber da war er auch nicht.«

Die Braut machte ein finsteres Gesicht.

In diesem Moment begann die Fotokabine laut zu surren und zu vibrieren. Die Braut wurde auf die Kabine aufmerksam und schaute über Ros Schulter. Sie bemerkte die zugezogenen Vorhänge. »Wer ist da drin?«

»Da drin?«, wiederholte Ro blöde. Ihre Stimme klang wie das Quieken einer ängstlichen Maus. »Äh, niemand.«

»Aber der Vorhang ist zugezogen!« Die Frau bückte sich. »Und ich kann Beine sehen. Da ist jemand drin.«

Ro schaute nach unten. Wenigstens waren diese Beine jetzt wieder behost. »Ach ja, stimmt, Sie haben natürlich recht. Da ist jemand drin. Aber nicht, äh, Ihr Mann.«

Die Augen der Braut wurden schmal. Sie glaubte Ro nicht.

Ein lautes Surren ertönte, und der Automat spuckte einen Streifen Fotos aus. Die Braut bückte sich danach, aber Ro war schneller, schnappte sie sich und verbarg die Fotos hinter ihrem Rücken, ehe jemand einen Blick darauf werfen konnte. »Ähm … die dürfen Sie leider nicht sehen.«

»Wieso nicht?«, fragte die Braut wütend.

»Weil …«

Aber der Braut reichte es jetzt. Sie bog sich um Ro herum und riss den Vorhang zurück. Beim Anblick, der sich ihr bot, fiel ihr der Kinnladen herunter: Ihre Trauzeugin und ein Kellner, genauer gesagt, der Kellner, der Ro zuvor durchgefüttert hatte, saßen in der Kabine. Die Trauzeugin hatte ein beschriftetes Schild um den Hals hängen, und der Kellner grinste betreten.

»Was zum …«, brauste die Braut auf.

Der Kellner tauschte einen Blick mit der ebenso verblüfften Ro. Er wusste, dass man ihn dafür feuern würde. Und Ro wusste es ebenfalls.

»Es ist nicht so, wie Sie denken«, stieß Ro hervor, und zur Überraschung aller machte sie den Vorhang resolut wieder zu.

»Warum sitzt meine Trauzeugin auf dem Schoß eines Kellners in einer Fotokabine und hat ein Schild um den Hals, auf dem steht …«

»Das sollte eine Überraschung werden!«, platzte Ro hervor. »Für das Video.«

Die Braut blinzelte verdattert.

»Ja, äh, ich meine … ich kann noch nicht sagen, ob’s was wird, aber wir dachten, probieren wir’s mal aus … Es ist besser, wenn man möglichst viele Optionen hat, oder nicht? Mehr Auswahl.«

Sie hatte ein geradezu manisches Lächeln aufgesetzt und nickte wie ein Wackelhund, den Fotoapparat um den Hals.

»Aber was …« In diesem Moment tauchte aus einer Toilette der Bräutigam auf. Er zupfte an seinen Manschetten herum, und sein Blick fiel verdutzt auf das Duo vor der Fotokabine. Er registrierte die angespannte Stimmung und kam näher.

»Wo hast du nur gesteckt?«, kreischte die Braut. »Alle warten auf dich! Der Eröffnungstanz, oder hast du das etwa vergessen?!«

»Also, ich bin bereit, wenn du’s bist, Baby«, meinte der Bräutigam achselzuckend. Die Braut packte ihn kurzerhand beim Ellbogen und zerrte ihn zurück zur Saaltür. Als sie die Tür erreicht hatte, blieb sie stehen und brüllte über die Schulter gewandt: »Hayley! Kommst du jetzt oder was?!«

Die Trauzeugin streckte den Kopf aus der Kabine, formte ein lautloses »Danke« in Richtung Ro und entschlüpfte rasch zum Ballsaal.

Kurz darauf wagte es auch der Kellner, hinter dem Vorhang hervorzusehen. »Ist die Luft rein?«

»Momentan schon«, bemerkte Ro trocken.

»Ich weiß gar nicht, wie ich dir danken soll. Du hast mir den Arsch gerettet.« Er knöpfte sich das Hemd zu und schob es hastig in den Hosenbund. Dann nahm er das Tablett wieder auf, das er auf einem Seitentisch abgestellt hatte, wie Ro jetzt erst bemerkte. »Du hast keine Ahnung, wie dringend ich diesen Job brauche.«

Ro zuckte mit den Schultern. »Eine gute Tat vergilt man gern.«

»Hier, als kleines Dankeschön.« Er nahm etwas aus seiner Gesäßtasche und gab es ihr.

»Was ist das?« Sie musterte das Kärtchen. Außerdem war ihr aufgefallen, dass er unter einem Ohr Lippenstiftspuren hatte.

»Ein Freund von mir gibt morgen eine Party. Sag am Eingang einfach ›Shaddywack‹, und du wirst reingelassen.«

»Wie bitte?«

Aber er hatte sich bereits abgewandt und ging mit seinem Tablett auf eine Gruppe von Gästen zu.

Sie warf einen Blick auf die Karte. Dort stand:

House-Sharing in den Hamptons

Nur an den Wochenenden, einen ganzen Sommer lang,

25.000 Dollar pro Einheit und Mieter

4 Schlafzimmer, 2 ½ Bäder,

zwei Hektar großes Grundstück in Strandnähe,

Egypt Green, East Hampton.

Nur an verantwortungsbewusste Personen.

Das Mitbewohner-Casting findet am 10. April von 19.00 Uhr bis 23.00 Uhr im Pink Room, Penthouse Level, 53rd Street and Broadway statt. Bring ein Geschenk mit, das typisch für dich ist.

Ro schüttelte verwirrt den Kopf. Da fielen ihr die Fotos wieder ein, die sie ja noch in der Hand hielt. Sie riss ungläubig die Augen auf: Die Braut hatte die Hände über den Kopf gehoben und in ihrem Haar vergraben und blickte abwechselnd mit Schmollmund oder einem lasziven Lächeln in die Kamera. Sie saß auf dem Schoß des Kellners, der sich seines Hemds entledigt hatte und den nackten Oberkörper präsentierte. Er hatte eine Knopflochrose hinterm Ohr und knabberte an ihrem Hals. Auf einem Schild, das die Frau um den Hals trug, stand: »Get Humped this Summer«. Was sollte das jetzt schon wieder bedeuten? Und was noch wichtiger war: Wie um alles in der Welt sollte sie das in ihren Hochzeitsfilm einarbeiten?

3. Kapitel

Es war acht Uhr abends, und ganz Manhattan war auf den Beinen. Ro stand an eine Hauswand gelehnt und tat, als wäre sie mit ihrem Smartphone beschäftigt. Aus den Augenwinkeln beobachtete sie die lärmende Gruppe von Menschen in Brooks-Brothers-Anzügen, die sich zehn Meter weiter vorne an einer Tür drängelten und mit gesenkten Stimmen verschwörerisch etwas zu dem Türsteher sagten. Sie hatten Magnumflaschen mit Champagner dabei, wie sie bemerkte. Das war jetzt schon die sechste Gruppe, die sich mit diesem für sie »typischen« Geschenk Zugang verschaffte. Sie musste an das mit einem Gummi abgedichtete Glas denken, das sie mitgebracht hatte, und kam sich furchtbar blöd vor. Wie war sie bloß auf den Gedanken gekommen, das zu solch einer Party mitzubringen? Dass es »typisch« für sie war, machte die Sache umso peinlicher.

Ro wandte seufzend den Blick ab. Sie stand jetzt seit zwanzig Minuten hier und versuchte, den Mut aufzubringen hineinzugehen. Sie hatte inzwischen genug mitbekommen, um zu wissen, dass das Ganze ohnehin nichts für sie war. Sie gab sich einen Ruck und richtete sich auf, blickte die breite Avenue entlang. Eine Autoschlange mit roten Bremslichtern zog sich bis weit zur nächsten Ampel, obwohl diese auf Grün stand. Vom grauen Himmel konnte sie zwar nur einen schmalen Streifen sehen, aber das genügte, um zu erkennen, dass er in die samtige Schwärze der Nacht überging. Jeder hatte ein Ziel, nur sie nicht.

Unschlüssig drehte sie sich im Kreis. Wohin jetzt? Zurück ins Hotelzimmer? Bloß nicht. Sie hatte heute schon acht Stunden dort verbracht und einen ersten Rohschnitt der Filme und Fotos auf ihrem Laptop vorgenommen. Die Feinarbeit konnte sie aber erst zu Hause machen, wo ihr all ihre Geräte zur Verfügung standen, vor allem die Vergrößerungslinse für Einzelheiten. Das Hotel besaß zwar ein Fitnessstudio im Keller, aber Körbchengröße Doppel D war Ros Meinung nach ein Wink Gottes, sich mit sportlichen Aktivitäten besser zurückzuhalten. Und sich allein in ein Restaurant zu setzen und ein Buch zu lesen, um zu zeigen, dass sie selbstbewusst und unabhängig genug war, um alleine zu essen, überstieg Ros Kräfte. Sie fühlte sich alles andere als selbstbewusst und unabhängig.

Eine Gruppe Frauen kam schwatzend und lachend auf sie zu und machte vor einer Tür auf Ros anderer Seite halt. Auch sie hielten Flaschenhälse in ihren schlanken, manikürten Händen. Ro konnte die mit Goldfolie umwickelten Sektkorken erkennen, die über die Daumen hervorlugten, und wandte rasch den Blick ab. Sie wollte nicht mehr vor Augen gehalten bekommen, was sie nicht war. Sie war weder elegant noch mondän. Sie war nicht die Frau, die wie selbstverständlich allein auf einer Party erscheint. Sie war nicht Matt, der sich mutig und abenteuerlustig entschloss, seinen Traum zu verwirklichen und auf eine Trekkingtour in die kambodschanischen Berge aufzubrechen.

Nein. Sie stand hier vor einem Wolkenkratzer, in dem oben eine Party stattfand, und war zu feige, um reinzugehen und sich mit dem einzigen Menschen zu unterhalten, mit dem sie seit Matts Abreise mehr als ein paar Worte gewechselt hatte. Sie hasste sich dafür, dass sie sich nicht dazu überwinden konnte, ja, dass sie verzweifelt genug gewesen war, um überhaupt herzukommen. War sie wirklich so erbärmlich einsam ohne Matt? Wann hatte sie ihre eigene Persönlichkeit an der Garderobe abgegeben und war zu seinem Schatten geworden? Hatte ihre eigenen Ecken und Kanten verloren und sich vollkommen von ihm abhängig gemacht?

Ein Taxi hielt am Straßenrand. Eine junge Frau saß darin, die dem Taxifahrer, während sie telefonierte, ein paar Scheine nach vorne reichte. Ro trat kurz entschlossen vor und wartete geduldig darauf, dass die offenbar vielbeschäftigte Frau ausstieg. Wohin es gehen sollte, wusste sie selbst nicht recht. Bloß fort von hier.

Die Tür schwang auf, und ein schlankes, straffes Frauenbein erschien, das oben in einem schmalen Bleistiftrock steckte und unten in Bleistiftabsätzen. Ro warf unwillkürlich einen Blick auf ihre Boyfriend-Jeans und ihre jadegrünen, knöchelhohen Turnschuhe. War sie eigentlich die einzige Frau in Manhattan, die keine Absätze trug?

»Nein, nein, so wird das nichts. Das ist mein bestes Angebot.« Die junge Frau warf Ro einen desinteressierten Blick zu und griff mit der freien Hand nach einer großen DIN-A1-Mappe. »Dann muss er uns eben entgegenkommen. Er hat keine Wahl, so ist das. Der Vertrag ist bindend.«

Sie blieb mit der Mappe in der Türöffnung hängen und zerrte ungeduldig daran. Ro beugte sich hilfsbereit vor und befreite eine Ecke der Mappe. Da sah sie zu ihrer Verblüffung, wie auf der anderen Seite die Tür aufgemacht wurde und sich ein dunkelgraues Männerhosenbein ins Taxi schwang.

Rowena fuhr empört hoch. »He, Moment mal!« Sie wollte den unverschämten Mann zornig anfunkeln, aber der hatte sich bereits ins Taxi gesetzt. Sie beugte sich vor, um ihm ordentlich die Meinung zu geigen, da löste sich jäh die Mappe aus der Türöffnung und stach ihr mit einer Metallecke ins Auge.

Sie schnappte nach Luft und taumelte zurück, stolperte dabei über die Gehsteigkante und knallte mit dem Hinterkopf gegen einen Laternenpfahl, dass sie Sternchen sah.

»Was zum …? Mist!«, rief die junge Frau aus. »Jerry, ich ruf dich zurück, okay? … ja, ja … Hallo, Sie da, alles in Ordnung?«

Ro, die eine Hand auf ihr Auge gedrückt hatte, schüttelte den Kopf. Sie versuchte, nicht zu weinen, aber als sie vor dem geschlossenen Lid rot sah, begannen ihre Augen zu tränen. Ausgerechnet ihr »gutes Auge«, das, mit dem sie fotografierte!

»Was hatten Sie denn da zu suchen? Konnten Sie nicht sehen, dass ich noch nicht ganz ausgestiegen war?«, sagte die junge Frau in einem Ton, als ob das alles Ros eigene Schuld sei.

»Ich wollte Ihnen doch bloß helfen«, stieß Rowena empört hervor. Sie konnte nicht mal das unverletzte Auge aufmachen, beide tränten wie verrückt.

»Helfen? Einem Fremden? In Manhattan?« Die Frau konnte es nicht fassen. »Sind Sie verrückt oder was?«

»Nicht verrückt. Engländerin«, antwortete Ro trotzig.

»Na, jetzt wundert mich nichts mehr.«

Schweigen trat ein, aber Ro merkte, dass die Frau in die Hocke ging und unschlüssig bei ihr verharrte. Einige Autofahrer begannen wegen der Verzögerung ungeduldig zu hupen, und Passanten drückten sich missmutig murmelnd an ihnen vorbei. Wie rücksichtslos von ihr, sich ihr Auge ausstechen zu lassen und so den ganzen Betrieb aufzuhalten …

»Das Taxi ist jetzt wohl weg, oder?«, vermutete Ro wehmütig und rappelte sich mühsam auf die Beine, beide Augen noch immer fest geschlossen. Sie spürte, wie die Frau sie fürsorglich am Ellbogen festhielt und ihr hoch half.

»Ja. Soll ich Ihnen noch eins rufen? Ist das Mindeste, was ich tun kann.« Die Frau klang jetzt um einiges freundlicher als zuvor. Offenbar konnte sie sehen, wie es um Ro stand.

»Danke«, murmelte Ro mit gesenktem Kopf. Sie nahm die Hand vom Auge und versuchte zu blinzeln, aber sobald sie es öffnete, stach ihr die Helligkeit ins Auge wie ein Laserstrahl. Sie zuckte zusammen und griff taumelnd nach dem Laternenpfahl, um sich daran festzuhalten, verfehlte ihn jedoch.

Die Frau packte sie beim Arm und stabilisierte sie. »Mist, so können Sie unmöglich in ein Taxi steigen. Sie können ja nicht mal sehen, wo Sie hinfahren. Nicht in dieser Stadt. Und schon gar nicht als Engländerin.« Das klang, als wäre ihre Staatszugehörigkeit eine Behinderung. Ro hörte, wie sie nachdenklich an den Zähnen saugte, während sie überlegte, was jetzt wohl zu tun sei. »Hören Sie, ich muss ohnehin hier rein. Kommen Sie doch einfach kurz mit, dann sehen wir uns das genauer an, ja? Vielleicht eine kalte Kompresse oder mit Salzwasser auswaschen …«

Ro konnte mit ihren tränenden Augen nicht sehen, in welche Richtung die Frau zeigte. Sie nickte stumm und ließ sich von ihr wegführen. Nicht, dass sie eine Wahl gehabt hätte.

»Shaddywack«, sagte die Frau.

Was?!

»Aufzug Nummer zwei«, hörte sie einen Mann sagen, und dann verriet ihr die Akustik, dass sie im Gebäude waren. Die Frau schritt mit klackenden Absätzen zum Aufzug, Ros Schuhe dagegen quietschten wie die eines Teenagers. Sie blieben stehen, und Ro hörte das »Ping« eines eintreffenden Lifts. Sie traten ein, und sie spürte einen Teppich unter den Schuhsohlen.

»Ich bin übrigens Bobbi«, bemerkte die Frau, als sich der Aufzug wieder in Bewegung setzte.

»Rowena.«

»Wie lang bleiben Sie in New York, Rowena?«

»Ich fliege morgen wieder heim.« Ro hörte das leise Rascheln von Bobbis Haar, die entweder nickte oder sich im Spiegel betrachtete. Sie hielt den Kopf gesenkt. Ihr war unwohl dabei, sich mit jemandem zu unterhalten, solange sie nicht einmal die Augen aufbekam, um ihn oder sie anzusehen.

»Zum ersten Mal hier?«

»So ungefähr.«

»Gefällt es Ihnen?«

Rowena zuckte vage mit den Achseln und wischte ihre rechte Hand, die vom Zuhalten des tränenden Auges ganz nass geworden war, unauffällig an ihrer Jeans ab. »Es ist genauso, wie’s auf der Packung steht: Großstadt. Funkelnde Lichter und all das.«

»Sie sind wohl kein Stadtkind?«

»Doch, ich wohne in London.«

»Ach ja? Ich liebe London. Wo genau denn?«

»In einem Stadtteil namens Barnes.«

Kurze Pause. »An der Themse, nicht? Kleiner Ententeich und Dorfwiese?«

»Ja, genau«, antwortete Ro verblüfft. Bobbis Worte beschworen ein perfektes Bild herauf von dem kleinen weißgekalkten viktorianischen Cottage mit der leuchtend roten Haustür. Die Orangenbäumchen hatten bei Matts Abreise bereits zu knospen begonnen. Ro fragte sich, ob ihm das überhaupt aufgefallen war, als er aufbrach und ihr gemeinsames Leben hinter sich ließ. Die Blüten hatten den Ausschlag gegeben, als sie das Cottage vor drei Sommern gekauft hatten.

»Kein Wunder, dass Sie Manhattan nicht mögen«, meinte Bobbi. Die Richtung, aus der ihre Stimme klang, ließ Ro vermuten, dass sie sich nun höchstwahrscheinlich tatsächlich im Spiegel begutachtete.

»Das hab ich nicht gesagt, ich …«

In diesem Moment kam der Lift zum Stehen, und die Türen glitten auf. Bobbi nahm Ro energisch beim Ellbogen und führte sie den Korridor entlang. Wummernde Musik und gedämpfter Partylärm drangen ihnen entgegen. Ros Schritte verlangsamten sich unwillkürlich.

»Ach, es geht mir jetzt schon wieder besser. Ich glaube nicht, dass es nötig ist, mit reinzugehen.« Sie versuchte ihr unverletztes Auge einen Spalt weit aufzukriegen und erhaschte einen kurzen Blick auf einen schwarzgrauen Teppichboden und eine graugestreifte Tapete, ehe wieder alles verschwamm.

»Aber Ihr Auge – Sie sehen ja aus wie Rocky! Da muss zumindest Eis drauf.« Ehe Ro protestieren konnte, ging die Tür auf, und Lärm schlug ihnen entgegen. Bobbi zögerte einen Moment … wegen des Lärms? Dem Berg aus Champagnerflaschen, der sich inzwischen auftürmen musste, weil jeder das Gleiche mitgebracht hatte? »Ach du dickes … soll das ein Witz sein?!« Eine Pause trat ein. Ro versuchte sich vorzustellen, was Bobbi wohl diesen Ausruf entlockt haben mochte. »Halt dich an meiner Hand fest, okay?«, rief sie Ro zu. »Nicht loslassen.«

Ro konnte bloß nicken, eine Hand immer noch schützend über ihr Auge gepresst. Bobbi ergriff entschlossen Ros freie Hand und zog sie mitten hinein in den Lärm. Es herrschte ein fürchterliches Gedränge. Bobbi tat ihr Bestes, um einen Pfad für sie freizukämpfen. Offenbar setzte sie dabei die scharfen Kanten ihrer Mappe ein, denn ihr Weg wurde von empörten Ausrufen und Schmerzensschreien begleitet. Jemand trat Ro auf den Fuß, ein anderer verschüttete seinen Drink auf ihr, als er angerempelt wurde. Es roch nach dickem Zigarrenrauch. Ro wusste jetzt, dass ihr Instinkt, einen Bogen um diese Party zu machen, richtig gewesen war. Sie musste nicht die Augen aufmachen, um zu wissen, dass sie wahrscheinlich die Einzige war, die in Jeans aufgetaucht war. Zumindest in Jeans, die nicht vierhundert Dollar gekostet hatten und deren Risse noch hausgemacht waren. Und die Einzige, die ungeschminkt war (zum Glück, denn wenn sie Mascara aufgetragen hätte, würde sie jetzt bestimmt aussehen wie Frankensteins Braut).

»Pass auf, hier ist’s rutschig«, warnte Bobbi.

Ro runzelte die Stirn. Wie – rutschig? Sie trat vorsichtig auf, hätte sich aber trotzdem beinahe auf den Po gesetzt. Gegen ihren Willen riss sie die Augen auf und sah, dass sie von Schaum, Bikinis und nackten, gewachsten Männeroberkörpern umgeben war. Der Schmerz zwang sie, die Augen zu schließen, und sie war wieder von rot pulsierender Schwärze umgeben.

Jetzt kamen sie in einen Bereich, wo weniger Gedränge herrschte. Ro konnte tatsächlich wieder ein wenig freier atmen, während sie sich von Bobbi weiterziehen ließ. Dann fiel plötzlich eine Tür hinter ihnen zu, und der Lärm erstarb.

»Meine Fresse!«, stieß Bobbi hervor. »Ist ja mal wieder typisch. Wusste gleich, dass es so werden würde.«

Ro sagte nichts. Sie war nicht sicher, ob die Bemerkung an sie gerichtet war. Außerdem hatte sie eigene Probleme. Ihre Gedanken rasten. Eine Schaumparty? Sie musste erneut an Barnes denken – den Ententeich, die Orangenblüten, die hübsche rote Tür – und rechnete nach, wie viele Stunden es noch dauern würde, ehe sie wieder daheim in den eigenen vier Wänden wäre und an Matts Kissen schnuppern konnte.

Sie hörte das Geräusch eines aufgedrehten Wasserhahns.

»Hier.« Bobbi drückte ihr ein mit heißem Wasser angefeuchtetes Handtuch in die Hand. »Halte das an dein Auge. Ich hole inzwischen eine Schale und etwas Salz. Schließ hinter mir ab, ja? Und lass niemanden rein, außer mir.«

Ro nickte, das Handtuch ans Auge gepresst, und tastete nach dem Türschloss, das sie umdrehte. Erleichtert atmete sie auf. Sie hielt sich das Handtuch ans Auge und befeuchtete es dann erneut. Das tat gut. Ihr unverletztes Auge hörte auf zu tränen, und jetzt konnte sie zumindest wieder etwas sehen, ohne das Gefühl zu haben, unter Drogen zu stehen.

Das Badezimmer, in dem sie sich befand, war mit dunkelgrünen Schieferplatten gekachelt, das Waschbecken sah aus, als sei es von Hand aus einem Kalksteinbruch gebrochen worden. Neben dem Becken stand ein Schränkchen aus Iroko-Holz mit vielen quadratischen Fächern, in denen zusammengerollte graue Handtücher lagen. Auf einer Anrichte standen farbige Fläschchen mit Kosmetika, die in den Farben des Regenbogens angeordnet waren. Sie erblickte einen buschigen Rasierpinsel und daneben eine verschnörkelte Box mit Rasierseife.

Es klopfte an der Tür. Ro schloss auf, aber es war nicht Bobbi.

»He, du bist tatsächlich gekommen!«, rief der Kellner von der Hochzeit strahlend aus. Er hielt ein Bier in der Hand und trug dreiviertellange Chinos und Flipflops.

»Du kannst nicht rein«, stieß sie abweisend hervor. »Das ist ein Notfall.«

»Weiß ich doch«, meinte der Kellner grinsend. »Ich hab dich reinkommen sehen. Kann ich helfen?«

»Wohl kaum.« Sie konnte sich vorstellen, was er unter Hilfe verstand: Mädchen in knappen Bikinis einschäumen. Auf einer Hochzeit die Trauzeugin aufreißen – und das nur wenige Minuten nachdem er’s bei ihr versucht hatte? Es war offensichtlich, warum er ihr die Einladung zugesteckt hatte. Und jetzt, wo sie auch noch erschienen war, rechnete er sich natürlich Chancen aus. Trotz oder vielleicht gerade wegen des »verreisten Lebensgefährten«.

»Aber ich bin Arzt.«

»Von wegen! Du bist Kellner. Ich hab dich gestern Abend doch gesehen!« Mein Gott, hatte er das vielleicht schon wieder vergessen? »Die Fotografin? Von der Hochzeit, auf der du …«

In diesem Moment tauchte Bobbi wieder auf. Sie hatte eine Schale in der Hand, in der sich vor kurzem wohl Erdnüsse befunden hatten. War das ihre Vorstellung von einer »Salzspülung«?

»Wer ist das? Hab ich nicht gesagt, du sollst keinen reinlassen?«, meinte sie schroff. Sie warf dem Mann einen finsteren Blick zu und drängte sich rüde an ihm vorbei. »Du bist Engländerin. Du weißt nicht, wozu diese Burschenschaftstypen fähig sind.«

»Burschenschaftstypen?!«, prustete der Kellner. »Dafür bin ich doch wohl schon ein bisschen zu alt.«

»Allerdings«, meinte Bobbi grimmig. »Aber versuch das mal diesem ›Flesh-Mob‹ da draußen klarzumachen. So und jetzt raus mit dir. Hier gibt’s nichts zu holen. Dieses Mädel braucht dringend Erste Hilfe.«

»He, hör zu, ich bin wirklich Arzt.« Der Kellner grinste beschämt. »Oder ich war’s zumindest. Darf ich mal sehen? Scheint ja übel zu sein.«

Ro gab sich mit einem Achselzucken geschlagen. Er kam ein Stück weiter in den Raum hinein. »Ist es euch recht, wenn ich wieder abschließe?«, fragte er die beiden.

»Solange es sich nur um ärztliche Hilfeleistung handelt«, meinte Bobbi streng.

»Na, dann kann ja nichts passieren«, meinte er grinsend und verriegelte die Tür. Dann wandte er sich Ro zu. »Also, was ist passiert?«

»Ihr Auge hat versucht, es mit der scharfen Kante meiner Mappe aufzunehmen«, antwortete Bobbi, ehe Ro etwas sagen konnte.

»Ach ja? Ein ganz schön freches Auge«, murmelte er. »Darf ich’s mir mal ansehen?«

Ro nickte widerwillig. Misstrauisch verfolgte sie mit ihrem gesunden Auge, wie er ihren Kopf so drehte, dass das Licht zwar auf das Gesicht fiel, sie aber nicht direkt in die Lampe blicken musste. »Kannst du das Auge mal aufmachen?«

Sie zwang sich zu gehorchen und spürte, wie ihr das Licht erneut stechend ins Auge fiel und es tränen ließ wie einen Bach. Der Kellner schaute es sich genauer an, sein Gesicht war nur noch Zentimeter von dem ihren entfernt, und sie konnte sein Eau de Cologne riechen. Sie zuckte unwillkürlich zurück. Als er ihr Misstrauen bemerkte, erlosch sein Lächeln zwar nicht, verließ aber seine Augen.

»Also, soweit ich es in der kurzen Zeit sehen konnte, hast du einen Kratzer in der Netzhaut. Du musst das Auge ein paar Tage lang bedeckt halten. Tut sicher verdammt weh«, fügte er mitfühlend hinzu.

Ro nickte.

»Ich kann’s verbinden, wenn du willst.«

»Womit denn?«, fragte Bobbi herausfordernd. »Etwa mit deinem T-Shirt?«

Der angebliche Arzt warf einen Blick über Bobbis Schulter und verneinte schmunzelnd. »Leider nicht. Es gibt hier schließlich einen Erste-Hilfe-Kasten.«

Bobbi fuhr herum. Tatsächlich lag im untersten Fach des Holzregals ein grünes Plastikkästchen mit einem roten Kreuz darauf. Sie nahm es heraus und sah zu, wie der Kellner einen Mullverband, eine sterile Auflage und Häkchen zum Verschließen herausnahm.

»Und – gefällt euch die Party?«, fragte er beiläufig, während er alles herrichtete.

»Nö, kann ich nicht behaupten«, meinte Bobbi und verschränkte trotzig die Arme.

Während sie von dem Mann verarztet wurde, sah sich Rowena mit ihrem guten Auge ihre Begleiterin nun zum ersten Mal genauer an. Bobbi war groß und schlank und besaß anmutige Waden. Ihr Gang und ihre Haltung ließen darauf schließen, dass sie die angeborene Fähigkeit besaß, stundenlang in schwindelerregend hohen Absätzen herumzuspazieren. Sie hatte schulterlanges, brünettes Haar, das mit pflaumenblauen Highlights aufgefrischt war und in einem schwingenden Stufenschnitt ihr ovales Gesicht umrahmte, das nicht nur hübsch, sondern wirklich schön war. Sie besaß sanft gerundete Wangenknochen, ein ausgeprägtes Kinn und große, stille schwarze Augen, denen wahrscheinlich nicht allzu viel entging, wie Ro vermutete.

»Ach nein?«

»Reine Zeitverschwendung. Das Geld fürs Taxi hätte ich mir sparen können. Hallo, eine Schaumparty? Im Ernst? Ich dachte, dieses House-Sharing wäre nur für Leute, die wilden Partys eher aus dem Weg gehen. Wie stand es in der Anzeige? Nur für verantwortungsbewusste Personen.«

Der Kellner nickte. »Ja, da hast du nicht unrecht.«

Bobbi warf einen misstrauischen Blick auf seine Flipflops. Für ihn war die Tatsache, dass es hier Schaumorgien und Strandkleidung geben würde, offenbar keine Überraschung gewesen.

»Und was soll das mit all den Leuten? Das müssen mindestens hundert sein. Das Haus hat doch bloß vier Schlafzimmer.« Bobbi erwärmte sich zusehends für ihren Standpunkt. »Dieser Typ will offensichtlich aus seiner Machtstellung Kapital schlagen, wenn ihr versteht, was ich meine.«

»Glaub schon.«

Ro kapierte es zwar nicht, verzichtete aber auf eine Nachfrage. Bobbi war ohnehin kaum zu bremsen.

»Ich meine, wer möchte nicht ein Ferienzimmer in den Hamptons? Wer würde nicht alles, aber auch alles dafür tun – einschließlich Bestechungsgeschenken, Insider-Trading-Tipps und Footballtickets! Und von den Methoden der Frauen gar nicht zu reden. Pah!« Sie winkte verächtlich ab. »Schlimm genug, dass fast mein halbes Gehalt für das Zimmer draufgehen würde. Und das nur für die Wochenenden! Nicht mal für die ganze Ferienzeit. Und dann auch noch dieses Affentheater? Ohne mich! Wahrscheinlich hat er die Zimmer sowieso schon vor Monaten vergeben. Aber das mit diesen Partys ist ’ne Supersache für ihn.«

»Und was denkst du?«, fragte der Kellner nun auch Rowena. Er hatte die sterile Auflage auf ihr Auge gelegt und begann, sie nun mit dem Mullverband zu fixieren.

»Keine Ahnung«, meinte sie achselzuckend, »ich bin schließlich Engländerin. Bei uns ist das im Sommer ein wenig anders. Erstens kann man sich nicht drauf verlassen, dass die Sonne sich blicken lässt. Und Cornwall ist zwar wunderschön, aber wir müssen uns deswegen nicht um einen Aufenthalt dort bewerben. Schon gar nicht mit Schaumpartys.« Sie wies mit einer vagen Geste zur Badezimmertür.

Sie schwiegen. Der Lärm der Party drang gedämpft zu ihnen herein. Ro kam der Gedanke, wie erbärmlich es war, es tatsächlich hierher geschafft zu haben und nun gar nicht an der Party teilzunehmen.

»Ich weiß gar nicht, wie ihr heißt«, unterbrach er die Stille. »Ich heiße Hump.«

Wie konnte es anders sein! Ro sah, wie Bobbi die Augen verdrehte. »Bobbi. Winkleman.«

»Rowena Tipton. Aber alle nennen mich Ro.«

»Und was habt ihr mitgebracht? Was typisch für euch ist?«, erkundigte sich Hump, während er den Verband schräg um Ros Kopf herumwickelte. »Moment, lasst mich raten: eine Magnumflasche Champagner?«

»Ha! Ist jetzt eh egal. Ich bleib hier nicht«, meinte Bobbi scharf. »Ich hab genug gesehen.«

»Ja? Na kommt, ich bin neugierig.« Hump schmunzelte. »Tut mir den Gefallen. Oder was sollen wir sonst hier anfangen?«

Damit er nicht auf dumme Gedanken kam, nahm Bobbi ihre Mappe zur Hand, die sie an die Wand gelehnt hatte, und schlug sie auf. Sie nahm eine Zeichnung heraus, die mit Kohlestift auf dickem Künstlerpapier angefertigt worden war. Darauf war ein holzverkleidetes New-England-Häuschen zu sehen, mit drei Giebelfenstern auf dem Dach und einer breiten überdachten Veranda, die um zwei Seiten des Hauses reichte. Eine kurze Treppe führte zur Veranda hinauf und zur Eingangstür.